Die Pyramiden von Pirimoy - Christian Lange - E-Book

Die Pyramiden von Pirimoy E-Book

Christian Lange

3,8

Beschreibung

Pirimoy, die Stadt der 13 Pyramiden, liegt inmitten des Dschungels von Marakatam, tief im Süden von Lorakis. Glücksritter und Piraten vertrieben einst das Volk der Piriwatu aus der Stadt. Lian, die für die Piriwatu-Rebellen spioniert, lernt eines Tages den jungen Arko Melasgar kennen. Sie hält ihn für einen Lügner, doch sein Erscheinen verheißt ihr ein Geschenk der Götter Chaos in der alten Hauptstadt der Piriwatu. Ein Chaos, welches den Rebellen endlich die Chance auf einen Sieg gegen die 13 Admiräle bietet, welche über Pirimoy herrschen. Doch die Unruhe, welche die Ankunft der beiden stiftet, bleibt nicht auf diese Welt beschränkt. Auch in den Feenwelten kommt es zum Kampf auf Leben und Tod ... Der zweite phantastische Roman aus Lorakis, der Welt des dreifach mit dem deutschen Rollenspielpreis ausgezeichneten Rollenspiels Splittermond.

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Autoren: Christian Lange

Lektorat: Thomas Römer

Korrektorat: Jan Gravert

Umschlaggestaltung und Satz: Oliver Graute

Umschlagillustration: Florian Stitz

© Feder&Schwert 2017

E-Book-Ausgabe 2017

ISBN 978-386762-292-9

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-86762-291-2

Die Pyramiden von Pirimoy ist ein Produkt der Feder & Schwert GmbH unter Lizenz des Uhrwerk Verlages. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf Firmen oder Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar.

www.feder-und-schwert.com

www.splittermond.de

Widmung

Für Andrea & Leon.

Kapitel I

Am Hofe des Halbriesen

Sie wusste, dass er log.

So wie er in der Reihe vor dem Audienzsaal des Halbriesen stand, die Fragen des Audienzmeisters beantwortete und seine blaugrünen Augen dem prüfenden Blick des Mannes standhielten, konnte er nur ein Lügner sein.

Ein guter, zweifellos, aber trotzdem ein Lügner.

Der Zauber den sie nutzte, um die Gefühle eines Besuchers oder des Halbriesen zu erspüren, war heute nur mäßig gelungen. Sie konnte nicht genau fassen, worin seine Lüge bestand. Aber dass er log, dessen war sie sich sicher.

Lian reichte ihm einen Becher verdünnten Wein, schaute einen Moment zu lange in seine Augen und sah darin Angst aufblitzen.

Angst hatten viele, die hier in der Reihe standen. Der Halbriese galt zwar als gerechter Herrscher, aber sagte man etwas Falsches, konnte es passieren, dass man den Audienzsaal nicht lebend verließ.

Der Fremde bemerkte ihren Blick und kniff die Augen zusammen. Lian senkte eilig den Blick. Sie hatte ihn zu lange gemustert. Ohne ihm noch einmal in die Augen zu schauen, nahm sie den leeren Becher entgegen und widmete sich dem Nächsten in der Reihe.

Es dauerte nicht lange, dann öffneten sich die hölzernen Tore des Audienzsaals. Die Wartenden setzten sich langsam in Bewegung. Das Wetter war drückend heiß, die feuchte, warme Luft bewegte sich kaum.

Lian ging in die Palastküche und füllte ihren Weinkrug nach, dieses Mal jedoch nicht mit dem Verdünnten. Dann ging auch sie in den Saal.

Eigentlich war es gar kein Saal, hatte einer der Besucher einmal etwas zu laut gemurmelt. Nur wenig später hatte man ihn mit gebrochener Nase herausgeschleift.

Lian mochte diesen Ort, ganz egal wie man ihn nannte. Er bestand aus Holzpfählen, Seite an Seite in den feuchten Untergrund gerammt, dort wo sich die beiden Flüsse trafen, die das Wasser von den Gipfeln des Pangawai zum Schimmermeer trugen. Ab hier hieß der Fluss Awigi und war bis hinab zum Meer schiffbar. Das war vermutlich auch der Grund, warum die Stadt Tonatak hier gegründet worden war.

Zwischen den hölzernen Pfählen gab es noch den einen oder anderen lebenden Baum. Zusammen boten sie einem Teil des Saales unter ihnen Schutz vor Regen oder Sonne – und natürlich war dies der Teil, in dem der Thron stand. Der größte Teil jedoch kam ohne Dach aus. Freier Blick in den Himmel.

Sie atmete tief ein. Dies war der Ort in Tonatak, der ihrer Dschungel-Heimat am Nächsten kam. Hier war die Luft nicht verseucht von den Ausdünstungen zu vieler Menschen auf zu wenig Raum. Hier roch es nicht ständig nach schlechtem Essen und Schweiß.

Nein, hier sah sie das Grün des Urwalds, in all seinen Schattierungen.

Das Tor war bereits verschlossen. Die Dienerin schob vorsichtig die kleine Seitentür auf. Noch hatte die Audienz nicht begonnen. Leise schlich sie sich an ihren Platz in der Nähe des Thrones.

Die große Tür hinter dem Thron öffnete sich. Furko und Jurko betraten den Raum, ihre großen Säbel kampfbereit in den Händen. Die Rüstungen der Zwerge glänzten ölig. Die Beiden musterten kurz die Anwesenden, dann senkten sie ihre Waffen wieder.

Furko stellte sich links neben den steinernen Thron, Jurko bewachte die rechte Seite.

Lian musste ein Schmunzeln unterdrücken. Als sie das erste Mal einer Audienz des Halbriesen beigewohnt hatte, war dieser Auftritt noch beeindruckend gewesen. Der Saal, die beiden Zwerge, und natürlich der große Amboß vor dem Thron. Das alles hatte sie mit großen Augen bestaunt.

Später war ihr Blick tiefer gegangen und sie hatte mehr verstanden. Die beiden Zwerge waren Säufer, die es nur mühsam schafften, zur wöchentlichen Audienz nüchtern zu bleiben – oder zumindest, ohne zu schwanken ihre Plätze zu erreichen.

„Ruhe“, brüllte Furko, obgleich niemand im Raum sprach.

Lian sah seine geröteten Augen. Wahrscheinlich quälte ihn Kopfschmerz, weil er zu viel getrunken hatte. Oder zu wenig.

Dann betrat der Mann den Raum, der auch ohne zwergische Eskorte, Thron und Drohungen alle Aufmerksamkeit band.

