Winzerwahn - Andreas Wagner - E-Book

Winzerwahn E-Book

Andreas Wagner

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Beschreibung

Der einzige ermittelnde Winzer Deutschlands wieder auf Mörderjagd. Ein Jahr geht zur Neige, wie es noch keines gegeben hat: Der Frost im Frühjahr hat fast alle Reben zerstört, und kurz vor der Weinlese vernichtet ein Hagelschauer die wenigen reifen Trauben. Die Winzer fürchten um ihre Existenz. Als in einem verfallenen Gewölbe eine Leiche entdeckt wird und wenig später mehrere Frauen aus dem Dorf vermisst werden, dämmert den Ersten, dass die Jagd nach den Schuldigen für Hagel und Frost längst begonnen hat.

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Andreas Wagner ist Winzer, Historiker und Autor. Nach dem Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Bohemistik in Leipzig und an der Karls-Universität in Prag hat er 2003 zusammen mit seinen beiden Brüdern das Familienweingut seiner Vorfahren in der Nähe von Mainz übernommen.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2018 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/age fotostock/Rodger Shagam

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-398-1

Originalausgabe

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Auf diese Weise aber die Hexen zu strafen, scheint nicht genügend, da sie nicht einfache Ketzerinnen sind, sondern Abgefallene. (…) Daraus ist hinreichend klar, dass, wie sehr sie auch bereuen, und wenn sie auch zum Glauben zurückkehren, sie nicht wie andere Ketzerin ewiges Gefängnis gesteckt werden dürfen, sondern mit der schwersten Strafe zu bestrafen sind, und zwar auch wegen der zeitlichen Schäden, die von ihnen auf verschiedene Weise Menschen und Vieh zugefügt werden.

Jakob Sprenger/Heinrich Institoris: »Der Hexenhammer. Malleus maleficarum«, München 1982, Teil I, S. 188

1

Die Stille war absolut. Sie hielt ihn fest umschlungen. Er wagte es nicht, sich zu rühren. Sein Atem ging so flach, dass er ihn nicht mehr zu hören vermochte. Die Angst, die ihn so lange gefesselt hatte, lag in weiter Ferne. Eine schwache und farblose Erinnerung, die er nun, in diesem erhabenen Moment, kaum mehr hätte beschreiben können. Normalerweise hätte er jetzt auf die Uhr geschaut, um grob abzuschätzen, wie lange er in der Küche mit ihr gerungen hatte. Der Kampf, den er geführt hatte, wäre ihm vor Kurzem noch völlig aussichtslos erschienen. Die Angst war ein übermächtiger Gegner, der sich unbesiegbar gebärdete, der ihm folgte bis in seine Gedanken und die Träume dunkler Nächte. Und doch hatte er sie bezwungen.

Seine Lippen bewegten sich lautlos. Das Flüstern des Verses fand nur in seinem Kopf statt. Er wollte die Stille nicht zerstören. Sie tat so gut und bestärkte ihn. Eine Quelle unerschöpflicher Kraft, die durch seinen Körper strömte und die er deutlich spüren konnte. Sie brachte Wärme mit. Ein wohliges Gefühl, das sich aufteilte und in die dünnen Verästelungen eines jeden noch so entfernten Teils seines Körpers vordrang. Sogar in seinen Fingerkuppen war die Kälte von ihr fortgeschwemmt worden.

Er schloss die Augen und verharrte weiter reglos, um den Energiefluss nicht zu stören. Er musste in der kurzen Zeit, die ihm blieb, so viel davon aufsaugen wie nur irgend möglich. Das war seine einzige Chance. Denn die Angst würde zurückkommen, bald schon. Und dann würde sie ihn schlimmer heimsuchen als jemals zuvor. Die Kraft, die ihm die Stille verlieh, reichte längst noch nicht aus, um es offen mit dem Feind aufzunehmen. Und doch ließen selbst diese Gedanken ihn nicht erzittern. Er war in der Lage, sie zu ertragen, ohne sich wie sonst in einen dunklen Winkel zu zwängen. Das staubige Versteck unter seinem Bett schien zu einem anderen, einem fremden Leben zu gehören. Die rostigen Federn entzogen sich seinem Vorstellungsvermögen, obwohl er doch jede Windung kannte, aus den unzähligen Nächten, die er unter ihnen verbracht hatte, kaum hörbar schluchzend, während die heißen Tränen über seine eisigen Wangen rannen.

Das Knistern der Flamme holte ihn zurück. Er hielt die Augen trotzdem noch einen Moment geschlossen und atmete lautlos weiter. Dann bewegte er vorsichtig seine Finger und öffnete langsam die Augenlider. Obgleich er wusste, dass damit die Stille ihr Ende finden würde, drückte es ihn nicht nieder. Er blieb aufrecht stehen. Das Licht der weißen Kerze war hell. Es reichte dennoch nicht aus, um das Ende des lang gezogenen groben Gewölbes zu erreichen. Auf dem Weg dorthin verlor es sich in der Dunkelheit. Das glatte schwarze Wasser verschluckte die Strahlen. Der verzierte obere Teil des roten Kreuzes auf der Kerze wurde von der Flamme zart erleuchtet. Zarte Ranken und kleine Blätter umschlangen es. Sie schienen nach ihm zu greifen. Unbeeindruckt reckte es sich in die Höhe, der wärmenden Flamme entgegen.

Er schnaufte deutlich hörbar. Das Zeichen an ihn selbst, dass der gedehnte Moment der Stille und Einkehr nun sein Ende finden musste. Vorsichtig hob er ihre über dem Bauch gefalteten Hände leicht an und schob das schlichte hölzerne Kruzifix darunter. Er machte einen Schritt nach vorn und trat in das schwarze Wasser. Der Boden war weich und gab ein wenig nach. Behutsam zog er sie von dem schmalen steinernen Absatz herunter. Ihre Bluse und der lange Rock blähten sich auf. Er konnte den Hauch Wärme spüren, der von ihrem Körper ausging. Dann lag sie fast reglos vor ihm auf dem Wasser. Vorsichtig postierte er die brennende Kerze auf ihren gefalteten Händen und dem Kruzifix, stieß sie sachte an und murmelte leise: »Der allmächtige Gott, der dich geschaffen hat, ruft: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Fahre ein!«

Sie trieb im schwarzen Wasser voran. Das flackernde Kerzenlicht erhellte das niedrige Bruchsteingewölbe über ihr. Ihr Brustkorb hob sich noch ein letztes Mal. Kein Laut war zu hören. Er spürte das sachte Vibrieren, das aus der Tiefe kam. Das Wasser begann um sie herum zu brodeln. Blasen stiegen auf und zerplatzten an der Oberfläche. Gleich darauf klatschte es über ihr zusammen. Einzelne Tropfen spritzten in die Höhe, dann war das Wogen der Oberfläche nur noch zu erahnen.

