Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Auseinandersetzung mit Themen der Alten Kirche kann die Ausbildung interreligiöser Kompetenzen fördern, die im Religionsunterricht und der gemeindlichen Praxis immer wichtiger werden. Mit seinem interreligiös-diskursiven Ansatz zeigt das vorliegende Studienbuch Verbindungslinien zwischen den drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam in deren "formativer Phase" der (Spät-)Antike auf. Orientiert an den Anforderungen des Lehramtsstudiums werden zentrale Inhalte der Geschichte der Kirchen im Altertum wie Ausbreitung und Inkulturation, Die Kirchen und die antiken "Staaten" sowie Fragen der Christlichen Lebensführung und Lehrentwicklung besprochen. Die didaktische Gestaltung des Bandes eignet sich für die studienbegleitende Erarbeitung der Themenfelder ebenso wie für das Selbststudium.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 479
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Christian Lange
Kirchengeschichte des Altertums
Ein Studienbuch
Verlag W. Kohlhammer
Umschlagabbildung: Orante aus der Priscilla-Katakombe, mit freundlicher Genehmigung der Pontificia Commissione di Archeologia Sacra.
1. Auflage 2025
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Heßbrühlstr. 69, 70565 Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-040988-0
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-040989-7
epub: ISBN 978-3-17-046032-4
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
Die Auseinandersetzung mit Themen der Alten Kirche kann die Ausbildung interreligiöser Kompetenzen fördern, die im Religionsunterricht und der gemeindlichen Praxis immer wichtiger werden. Mit seinem interreligiös-diskursiven Ansatz zeigt das vorliegende Studienbuch Verbindungslinien zwischen den drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam in deren »formativer Phase« der (Spät-)Antike auf. Orientiert an den Anforderungen des Lehramtsstudiums werden zentrale Inhalte der Geschichte der Kirchen im Altertum wie Ausbreitung und Inkulturation, Die Kirchen und die antiken »Staaten« sowie Fragen der Christlichen Lebensführung und Lehrentwicklung besprochen. Die didaktische Gestaltung des Bandes eignet sich für die studienbegleitende Erarbeitung der Themenfelder ebenso wie für das Selbststudium.
Christian Lange ist Privatdozent für Kirchengeschichte und Patrologie und Akademischer Oberrat am Bayerischen Forschungszentrum für Interreligiöse Diskurse an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Vorwort
1. Einleitung
1.1 Das wissenschaftliche Fach der Kirchengeschichte des Altertums und sein Gegenstand
1.2 Die Periodisierung der Alten Kirchengeschichte
1.3 Weitere akademische Disziplinen als Bezugsgrößen für die Kirchengeschichte des Altertums
1.3.1 Patrologie und Patristik
1.3.2 Die Christliche Archäologie
1.3.3 Die Wissenschaft vom Christlichen Orient
1.3.4 Andere theologische und nicht-theologische Fächer
1.4 Die Bedeutung der Kirchengeschichte des Altertums für Studium und Beruf
1.5 Das Ziel der Kirchengeschichtsdidaktik
1.6 Die Fachbegrifflichkeit dieses Studienbuches
2. Ausbreitung
2.1 Der »neue Weg« im Kontext von Reformbewegungen im biblischen Israel der Zeit des Zweiten Tempels
2.2 Die Öffnung des »neuen Weges« für Angehörige aus den Völkern über das Bundesvolk hinaus
2.3 Die drei Grundlinien der frühchristlichen Mission über das Volk hinaus
2.4 Die Ausbreitung des Christentums in die griechisch-römische Welt
2.5 Die Ausbreitung in die aramäisch-asiatische Welt
2.6 Die Ausbreitung des Christentums in den Kaukasus: Armenien und Georgien
2.7 Die Ausbreitung des Christentums nach Afrika: Ägypten und Äthiopien
2.8 Die Wege der christlichen Mission
2.9 Christentum und Judentum: Zwischen The Partings of the Ways und The Ways that never parted
3. Kirchliche Ämter und Strukturen
3.1 Die Pluralität von Ämterbezeichnungen in den ersten Gemeinschaften von Christusgläubigen