Mit seiner Größe von mehr als zwei Schritt überragte er jeden Bewohner von Tonatak, selbst die wenigen Alben die hier lebten. Halbriese nannten sie ihn, und das bezog sich nicht nur auf seine schiere körperliche Überlegenheit. Lian ließ ihren Blick über seinen nackten, muskulösen Oberkörper gleiten. Der Halbriese brauchte seine Zwergengarde nicht. Ihn anzugreifen – und einige wenige hatten es versucht – bedeutete den sicheren Tod.

Lian ließ ihren Blick über die Anwesenden wandern. Einige waren Bewohner Tonataks und zeigten Respekt, aber keine Überraschung beim Anblick des Statthalters. Den Fremden hingegen stand der Mund offen. Der Lügner presste die Kiefer zusammen. Offenbar merkte er was ihm blühen konnte, wenn seine Lüge offenbar wurde.

Die Audienz begann.

Nach und nach traten die Bittsteller vor und trugen dem Halbriesen ihr Anliegen vor. Bei den Einen waren es kleine Streitigkeiten um Geld oder Frauen. Die anderen waren Reisende, die vom Statthalter Tonataks die Genehmigung zur Weiterreise erhalten wollten. Die bekamen sie in der Regel auch, wenn sie die Gebühr bezahlten, die sich völlig willkürlich nach den Waren richtete, die sie mitführten. Dies war eine der Haupteinnahmequellen des Halbriesen.

Lian wartete derweilen an der Seite des Saales. Hin und wieder füllte sie dem Halbriesen seine Weinbecher nach. Dabei spürte sie bisweilen seine Pranke auf ihrem Hintern.

Es war nicht das erste Mal. Es störte sie eigentlich auch nicht. Schließlich hatten sie bereits einige Male das Lager geteilt. Doch vor anderen Männern angefasst zu werden, gefiel ihr nicht.

Aber sie wusste um ihre Möglichkeiten, ihm zu widersprechen, und hier waren weder der Ort noch die Zeit dafür.

Ein Bürger Tonataks sprach als Nächster vor. Er beschuldigte einen auf dem Boden kauernden Mann des Diebstahls. Der Mann war nachts in das Haus des ehrenwerten Händlers eingestiegen und hatte Schmuck gestohlen. Dummerweise war er kurz darauf den Gardisten in die Arme gelaufen, die unter dem Schmuck auch einen Siegelring des Händlers fanden.

Da gab es wenig zu beschönigen und der Dieb versuchte es auch gar nicht. Lian kannte das Urteil in solchen Fällen. Es war schlicht und wirkungsvoll.

Noch heute würde man den Dieb auf den Markt an den Pranger stellen. Morgen zur Mittagsstunde würde dann Furko, oder vielleicht auch Jurko, erscheinen, je nachdem wer nüchterner war, und dem Mann die linke Hand abschlagen. Ein Wundarzt würde den Verletzten danach versorgen. Die Hand würde Furko aufspießen und am Rande des Marktes, dort wo die Geldwechsler ihre Bänke hatten, zur Schau stellen.

Nachdem das Urteil gesprochen und der Verurteilte wimmernd aus dem Saal geschleift worden war, kam nun die Reihe an den Lügner. Der Audienzmeister las laut dessen Namen vor.

„Arko Melasgar, ein Händler aus Arkuri.“

Lian bemerkte wie der Kopf des Halbriesen ein Stück nach vorn ging, so als wollte er den Gast näher anschauen. Es war nur eine winzige Bewegung, doch sie war ungewöhnlich.

„Melasgar, hmm?“, brummte er.

Der Angesprochene trat vor, verbeugte sich tief und umständlich. So wie es nur jene hinbekamen, die ihr Leben lang mit den Reichen und Schönen zu tun hatten.

„Ja, edler Herr. Aus der Familie Melasgar, eine der sechs Familien, welche die Geschicke unserer schönen Stadt Arkuri leiten. Wir handeln seit Generationen mit …“

„Ich weiß, wer die Melasgar sind“, unterbrach ihn der Halbriese.

„Natürlich wisst ihr das. Ein Mann eurer Qualität und Größe …“

Der Halbriese hob die Hand. Der Lügner verstummte.

„Was willst du?“

„Ich reise nach Pirimoy“, er machte eine kurze Pause, “aus geschäftlichen Gründen.“

Der Halbriese legte den Kopf leicht schief.

„Viele die hier entlangkommen, reisen aus geschäftlichen Gründen.“

Der Lügner nickte zögerlich.

„Ja, durchaus, edler Herr. Aber meine sind besondere Gründe. Gründe, die ich nicht vor aller Ohren bekanntgeben kann.“ Er deutete auf die anderen Bittsteller.

Der Halbriese trank sein Weinglas aus.

„Dann tritt näher. Ich hoffe für dich, dass dein Grund gut genug ist …“

Lian musste ein Grinsen unterdrücken, als sie sah, wie der Lügner schluckte.

„Wein, Lian“, befahl ihr Herr gleichzeitig.

Sie ließ sich Zeit. Um nichts in der Welt wollte sie verpassen, was der Betrüger dem Halbriesen zu erzählen hatte.

„… von meiner Familie beauftragt, nach Pirimoy zu reisen, um eine der dortigen Pyramiden in Besitz zu nehmen.“

Lian stolperte, einen Moment bevor der Halbriese sein donnerndes Lachen erschallen ließ.

Sie kannte dieses Lachen.

Es war donnernd, laut, mitreißend. Und gespielt.

Der Halbriese gab sich keineswegs dem Amüsement hin. Das tat er selten in der Audienz. Nein, er versuchte, durch das Lachen Zeit zum Überlegen zu schinden.

Lian trat ein paar Schritte zurück. Wenn der Halbriese unsicher war, wollte sie nicht in Reichweite seiner Arme sein.

„Pirimoy also“, stellte der Statthalter grinsend fest.

„Allerdings, edler Herr. Die Familie Melasgar …“

„Verschone mich, Melasgar.“

Der Halbriese schüttete seinen Wein hinunter, winkte sie dann zu sich.

Während Lian Wein nachschenkte, fragte er leise, „Glaubst du ihm?“

Lian versuchte, keinen Wein zu verschütten.

„Nein“, sagte sie dann.

„Du glaubst, dass er lügt?“, der Statthalter schien überrascht.

„Es ist nur ein Gefühl, Herr“, antwortete sie und zog sich mit einer Verbeugung zurück.

Die Piriwatu spürte den Blick des Halbriesen in ihrem Rücken. Doch sie drehte sich nicht um. Auf eine Diskussion wollte sie sich jetzt nicht einlassen.

War es klug gewesen, ihre Meinung zu sagen? Vielleicht würde der Lügner jetzt seine Zunge einbüßen und sein Plan, und damit auch ihr Plan, wäre zunichte.