Dunkelheit und Stille legten sich über sein Tun. Eine große Ruhe, von der er nicht zu sagen vermochte, wie lange sie andauern würde. Er war hierhergekommen, furchtlos, und hatte das Böse zum Kampf herausgefordert. Alles war nun anders. Es nutzte jetzt nichts mehr, sich zu verstecken. Der Feind würde ihn überall finden und nicht ruhen, bis er ihn zerschmettert hatte.

2

Von diesem Jahrgang würden sie noch in Jahrzehnten reden. Kurt-Otto Hattemer führte das Ende des durchsichtigen dünnen Schlauchs an seine Lippen. Er hatte das Gefühl, den Wein schon schmecken zu können, ehe auch nur ein Tropfen in seinen Mund gelangt war. Er schüttelte es ab. Das war die Erinnerung auf seiner Zunge. Gestern Morgen hatte er den Wein zum letzten Mal probiert. Auf Anhieb fiel ihm nicht ein einziger Tag ein, an dem er das nicht getan hatte, seit der Saft Ende Oktober von der Kelter gelaufen war. Dick und süß war er gewesen, ein Konzentrat der Mühen und der Aufregung in diesem Jahr. Ihm fiel spontan kein anderer Jahrgang einer Riesling Auslese ein, der ihn so viele Nerven gekostet hatte: zuerst der früheste Vegetationsbeginn aller Zeiten, dem um den 20. April verheerende Fröste gefolgt waren. Die Triebe der Reben waren zu diesem Zeitpunkt schon knappe zehn Zentimeter in die Höhe gewachsen. Bei annähernd minus acht Grad in den Kessellagen der Täler erfroren dort sämtliche Triebspitzen. Leblos und braun hingen sie an den Bogreben herab. Ein Anblick, der nicht wenigen Kollegen Tränen in die Augen getrieben hatte, begleitet von Existenzängsten, weil damit ein Großteil der diesjährigen Ernte vernichtet worden war, noch bevor sich das frische Grün in die Höhe gestreckt hatte. Es hatte sich ein heißer Frühsommer angeschlossen, der im Juni von wochenlangen Regenschauern abgelöst worden war, die bis an die Zeit der Traubenreife heranreichten. Man hatte das Schlimmste befürchten müssen. Gerade noch rechtzeitig, im allerletzten Moment, war der Sommer wiedergekommen und hatte die spät reifenden Traubensorten golden werden lassen.

Das Glück war dabei sehr ungleichmäßig verteilt gewesen. Weniger Trauben gab es überall. Aber die Kollegen, deren Lagen vom Aprilfrost betroffen waren, konnten kaum Zählbares ernten. Manche Winzer im Süden Rheinhessens hatten sogar doppelt zu leiden. Hunderte Hektar in der Nähe von Worms waren zusätzlich kurz vor der Lese von einem Hagelschauer heimgesucht worden, der eine Schneise der Verwüstung hinterlassen hatte.

Er litt mit ihnen. Dabei hing sein Schicksal nicht mehr von einer reichen und guten Weinernte ab. Er atmete schnaufend aus. Es klang wie ein Seufzen. Jedes Mal, wenn seine Gedanken um den ersten Herbst seines Ruhestandes kreisten, konnte er gar nicht anders als seufzen. Es drängte ganz automatisch aus seinem tiefsten Inneren heraus, begleitet von einem Hauch Schwermut und der Erinnerung an Zeiten, die nun endgültig vorbei waren. Es war die erste Weinlese, die er weitestgehend als unbeteiligter Zuschauer begleitet hatte. Bis auf zwei kleine Parzellen hatte er alle seine Weinberge abgegeben. Der Endpunkt eines langsamen und schmerzvollen Trennungsprozesses, der mehrere Jahre angedauert hatte. Seine Renate hatte ihn immer wieder angetrieben, sonst wäre es nie so weit gekommen. »Willst du raus auf den zugigen Hiberg, bis du dort irgendwann tot umfällst? Genieße deinen Ruhestand. Es gibt doch kaum noch etwas für den Fasswein, den du machst. Und Privatkundschaft hast du bald nicht mehr. Die meisten sind so alt wie du. Die sterben dir langsam weg. Für die Übrigen reicht das aus, was wir aus den letzten fünfzehn Jahren abgefüllt im Keller liegen haben. Zähl das mal nach.«

Was seine Frau gesagt hatte, stimmte. Mit fünfundsechzig war es an der Zeit, aufzuhören, zumal sie keine Kinder hatten, die den Betrieb einmal übernehmen wollten. Die eigenen Kräfte ließen spürbar nach. Im vergangenen hektischen Herbst hätte er die Arbeit kaum mehr bewältigen können, wenn er noch seine elf Hektar zu bearbeiten gehabt hätte. Dann hätte spätestens der Spott der Winzerkollegen dazu geführt, dass er sich mit dem Thema auseinandersetzte. »Der Kurt kommt mit der Arbeit nicht mehr nach. Dem sind die Burgunder am Stock verfault. Gesehen hat man es und gerochen. Der ganze Weinberg hat nach Essig gestunken. Aber nicht nach Balsamico. Unparfümierter Essigreiniger. Wenn du zum Kurt eingeladen wirst, bringst du deinen Wein jetzt besser selbst mit.«

Er kommentierte seine eigenen Gedankengänge mit einem entschlossenen Kopfschütteln. Es war die richtige Entscheidung gewesen, sich zur Ruhe zu setzen. In manchen Lagen waren zwei bis drei Erntedurchgänge notwendig gewesen, um eine ordentliche Qualität auf die Kelter zu bekommen. Durch den nassen Spätsommer waren viele Beeren frühzeitig aufgeplatzt. Die beschädigten Trauben hatten entfernt werden müssen, um den weiterreifenden Rest nicht durch Fäulnis zu bedrohen. In seinen verbliebenen kleinen Parzellen war das keine große Sache gewesen. Er war ja sowieso weiterhin jeden Tag dort und konnte sich ohne Hetze auf die notwendigen Arbeiten konzentrieren. Darüber hinaus blieb ihm nun mehr Zeit für den einen oder anderen Plausch mit einem der Kollegen.