3.2 Die Entwicklung hin zu einem dreigliedrigen Klerus aus Bischof, Priestern und Diakonen
3.3 Die vertikale und die horizontale Koinōnia der Kirchen
3.4 Die Auseinandersetzung mit der Gnosis
3.5 Frauen in den frühen Ämtern und Gemeinden
3.6 Formen der überregionalen Kirchengemeinschaft
3.7 Die Ausprägung der Pentarchie in der (ost-)römischen Reichskirche
3.8 Das Zerbrechen der Einheit der (ost-)römischen Reichskirche und die Polyphonie der Kirchen
3.9 Die kirchliche Struktur in Persien
4. Die Kirchen und die antiken »Staaten«
4.1 Aussagen über den »Staat« in frühchristlichen Schriften
4.2 Verfolgungen des Christentums
4.3 Christliche apologetische Literatur
4.4 Die so genannte »Konstantinische Wende«
4.5 Das Christentum als vermeintliche »Staatsreligion« im Römischen Reich
4.6 »Zwei-Gewalten-Lehre« und »Symphōnia« – Die Kirchen und die »Staaten« am Ausklang der Spätantike
5. Christliche Lebensführung
5.1 Die Definition von Heiligen Schriften in den christlichen Kirchen in der Antike
5.2 Die frühchristliche Deutung der Initiation
5.3 Die frühchristliche Deutung der Eucharistie
5.4 Die frühchristliche Deutung der Wiederversöhnung von Sünderinnen und Sündern mit Gott
5.5 Der frühchristliche Zugang zu Wissen und Bildung
5.6 Der frühchristliche Zugang zu Kunst und Kultur
5.7 Rückzug aus der Welt: Askese und Mönchtum
6. Ausgewählte Personen
6.1 Ausgewählte Personen aus der Kirche in Ägypten
6.2 Ausgewählte Personen aus Kirchen Syriens
6.3 Ausgewählte Personen aus griechisch-sprachigen Kirchen
6.4 Ausgewählte Personen aus lateinisch-sprachigen Kirchen
7. Lehrentwicklung
7.1 Die drei Phasen der Formulierung des Christusglaubens in der (ost-)römischen Reichskirche
7.2 Neutestamentliche Grundlagen
7.3 Die frühen christologischen Modelle
7.4 Der Diskurs über zwei Bibelstellen: Die Gotteslehre
7.4.1 Der Diskurs um die Auslegung von Sprüche 8,22 LXX
7.4.2 Der Diskus um die Auslegung von Amos 4,13 LXX
7.5 Die Rezeption des Nicaenums in den Kirchen außerhalb des Imperium Romanum
7.6 Der systematische Ausbau der Christologie
7.6.1 Die drei grundlegenden christologischen Konzepte im 5. Jh.
7.6.2 Der Diskurs über den Theotokos-Titel
7.6.3 Zwischen Monophysitismus und Nestorianismus – die christologische Formel des Konzils von Chalcedon (451)
7.6.4 Die divergierende Rezeption des reichskirchlichen Konzils von Chalcedon (451)
7.6.5 Der christologische Diskurs in den Kirchen außerhalb des Imperium Romanum
8. Perspektivischer Ausblick
9. Anhang
9.1 Abbildungsnachweis
9.2 Indizes
9.2.1 Personen
9.2.2 Antike Quellen
9.2.3 Sachregister
In diesem Studienbuch werden ausgewählte Fragestellungen der Geschichte der Kirche(n) im Altertum für Studierende, Lehrende, pastorale Mitarbeitende und weitere Interessierte didaktisch aufbereitet diskutiert. Es erhebt nicht den Anspruch einer umfassenden Darstellung der Kirchengeschichte des Altertums. In der praktischen Arbeit mit Studierenden hat sich vielmehr die Orientierung an den zentralen Inhalten des Lehramtsstudiums empfohlen, welche etwa die Magister- und die Lehramtsprüfungsordnung für das Lehramt am öffentlichen Schulen im Freistaat Bayern für das universitäre Studium (z. B. § 55 oder § 79 LPO I)1 nennen. Dazu kommen didaktische Überlegungen: So werden einzelne Fragestellungen diachron durch die einzelnen Perioden der Geschichte der Kirche(n) in der (Spät-)Antike hindurch behandelt, statt einzelne Themenkomplexe nach den einzelnen Jahrhunderten getrennt synchron zu beschreiben. Auf diese Weise sollen Entwicklungslinien für die Leserinnen und Leser deutlicher erkennbar werden, beispielsweise in der Frage, wer der Christus genau sei: Diese Debatte dauerte in der Kirche des Römischen Reiches vom ersten bis in das siebte Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung – genauer gesagt bis zum lehramtlichen Abschluss auf dem reichsweiten Konzil, das in den Jahren 680–681 in der Kaiserstadt am Bosporus, in Konstantinopel, getagt hat.