„Wenn es stimmt was du sagst, dann weißt du auch, dass ich einen Beweis deiner Behauptungen brauche“, hörte sie den Halbriesen sagen.

Der Angesprochene blieb stumm. Lian konnte sehen wie seine Augen blinzelten. Wahrscheinlich suchte er panisch nach einer Idee, was der Halbriese von ihm sehen wollte. Nervös kratzte er sich an der Nase. Dabei hellte sich sein Blick auf.

Lächelnd senkte er die Hände.

„Natürlich, edler Herr“, er deutete eine Verbeugung an. „Ihr braucht eine Bestätigung, dass ich bin, wer ich vorgebe zu sein.“

Der Halbriese nickte langsam.

Der Lügner hob die rechte Hand und streckte sie dem Statthalter entgegen.

Der schob seinen Kopf ein Stück nach vorn und musterte die Hand. Dann nickte er.

Ein Ring, vielleicht einer mit einem Familienwappen, oder einem Siegel, schoss es Lian durch den Kopf.

Der Halbriese lehnte sich zurück in seinen Thron.

„Nun gut, Arko von den Melasgar. Ich sehe, dass du die Wahrheit sprichst.“

Auf dem Gesicht des Lügners zeigte sich Zufriedenheit.

„Aber du weißt auch, dass ich für deine Weiterreise und die Unterstützung, die ich dir und den deinen in der Vergangenheit zukommen ließ, eine gewisse Entschädigung benötige.“

Die Zufriedenheit zerfiel sofort wieder.

„Eine Entschädigung? Ähm, gewiss, edler Herr. Nur leider wurde ich auf der Reise hierher überfallen, so dass ich …“

„Überfallen? Auf meinen Gebiet? Willst du sagen, dass ich nicht für die Sicherheit meines Landes sorgen kann?“, donnerte der Mann auf dem Thron.

Melasgar hob abwehrend die Hände, während die Stimme des Halbriesen lauter wurde.

„Nein, mein Herr. Natürlich nicht. Euer Land ist sicher wie kaum ein anderes. Selten habe ich mich irgendwo so sicher gefühlt. Der Überfall geschah bereits früher, auf dem Mondpfad, um es genau zu sagen. Ein anderer Reisender belauschte mich und meinen Vertrauten eines Nachts und versuchte dann, uns zu bestehlen. Er stahl das Geld und verletzte meinen Vertrauten so schwer, dass ich ihn in Süd-Arkuri zurücklassen musste. Mir blieb nur, was ich am Leib trug und mein Siegelring.“

Der Lügner bedeckte seine Augen mit der Hand, so als wolle er seine Tränen nicht zeigen.

Der Halbriese musterte ihn eine Weile wortlos.

„Nun gut. Du darfst nach Pirimoy reisen. Aber da du kein Geld hast, kann ich dir auch nicht die versprochene Eskorte mitgeben. Mögen die Götter mit dir sein, die meinen und die deinen.“

Der Lügner blickte erstaunt hoch, fing sich dann wieder.

„Ihr seid großmütig, edler Herr.“

Bevor er weiter reden konnte, schob der Audienzmeister ihn in Richtung Ausgang.

In Lians Kopf arbeitete es.

Der Lügner wollte nach Pirimoy und dort eine Pyramide übernehmen.

Pirimoy war einst die Hauptstadt ihres Volkes gewesen. Seit nunmehr vier Jahrhunderten versuchten die Piriwatu, die Stadt zurückzuerobern. Doch sie waren zu wenige und sie waren uneins.

Wenn es eine Lüge war, was Melasgar erzählt hatte, so konnte es ihr gleich sein. Doch wenn dieser Teil seiner Geschichte stimmte, dann musste sie die Gelegenheit ergreifen.

Die Übernahme einer der dreizehn Pyramiden in Pirimoy, heutzutage Symbole der Macht des selbsternannten „Admiralsrats“, würde zweifellos zu einer Verschiebung im wackeligen Kräftegleichgewicht der Stadt führen. Schlummernde Machtkämpfe würden ausbrechen, Freunde würden zu Feinden werden. Wenn man in dieser Schlangengrube von Stadt überhaupt jemanden einen Freund nennen konnte.

Und Pirimoy, die alte Hauptstadt des Piriwatu-Reiches, würde im Chaos versinken.

Genau der richtige Moment, um die Stadt anzugreifen. Die Rebellen mussten von dem Plan des Lügners erfahren.

Langsam ging Lian Richtung Ausgang.

„Mehr Wein, Lian“, donnerte der Halbriese von hinten.

Sie drehte sich um, ging auf die Knie.

„Der Krug ist leer, Herr. Verzeiht mir. Ich besorge sofort neuen Wein.“

Der Halbriese wedelte ungeduldig mit der Hand.

Lian sprang auf und verschwand aus dem Saal.

Gemessenen Schrittes ging sie zur Vorratskammer neben der Küche. Sie stellte den Weinkrug ab, schaute sich um.

Überall wurde geschäftig gewerkelt. Nach der Audienz würde der Halbriese Hunger haben. Also wurde gesotten und gebraten, was das Zeug hielt.

Sie griff sich einen leeren Korb, packte hinein, was ihr in die Finger kam. Getrocknetes Fleich, Obst, einen Wasserschlauch.

„Was tust du da?“, fragte eine Stimme hinter ihr.

Furko. Lian schloss die Augen.

Hatte der Halbriese ihr den Zwerg hinterher geschickt?

„Ich … ähm...“

„Der Wein, wo bleibt der Wein?“

Die Augen des Zwerges waren gerötet.

„Sofort“, antwortete Lian. Sie nahm ihren Krug und tauchte ihn in das Fass mit dem guten Wein.

„Nein, nicht der“, der Zwerg wurde ungeduldig.

„Der ist mir zu süß. Ich brauch den anderen.“

Lian nickte, schnappte sich einen leeren Becher und schöpfte Furko von dem billigen Wein.

Der kippte sich das Gesöff in den Mund, rülpste laut. Dann grinste er.

„Besser“, stellte er fest.

Dann schlug er ihr kräftig auf den Hintern und wankte davon.

Lian blickte ihm hinterher und ballte die Fäuste. Dies war nicht der Moment, sich mit diesem dreckigen Schrumpfsäuferanzulegen.

Ihr Blick fiel auf seinen Dolch, den er hinten am Gürtel trug.

Eilig sprang sie ihm nach, stieß ihn von hinten an.

Grummelnd drehte sich der Zwerg um, hatte die Hand an seinem Säbel.

„Was fällt dir ein?“

Lian fiel auf die Knie.

