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Wer wir füreinander sind und sein wollen – »Ein unheimliches Buch, so kühl, dass es heiß erscheint. Es hat sich in meinen Hirnwindungen festgesetzt wie eine Klette.« Lauren Groff Zwei Menschen treffen sich zum Mittagessen in einem Restaurant in Manhattan. Sie ist eine gefeierte Schauspielerin, die für eine bevorstehende Premiere probt. Er ist attraktiv und beunruhigend jung. Was die Schauspielerin anfangs für den Annäherungsversuch eines Fans hält, nimmt bald eine erstaunliche Wendung: Xavier behauptet nämlich, er sei ihr Sohn – dabei hat sie nie Kinder bekommen. Als im selben Moment auch noch ihr Mann Tomas, ein erfolgloser Schriftsteller, im Restaurant auftaucht, wird ihr klar, dass Xavier ihr Leben aus den Angeln heben kann. Katie Kitamuras psychologisch brillanter Roman stellt die Frage, wer wir füreinander sind. Ein Vexierspiel über den schmalen Grat zwischen Dichtung und Wahrheit.
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Seitenzahl: 210
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Zwei Menschen treffen sich zum Mittagessen in einem Restaurant in Manhattan. Sie ist eine gefeierte Schauspielerin, die für eine bevorstehende Premiere probt. Er ist attraktiv und beunruhigend jung. Was die Schauspielerin anfangs für den Annäherungsversuch eines Fans hält, nimmt bald eine erstaunliche Wendung: Xavier behauptet nämlich, er sei ihr Sohn — dabei hat sie nie Kinder bekommen. Als im selben Moment auch noch ihr Mann Tomas, ein erfolgloser Schriftsteller, im Restaurant auftaucht, wird ihr klar, dass Xavier ihr Leben aus den Angeln heben kann.Katie Kitamuras psychologisch brillanter Roman stellt die Frage, wer wir füreinander sind. Ein Vexierspiel über den schmalen Grat zwischen Dichtung und Wahrheit.
Katie Kitamura
Die Probe
Roman
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Hanser
EINE IRRITIERENDE WAHL, dieser riesige Laden im Financial District, also blieb ich draußen stehen, überprüfte Adresse und Namen des Restaurants, vielleicht hatte ich mich vertan. Dann entdeckte ich ihn an einem Tisch, ganz hinten im Raum. Mein Blick, gerahmt von meinem Gesicht, durchdrang die Schichten des Glases und der Spiegelungen. Ich beschloss zu verschwinden, gar nicht erst zu ihm hineinzugehen, und merkte, wie sich mein Magen Schritt für Schritt entkrampfte, ein wohliges Gefühl.
Da trat ein Mann aus dem Restaurant, er neigte den Kopf und hielt mir die Eingangstür auf, und diese Höflichkeitsgeste — eine Einladung oder Aufforderung — veranlasste mich einzutreten. Im Foyer war viel los, Gäste holten ihre Mäntel, sie drängten in den Gang zur Tür und ins Freie, ihr Ansturm warf mich kurz zurück. Dann lichtete sich die Menge, und ich konnte wieder quer durch den Raum blicken, er hatte sich über die Speisekarte gebeugt, studierte sie angespannt. Sein Tisch stand zwischen Küche und Toiletten, gefangen in einem ständigen Kommen und Gehen. Zwei Geschäftsmänner stießen dagegen, und er richtete sich gereizt auf, ich sah ihn tief durchatmen, als wollte er seine Gedanken sammeln oder ordnen.