Angesichts dieser didaktischen Grundüberlegung fokussiert sich dieses Studienbuch auf Fragestellungen wie: Was ist das Ziel des akademischen Faches der Kirchengeschichte als theologische Disziplin und welche wissenschaftlichen Methoden wendet es an? Wie hat sich der »neue Weg« (Apg 9,2) innerhalb der verschiedenen Strömungen des Judentums aus der Zeit des Zweiten Tempels auf drei Kontinenten transkulturiert? Weshalb spielen Konzeptionen wie diejenigen der »Tradition« (griech. Paradosis/lat. Traditio) und der »Sukzession« (griech. Diadochē/lat. Successio) heute noch eine Rolle für die systematische Reflexion über die Kirche, die Ekklesiologie, und das Selbstverständnis etwa der modernen katholischen Kirche, der orthodoxen Kirche der byzantinischen Tradition oder der altorientalischen Kirchen? Auf diese Weise soll erkennbar werden, dass sich die Beschäftigung mit der »formativen Phase« der drei monotheistischen Religionen lohnt, um sich in aktuelle Entwicklungen in den christlichen Kirchen akzentuierter einbringen zu können.
Viele haben bei der Erarbeitung des Manuskriptes sowie bei der Erstellung von Karten und Übersichten tatkräftig mitgeholfen. Beim Kohlhammer-Verlag haben sich Dr. Sebastian Weigert und vor allem Florian Specker um die Publikation verdient gemacht. Finanziell haben die Arbeitsprozesse, die zum Erscheinen dieses Buches geführt haben, Dr. Helmut Gabel von der Diözese Würzburg und Prof. Dr. Elmar Koziel von der Erzdiözese Bamberg sowie Fiona Atay-Sandyk und Dr. Peter Wirth (beide Bamberg) ermöglicht. Bei Graphiken, Schaubildern und weiteren Prozessen haben Guido Apel und Volker Konrad (beide Bamberg) sehr geholfen. Hierfür möchte ich Ihnen ebenso Danke sagen wie denjenigen Einrichtungen und Personen, die Bilder zur Verfügung gestellt und hierfür die Erlaubnis zur Ablichtung erteilt haben. Sie werden im Abbildungsverzeichnis aufgezählt. In diesen Dank will ich meine Familie – und insbesondere meine Frau Dr. Melanie Kuhn-Lange – einschließen, die mir mit ihrer fachlichen und didaktischen Kompetenz so manchen guten Rat erteilt und in den Zeiten der Arbeit am Manuskript mit großer Geduld den Rücken freigehalten hat. Vergelt’s Gott möchte ich schließlich denjenigen Kolleginnen und Kollegen sagen, mit denen ich in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Fragestellungen erörtern durfte. Exemplarisch nenne ich Prof. Dr. Klaus Bieberstein (Bamberg), Prof. Dr. Hacik Rafi Gazer (Erlangen), Prof. Dr. Johannes Heger (Würzburg), Dr. Falk Nikol (Erlangen), Jun.-Prof. Dr. Stanislau Paulau (Halle), Dr. Nathanael Riemer (Erlangen), Prof. Dr. Ute Verstegen (Erlangen), Prof. Dr. Georges Tamer (Erlangen), Prof. Dr. Dietmar Winkler (Salzburg).