„Verzeih, ich war ungeschickt.“

Der Zwerg murmelte etwas in seinen ungepflegten Bart, dann ging er wortlos weiter.

Lian hob den Kopf und grinste.

Schnell griff sie in ihren Korb, versteckte den gestohlenen Dolch darin und eilte aus der Küche.

Der Weg zu ihrer Kammer war nicht weit. Eigentlich war es mehr ein Verschlag. Früher hatte sie hier mit ihrer Mutter gelebt, aber seit diese zu den Göttern gegangen war, war eine neue Magd hier eingezogen. Zum Glück sahen sie sich kaum. Sie kamen nur zum Schlafen in die viel zu enge Kammer.

Aber das war jetzt vorbei. Lian stopfte eilig ihre wenigen Habseligkeiten in einen Rucksack, packte das gestohlene Essen dazu und verließ dann die Kammer.

Vor der Tür blieb sie stehen. Wenn sie jetzt weiterging, konnte sie nie wieder zurück. Ihr Auftrag war es, hier vor Ort zu wachen. Der Halbriese duldete keinen Ungehorsam, auch nicht von den Mädchen mit denen er das Lager teilte.

Was aber noch weitaus wichtiger war – sie war Auge und Ohr ihres Volkes am Hof des Halbriesen. Sie lieferte Informationen. Wegzugehen war nicht geplant.

Aber die Umstände waren außergewöhnlich. Es musste einfach sein.

Lian atmete auf, als sie den Palast verlassen hatte. Es war zwar unwahrscheinlich, dass der Halbriese die Tore schließen ließ, nur weil sein Weinmädchen verschwunden war, aber sicher war sicher.

Sie schritt über die Stege und Brücken Tonataks in Richtung Fluss. Auf der anderen Seite des Awigi begann der Karawanenweg Richtung Pirimoy. Sie drehte sich mehrmals um. Nicht nur um etwaige Verfolger auszumachen.

Nein, es war auch ein Abschiednehmen. Seit ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie hier gelebt. Anfangs mit ihrer Mutter, später allein. Freunde hatte sie hier keine. Nur ein paar lose Bekanntschaften. Zehn Jahre in dieser Stadt hatten nicht gereicht, sie hier heimisch werden zu lassen.

Auch wenn sie mehr als einmal gern weggelaufen wäre, tat der Abschied nun doch weh.

Lian ging hinab zum Ufer und schaute sich um.

Träge wälzten sich die Wasser des Awigi durch das breite Flussbett. Das Wasser war schmutzig braun.

Kein Boot war auf dem Fluss. Das sprach dafür, dass der Lügner das Wasser noch nicht überquert hatte.

Also setzte sie sich an den großen Steg und wartete.

Es dauerte lange, bis der falsche Arko kam. Viel zu lange. Schon mehrmals hatte Lian überlegt, ob er vielleicht unbemerkt an ihr vorbeigeschlüpft war. Oder er hatte sich umentschieden und den Plan, nach Pirimoy zu reisen, fallengelassen. Er war schließlich ein Lügner, wer wusste schon was in seinem Kopf vorging?

Doch dann kam er endlich. Voller Arroganz schritt er durch die Bettler, die den Weg zur den Booten säumten und warf hier und da ein paar Münzen. Zu wenige und zu kleine Münzen, wie Lian an den enttäuschten Blicken der Bettler sah. Ein Träger ging hinter ihm und schleppte einen viel zu großen Rucksack.

Sie schmunzelte. So wie der Träger sich immer wieder umschaute, war offensichtlich, dass er nicht vorhatte, den falschen Arko lange zu begleiten. Wahrscheinlich würde er warten, bis der Lügner in ein Boot gestiegen war um dann wegzulaufen. Sollte sie ihn warnen?

Lian wartete ab.

Wie vermutet begutachtete der Lügner die Boote und entschied sich dann für eines der Größeren. Während er zu den zwei Ruderern ins Boot stieg und über den Preis verhandelte, rannte sein Träger los. Melasgar brauchte einen Moment, bis er überhaupt merkte, was geschehen war.

„He!“, rief der Lügner, „Haltet den Dieb.“

Ein paar Bettler hoben die Köpfe und grinsten. Doch niemand tat etwas, um den Dieb aufzuhalten. Jetzt rächte sich, dass der falsche Hund vorher so knausrig gewesen war.

Jedoch sparte er es sich, dem Dieb hinterher zu eilen. Was Lian zu der Schlussfolgerung brachte, dass der Lügner den wichtigen Teil seines Besitzes direkt am Körper trug. Immerhin war er nicht dumm.

Sie erhob sich, betrat ebenfalls das Boot und drückte einem der Ruderer wortlos ein paar Münzen in die Hand.

„Wer bist du denn?“, fragte der Lügner.

„Was geht es dich an?“, gab sie zurück.

„Wenn du in meinem Boot mitfahren willst, geht es mich sehr wohl etwas an.“

Lian grinste, „Dein Boot?“

Sie gab den Ruderern einen Wink. Diese nickten grinsend, lösten das Boot vom Steg und legten sich in die Riemen.

Der Lügner verlor das Gleichgewicht, und fiel mit einem erstaunten Ausruf zwischen die Sitzbänke.

„Was erlaubst du dir?“

Sie kniff die Augen zusammen, musterte ihn wortlos. Dann erhob sie sich und ging zu ihm herüber.

Er blieb sitzen und schaute empört zu ihr auf.

Sie lächelte, dann holte sie aus und gab ihm eine schallende Ohrfeige.

Die Ruderer feixten, während der Lügner sie wortlos anstarrte.

Als er sich erheben wollte, zog sie beiläufig ihren schmalen Dolch aus ihrer Stiefelscheide und begann, sich damit die Fingernägel zu säubern.

Das bescherte ihr Ruhe für den Rest der Überfahrt.

Kapitel 2

Die Reise nach Pirimoy

Am anderen Ufer des Awigi angekommen, kramte Lian in ihrem Beutel und gab den Ruderern die zweite Hälfte der Gebühr, die für eine Flussüberquerung üblich war.

Melasgar verließ wortlos das Boot.

„Wenn jemand nach mir fragt, habt ihr mich nie gesehen“, sagte sie zu den Ruderern und kniff ein Auge zu.

„Hmm, wir haben ein ziemlich gutes Gedächtnis“, meinte der eine. Der andere nickte heftig.

Lian verzog das Gesicht.

„Mein Vater will mich verheiraten. An so einen alten, reichen Kaufmann. Könnt ihr euch das vorstellen?“

Der eine nickte, versuchte Bedauern vorzuspielen. Der andere Ruderer grinste unverhohlen.