Der Empfangskellner erkundigte sich nach meiner Reservierung. Ich erklärte, ich sei verabredet, und zeigte auf den jungen Mann hinten im Restaurant. Xavier. Dieser Empfangskellner, ging mir auf, hatte ihn vermutlich an dem ungastlichen Tisch platziert, und noch während ich hinzeigte, bemerkte ich seine Verblüffung. Sein Blick glitt von meinem Gesicht zu meinem Mantel, zum Schmuck. Es war vor allem mein Alter. Das war es, was ihn verwirrte. Er lächelte knapp und bat mich, ihm zu folgen. Dazu war ich in keiner Weise gezwungen, ich hätte einen Irrtum oder eine Verpflichtung vorschützen, kehrtmachen und mich hinausstehlen können. Nur schien es inzwischen zu spät zu sein, also folgte ich dem Empfangskellner durch das Gewirr der Tische, alle besetzt, ganz wie ich mich, der Höflichkeit gehorchend, von dem aufbrechenden Gast durch eine Geste hatte hineinbitten lassen. Ich fragte mich ein weiteres Mal, warum Xavier diese hektische Stunde und dieses überlaufene Restaurant ausgewählt hatte, wir hätten uns genauso gut an einem anderen, stilleren Ort auf einen Kaffee oder Drink treffen können, nachmittags oder morgens oder am frühen Abend. Der Lärm bedrängte mich, er ballte sich in meinem Kopf, ich konnte nur mit Mühe denken, kaum einen klaren Gedanken fassen.
Xavier blickte auf, als wir uns näherten. Er legte die Speisekarte weg und erhob sich, ich erinnerte mich, dass er ungewöhnlich groß war. Ich fühlte mich vorübergehend eingeschüchtert, schwer zu sagen, ob es an ihm lag oder an der Situation. Er lächelte und sagte, er habe sich gefragt, ob ich kommen würde, und die Hoffnung schon aufgeben wollen, aber da sei ich ja nun.
Der Empfangskellner war gegangen. Wir saßen uns am Tisch gegenüber, ich mit dem Rücken zur Wand. Xavier anschauend, schälte ich den Schal langsam von meinem Hals. Er lächelte noch, sein natürlicher Charme, sein Charisma waren mir schon bei der ersten Begegnung aufgefallen. Nur bemerkte ich jetzt, dass er zu freigiebig damit war. Er ahnte offenbar nicht, wie intensiv die Wirkung war, oder schien sich nicht im Klaren darüber zu sein, dass es in der Welt, in der er sich bewegte, noch weitere Menschen gab. Vor allem Letzteres zeugte davon, wie jung er noch war.
Ich legte den Schal ab, bat um Entschuldigung und erklärte, für gewöhnlich sei ich pünktlich. Er schüttelte den Kopf, viel zu beflissen, er sagte, eine Entschuldigung sei unnötig, er sei schlicht nervös gewesen, er habe schlicht befürchtet, ich könnte es mir doch noch anders überlegen, nur deshalb seien ihm derlei Gedanken gekommen, normalerweise hätte er eine fünfminütige Verspätung gar nicht bemerkt, er sei selbst gern spät dran.
Ein verlegenes Schweigen trat ein, dann begannen wir gleichzeitig zu sprechen — ich erkundigte mich nach seinem Unterricht, und er entschuldigte sich für sein Verhalten bei unserer letzten Begegnung. Mir ist bewusst, wie ich geklungen haben muss, sagte er. Du hast dich bestimmt gefragt, ob ich noch bei Trost bin, ob es einen Grund zur Beunruhigung gibt. Seine Worte ertränkten meine Frage, die Küste gewöhnlicher Konversation entrückte rasant. Er hatte mir das Wort abgeschnitten — nicht, weil er chauvinistisch gewesen wäre, das sicher nicht, sondern weil ihn etwas übermäßig stark drängte oder belastete, er sprach wie jemand, der keine Zeit zu verlieren hatte.
Ich schaute auf die Speisekarte und schlug vor zu bestellen, ich wollte möglichst rasch etwas essen und einen Drink nehmen. Er verstummte, beugte sich wieder über die Karte. Ich fragte, ob er sich schon entschieden habe, und er erklärte, er sei nicht besonders hungrig. Als der Kellner erschien, bestellte er dennoch Hamburger und Pommes frites, ein Kindermenü. Ich musste unwillkürlich lächeln. Ich wählte mein Gericht und bat den Kellner um einen Wodka Tonic, Mittag war vorüber, und ich sah keinen Grund, nicht zu trinken.