Kurt-Otto Hattemer musste schmunzeln. Das war das eigentliche Kunststück, das ihm gelungen war. Er nickte mehrmals und schmatzte in Vorfreude auf seinen Riesling. Über Jahrzehnte hinweg hatten die Nachbarn allesamt einen großen Bogen um ihn gemacht. Er war nicht blind gewesen, auch wenn sie das bestimmt glaubten. Er hatte es immer gemerkt, wenn sie sich rasch hinter der Rebzeile wegduckten, sobald er im Anmarsch war. Dabei hatten sie sich meistens so ungeschickt angestellt, dass es selbst einem Idioten aufgefallen wäre. Jeder Arbeiter im Weinberg spähte gern wie ein Erdmännchen über die Rebzeilen hinweg, wenn ein Geräusch zu hören war. Man verfolgte mit großem Interesse, wer mit welchem Gerät in welche Richtung fuhr. Dabei wurde beurteilt, ob die betreffende Arbeit, für die der Kollege unterwegs zu sein schien, bereits Sinn machte oder ob er mal wieder viel zu spät dran war. Mit Genugtuung nahm man zur Kenntnis, dass die anderen allesamt hinterherhinkten, während man selbst – wie in jedem Jahr – ein gutes Stück voraus war. Dann stellte sich Zufriedenheit ein, und die Arbeit an den Reben ging mit einem munteren Liedchen auf den Lippen noch einmal so schnell von der Hand.

Auf Tauchstation waren sie nur gegangen, wenn er sich mit seinem Schlepper im Anmarsch befand. Dann hatten seine lieben Kollegen, vor allem die jüngeren, auf einmal keine Zeit mehr gehabt, waren gehetzt und gestresst gewesen, weil sie sich mit ihren ständig wachsenden Weinbergsflächen viel zu viel aufhalsten. Der Plausch im Weinberg, der über Generationen das Salz in der täglichen Arbeitssuppe gewesen war, blieb dadurch bedauerlicherweise – für ihn und ein paar der anderen Älteren, denen es ähnlich ging – auf der Strecke.

Vor zwei Jahren hatte sich das schlagartig geändert. Zunächst hatte er sich darauf keinen Reim machen können. Diejenigen, die sich zwischen den Rebzeilen regelrecht tot gestellt hatten, wenn er an ihnen vorbeifuhr, steuerten neuerdings zielsicher auf ihn zu, um sich ausgiebig mit ihm über Dorfneuigkeiten auszutauschen. Dann war der Groschen gefallen, denn ganz umständlich kam irgendwann jeder von ihnen auf die Frage zu sprechen, wie es denn mit seinen vielen und schönen Weinbergslagen weitergehen würde, wenn er demnächst in Rente ginge. Sie lobten überschwänglich seinen Eifer, klopften ihm fortwährend auf die Schulter und erinnerten an alte familiäre Bande, um ihn zu guter Letzt beiläufig darauf hinzuweisen, dass sie gern die eine oder andere Parzelle übernehmen würden, wenn es denn endlich so weit wäre, zu einem ordentlichen Pachtzins natürlich, das verstehe sich ja von selbst.

Anfangs hatte er noch geglaubt, sich für einen entscheiden zu müssen. So, wie man ja auch nur eine Frau heiraten konnte. Aber für wen? Wer sollte all die schönen Weinberge bekommen, die ihm so am Herzen lagen? Mit jedem Fleckchen im Teufelspfad verband er eine Geschichte. Erzählungen und Erinnerungen, die zum Teil noch von seinen Vorfahren stammten und in ihm weiterexistierten. Er wusste: Wer alle seine Weinberge bekam, war ihm zeit seines Lebens verpflichtet und dankbar. Da er sie ganz sicher niemals verkaufen würde, blieb dem Begünstigten nichts anderes übrig, als sich auf Dauer mit ihm gut zu stellen. Derjenige konnte sich nicht wegducken und den toten Mann spielen, wenn er im Anmarsch war.

Deswegen war seine im fortgeschrittenen Stadium einer Süßweinprobe geborene Idee ja auch so überaus genial gewesen. Kurt-Otto kicherte bei dem Gedanken daran still vor sich hin. Darauf hätte er eigentlich schon viel früher kommen müssen, spätestens, als das sich steigernde Interesse aller Winzerkollegen deutlich wurde. Regelrechte Traktorprozessionen hatten sich in seinem letzten Jahr als aktiver Haupterwerbswinzer formiert. Brach einer mit seinem Schlepper auf und steuerte den Weinberg an, in dem er arbeitete, konnte man sicher sein, dass wenig später Bewegung in den gesamten Südhang im Selztal kam. Einem aufgeschreckten Ameisenhaufen gleich setzten sich die Späher in Bewegung, um zielsicher, aber gänzlich zufällig bei ihm vorzufahren und sich in die Schlange der Winzerkollegen einzureihen. Zeitweise war der komplette noch lebende örtliche Berufsstand in seiner Rebzeile anwesend. Und keiner traute sich, als Erster zu gehen. So gut wie in diesem seinem letzten Jahr vor der Rente war er noch nie informiert gewesen.

Kurt-Otto war vieles, nur nicht naiv. Daher hatte er diese Zeit in vollen Zügen genossen, im Bewusstsein, dass das Interesse mit seiner endgültigen Entscheidung für einen Pächter schlagartig erlöschen würde. Letztlich musste es an der 1976er Kerner Beerenauslese gelegen haben, die er an jenem Abend, als Renate bei ihren Landfrauen war, allein geleert hatte. Auf einmal war sie da gewesen, die geniale Idee, die ihm helfen würde, den herrschenden Zustand über den Eintritt in den Winzerruhestand hinaus zu konservieren. Ein knappes Dutzend dankbarer Kollegen, die alle gern mal auf einen Plausch an einem seiner beiden winzigen Weinberge anhielten, welche er jetzt, als rüstiger Rentner, weiterhin aufopferungsvoll pflegte, wurde von ihm bedacht. Jeder der um seine Gunst buhlenden Kollegen hatte seinen Teil abbekommen. Gerade so viel, dass es angeraten schien, sich auch weiterhin um sein Wohlwollen zu bemühen, zumal Kurt-Otto die Pachtverträge bewusst mit einer kurzen Laufzeit versehen hatte, damit er ein letztes Druckmittel in der Hand behielt.

Er schmatzte noch einmal zufrieden. Nach anfänglichem Rumoren waren sie ihm schon bald dankbar gewesen, dass er keinen von ihnen bei der Verteilung vergessen hatte. Nur Klaus Dörrhof hatte etwas länger gebraucht. Er war der größte Winzer im Dorf und war fest davon ausgegangen, dass er alle seine Weinberge auf einen Schlag übernehmen könne. Schließlich hätten sich schon ihre Großväter in jungen Jahren für den Fall der Kinderlosigkeit gegenseitige Unterstützung zugesichert. Mittlerweile war aber auch das ausgeräumt, und Klaus Dörrhof mühte sich weiter redlich, ihm zu zeigen, dass nur er wirklich in der Lage war, die ihm anvertrauten Weinbergsparzellen in seinem Sinne weiterzupflegen. Allerdings war er in diesem Bemühen keinesfalls der Einzige.