„Ich will in den Dschungel, selbst mein Glück finden. Vielleicht reise ich zum Gigantenpfeiler. Dort sollen viele zu gemachten Leuten geworden sein.“

Sie warf den beiden ein paar Münzen zu.

„Viel Glück dabei“, der Ruderer machte eine Pause.

„Wobei ich mich gar nicht mehr erinnern kann, wem ich eigentlich Glück gewünscht habe.“

Stolz grinste er sie an.

Sie nickte ihm zu, dann verließ sie das Boot.

Hoffentlich verschaffte ihr die falsche Fährte etwas Zeit, falls der Halbriese tatsächlich nach ihr suchen ließ.

„Wie ist eigentlich dein richtiger Name?“

Der Angesprochene blieb stehen, drehte sich dann zu ihr um.

„Wie kommst du darauf?“

Er musterte sie genauer.

„Ich habe dich doch schon irgendwo gesehen.“

Sie lächelte ihn ausdruckslos an. So wie sie es vor Jahren am Hof des Halbriesen gelernt hatte. Kein Lächeln war zu wenig. Zu viel Lächeln verstanden viele Männer als Einladung. Auf die richtige Mitte kam es an.

„Du warst bei der Audienz, oder? Du warst das Mädchen mit dem Wein.“

Lian nickte, „Du bist aufmerksamer als ich dachte.“

Sein Blick erhellte sich kurz ob des Lobes. Doch dann fiel ihm wohl ein, dass sie ihn noch immer einer Lüge bezichtigte.

„Dann hast du ja meinen Namen gehört.“

Abrupt drehte er sich um und stapfte weiter Richtung Dschungel.

Lian grinste. Das würde eine spannende Reise werden.

Bis zum Einbruch der Dunkelheit marschierte Melasgar stramm vor ihr her. Der Karawanenweg nach Pirimoy führte anfangs durch das weite, sumpfige Uferland des Awigi. Im Frühjahr, nach der Schneeschmelze im Pangawai-Massiv, trat der Fluß über die Ufer und war dann so breit, dass man von Tonatak nur bei klarem Wetter das andere Ufer sehen konnte. Den Rest des Jahres bestand der breite Uferstreifen aus Sumpfland. Hier einen Weg zu finden, war selbst für die heimischen Piriwatu von der Krokodilsippe schwierig.

Deshalb hatten die Bewohner von Tonatak einst dafür gesorgt, dass ein gangbarer Weg vom Ufer bis in den Dschungel führte. Tausende Holzbohlen lagen hier nebeneinander, so dass selbst Ochsenkarren auf ihnen fahren konnten. Bewässerungsgräben an den Seiten machten das Land stabiler.

So war gesichert, dass es zwischen Tonatak und Pirimoy sowie der an der Küste gelegenen Hafenstadt Kelagang eine sichere Handelsverbindung gab.

Heutzutage ließ der Halbriese diesen Weg instandhalten (und sich diesen Dienst mit klingender Münze bezahlen). Alle, die regelmäßig ihre Waren nach Pirimoy oder ans Meer nach Kelagang schickten, bat er dafür zur Kasse. Ohne ihn wäre dieser Weg längst wieder versumpft.

Lian schaute nach vorn. Wenn der Lügner sich weiter so beeilte, würde sie den Dschungel vielleicht noch heute abend erreichen.

Der Dschungel. Lian sehnte sich nach ihm. Das Blätterdach über ihrem Kopf, um sie herum jeder Farbton, den sie sich nur vorstellen konnte, dazu das Singen der Vögel, das Kreischen der Affen und die plötzliche Stille, wenn einer der Jäger durch das Unterholz streifte.

In den letzten Jahren war sie selten hier gewesen. Ihre Aufgabe am Hof des Halbriesen hatte ihr wenig Freiraum gelassen. Doch jetzt konnte sie endlich wieder durchatmen.

Arko war stehengeblieben und schaute sich um.

„Hast Du etwas zu trinken dabei?“, fragte er ohne sie direkt anzuschauen.

„Was zahlst Du dafür?“, gab sie zurück.

Sein Gesicht verfinsterte sich. Dann suchte er ihren Blick, deutete lächelnd mit dem Finger auf sie, drehte sich um und ging weiter.

Sie grinste, nahm einen Schluck aus der Flasche und folgte ihm.

Immerhin hatte er Humor. Der würde ihm aber nicht lange helfen. Bei diesem Wetter nichts zu trinken, mochte einen Tag gut gehen. Aber spätestens morgen würde der Lügner keinen Fuß mehr vor den anderen setzen können.

Er war in ihrer Hand.

Als die Sonne unterging, stolperte Melasgar nur noch vor sich hin. Lian kam nicht umhin, seinen Durchhaltewillen zu bewundern. Andererseits war es aber auch dumm. Sein Stolz würde seinen Durst nicht löschen.

Endlich blieb er stehen, ging in die Knie.

Lian ging zu ihm, setzte sich neben ihn.

Seine Lippen waren trocken, seine Augen gerötet. Er schaute einfach geradeaus, so als würde er sie nicht bemerken.

Wortlos reichte sie ihm die Flasche.

„Danke“, kam es kratzig aus seinem Hals.

Sie nickte und kramte ein Stück Trockenfleisch aus ihrem Beutel.

Gierig steckte er es sich in den Mund und kaute umständlich.

„Sagst du mir jetzt, wie du heißt?“

Er kaute weiter auf dem Fleisch herum und sagte nichts.

„Du solltest mit mir zusammenarbeiten“, schlug sie vor.

„Wieso?“

„Hast du eine Ahnung, wie weit es bis nach Pirimoy ist?“

Der Lügner schüttelte langsam den Kopf.

„Vielleicht zwei oder drei Tagesreisen?“

Lian lachte auf.

„Selbst zwei oder drei Tage würdest du in deinem Zustand nicht schaffen.“

Melasgar kaute weiter, schaute in Richtung Dschungel, der jetzt, nachdem die Sonne untergegangen war, wie eine dunkle undurchdringliche Wand wirkte.

„Selbst wenn du Wasser und Nahrung dabei hättest, würdest du mindestens drei Wochen brauchen.“

Er hörte auf zu kauen. Seine Augen wurden groß, ohne dass sich sein Blick vom Dschungel löste.

„Drei Wochen?“

Lian grinste.

„Du bist nicht oft aus Städten herausgekommen, oder?“

„Das ist wohl ziemlich offensichtlich.“

Sie lachte, er fiel mit ein.

Eigentlich sah er ganz nett aus. Die rotblonden Haare waren zwar nicht ihr Geschmack, aber seine Augen waren freundlich. Er mochte ein Lügner sein, aber immerhin kein bösartiger. Sie tippte auf einen Dieb, den die Not zu dieser Tätigkeit gezwungen hatte. Vielleicht eine Waise.