Sobald der Kellner weg war, sah ich Xavier an und erkundigte mich erneut nach seinem Unterricht. Ich war entschlossen, das Gespräch in neutralere Bahnen zu lenken, was ihn zu erbosen schien, ich sah ihm an, dass er diesen Mangel an Interesse als beleidigend empfand. Er blieb stumm und antwortete dann etwas mürrisch, sein Unterricht laufe prima. Prima, sagte er, mehr nicht. Ich hakte nach, wollte wissen, wer die Kurse leite, ich würde sicher manchen kennen, doch er schüttelte den Kopf und erwiderte, in diesem Semester habe er vor allem praktische Kurse belegt, sehr unwahrscheinlich, dass mir die Lehrenden bekannt seien.
Ich ließ mich nicht entmutigen. Mich interessiert, was du gerade lernst, sagte ich. Welche Aufgaben du dir stellen willst. Wen du bewunderst.
Ich bewundere Murata, sagte er nach einer listigen Pause. Ich liebe seine Arbeit.
Ich nickte bedächtig.
Du hast ihn sicher gut gekannt.
Sehr flüchtig. Ich habe nur kurz mit ihm zusammengearbeitet, ein einziges Mal. Er ist bald danach gestorben. Außerdem gab es die Sprachbarriere. Ich habe eine phonetische Umschrift benutzt, wir haben mit Hilfe von Dolmetschern gearbeitet. Deshalb war es mit der Interaktion nicht weit her.
Und wie war er?
Er war brillant, sagte ich bedächtig. Mir war bewusst, dass Xavier mich eindringlich und viel zu erwartungsvoll ansah. Damals war er schon schwer krank, sagte ich. Er ermüdete rasch, und es kostete ihn unfassbar viel Willenskraft, die Produktion zu Ende zu bringen. Wir ahnten nicht, dass er Krebs hatte.
Splitterreden ist ein Meisterwerk.
Ja.
Ich habe es mir vor kurzem nochmal angeschaut. Du warst noch so jung.
War ich. Und nun sieh mich an.
Ich sagte das ein wenig kokett, vielleicht, um Xavier abzulenken, es behagte mir nicht, über Murata zu sprechen. Ich flirtete aus Gewohnheit, ein Impuls, der mit den Jahren schwächer geworden war, aber nach wie vor existierte. Ein Fehler, wie sich zeigte. Xavier neigte sich sofort zu mir hin, als witterte er eine offene Flanke. Ich lehnte mich zurück. Wie alle Frauen war auch ich Expertin darin gewesen, die Balance zwischen dem zu halten, was die Höflichkeit gebot, und dem, was die Erwartung verlangte. Und die Erwartung, das wusste ich sehr wohl, war eine Schuld, die am Ende auf die eine oder andere Art beglichen werden musste.
Xavier sagte mit leiser Stimme: Du solltest wissen, dass ich akzeptiere, was du gesagt hast. Er schien nach meinen Händen greifen zu wollen, presste seine Handflächen jedoch auf den Tisch, eine eigentümliche Haltung, die er zu lange beibehielt, eine sowohl unterwürfige als auch defensive Haltung. Ich wusste so gut wie nichts über die Person, die mir gegenübersaß, ich spürte Hitze aufwallen, als ich mich an die Leidenschaft erinnerte, mit der er damals im Theater zu mir gesprochen hatte, an die Mischung aus Widerwillen und Erregung, die sich in mir geregt hatte. Ich war Menschen gewohnt, die über enorme Willenskraft verfügten, ich hatte immer wieder mit Menschen zu tun, deren Job darin bestand, die Welt ihrer Sichtweise zu unterwerfen. Als er dann auf unsichere und unterwürfige Art in sich zusammenschrumpfte, fragte ich mich aber, ob er vielleicht doch keiner jener Menschen war, und wusste beim besten Willen nicht, was er von mir wollte.