Da anscheinend alle die kurze Laufzeit der Pachtverträge so deuteten, dass er sich wohl erst einmal ansehen wollte, wie sie mit seinen Weinbergen umgingen, waren seine Stücke in diesem Herbst die schönsten gewesen. Ein Umstand, der ihn dazu bewogen hatte, den Dörrhof um so viele Trauben aus seinem alten Grauen Burgunder zu bitten, dass er das kleine Holzfass neben dem Edelstahlfass mit der Riesling Auslese wieder volllegen konnte. Es war ein guter und sehr knapper Jahrgang, von dem man sich tunlichst einen Teil sicherte, bevor es zu spät war. Renate hatte er diese punktuelle Umkehr vom Weg der Reduzierung seiner eingelagerten Weinmenge besser verschwiegen. Sie würde dafür kaum Verständnis aufbringen, wo doch noch mehrere Jahrgänge aus demselben Weinberg fast vollständig im hinteren Teil seiner Scheune, die ihm als Flaschenlager diente, reiften. Das Holzfass mit dem Grauen Burgunder, das sechshundert Liter fasste, hatte er daher ebenfalls mit der Aufschrift »Riesling« gekennzeichnet. Falls Renate wider Erwarten nachfragte, konnte er immer noch den besonders ertragreichen Weinberg loben, der ihm in diesem Jahr eine solche Flut an Trauben beschert hatte, dass er zwei Fässer benötigte.

Er saugte entschlossen, behielt den oberen Teil des durchsichtigen Schlauches im Blick und brachte sein Weinglas in Position. Milchig trüb schoss ihm der Riesling entgegen. Kurz bevor er seine Lippen erreichte, senkte er das Schlauchende in das Weinglas hinab. Plätschernd floss der gärende Saft hinein. Das erste Glas goss er vorsichtig wieder zurück in das Fass. Dann ließ er das laufen, was er zur allmorgendlichen Verkostung quer durch seinen reduzierten Gärkeller benötigte. Drei Fässer hielt er vor, einen Kerner, einen falsch beschrifteten Grauen Burgunder und ebenjene Riesling Auslese, mit der er seinen kleinen Kontrolldurchgang stets begann. Da dieses Vorgehen keine korrekte Probenfolge darstellte, beendete er seinen vinologischen Rundgang durch den eigenen Keller, wie er ihn begonnen hatte, indem er sich zum Abschluss noch einmal einen kleinen Probierschluck aus dem ersten Fass gönnte. Nur zur Bestätigung und Rückversicherung, dass wirklich alles passte und die Gärung so verlief, wie er es erwartete. Noch hatte der gärende Saft nämlich kaum Alkohol. Ganz langsam mühten sich die Hefen an der immensen Süße ab. Ein minimaler täglicher Fortschritt nur, den herauszuschmecken er sich aber doch imstande glaubte.

Vorsichtig führte er das Glas an seine Nase heran. Die Augen hatte er schon geschlossen, weil er sich ganz auf den betörenden Geruch konzentrieren wollte. Dörrobst, Rosinen, Honig. Alles Dinge, die sich sonst nicht unbedingt auf seinem Speiseplan fanden, bestenfalls in Renates Quellmüsli, das sie sich umständlich aus einem guten Dutzend einzelner Zutaten jeden Morgen zum Frühstück zusammenstellte, um ihn anschließend mit einem strafenden Blick zu bedenken, weil auf seinem Frühstücksbrettchen ein überschaubares, aber üppig belegtes Brot mit Dosenbratwurst auf den Verzehr wartete. Schon bei dem Gedanken daran lief ihm wieder das Wasser im Mund zusammen. Spätestens nach seiner ersten Runde quer durch den Teufelspfad würde er einen kleinen Zwischenstopp einlegen, um ein zweites Frühstück einzuschieben.

Viel zu tun hatte er jetzt, Anfang November, da die Weinlese schon seit fast zwei Wochen beendet war, nicht mehr. Die kleinen Klammern, die die Drähte unter Spannung hielten und verhinderten, dass die gerade gestellten grünen Triebe der Reben wieder übereinanderrutschten, hatte er schon letzte Woche entfernt. Gestern hatte er zudem die zwei Drahtpaare, die den Aufwuchs in die Höhe begleiteten und gerade hielten, heruntergehängt. Damit war eigentlich alles für den Winter vorbereitet. Der nächste wirkliche Arbeitsschritt stand erst Ende Januar mit dem Rebschnitt auf dem Plan. Ausreichend Zeit also, die er zur Begleitung der gärenden Weine im Keller und für seine Kontrollfahrten durch die verschiedenen Weinlagen des Dorfes nutzte. Er musste ja schließlich ein Auge darauf haben, ob seine Weinberge von den Kollegen weiterhin gut gepflegt wurden.

Geräuschvoll sog er Luft durch die Nase ein. Die Aromen, die dabei durch sie hindurchströmten, wusste er im Moment noch nicht recht zuzuordnen. Sie wollten nicht in das erwartete Spektrum passen. Konzentrierte Fruchtaromen, opulente Süße, ein dichter Gesamteindruck, der sein Rückgrat durch die deutlich schmeckbare Säure erhielt, die dem Wein darüber hinaus eine angenehme Frische verlieh. Das konzentrierte Aroma der Rosine vermählte sich mit dem knackigen Geschmack nach reifen, aber noch festen Trauben. Diese Vielschichtigkeit machte einen solchen Wein aus.

Noch einmal atmete er tief und hoch konzentriert ein. Die Rosinen waren weg und mit ihnen das gesamte restliche Dörrobst, das er doch gestern Morgen noch so deutlich und präsent hatte herausschmecken können. Geblieben war ein stechender Geruch, der alles dominierte. Kurt-Otto riss die Augen auf, versetzte sein Glas in hektische Bewegungen und die milchig trübe Flüssigkeit in Rotation. Schnell versenkte er seine Nase wieder hinein und sog ein drittes Mal den Geruch seines Kellerlieblings auf. Weine durchschritten mitunter tiefe Täler auf ihrem langen Weg hinauf zu wahren Aromagipfeln. Er atmete schnaufend aus. Einen gestandenen Winzer mit fünfzig Jahren Weinerfahrung brachte nichts so leicht aus der Ruhe. Trotzdem spürte er die Hitze, die in diesem Moment in ihm aufstieg. Sein Glas kreiste jetzt noch schneller, als ob sich die bösen Gerüche auf diese Weise vertreiben ließen. Ungläubig und kopfschüttelnd senkte er seine Nase erneut hinab, obwohl er doch wusste, dass sich nichts verändert hatte. Sein Wein stank abscheulich. So viel stand fest. Er war sich nur noch nicht ganz sicher, ob ihn der Geruch an fermentiertes, aber ungekochtes Sauerkraut oder eine frisch geöffnete Dose Presskopf erinnerte oder an beides zugleich.