Nein. Sie schüttelte unmerklich den Kopf. Er war ein Lügner, dazu jemand, der wichtig war für ihr Volk. Er war nur ein Mittel zum Zweck. Es war nicht gut, wenn sie sich zu viele Gedanken um ihn machte.

Lian beschloss die Sache abzukürzen.

„Ich habe einen Vorschlag für dich.“

Der Lügner kniff die Augen zusammen.

„Lass hören.“

„Ich habe gehört, was du in Pirimoy vorhast …“

Aufmerksam beobachtete sie seine Reaktion. Doch leider war es inzwischen zu dunkel um seine Mimik genauer zu erkennen.

Sie dummes Huhn. Ihm eine Falle stellen, und dann nicht in der Lage sein zu sehen, ob er hineinfiel. Ihn erst füttern und dann Hilfe anbieten. Die Reihenfolge ihrer Taten ließ deutlich zu wünschen übrig. Sie sah davon ab, sich vor die Stirn zu schlagen.

Egal, versuchen musste sie es jetzt trotzdem. Vielleicht war er schon angeschlagen genug.

„Ohne meine Hilfe wirst du es aber auf keinen Fall bis nach Pirimoy schaffen.“

Wieder keine Reaktion.

„Mal ganz davon abgesehen, dass du in dieser Stadt keinen Tag überleben würdest.“

Noch immer sagte er nichts.

„Und zurück kannst du auch nicht.“

Er senkte den Kopf.

„Du weißt, dass ich dich für einen Lügner halte. Aber das lassen wir mal für den Moment beiseite.“

„Was willst du für deine Hilfe?“, fragte er leise.

„Ich will mit in die Pyramide.“

Er schüttelte vage den Kopf.

„Das kann ich dir nicht versprechen.“

Lian zögerte. Spielte er ein Spiel? Natürlich konnte er ihr dies nicht versprechen. Aber dass er das zugab, überraschte sie nun doch. Er hätte es ihr jetzt problemlos versprechen können. Steckte doch mehr Gutes in ihm als sie vermutete?

„Du hast keine große Wahl!“

Der junge Mann blieb eine Weile stumm. Lian tat es ihm gleich.

„Na gut, ich nehm dich mit rein. Aber ich weiß nicht, wie lange das gut geht.“

„Das lass nur meine Sorge sein.“

Er musterte sie, ohne dass sein hübsches Gesicht zeigte, was in seinem Schädel vorging.

„Und wie willst Du uns nach Pirimoy bringen? Dein Beutel da ernährt uns keine drei Wochen.“

Lian lachte.

„Lass mich nur machen.“

Als die Sonne über der sumpfigen Ebene aufging, erwachte Lian. Mühsam streckte sie ihre Glieder. Die Nacht war hart gewesen und der Boden auch. Der Lügner war so erschöpft gewesen, dass er keine Wache hatte übernehmen können.

Also hatten sie sich eine halbwegs abgeschiedene Senke jenseits der Entwässerungsgräben gesucht und dort gelagert. Während er geschnarcht hatte, war sie wach geblieben. Zwar waren sie nicht weit von Tonatak, aber einen Schutz bot die Nähe der Stadt nicht. Dafür waren der Schein ihrer Fackeln bis hierher zu sehen, und der Lärm der Menschen hallte leise über den Awigi.

Trotz der Müdigkeit war Lian froh über die Nacht. Frei atmen, nicht den Gestank Tausender Menschen um sich herum und halbwegs Ruhe.

Der Lügner war fort. Lian fluchte und sprang auf. Eilig schaute sie sich um. War er vielleicht nur in einer Senke, um sein Geschäft zu erledigen? Sie kletterte auf einen kleinen Hügel, stellte sich auf die Zehenspitzen und drehte sich langsam im Kreis, doch nirgendwo war der Kerl zu sehen.

War er zurück zur Stadt? Oder vorwärts in den Dschungel?

Sollte sie ihn rufen?

Nein. Sie war eine Piriwatu. Man rief nicht nach seiner Beute. Man fing sie.

Sie bedeckte ihre Augen, um sie vor der tiefstehenden Sonne zu schützen und suchte noch einmal sorgfältig die Umgebung ab. Nichts.

Missmutig schaute sie auf den Boden vor sich. Wäre sie eine richtige Piriwatu, könnte sie Spuren lesen und vermutlich herausfinden, wohin der Lügner gegangen war. Aber sie war in der Stadt aufgewachsen. Und selbst so grundlegende Dinge wie Spuren zu finden, hatte sie nicht richtig gelernt.

Am Geruch zu erkennen, in welcher Garküche gerade frische Ratten gebraten wurden, oder an der Lautstärke auf dem Platz vor dem Palast des Halbriesen zu erahnen, ob es eine Hinrichtung oder nur eine Auspeitschung war, das konnte sie. Im Dschungel hingegen war sie bestenfalls Lehrling.

Sie griff an ihren Gürtel und fluchte erneut. Der Kerl war nicht nur abgehauen, er hatte auch ihre Flasche gestohlen. Und das Trockenfleisch. Zum Glück waren ihre Münzen im Rock eingenäht.

Lian schrie ihre Wut hinaus. Der Kerl brachte ihr ganzes Leben durcheinander. Sie war vor ihrer Aufgabe geflohen, wegen der vagen Aussicht, dass dieser verdammte Lügner eine Chance für die Piriwatu sein könnte. Und eine Chance für sie, aus dem eintönigen Leben am Hofe des Halbriesen zu entkommen.

Und jetzt war er weg und ihr Leben lag in Trümmern.

Sie biss sich auf die Unterlippe und starrte auf den matschigen Boden vor sich.

Atmen, Mädchen, atmen.

Das hatte ihre Mutter ihr immer gesagt, wenn sie zu sehr mit ihrem Schicksal haderte und begann alles kurz und klein zu schlagen.

Atmen.

Wohin konnte der Kerl schon sein?

Zurück wohl kaum. Und da es ein links oder rechts nicht gab, sondern nur den Weg in Richtung Pirimoy musste er wohl dort sein.

„Pudschu, ich brauche deine Stärke, schenke mir deine Krallen, auf dass ich sie in meine Beute schlagen kann.“

Lian beendete ihr kurzes Gebet an den launischen Affengott, dann machte sie sich auf den Weg nach Pirimoy.

Den Dschungel zu betreten war vertraut und doch neu. In den letzten drei Jahren, seit dem Tod ihrer Mutter, war sie nur in den Urwald am Rande der Stadt gekommen. Doch das war nicht mit diesem zu vergleichen.