Die einzelnen Kapitel dieses Studienbuches basieren auf Vorlesungen, die ich in den Jahren 2022 bis 2024 als Vertreter des Lehrstuhls für Alte Kirchengeschichte, Patrologie und Christliche Archäologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Würzburg gehalten habe. Den in diesen Jahren Studierenden werden daher die Inhalte, deren didaktische Aufbereitung und der Argumentationsgang der Darstellung wahrscheinlich bekannt vorkommen. Ihnen, den Studierenden, gilt daher ebenso mein Dank wie der damaligen wissenschaftlichen Assistentin Dr. Katharina Pultar, der Lehrstuhlsekretärin Manuela Schießer, sowie der studentischen Hilfskraft Emma Mill für ihre Bereitschaft, sich auf die Themenkomplexe einzulassen und diese in verschiedenen Lehrveranstaltungsformen gemeinsam zu durchdenken. Von ihren Impulsen habe ich viel gelernt und so manchen Zusammenhang neu hinterfragt. Ich widme dieses Buch den Studierenden der Katholisch-Theologischen Fakultät in Würzburg.
Christian Lange
Die Kompetenzerwartungen:
Die Leserinnen und Leser sind über den Gegenstand des Faches der Kirchengeschichte des Altertums, dessen methodische Vorgehensweise sowie seinen zeitlichen wie geographischen Umfang einführend informiert. Sie bestimmen den Ansatz der drei Lehrkreise, die Besonderheiten der Patrologie/Patristik, der Christlichen Archäologie sowie der Wissenschaft vom Christlichen Orient als akademische Disziplinen und die Position des Faches unter den Wissenschaften. Sie erläutern die literarischen Traditionen des Christentums, die Familien von Kirchen im ökumenischen Dialog sowie die divergierende Rezeption von ökumenischen Konzilien. Auf diese Weise sind sie in der Lage, eine eigene Position zu Themen des Faches für aktuelle kirchliche Diskurse wie etwa denjenigen zur Synodalität oder dem Diakonat der Frau zu formulieren.
Fachliche Inhalte nach der LPO I: »Zentrale Themen unter besonderer Berücksichtigung der strukturellen Entwicklung der Kirche.«
Im Gegensatz zu eher zyklischen Zeitvorstellungen in asiatischen Religionen wie dem Hinduismus oder dem Buddhismus, in antiken philosophischen Strömungen wie der Stoa oder der Mischform zwischen den beiden grundlegenden Zeitoptionen im Qurʼān, verstehen das Judentum und das Christentum die Zeit linear. Diese hat einmal begonnen – im Judentum und im Islam mit der Schaffung des Kosmos, im Christentum mit dem Hervorgehen des Gott-Logos aus dem göttlichen Vater, durch welchen die Schöpfung geschehen ist (Joh 1,3) – und wird eines Tages aufhören, am »Ende der Zeiten,« welches sich die antiken Philosophien ebenso unterschiedlich vorstellen wie Judentum, Christentum und Islam. Dabei ist die geschaffene Welt in allen drei Religionen ein Ort der Begegnung des Menschen mit Gott, da sich der Schöpfer in ihr gegenüber seinen Kreaturen zu erkennen gegeben, also offenbart hat, und weiter in seinem geschaffenen Werk handelt – im Judentum etwa in der Erzählung vom brennenden Dornbusch gegenüber Mose (Ex 3,1–4,17), im Christentum durch die Menschwerdung des Gott-Logos in Jesus von Nazareth (Joh 1,14), durch welche der eine Gott, der »viele Male und auf vielerlei Weise […] einst zu den Vätern […] durch die Propheten« gesprochen habe, »in dieser Endzeit […] zu uns gesprochen« hat (Hebr 1,1–2); oder im Islam durch die Verkündigung des Qur’ān an Muḥammad durch den Engel Gabriel/Ǧibrīl (Sure 2:97; Sure 26:193–195). Sowohl in der Schöpfung als auch in den Schriften finden sich daher Spuren der Selbstoffenbarung Gottes und Erfahrungen der Menschen mit diesem Schöpfergott.