Ihm entwich ein deutlich vernehmbares Stöhnen, das von den grob gehauenen Bruchsteinen seines alten Kellergewölbes als dumpfer Hall zurückgegeben wurde. Irgendetwas war seit gestern in diesem Fass gehörig schiefgelaufen. Er wusste zwar noch nicht, was, aber zu leugnen war es nicht mehr. Das war kein kurzfristiges Zwischentief in der Entwicklung eines jungen, noch gärenden Weines, sondern ein ernsthaftes Problem, für das er keine schnelle Erklärung parat hatte. Er musste schleunigst etwas unternehmen, bevor es zu spät war.

3

Posthalters Sigrun rieb sich in wohliger Vorfreude die Hände. Den Henkelkorb unter ihrem Arm drückte sie fester an sich und beschleunigte noch einmal ihren Schritt. Sie war spät dran. Gestern Abend hatte sie wieder einmal keine Ruhe gefunden. Es hatte das große Herbstfest der Volksmusik gegeben, mit diesem sympathischen jungen Mann, dessen Namen sie sich einfach nicht merken konnte. So freundlich und zuvorkommend, davon konnten sich ihre beiden maulfaulen Schwiegersöhne eine dicke Scheibe abschneiden. Die bekamen kaum ein Wort heraus, wenn sie denn überhaupt mal die Last auf sich nahmen, bei einem der ohnehin seltenen Besuche ihrer Töchter mitzukommen. »Holger hat die Woche über so viel zu tun. Er braucht das Wochenende, um zur Ruhe zu kommen.« – »Gernot arbeitet immer noch Schicht, Mutter, das müsstest du doch wissen. Aber er lässt dich ganz herzlich grüßen.« Alles gelogen, billige Ausreden! Ihre beiden Schwiegersöhne taugten nichts, und das hatte sie ihren beiden Töchtern vor der jeweiligen Eheschließung auch auf den Kopf zugesagt. Nicht nur einmal, sondern wiederholt. Ihr brauchte jetzt also niemand einen Vorwurf zu machen. Sie hatte alles getan, um die Mädchen zu warnen.

Der freundliche und gepflegte junge Mann aus dem Fernsehen dagegen, das wäre ein Schwiegersohn nach ihrem Geschmack gewesen. Der sah einem wenigstens in die Augen, wenn er mit einem sprach. Er begrüßte und verabschiedete sich herzlich und voller Überschwang von seinen Gästen. Und außerdem konnte er selbst auch so schön singen. Ihr kamen stets schon nach wenigen Takten die Tränen, obwohl die Melodien in der letzten Zeit gewöhnungsbedürftiger geworden waren. Der hämmernde Rhythmus und das hektische Herumgespringe gefielen ihr oft nicht so gut. Dafür interessierten sich aber mittlerweile anscheinend auch junge Leute für ihre Lieblingssendung. Es waren gestern wieder so viele mit dabei gewesen. Sie hatte sich regelrecht gewundert darüber, wenn die Kamera die begeisterte Menge einfing, die den Stars zujubelte. Andrea Berg, Nana Mouskouri und die Zipfelbuben waren aufgetreten. Nicole hatte ein so schönes Lied gesungen, dass sie sich in jenem Moment ihrem lange schon verstorbenen Heinrich wieder nahe gefühlt hatte. Sie musste bei der Erinnerung daran schon wieder schniefen und wischte sich mit der linken Hand eine Träne von der Wange. »Ich war so lang allein, dachte, wie kann das sein?«, hörte sie Nicole singen. »Hat der Herrgott mich einfach vergessen? Wir seh’n uns im Himmel, seh’n uns im Himmel. Vielleicht heut Nacht.«

Sigrun entwich ein tiefer Seufzer. Sie schüttelte die Gedanken ab, die sie doch nur wieder traurig machten. Das war völlig unangebracht. Sie war auf dem Weg zu einem Geburtstag und nicht zu einer Beerdigung. Roswitha wurde heute achtzig. Das hatte sie am Donnerstag im Nachrichtenblatt gelesen. Eine schöne Abwechslung für den heutigen Tag. Ab mittags wurde mit der Familie und den geladenen Gästen gefeiert, aber der Morgen gehörte traditionell all denen, die einfach so vorbeikamen. Egal, ob man dem Geburtstagskind nahe- oder – wie sie – ferner stand. Ein Gläschen Sekt, belegte Brötchen, vielleicht noch ein zweites oder drittes Gläschen Sekt, wenn die Gespräche sich gut entwickelten, und im Anschluss ein Tässchen Kaffee. Der Vormittag versprach ein angenehmer zu werden.

Auch ihre beiden Rommé-Freundinnen, die Käfergässer-Gerda und die Chaussee-Helga, ließen keinen runden Geburtstag im Dorf aus, bei dem man sich prächtig unterhalten und ausgiebig auf Kosten anderer zulangen konnte. Sie war also in guter Gesellschaft, wollte nur nicht unbedingt zu den Letzten zählen, die zum Gratulieren aufliefen. Die bunten Platten waren dann immer schon arg ausgedünnt. Sie mochte keine Hausmacher-Wurst. Räucherlachs und Forelle waren weg, wenn man sich nicht sputete, und nachgelegt wurden dann meist nur noch Leber- und Blutwurstbrote. »Wir mögen das Rustikale. Handfeste Hausmannskost ist doch das Beste«, hieß es dann. Pustekuchen, alles dumme Ausreden! Jeder griff zuerst ganz schnell und mehrmals bei den besseren Sachen zu. Und erst, wenn die weg waren, fanden auch die Mettbrote notgedrungen ihre willigen Abnehmer.