Der Kellner brachte unser Essen, und während er über uns hing, ließ Xavier seine Hände zögerlich vom Tisch in den Schoß gleiten. Der Kellner stellte die Teller hin, sein Blick zuckte zwischen mir und dem jungen Mann hin und her. Ich hob den Kopf, und er sah weg. Xavier begann zu essen. Während ich ihn beobachtete, seine Mundbewegungen beim Kauen, seinen sehnigen Hals, spürte ich ein unerwartetes Knistern. Obwohl er mir fremd und weitgehend unergründlich für mich war, kannte ich die Einzelheiten der Fantasie, die er erschaffen, das Schloss, das er im Geist erbaut und mir geschildert hatte, eine beinahe intime Enthüllung.
Der Kellner räusperte sich und fragte, ob er noch etwas bringen dürfe, ob wir weitere Wünsche hätten. Xavier hatte ein Drittel seines Hamburgers verschlungen, während der Kellner Beilagen und Saucen hingestellt hatte. Er schluckte und trank einen tiefen Schluck Wasser. Der Kellner hatte eine maskenhaft unbeteiligte Miene aufgesetzt. Während ich ihn betrachtete, erinnerte ich mich an einen Vorfall in einem ganz ähnlichen Restaurant, wenn auch in Paris, es war lange her, ich war noch keine zwanzig gewesen. Ich hatte mich mit meinem Vater getroffen, und er hatte mich zum Lunch eingeladen. Damals war ich eine spindeldürre Schauspielschülerin. Offenbar machte er sich Sorgen um mich, denn er bestellte ein mehrgängiges Menü. Nachdem der Kellner fort war, erklärte er, mir ein besonderes Geschenk machen zu wollen, eines, das er gemeinsam mit meiner Mutter in einem Geschäft in Rom entdeckt hatte.
Das Kästchen öffnend, schrie ich vor Freude leise auf. Es war eine Smaragdkette, schön und extravagant, und nachdem er sie um meinen Hals geschlossen hatte, umarmte ich ihn. Bis dahin war mir nicht bewusst gewesen, wie sehr ich die regelmäßige Gesellschaft meiner Eltern vermisst hatte. Möglicherweise war meine Reaktion in mancher Hinsicht aufgesetzt oder gespielt — etwa der freudige Aufschrei —, aber die Gefühle, die ich damit zum Ausdruck bringen wollte, waren aufrichtig, ich besitze die Kette noch heute, und immer, wenn ich sie trage, gedenke ich meiner Eltern. Gleichzeitig denke ich an etwas anderes, an eine andere Version oder Interpretation der Begegnung mit meinem Vater in dem Pariser Restaurant — eine der letzten vor seinem Tod —, was meine Erinnerung jedoch in keiner Weise trübt, meiner Auffassung nach war ich danach endgültig kein Mädchen mehr, sondern trat in die Phase ein, die man als weibliche Blütezeit bezeichnen könnte, eine lange Phase, deren Ausklang erst jetzt näher zu rücken begann.
Wir widmeten uns in dem teuren Pariser Restaurant dem Essen, der Kellner mit der gestärkten Schürze servierte Gang um Gang, mein Vater hatte zu viel bestellt. Der Kellner schenkte auch Wein nach, und mir fiel auf, dass mein Vater wieder viel trank, obendrein mitten am Tag. Und dann, ihm wurde abermals nachgeschenkt, drehte sich der Kellner unauffällig zu mir um und zwinkerte mir anzüglich zu. Ich fühlte mich überrumpelt, mein Vater erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei. Ich sah den Kellner an, aber dieser zuckte mit keiner Wimper, worauf ich mich fragte, ob es Einbildung gewesen war. Alles gut, antwortete ich. Alles gut.
Von da an nahm ich den Kellner anders wahr, ich empfand seine Aufmerksamkeiten während des restlichen Essens als immer aufdringlicher, er schien mir zu nahe zu kommen, wenn er einen neuen Gang servierte oder Krümel vom Tisch bürstete, seine ganze Art kam mir zweideutig vor, was mein Vater nicht zu bemerken schien, ich dagegen schon, nur konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Streng genommen konnte sein Flirten nicht als ungehörig gelten, er war kaum älter als ich, und ich war keineswegs immun gegen Männer, die mir Komplimente machten. Den wahren Grund für das zweideutige Verhalten des Kellners durchschaute ich erst, nachdem mein Vater die ziemlich saftige Rechnung beglichen hatte.