Wenn demnach die Schöpfung und die in ihr linear verlaufende Zeit nach christlichem Verständnis ein Ort der Begegnung der Geschöpfe mit ihrem Schöpfer ist, dann ist es ein zentrales Ansinnen des wissenschaftlichen Faches der Kirchengeschichte, diesen Spuren Gottes nachzugehen und ihnen nachzuspüren – und zwar im Rahmen von (Orts- oder Teil-)Kirchen (ekklēsiai), die sich im frühen Christentum entwickelt und erst ab dem 2. Jh. intensiver übergeordnet miteinander verbunden haben (vgl. Kap. 2 und 3).1 Dies gilt nach katholischem Verständnis umso mehr, als das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) die Kirche(n) als ein »gottmenschliches Gebilde« (Lumen Gentium 8,1) betrachtet, in dem Gott weiterwirkt – beispielsweise dann, wenn bei der Taufe von neuen Christinnen und Christen nicht nur die Taufe Jesu im Jordan (Mt 3,13–17) »vergegenwärtigt« wird, sondern »Christus selbst tauft« (Sacrosanctum Concilium 7,1); oder wenn in der Feier der Eucharistie die eucharistischen Gaben von Brot und Wein durch die Herabrufung des Hl. Geistes gewandelt werden (Sacrosanctum Concilium 7,1). Der Berliner evangelische Theologe Christoph Markschies hat deshalb die Kirche(n) – in Anlehnung an eine Formulierung aus dem frühchristlichen Diognetbrief (5,9) – eine »Wandererin zwischen zwei Welten«, d. h. der göttlichen wie der menschlichen, genannt und gleichzeitig mahnend mit Blick auf die Kirchen- und Christentumsgeschichte angemerkt: »Wenn Theologen und Theologinnen eher unpräzise von Gottes ›Mitwirken‹ in der Geschichte sprechen, kann in der Kirchengeschichte nicht aufgrund der Analyse von historischen Kausalitäten das präzise Mischungsverhältnis dieser Kooperation – gar im Sinne einer Faustformel in der Art: achtzig Prozent in menschlicher Verantwortung, zwanzig Prozent übernatürliche Wirkung – nachgereicht und so an der Geschichte konkretisiert werden […].«2
Die Entfaltung des »gott-menschlichen« Gebildes der Kirche(n) in Zeit und Raum mit den Methoden der (kirchen-)historischen Wissenschaft und der mit ihr verwandten akademischen Fächer unter den gerade skizzierten theologischen Grundannahmen zu untersuchen, ist deshalb das Ziel der akademischen Disziplin der Geschichte der Kirchen im Altertum. Diese Kirchen haben sich in den ersten Jahrhunderten ihrer irdischen Existenz sowohl in der griechisch-römischen Welt im Imperium Romanum als auch außerhalb davon im aramäisch-mesopotamischen Kulturraum im Reich der Perser und über diesen hinaus weiter ausgebreitet. Die Kirchengeschichte des Altertums untersucht deshalb schriftliche wie materielle Quellen, um aus deren Analyse, Kontextualisierung und Interpretation ein möglichst zutreffendes Bild von den Entwicklungen zu gewinnen, von denen die frühe Geschichte der (Orts-)Kirchen und der in ihr wirkenden Personen geprägt sind, um sich deren Erscheinungsformen diskursiv anzunähern. In Anlehnung an die Begriffsbestimmung des Historikers Achim Landwehr3 bedeutet »diskursiv« in diesem Zusammenhang, dass in der wissenschaftlichen Forschung versucht wird, durch die Zusammenschau von unterschiedlichen Quellen den historischen Ereignissen, Topoi oder Personen in ihrem sozialen Kontext näher zu kommen, also nachzuvollziehen, wie diese Figur oder dieses Vorkommnis beschrieben, gedeutet und rezipiert worden ist. Es geht also um die Rezeption von historischen Prozessen.