Jetzt rannte sie fast. Vor einer halben Stunde hatte sie da sein wollen. Alles nur, weil sie verschlafen hatte. Die Augen waren ihr schon beim letzten Teil der Volksmusiksendung zugefallen. Sie kannte den gebräunten Mann mit dem kugelrunden Mondgesicht und dem weißen gehäkelten Topflappen auf dem Kopf bereits aus den vorherigen Sendungen. Sein Vorname klang ausländisch, der Nachname wie diese vertrocknete Mumie, die sie im ewigen Eis der Alpen ausgegraben hatten. Trotz dieser Gedächtnisstützen wollte ihr partout nicht einfallen, wie er hieß. Seine Musik mochte sie so wenig wie ihn, daher schloss sie stets die Augen, wenn er auf die Bühne sprang. So musste sie eingeschlafen sein und war erst mitten in der Nacht wieder aufgewacht. Da lief gerade die Wiederholung dieser Sendung, in der sie wirkliche Verbrechen nachstellten, um die nach langer Zeit noch immer flüchtigen Täter zu fangen. Sie hatte gar nicht weitergucken wollen, war davon aber einfach nicht losgekommen, obwohl sie genau wusste, dass sie danach kein Auge mehr zumachen würde. Die Wirklichkeit war nämlich viel schlimmer, als man sie in den sonst doch eher lächerlichen Krimis darstellte. Bis zum Morgengrauen hatte sie wach auf dem Sofa gelegen, weil sie sich nicht mehr hinauf ins Bett traute. Die alten Dielen knarrten ständig, selbst dann, wenn sich niemand über sie hinwegbewegte.

Sigrun schob mit einem schnellen Handgriff das Tuch zur Seite, das sie über ihren Henkelkorb breitete, sobald sie aus dem Haus ging, und kontrollierte, ob noch alles richtig stand. Sie hatte den Korb immer abgedeckt. Es brauchte nicht jeder zu sehen, was sie mit sich führte. Die neugierigen Weiber im Dorf stierten nämlich immer genüsslich hinein, um den Inhalt zu studieren. »Lachsersatz, man lässt es sich gut gehen. Ein Piccolöchen dazu. Wer hat denn Geburtstag?« Es ging niemanden etwas an, was sie der Roswitha als kleines Geschenk zum runden Geburtstag mitbrachte. Sie würden ja doch bloß ihre dummen Kommentare abgeben. »Hat sie wieder von ihrem eigenen Rotwein dabei? Das Zeug kann man kaum trinken. Es ist ja auch quer durchs ganze Dorf gelaufen.« Dann schüttelten sie sich und verzogen angewidert die Gesichter, weil sie alle keine Ahnung hatten, was gut schmeckte.

Es war der blanke Neid, der sich auf diese Weise Bahn brach. Als die jungen Wilden im letzten Jahr in die Kellerei von Eugen Appenheimer eingebrochen waren und die Zigtausende Liter Rotwein durchs Dorf geflossen waren, hatten sie nämlich alle tief und fest geschlafen. Nur sie allein war so geistesgegenwärtig gewesen, die Gunst der Stunde zu nutzen, und hatte die halbe Nacht den vorbeiströmenden Rebensaft ins Haus geschafft. Einhundertzwölf Flaschen Wein hatte sie in den Tagen danach aus der Badewanne heraus durch den Kaffeefilter abgefüllt. Kurt-Otto Hattemer hatte ihr freundlicherweise ausreichend Leergut zur Verfügung gestellt. Damit sie sich nicht länger das Maul zerrissen, experimentierte sie seither mit verschiedenen Rezepturen. Sehr zufrieden war sie mit den eingelegten Pflaumen. Über den Spätsommer hinweg hatte sie in den fortgeschrittenen Abendstunden in den Gärten um den Friedhof herum fleißig Fallobst und solches, das kurz davorstand, gesammelt. Die Pflaumen hatte sie entsteint und mit reichlich Kristallzucker in ihrem eigenen Rotwein eingelegt. Ein kräftiger Schuss achtzigprozentigen Strohrums, den sie sonst nur sehr sparsam zum Backen verwendete, verlieh dem Ganzen den aromatischen Feinschliff. Feurige Wärme verbreitete ihr Rumtopf, für den sie reichlich lobende Worte erntete, auch wenn das kleine Restchen Misstrauen erst nach der dritten oder vierten verzehrten Pflaume restlos aus den Gesichtern verschwand.

Schwungvoll drückte sie die Klinke am Hoftürchen hinunter und behielt das hohe Tempo bei, mit dem sie den letzten Teil der Strecke zurückgelegt hatte. Weitgehend ungebremst rannte sie gegen das Türblatt, ein ausgeblichenes Holzimitat aus Kunststoff. Das gab eine mächtig dicke und rot leuchtende Backe. Mit einem raschen Blick unter das Tuch stellte sie sicher, dass der Inhalt ihres Henkelkorbes unversehrt geblieben war. Das hätte eine schöne, kaum zu behebende Sauerei im Flechtwerk gegeben. Sie schüttelte verwundert den Kopf, während sie die Klinke auf und nieder bewegte, ohne dass dies den wenig zufriedenstellenden Zustand veränderte, in dem sie sich befand. Hatten sie die Tür von innen verriegelt, weil schon so viele heute Morgen da gewesen waren? Wegen Überfüllung geschlossen, um kurz nach neun? Sie wollte das nicht glauben. Mehrmals betätigte sie ungeduldig den Klingelknopf an der Hauswand neben dem Hoftor. Konzentriert lauschte sie. Das Läuten war gedämpft, aber deutlich zu vernehmen. Sie drückte ihn direkt zwei weitere Male und hielt den Knopf am Ende lange in Position. Selbst wenn die belegten Brote schon alle aufgegessen waren, musste doch zumindest noch ein Gläschen Schaumwein für sie übrig sein. Roswithas Schwiegersohn war Winzer irgendwo zwischen Alzey und Worms. Die Betriebe dort waren sehr groß, eine ausreichende Versorgung der Gratulanten konnte somit als gesichert gelten. Aber warum machte dann niemand auf?

Sigrun postierte ihren Henkelkorb vorsichtig auf dem Pflaster des Bürgersteigs direkt am Hoftor. Dann machte sie ein paar kleine Schritte zur Seite und schob ihren Kopf ganz nahe an die Fensterscheibe heran. Mit beiden Händen schirmte sie ihre Augen gegen die herbstliche Morgensonne ab, sodass sie durch die Scheibe und die dünne Gardine dahinter einen Blick in Roswithas Wohnzimmer werfen konnte. Da war niemand. Ihr Blick hetzte durch den Raum. Das Sofa mit den bestickten Kissen, mehrere Puppen in selbst gehäkelten und reich verzierten Kleidchen thronten darauf. Darüber ein Stillleben, schwer erkennbares Obst und welkende Blumen. Eine alte Vitrine auf der anderen Seite des Raumes neben der Tür in den Flur. Große Weingläser mit langen roten Stielen und … Sie zuckte erschrocken zusammen. Da lag etwas. Das musste Roswitha sein, ihre Beine, die aus dem Flur ein Stück weit in den Raum hineinragten. Sigruns Herz raste so sehr, dass sie sich an die Brust fassen musste. Am eigenen runden Geburtstag! Oh Gott. Hektisch warf sie sich herum. Sie wollte eigentlich laut schreien, aber in diesem Moment rollte ein Junge auf einem dieser neumodischen Bretter an ihr vorbei, die sich ganz von allein fortbewegten, ohne dass sie erkennen konnte, wie das möglich war.