Tonatak stand inmitten eines Sumpfes. Abseits der hölzernen Pfade konnte man sich kaum bewegen. Aber noch viel wichtiger war, dass es hier keinen Unrat, keinen Gestank, und keine menschlichen Geräusche gab.

Hier war ihre Wiege, hier war ihr Herz. Sie genoss den Augenblick.

Ob Pajur und Pudschu, ihre beiden Affengötter, ihr erlaubten, von nun an immer in ihrem grünen Herz zu bleiben?

Kurz nachdem sie den Dschungel betreten hatte, wich sie vom ausgetretenen Weg ab. Auch wenn sie vieles nicht gelernt hatte, so wusste sie doch die Zeichen zu deuten, welche die Piriwatu vor ihr hinterlassen hatten.

Während der fremdländische Reisende dumpf dem breiten Karrenweg durch den Urwald folgte, gab es ein Netzwerk an versteckten Pfaden, die den Eingeweihten manchmal schneller voran brachten. Auf jeden Fall aber unbemerkt.

Lian ging langsam. Sicher hatte sie längst ein Späher entdeckt. Da ihre Kleidung zu sehr nach Stadt aussah und sie auch sonst nicht wie eine typische Piriwatu aussah, musste sie vorsichtig sein.

„Wer bist Du?“, schallte eine Stimme aus dem Wald.

Sie konnte nicht genau sagen, aus welcher Richtung sie kam. Aber es machte auch keinen Sinn, nach der Quelle zu suchen. Einen guten Späher würde sie ohnehin nicht sehen.

„Ich bin Lian“, erklärte sie laut, „von der Donnervogelsippe“

Schweigen folgte.

„Ich bitte um Hilfe. Pajur, der gütige Affe möge es vergelten.“

Kurz darauf raschelte es hinter ihr, und ein junger Krieger trat zwischen den Bäumen hervor. Er war noch jung, doch er trug bereits etliche Hautbilder. Lian ertappte sich dabei, wie sie seine Haut musterte. Errötend schaute sie ihn wieder an. Der Krieger hatte ihre Blicke bemerkt und schien diese weder als Kompliment noch als Aufforderung zu sehen. Lian atmete auf. In Tonatak hätte das schief gehen können.

Er musterte sie von oben bis unten.

„Du willst eine Piriwatu sein? Du trägst die Kleidung der Stadtmenschen, hast nicht einmal ein Stammeszeichen.“

Lian nickte.

„Ich bin im Auftrag von An-Tapi in Tonatak gewesen.“

Der Krieger runzelte die Stirn, dann legte er die Hände an den Mund und ahmte der Ruf einer Nachteule nach.

„Geh weiter“, befahl er, dann verschwand er wieder im Dschungel.

Offenbar bedeutete der Ruf der Nachteule, dass sie harmlos war, denn sie gelangte ohne weitere Zwischenfälle direkt in die kleine Siedlung. Vermutlich war sie noch an zwei oder drei versteckten Spähern oder Kriegern vorbeigelaufen, ohne diese zu sehen.

Die Siedlung lag nur weniger als 200 Schritt vom Weg durch den Dschungel entfernt und doch würde kein Fremder sie finden.

Zehn flache Hütten drängelten zwischen den riesigen Bäumen um einen kleinen Platz. Ein Drachenbaum stand in der Mitte der kleinen Ansiedlung. Eine Handvoll Krieger saß um ein kleines Feuer herum und starrte sie misstrauisch an.

Ein älterer Mann erhob sich ächzend und kam auf sie zu.

„Pajurs Segen für Euch“, grüßte sie höflich.

Der Mann lächelte.

„Auch Dir wünsche ich den Segen des gutmütigen Affen.“

Lian wartete. Sie wusste nicht genau wer der Mann war. Seine Hautbilder waren faltig, so dass sie nicht sah ob er ein Schamane oder ein Stammesführer, oder einfach nur der Älteste der Anwesenden war. Auf jeden Fall hatte er hier das Sagen. Er entschied.

„Setz Dich zu mir und erzähl mir Deine Geschichte.“

Er führte sie an den Rand der kleinen Lichtung, etwas abseits vom Feuer.

Lian verstand das Zeichen. Sie war noch immer eine Fremde, gehörte nicht zu den Piriwatu.

„Ich bin Lian, von der Donnervogelsippe.“, begann sie.

„Du trägst keines der Zeichen der Donnervögel.“

Sie nickte.

„Vor vielen Jahren wurde meine Mutter mit mir an den Hof nach Tonatak geschickt. Wir haben …“, Lian zögerte.

Sollte sie dem Mann alles offenbaren?

„Wer schickte euch?“

„Die Rebellen. Deshalb durfte ich kein Hautbild und keinen Schmuck tragen. Ich sollte so aussehen wie die Stadtmenschen, damit sie mich nicht als Fremde sahen.“

Lian schaute auf das Feuer, um das die Krieger saßen, während sie hier abseits sitzen musste. Sie senkte den Blick. Selten hatte sie sich so allein und so nackt gefühlt. Jeder Piriwatu, den sie in Tonatak gesehen hatte, trug Hautbilder, die seine Geschichte erzählten. Stammeszeichen, die meisten in die Haut gestochen, manche gebrannt, Schmuck, der die Herkunft seines Trägers erzählte.

Sie hatte nichts davon. Für die Bewohner von Tonatak war sie eine Wilde aus dem Dschungel, die gelernt hatte Wein zu servieren ohne dabei zu stolpern. Für die Piriwatu war sie ein gezähmtes Haustier der Städter.

Lian wischte sich über die Augen als sie eine verräterische Träne spürte.

„Und warum bist Du jetzt hier und nicht mehr in der Stadt?“

„Etwas Wichtiges ist geschehen. Ich muss nach Pirimoy.“

„Warum?“

„Ein gefährlicher Mensch ist auf dem Weg dorthin. Seine Zukunft ist mit der unseres Volkes verknüpft. Ich muss bei ihm sein.“

Lian zögerte wieder. Die Stämme der Piriwatu waren zahlreich wie die Regentropfen auf einem Baum nach einem ausgiebigen Regentag. Doch fast ebenso zahlreich waren auch die Zwistigkeiten zwischen ihnen.

An-Tapi, der Anführer der Rebellen, gab nichts auf die Streitigkeiten. Er nahm Männer und Frauen aus allen Sippen und Stämmen, selbst jene, die wie Lian in Städten aufgewachsen waren. Er nahm die Müden, die Geknechteten und jene, die sich danach sehnten, frei zu sein.