Angesichts der raschen Verbreitung des Christentums über denjüdischen wie den griechisch-römischen Kulturkreis hinaus besteht der Ansatz dieses Studienbuches darin, die Geschichte der Kirchen in der Alten Welt in ihren Grundzügen in drei Lehrkreisen zu skizzieren. Im Zentrum der Betrachtung steht die lateinische Tradition des Christentums, die heute im westlichen Europa und weltweit sowohl durch die katholische Kirche als auch diejenigen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften repräsentiert wird, welche in erster Linie im so genannten Konfessionellen Zeitalter des 16. bis 17. Jh. aus der mittelalterlichen lateinisch-westlichen Kirche hervorgegangen sind. Sie stehen an den Universitäten im deutschsprachigen Raum in einer Wechselbeziehung zu den zumeist konfessionell organisierten theologischen Fakultäten und Instituten, in denen die Studierenden vornehmlich für kirchliche Berufe oder das Lehramt für den Religionsunterricht vorbereitet werden.
Abb. 1.1: Die drei Lehrkreise in der Kirchengeschichte des Altertums und der Patrologie
Weil das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) im Dekret Unitatis Redintegratio allerdings beispielsweise dazu aufgefordert hat, dass die akademische Ausbildung in den historischen Fächern der Theologie »unter ökumenischem Gesichtspunkt geschehen« solle (UR 10,1–2), erweitert ein zweiter ökumenischer Lehrkreis die Perspektive, indem in diesem Studienbuch sowohl die griechische byzantinisch-orthodoxe als auch die orientalischen Traditionen des Christentums in die Darstellung einbezogen werden. Auf diese Weise soll der »Schatz« des orientalischen (gemeint ist das gesamte östliche) Christentums, aus dem »die Kirche des Abendlands« nach der Feststellung dieses Dekretes »in den Dingen der Liturgie, in ihrer geistlichen Tradition und in der rechtlichen Ordnung reich geschöpft hat« (UR 14,2), konfessionssensibel gleichermaßen bedacht werden.
Da sich das Christentum schließlich in der interreligiösen Begegnung und Auseinandersetzung sowohl zu den antiken Religionen und den philosophischen Strömungen der Alten Welt als auch zum Judentum sowie in der Spätantike zum Islam und den Religionen Asiens verhalten hat, bildet ein interreligiös-diskursiver Blickwinkel einen dritten Lehrkreis. Dieser macht die Verbindungs-, aber auch die Trennungslinien zwischen den drei monotheistischen Religionen in deren »formativer Phase« verständlicher.
Die interreligiös-diskursive Herangehensweise ist deshalb der »rote Faden«, der sich durch dieses Studienbuch zieht. Entwicklungen der Theologiegeschichte werden ebenso erörtert wie das Verhältnis der Kirchen zu den antiken »Staaten«, Kulturen und Gesellschaften, die Ausprägung und Entwicklung kirchlicher Strukturen, das Leben der Menschen in der antiken Welt, Aspekte der frühen Liturgie oder die Literatur der Kirchenväter. In Kapitel 6 werden daher nicht nur die »klassischen« lateinischen und griechischen Kirchenväter behandelt, sondern auch Personen aus den orientalischen Traditionen des Christentums.
Arbeitsaufträge zur selbstständigen Wiederholung und Lernzielkontrolle des fachlichen Inhaltes schließen die einzelnen Kapitel ab.