»Junge! Ruf die Polizei. Hier ist etwas ganz Schreckliches passiert. Roswitha liegt tot im Flur!«

4

Der Geruch haftete noch immer an ihm. Wie lange war es her? Er wusste es nicht mehr zu sagen. Beschreiben konnte er sie, die Zeitalter, die seither vorbeigezogen waren, zählen konnte er sie jedoch nicht. Die Trauben waren damals noch nicht reif gewesen. Es hatte viele Wochen lang geregnet. Immer wieder und ohne Unterlass. Große Mengen Regen waren gefallen. Der Messbecher im Blumenkübel vor der Haustür war fast jeden Morgen ganz voll gewesen. Seine Mutter hatte die Geranien drum herum nicht mehr gießen müssen. Ihnen bekam das Wetter anscheinend sehr gut, sie reckten ihre bunten Blüten trotzig in die Höhe. Begleitet wurden die Niederschläge von einer langen Zeit der Finsternis, so wie er es vorausgeahnt hatte. Er hatte sich kaum nach draußen getraut. Da es ständig regnete, hatte seine Mutter ihm das verziehen. Eine Zeit lang jedenfalls. »Du musst in die Weinberge, Junge, das Laub schneiden. Die Rebgassen wachsen sonst zu. Dann kommst du gar nicht mehr durch. Es wird höchste Zeit. Eigentlich hätte es längst gemacht werden müssen. Letzte Woche bist du überhaupt nicht aus deiner Wohnung gekommen. Vater hat mit der Schere in unserem Spätburgunder in der Lage Nagelschmitt zumindest die dichtesten Reihen gelichtet. Er kann aber doch nicht alle unsere Weinberge von Hand schneiden. Es sind so viele, und er ist so schlecht auf den Beinen. Wir haben keine Knechte und Mägde mehr. Uns hilft keiner. Sie zerreißen sich nur wieder das Maul, lachen gehässig und zischeln, wenn ich an ihnen vorbeigehe. Du weißt, wie weh mir das tut.«

Er konnte den Geruch aus der Tiefe wieder riechen. Er hatte sich als Erinnerung in seiner Nase und seinem Kopf festgesetzt, um ihn als Zeichen des Triumphs und der Angst wiederkehrend daran zu erinnern, dass es lange noch nicht zu Ende war. Die Sonne schien jetzt, aber wirkliche Helligkeit brachte sie nicht. Geduckt tastete er sich weiter an der Hauswand entlang. Den Weg aus seiner Wohnung im hinteren Teil des Gehöfts nach vorn zu seinen Eltern, die im alten Haus wohnten, legte man in weniger als einer Minute zurück. Wenn er die Nähe des Feindes fühlte und die lähmende Angst übermächtig war, kam er kaum von der Stelle. Kein Geräusch durfte ihn verraten. Sein Atem ging lautlos. Er hielt sich so nahe an der Wand, dass er fast mit ihr verschmolz, in die Rillen und Poren des bröckelnden Putzes hineinkroch und somit unsichtbar wurde für ihre vielen Augen, die unablässig nach ihm suchten.

Nachts riefen sie nach ihm. Meistens ganz leise, weil sie so weit weg waren. Wispernde Stimmen, die seinen Namen flüsterten. Kamen sie näher und wurden deutlicher, ließ er sich lautlos hinabgleiten. Den Spalt zwischen dem Rahmen seines Bettes und der kalten Wand kontrollierte er ständig. Er war die einzige Fluchtmöglichkeit, wenn sie die Witterung aufgenommen hatten. Sobald er hörte, wie sie, mit ihren Füßen scharrend, langsam, aber beharrlich näher kamen, rollte er sich geräuschlos immer weiter zur Seite, bis er verschwand. Sie konnten ihn dort nicht sehen, nicht einmal, wenn sie direkt vor seinem Bett standen. Ihre Schritte spürte er als sanfte Vibrationen, auch wenn sie sich noch so viel Mühe gaben, das zu verhindern.

Die Angst und der Geruch, der seit damals in seiner Nase hing, erinnerten ihn daran, dass es weitergehen musste. Kaum drei Wochen waren vergangen, seit er den Kampf aufgenommen hatte. Der erste Gegner war vernichtet. Er hatte ihn besiegt und dorthin zurückgeschickt, von wo er gekommen war. Er durfte nicht ruhen. Von ihm hing alles ab. Jeder merkte, dass das Böse mächtiger geworden war. Alle im Dorf klagten und jammerten, ohne zu wissen, dass ihnen die Zeit davonlief. Und sie hatten keine Ahnung, welche Last er auf sich nahm, um sie alle zu retten.

5

Kurt-Otto Hattemer war völlig außer Atem. Er schnaufte heiser und fühlte, dass seine Beine weich wurden. Hastig streckte er seine rechte Hand aus, um sich am Geländer festzuhalten. Jetzt bloß nicht der Länge nach hinschlagen! Ein Blick auf seine linke Hand erinnerte ihn daran, dass er extrem vorsichtig sein musste. Die Flasche war offen, weil er befürchtete, dass sie aufgrund des gärenden Inhalts ansonsten auf dem Weg hierher platzen könnte.

Seine Atmung wollte sich nicht beruhigen. Er war eindeutig zu schnell gerannt. Der spitze Stich, der ihm nun zu allem Überfluss in die Seite fuhr, ließ ihn zusammensacken. Mit der rechten Hand am Geländer hielt er sich nur mehr notdürftig auf den Beinen.

»Was ist denn mit dir los?«

Die Stimme kam ihm bekannt vor. Sein heißer Schädel arbeitete langsam.

»Klaus.« Er schnaufte die Worte hinaus. »Du musst mir helfen.« Die Worte wollten ihm nicht recht über die Lippen kommen. Er versuchte daher, die linke Hand mit der offenen Weinflasche in die Höhe zu halten, was ihm auch ganz passabel gelang. Seine Beine fühlten sich an wie grüner, glibberiger Wackelpeter. Ein säuerlicher Ekel überkam ihn. Er musste mehrmals dagegen anschlucken. Immerhin erinnerte er ihn wieder daran, weshalb er hierhergerannt war. Und das auch noch in einem Tempo, das ihn vollkommen überforderte. Kein Wunder, der Sauerstoffmangel, die weichen Beine, der wankende Untergrund.