Wir waren aufgestanden und hatten uns einige Schritte vom Tisch entfernt, als mir das leere Schmuckkästchen einfiel. Ich ging zurück, um es zu holen, und als ich danach greifen wollte, erschien der Kellner und drückte mir einen Zettel in die Hand, den ich, verwirrt wie ich war, sofort fallen ließ, wenn auch nicht ohne zu sehen, dass eine Telefonnummer darauf stand, wenn auch nicht ohne zu hören, wie mir der Kellner mit feuchtem, heißem Atem ins Ohr raunte: Ruf mich an, wenn du mit der Arbeit fertig bist. Da ging mir auf, dass er die liebevolle Zuwendung meines Vaters missverstanden hatte. In dem Moment tat mir mein Vater zum ersten Mal leid, wie entsetzlich, dass er als alter und lüsterner, absurder Mann angesehen wurde, der für seine Begleitung zahlen musste, der seine Bedürfnisse nicht mehr ohne weiteres befriedigen konnte.
Genau diese Fehleinschätzung meinte ich jetzt aus dem Blick des Kellners herauszulesen, der zuerst mich und danach den jungen, gutaussehenden Mann betrachtete, der mir gegenübersaß, traf. Nur war es dieses Mal andersherum, ich war diejenige, die Mitleid oder gar unverhohlene Verachtung erntete — schließlich war ich eine Frau, und über Frauen wird stets unbarmherziger geurteilt. Ich bat den Kellner kurz angebunden um einen weiteren Drink, er nickte und pflückte das leere Glas vom Tisch. Als er ging, bemerkte ich den Blick eines Mannes, der einige Tische weiter saß. Wir starrten einander an. Dann tätschelte er die Hand der neben ihm sitzenden Frau, eine lahme, beschwichtigende Geste. Ich ahnte, was sich nach Auffassung des mittelalten Paares an unserem Tisch abspielte, und spürte, wie Verärgerung, aber auch Sympathie für Xavier in mir aufstiegen, mir fiel ein, was es bedeutete, so jung zu sein und stets mit älteren Menschen in Zusammenhang gesetzt zu werden, deren Wünsche es zu erfüllen galt.
Wohnst du gern in der City?, fragte ich unvermittelt.
Er legte Messer und Gabel weg und wischte sich mit der Serviette den Mund ab, er hatte exzellente Tischmanieren, war offensichtlich gut erzogen worden. Er konnte als vorzeigbar gelten, wie es früher geheißen hatte, ein junger Mann, dem es weder an Geld noch an emotionaler Zuwendung gemangelt hatte. Ja, sagte er, ich wohne sehr gern hier und würde alles tun, um bleiben zu können. Er sprach unbeschwert, zugleich schwang in seinen Worten die Erwartung mit, dass sich das, was er erträumte, schlussendlich erfüllen werde. Ich begriff, dass er im Kern eine zuversichtliche Person war, meine anfängliche Einschätzung war korrekt gewesen. Der junge Mann, der in der Tür des Theaters erschienen war, dessen Körperhaltung maßvolle Anspannung verraten hatte. Ich wusste noch, dass Lou sofort aufgestanden war, um zu fragen, wie sie ihm helfen könne, ich wusste noch, dass ich mich umgedreht und beobachtet hatte, wie sie lächelnd zu ihm aufblickte, wie er ihr Lächeln erwiderte.
Meine Gegenwart hatte ihn verschlossener werden lassen, die Struktur seiner Persönlichkeit verändert. Ich begriff, dass mein Kommen ein Fehler gewesen war. Ich hatte von Kindesbeinen an dazu geneigt, mein Gesicht gegen die Scheibe zu drücken, um die Geheimnisse anderer Menschen zu ergründen, zugleich aber auch den Impuls, mich selbst zu schützen. Falls nötig, konnte ich rasch und vehement Grenzen ziehen, dichtmachen und mich zurückziehen. Ich hatte meinen Fisch noch nicht angerührt, Xavier dagegen hatte aufgegessen, höchste Zeit also, Klartext zu reden.