Doch auch er hatte Gegner. Wenn sie dem falschen Mann zu viel erzählte, mochte das An-Tapi und den Rebellen schaden. Der Halbriese und auch die Admirale hatten eine Menge Gold auf den Kopf des Rebellenführers ausgesetzt.

Sie beschloss, ein Risiko einzugehen.

„Ich gehöre zu An-Tapis Leuten. Ich muss so schnell wie möglich nach Pirimoy und ihn dort treffen.“

Der Mann musterte sie eine Weile. War ihr Wunsch zu frech gewesen? Wer war sie denn, so etwas zu verlangen?

„Du bist ein seltsame Piriwatu. Aber ich glaube dir, Lian von der Donnervogel-Sippe.“

Sie schloss erleichtert die Augen.

„Danke.“

Er pfiff kurz. Einer der Krieger erhob sich vom Feuer und kam zu ihnen herüber.

„Mach ein Pferd fertig. Und pack etwas Proviant in die Packtasche“, bat der Alte freundlich.

Der Krieger runzelte die Stirn, musterte Lian kurz. Dann nickte er und ging wortlos.

Es dauerte nicht lange, dann kam er mit dem Gewünschten zurück.

„Folge den Zeichen der Eule. Sie werden dich abseits der Straße deinem Ziel näher bringen.“

„Hab Dank“, sagte Lian und schwang sich auf das kleine, aber zäh aussehende Pony.

„Ob dein zweiter Wunsch sich erfüllt, kann ich nicht versprechen. Aber An-Tapi wird deine Botschaft erhalten.“

Lian nickte, dann ritt sie los.

Drei Tage später erreichte Lian das Lager der Grünschlangen, die Letzte der kleinen Piriwatu-Siedlungen entlang des Weges nach Pirimoy. Anfangs hatte sie überlegt, dem Lügner auf der Straße durch den Dschungel zu folgen, doch dies schien ihr letztlich zu riskant. Zu viele windige Gestalten waren dort unterwegs. Abseits der Straße, im grünen Dschungel, war sie trotz aller Gefahren sicherer.

Sie gab das Pony, die Knotenschnüre in seiner Mähne wiesen es als als Eigentum der Nachteulensippe aus, ab. Es würde sicher zu seinen Besitzern zurückkehren.

Gerade als sie das Lager der Grünschlangen verlassen wollte, stellte sich ihr ein Krieger in den Weg. Schnell musterte sie die viele Hautbilder die seinen muskulösen Körper bedeckten. Doch einer Sippe oder einem Stamm konnte sie ihn nicht zuordnen. Eine Waffe trug er nicht.

„An-Tapi hat deine Nachricht bekommen“, sagte er. Seine Stimme war angenehm.

„Ich muss ihn dringend sprechen.“

„Du bist eine Spionin, Lian. Dein Platz ist in Tonatak am Hof des Halbriesen.“

„Aber es ist etwas Wichtiges passiert. Ich konnte nicht bleiben.“

Der Mann runzelte die Stirn.

„Was ist passiert?“

„Das werde ich nur An-Tapi sagen.“

Der Mann schüttelte den Kopf.

„Du glaubst doch nicht, dass der Anführer der Piriwatu-Rebellen sich so einfach irgendwohin bestellen lässt, nur weil eine kleine Spionin ihren Auftrag vergisst und irgendeinem Traum hinterherläuft.“

Lian ballte die Fäuste zusammen.

„Es ist nicht irgendein Traum. Der Mann, dem ich folge, ist vielleicht der Schlüssel zur Rückeroberung von Pirimoy. Durch ihn können die Piriwatu wieder in der Stadt unserer Väter herrschen.“

Sie ließ den Mann stehen und ging weiter.

„Lian“, der Ruf ließ sie stehen bleiben.

„Was ist?“, fragte sie ohne sich umzudrehen.

„Such dir eine Unterkunft im Sternenviertel. In der Schlangenhöhle solltest du sicher sein. Frag nach dem Naga.“

„Nach welchem Naga?“

„Nach dem Naga!“

Lian ging wortlos weiter.

Von der Grünschlangen-Siedlung aus ging es also zu Fuß für Lian weiter. Ein Trampelpfad führte sie zurück zur Straße und von dort aus zur letzten Herberge auf dem Weg nach Pirimoy.

Es gab nur wenige Menschen, oder Mitglieder anderer Völker, die es gewagt hatten, sich inmitten des marakatamischen Dschungels niederzulassen. Zu viele Gefahren lauerten hier. Nicht nur die Rebellen bedrohten die Sicherheit, auch die Raubtiere des Dschungels machten den Menschen das Leben schwer.

Aber es gab genug Reisende auf der Route, welche die Gefahr lohnend machten. Auch die Schutzgelder an die umliegenden Piriwatu-Stämme und die Bestechungsgelder, die nach Tonatak und Pirimoy flossen, um regelmäßige Lieferungen an Bier und Fleisch zu erhalten, schmälerten das Geschäft wohl nur wenig.

Lian schlenderte durch die Gassen des namenlosen Örtchens und schaute sich um. Vom Lügner war nichts zu sehen. Das hätte sie allerdings auch gewundert, schließlich dürfte er noch viele Tagesreisen hinter ihr sein. Sie müsste sich jetzt nur ein sicheres Plätzchen am Ortsrand suchen und dort nach dem Kerl Ausschau halten.

Noch während sie in Gedanken durchging, wie sie sich die Zeit in den nächsten Tagen vertreiben sollte, erreichte ein Reiter die kleine Niederlassung.

Lian versteckte sich hinter einer Hütte und beobachtete den Lügner. Der sprang elegant von seinem Pferd, band es vor der kleinen Schenke an und verschwand darin.

Sie wartete einen Moment, dann ging sie wie selbstverständlich hinüber zum Pferd. Es trug kein Sippenzeichen der Piriwatu. Allerdings hatte es einen teuren Sattel, und auch das Zaumzeug sah alles andere als billig aus.

Der Lügner war also auch ein Dieb. Eilig durchsuchte Lian die Satteltaschen. Doch außer ein wenig Proviant und ihrer Lederflasche fand sie nichts. Sie nahm die Flasche wieder an sich. Dann löste sie den Knoten, nahm das Pferd am Zügel und führte es aus dem Dorf Richtung Tonatak.

Außerhalb der Siedlung gab sie es frei und gab ihm einen Klaps auf den Hintern. Ein paar Augenblicke lang schaute sie dem Tier nach, das in Richtung ihrer alten Heimat lief.

Nein, Tonatak war nie ihre Heimat gewesen. Sie hatte es immer nur als Zwischenstation gesehen. In diesem Moloch hatte sie nicht sterben wollen. Hoffentlich war Pirimoy besser.

Lian drehte sich um.