»Mensch, Kurt-Otto, was machst du denn für Dummheiten? Komm erst mal rein.« Klaus Dörrhof griff ihm unter den linken Arm und zog ihn sachte die Stufen hinauf zur Haustür. »Es muss dich ja nicht jeder in diesem Zustand sehen. Noch dazu am frühen Morgen!«

Kurt-Otto nickte und hielt die Flasche fest umklammert. Nicht dass die hier noch runterfiel, so kurz vor dem Ziel.

Klaus nahm sie entschlossen an sich. »Nun gib schon her. Ich passe für dich darauf auf. Wenn du in die Scherben fällst, muss ich noch den Krankenwagen rufen, und dann weiß es das ganze Dorf!« Er schüttelte den Kopf. »Ich sage meiner Gudrun immer, dass es nicht gut ist, abrupt aufzuhören. Man braucht eine Beschäftigung, auch im Alter, sonst wird man trübsinnig, verliert den Lebensmut oder fängt«, er hielt mit einem kurzen Stöhnen inne, weil er unter Kurt-Ottos Gewicht selbst in die Knie zu gehen drohte, »oder fängt mit dem Saufen an.«

»Das ist doch Quatsch.« Abgehackt drangen die Worte aus seinem Mund. Nach jedem einzelnen schnappte er pfeifend nach Luft. Immerhin fühlten sich seine Beine schon wieder etwas stabiler an. Zum Glück konnte ihn Renate so nicht sehen. Das wäre ein wahrer Sturzbach auf die Mühlräder ihrer Ernährungstheorien. »Die vielen tierischen Fette, meine liebe Reblaus, dein daraus resultierendes Übergewicht, gerade in den gefährlichen Problemzonen«, dozierte sie gern. Dabei starrte sie stets ausgedehnt auf seinen Bauch. »Das schlägt aufs Herz. Dann kommt noch der Alkohol dazu.«

Mittlerweile waren sie im Hausflur angekommen. Von hier führte eine breite, geschwungene und reichlich mit Trauben und anderen Weinmotiven verzierte Eichentreppe in den oberen Stock. Jeder im Dorf kannte die Treppe und führte gern ihre Opulenz und den geschnitzten Detailreichtum an, wenn das Gespräch auf den über Generationen stetig vermehrten Besitz der Dörrhofs kam. Dabei war das nur ein Teil der Wahrheit. Der eigentliche Schatz der Familie lag im Keller unter der Scheune, und den kannten nur die wenigsten. Ein prachtvolles und fachgerecht restauriertes Kreuzgewölbe konnte man dort besichtigen, das zudem von einem guten Dutzend geschnitzter Doppelstückfässer ausgefüllt wurde. Seit Generationen war es bei den Dörrhofs üblich, sich gegenseitig zu allen möglichen wichtigen Familienereignissen ein solches Fass zu schenken. Die sichtbare Stirnseite der Holzfässer bot reichlich Platz für die Verewigung der Namen des Schenkenden und des Beschenkten sowie der prägenden Familienereignisse, die man der Nachwelt zu hinterlassen gedachte.

Um diesen Keller kreisten die wildesten Geschichten. Wer und was auf den Stirnseiten zu sehen war, wurde gern diskutiert. Viel mehr interessierten sich aber alle für das, was angeblich auf den versteckten Rückseiten der Zweitausendvierhundert-Liter-Fässer zu entdecken war. In Ungnade gefallene Vorfahren, die man aus dem kollektiven Familiengedächtnis tilgte, indem man das Fass und damit sie der Wand zudrehte und die ehemalige Rückseite einfach neu verzieren ließ? Böse Zungen behaupteten, dass auf diese Weise auch ein Hakenkreuz zur Wand gedreht worden war, ebenso wie eine relativ junge, detailliert in Szene gesetzte Zeichnung, die den Fall der Mauer und die sich daraus entwickelnde Wiedervereinigung verherrlicht hatte. Klaus Dörrhof hatte sich nämlich gleich nach der Wende im Osten versucht, mit seinem Projekt eines zweiten Weingutes in der Nähe von Bad Kösen allerdings Schiffbruch erlitten. Die Firma, die er dort mit einem ehemaligen Mitarbeiter betrieben hatte, war pleitegegangen. Im Dorf hatte man lange über die sich stetig steigernden Summen gemunkelt, die er seinem Geschäftspartner überwiesen hatte, um den Keller vor Ort zu modernisieren. Bei einem spontanen Besuch nach der Lese im Herbst hatte er feststellen müssen, dass weder der Keller renoviert noch ein einziges der beschriebenen und pünktlich bezahlten Geräte geliefert worden war. Von Klaus’ Kompagnon fehlte ebenso jede Spur. Seither war Kurt-Ottos Winzerkollege nicht mehr so gut auf die deutsche Wiedervereinigung zu sprechen.

Die letzten Schritte in Richtung Küche konnte Kurt-Otto bereits wieder nahezu selbstständig absolvieren. Noch immer schnaufte er wie eine Lokomotive aus dem Freilichtmuseum, die für die sonntägliche Vergnügungsausfahrt kräftig vorgeheizt worden war. Die Hitze in seinem sicher rot glühenden Schädel fügte sich in dieses Bild trefflich ein.

»Ein Weinglas!« Er hatte den Befehl herausgepustet und zeigte auf die offene grüne Literflasche in Klaus’ Hand. »Den musst du unbedingt probieren.«

Klaus Dörrhof rührte sich nicht. Kurt-Otto glaubte, Besorgnis in seinem Blick erkennen zu können.

»Wer ist da?« Die Stimme kam von oben. Klaus’ Frau, das fehlte jetzt gerade noch! Gudrun war mit seiner Renate einmal wöchentlich bei den Landfrauen. Wenn die ihn hier so sah, außer Puste und schnaufend, brauchte man kein großer Prophet zu sein, um vorauszusagen, dass eine noch zusätzlich ausgeschmückte Beschreibung seines Zustandes postwendend den Weg zu Renate finden würde.

»Kurt-Otto ist hier, um etwas wegen der Weinbergspacht zu besprechen. Du weißt doch, dass ich ihm ein paar Trauben vom Grauen Burgunder aus dem Garnstock abgegeben habe. Das müssen wir ja irgendwie verrechnen.«