Ich denke, wir sollten uns nicht wiedersehen, sagte ich, nachdem der Kellner die Teller abgedeckt hatte. Xavier zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen. Eine Beziehung, gleich welcher Art, ist schlicht undenkbar.
Alles, was du gesagt hast — ich akzeptiere es. Das tue ich, ehrlich.
Warum dann dieses Treffen?
Er zögerte. Ich muss dir etwas sagen.
Der Mann an dem etwas weiter entfernten Tisch beobachtete uns wieder, ich spürte seinen Blick und sah verärgert auf. Was ich hinter ihm sah, ließ mich jedoch verwirrt erstarren. Ich sah Tomas das Restaurant betreten, eigentlich unmöglich, er hatte morgens noch erzählt, er wolle den ganzen Tag zu Hause arbeiten, er hielt sich nie in diesem Teil der Stadt auf, hatte auch keinen Anlass, ein solches Restaurant aufzusuchen, er hätte es verabscheut. Offenbar hatte Regen eingesetzt, er trug einen Schirm bei sich, den er beim Hereinkommen ausschüttelte; dies tat er mit Bedacht, was für all seine Handlungen galt. Er sprach den Empfangskellner an, der nickte und in Richtung Speiseraum deutete, wo sich die Zahl der Gäste deutlich gelichtet hatte, und Tomas wahrscheinlich mitteilte, er habe freie Wahl.
Bin gleich wieder da, sagte Xavier und begann, sich zur vollen Größe aufzurichten.
Nein, sagte ich. Setz dich.
Ich klang schärfer als beabsichtigt. Er setzte sich. Er starrte mich an, vielleicht hatte ich ihn zum ersten Mal ernsthaft überrascht. Tomas folgte dem Empfangskellner in den Speiseraum. Ich überlegte, was am idealsten wäre, schlicht seinen Blick auffangen, von hier hinten winken. Das wäre das Natürlichste, ich könnte Xavier als Schauspielschüler vorstellen, was den Tatsachen entsprach, ein junger, am Theater interessierter Mensch. Nur würde sich Tomas dann zu uns setzen, auch das wäre natürlich, was wiederum eine Kaskade von Ereignissen auslösen konnte.
Xavier musterte mich forschend. Stimmt etwas nicht?, fragte er. Tomas hatte das Restaurant halb durchquert, und ich wollte schon aufstehen, um die Situation durch einen halbwegs plausiblen Bluff zu entschärfen. Er hatte mich noch nicht entdeckt, aber das stand kurz bevor, ein gutes Dutzend Tische war besetzt, der Empfangskellner strebte rasch auf uns zu, es war nur eine Frage der Zeit. Tomas folgte ihm, er wirkte geistesabwesend und zerstreut, schien in Gedanken versunken. Ich beobachtete ihn, aus der Entfernung wirkte er viel älter, und da wallten Zärtlichkeit und Liebe in mir auf, verstand ich nicht mehr, warum ich ihm nichts von Xavier erzählt hatte, obwohl ich ihm alles erzählte, obwohl ich keinem anderen Menschen auf der Welt so tief vertraute.
Tomas würde es verstehen. Ohne Frage. Bei diesem Gedanken hob ich eine Hand, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Setz dich, würde ich sagen. Setz dich zu uns. Das ist — und ich würde Tomas, der sich neben mir niederließe, Xavier vorstellen. Seine Gegenwart würde mich beruhigen, die Situation entspannen. Ich schwenkte den Arm, Tomas war nur wenige Meter entfernt, ich war überzeugt, er hatte uns bemerkt. Xavier drehte sich mit verwirrter Miene um, sein Blick irrte durch den Raum, ohne auf Tomas zu verweilen, dem er nie begegnet war, den er nicht kannte. Xavier sah mich fragend an, ich wiederum reckte die Hand noch weiter in die Höhe, gab ein Zeichen.
Da erstarrte Tomas. Seine Hände steckten in den Manteltaschen, und er fing an, darin zu kramen, als suchte er etwas — Handy oder Brieftasche, vielleicht seine Schlüssel. Er verharrte mitten im Restaurant, ich hätte aufstehen und zu ihm gehen müssen, rührte mich aber nicht. Ich sah ihn mit dem Empfangskellner sprechen, der schulterzuckend nickte. Tomas machte kehrt und durchquerte mit eiligen Schritten den Speiseraum, als hätte er etwas Wichtiges vergessen oder verloren. Seine Eile, so mein Eindruck, wurde zusätzlich durch etwas anderes beflügelt oder flankiert, eine gewisse Beschämung, etwas Verborgenes, Unpassendes.
Die Glastür schwang auf, fiel zu. Den Kopf reckend, sah ich ihn auf der Straße davonhasten. Das Bedauern, das sein Verschwinden in mir auslöste, war unbeschreiblich tief, schien eine Schwerkraft zu besitzen, mich zu Boden zu ziehen. Ich hätte aufspringen und ihn zurückrufen mögen. Nur hielt mich irgendetwas davon ab. Wann hatte ich meinen Mann zuletzt betrachtet und ein Gefühl oder einen Gesichtsausdruck bemerkt, die ich nicht entschlüsseln, nicht auf Anhieb einordnen konnte? Hatte er etwas zu verbergen — etwa den Anlass seines Erscheinens in diesem Restaurant, das im falschen Stadtviertel lag, das er zur falschen Tageszeit aufgesucht hatte, immerhin war er ein eingefleischter Gewohnheitsmensch?
Alles okay?
Ich drehte mich zu Xavier um, und indem ich dies tat, wurde sie mir bewusst — eine Ähnlichkeit zwischen uns beiden, die sich nicht auf ethnische Merkmale beschränkte, vielmehr einen Widerhall oder eine Spiegelung bestimmter Züge darstellte, sie wollte mir in keiner Weise einleuchten, war mir ein Rätsel. In diesem Moment konnte ich die Ränder seines Denkens erkennen, die Täuschung, der er sich hingab, sie war fast mit Händen zu greifen. Aber das Gefühl verflog, und die Kluft zwischen uns tat sich wieder auf. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und atmete aus, und ich erkannte den Bewegungsablauf wieder, bei unserer ersten Begegnung, neulich im Theater, hatte er sich auf ähnliche Art zurückgelehnt.
Er hatte diese Geste in einem meiner Filme oder bei einem meiner Bühnenauftritte beobachtet und dreist kopiert. Eine meiner Eigenarten, vereinnahmt von einem fremden Körper, ein Teil von mir, der von diesem jungen, mir gegenübersitzenden Mann geraubt worden war, das hatte etwas Unheimliches. Zorn loderte in mir auf, meine Instinkte schärften sich. Die Situation war bedrohlicher als gedacht, hinter seinen Ansprüchen und Aufdringlichkeiten verbarg sich eine Skrupellosigkeit, die ich nicht bemerkt, auf die ich mich nicht gefasst gemacht hatte. Ich muss los, sagte ich zu Xavier, und bevor er etwas erwidern konnte, stand ich auf und trat vom Tisch zurück, ich hatte ihm nichts weiter zu sagen, konnte nur wiederholen: Ich muss los.
ICH STIESS DIE Restauranttür auf und taumelte ins Freie, sah mich vergeblich nach Tomas um, er war längst im Gedränge der Straße verschwunden. Es regnete, deshalb war es etwas diesig. Ich dachte an Xavier, den ich am Tisch hatte sitzen lassen, ohne mich zu erklären, und begann, mich mit raschen Schritten vom Restaurant zu entfernen.
Um die Ecke biegend und nach Norden gehend, sog ich die kalte Luft in mich ein wie nach längerem Sauerstoffentzug. Das Apartment war zu weit weg, um bei Regen zu Fuß dorthin zu gehen, andererseits fand ich den Gedanken unerträglich, in der Subway oder in einem Auto zu sitzen, ich wollte spüren, wie ich die Situation im Restaurant entschlossen hinter mir zurückließ — Xavier, der mir am Tisch gegenübersaß, Tomas, der wie erstarrt im Speiseraum verharrte. Es begann, stärker zu regnen, doch ich ging weiter, als wollte ich mich bestrafen, es war mir unbegreiflich, wie ich mich auf das Treffen mit Xavier hatte einlassen können.
Vielleicht hatte ich ihn bedauert — so tiefe und unerwiderte Gefühle zu hegen, eine solche Einseitigkeit zu erfahren. Aber war es nur das gewesen? War da nicht auch eine latente Neugier, der alte Impuls, anderen Menschen näherzukommen? In jüngeren Jahren war dieser Impuls das beherrschende Prinzip meines Lebens gewesen. Ich hatte oft versucht, mir diesen Zwang zu erklären — er stellte eine Lebensweise dar, eine Möglichkeit, mich mit dem zu verbinden, was sich ringsumher abspielte, es war eine Frage der Offenheit. Mit den Jahren, vor allem jedoch, nachdem ich Tomas begegnet war, hatte ich gelernt, diesen Drang zu zügeln, als das zu erkennen, was es tatsächlich war — eine flüchtige Neugier, eine Besessenheit und eine Form von Voyeurismus.
Wegen Tomas. Durch ihn, mit ihm hatte ich gelernt, disziplinierter zu leben, eine gewisse innere Ruhe zu wahren, so dass ich beinahe vergessen hatte, wie es war, der Welt gegenüber so offen zu sein, sich lustvoll in die Brandung des Temperaments anderer Menschen zu stürzen. Am Ende doch wieder von diesem Gefühl erfasst zu werden, zumal in dieser Intensität, überraschte mich, aber Xavier und dessen extrem unlogisches, verwirrendes Ansinnen hatten mich fasziniert. Wider besseres Wissen war meine Neugier erwacht. Die Situation zeigte alle Warnsignale, die ich im Laufe der Zeit zu erkennen gelernt hatte, und dennoch hatte ich auf seine Nachricht reagiert, dem Treffen zugestimmt, mich in das Restaurant begeben und zu ihm an den Tisch gesetzt.
Es war ein Moment der Unbedachtheit gewesen. Ich war in eine Lebensphase eingetreten, die eine gewisse Unbeweglichkeit mit sich bringt, im mittleren Alter empfindet man Veränderungen vor allem als störend. Denkbar, dass ich deshalb in einem Zustand gedankenloser Selbstzufriedenheit versunken war. Während ich im Nieselregen weiter der Straße folgte, fragte ich mich, wie lange ich mich bereits in diesem Zustand extremer Gewöhnung befand. Ich ließ den Blick schweifen und stellte fest, dass ich weiter gelaufen war als gedacht, gleich wäre ich zu Hause.
Bei meiner Rückkehr war Tomas nicht daheim. Wir bewohnten ein Apartment im West Village, das wir gekauft hatten, nachdem ich in dem von Xavier erwähnten Film Muratas mitgewirkt hatte. Damals kostete ich zum ersten Mal vom Erfolg, und obgleich meine Rolle unwesentlich, der Film in einer fremden Sprache gedreht worden war, hatte er eine gewisse Anerkennung erfahren. Danach wurden mir regelmäßiger Rollen angeboten, wenn auch kleinere und bescheidenere, keine besaß die Tiefe dessen, was ich für Murata gespielt hatte.
Es bedeutete vor allem, dass uns etwas mehr Geld zur Verfügung stand, dass ich Rechnungen begleichen und Kleidung kaufen, dass wir essen gehen konnten, wenn uns nicht nach Kochen war. In den folgenden Jahren konnten wir etwas ansparen, gelegentlich blieb Geld übrig, etwa dank eines Gastauftritts in einer Fernsehserie. Hilfreich war, dass wir keine Kinder hatten. Kinder, die man ernähren musste, die man einkleiden musste, dazu die Kosten für Betreuung und Ausbildung, befreundete Paare erzählten, einer von ihnen arbeite ausschließlich, um die Nanny zu finanzieren. So kam es, dass wir uns, obgleich keinesfalls reich, überraschend in der Position wiederfanden, die man sorgenfrei