Seit den Arbeiten des irischen Althistorikers Peter Brown4 wird die Spätantike in der Geschichtswissenschaft meist nicht mehr als eine Periode des Niederganges, sondern zunehmend als eine Zeit der Transformation verstanden, durch den aus der Welt des Altertums die des Mittelalters geworden ist. Chronologisch haben sich mit dieser Neuinterpretation die »Grenzen« der Spätantike mit Blick auf den östlichen Mittelmeerraum nach hinten verschoben. Hat man früher häufiger das Ende des westlichen römischen Kaisertums (476 bzw. 482) oder die Schließung der von Plato begründeten Akademie in Athen und gleichzeitige Gründung des ersten Klosters der Benediktiner auf dem Monte Cassino durch Benedictus von Nursia im Jahr 529 herangezogen, so sind in jüngeren Arbeiten eher die Regierungszeiten der (ost-)römischen Kaiser Justinianus I. († 565) (so etwa bei Mischa Meier5) oder Heraclius († 641) (so etwa bei Rene Pfeilschifter6) in den Vordergrund gerückt, weil durch die Expansion der muslimischen Araber »das Christentum nicht mehr weitergegeben werden konnte.«7 In der Tat haben die arabische Eroberung der östlichen Provinzen des (ost-)römischen Imperiums und der Untergang des Perserreiches mit dem Tod des letzten Großkönigs Yazdegerd III. im Jahr 651 in Merw das Gesicht des Nahen Ostens nachhaltig verändert, so dass hier ein neues Kapitel der Kirchen- und Religionsgeschichte des östlichen Mittelmeerraumes aufgeschlagen worden ist.
Geographisch sind die kulturellen wie politischen Verflechtungen im »eurasisch-afrikanischen Raum« intensiver in den Blick gekommen (beispielsweise bei Mischa Meier8 oder Johannes Preiser-Kapeller9). Das führte zu einem neuen Interesse an der Geschichte des Sassanidenreiches und der Apostolischen Kirche des Ostens, die in diesem entstanden ist und das Christentum in die asiatische Welt nach Indien und China getragen hat.10 Aufgrund dieser Akzentverschiebungen wird die Geschichte der Kirchen im Altertum in diesem Studienbuch eher in drei ineinander übergehende Zeitabschnitte eingeteilt:
Abb. 1.2: Die drei Phasen der Kirchengeschichte des Altertums
Den Anfang macht die Geschichte der christlichen Gemeinschaften und (Orts-)Kirchen von ihren Anfängen bis zum römischen Kaiser Constantinus († 337), der – zusammen mit seinen Herrscherkollegen – in den ersten Jahrzehnten des 4. Jh. die phasenweise Verfolgung der neuen Religion im Imperium Romanum beendet und das Christentum so gefördert hat, dass bis zu Theodosius († 395), dem letzten Imperator, der noch einmal als Alleinherrscher regiert hat, eine »Reichskirche« entstehen konnte (vgl. Kapitel 4.5).
Von der ersten, frühen Phase der Kirchengeschichte unterscheidet sich die zweite Periode: von der so genannten »Konstantinischen Wende« im 4. Jh. bis zum Verlust der Einheit dieser römischen Reichskirche im 5./6. Jh. In diesem zweiten Abschnitt wurde in einem immer stärkerer Maße – nicht zuletzt auch als Ergebnis der Förderung des Christentums durch die römischen Imperatoren – die Kirche des römischen Imperiums mit der »katholischen Kirche« gleichgesetzt, so dass sich die theologischen Auseinandersetzungen in erster Linie innerhalb dieser einen Kirche abgespielt haben – nämlich dann, wenn unterschiedliche theologische Richtungen und Bischofsstühle um die Vorherrschaft miteinander gerungen haben (vgl. Kapitel 7). Wie Abb. 1.2 zeigt, lässt sich dieser Zeitabschnitt grob als die Periode zwischen dem ersten reichskirchlichen Konzil von Nicaea (325) und einer weiteren Synode in Konstantinopel (536) beschreiben; nach der letzteren wurden anti-chalcedonensische Metropoliten vom (ost-)römischen Kaiser Justinianus I. (527–565) abgesetzt und durch pro-chalcedonensische Nachfolger ersetzt (vgl. Kapitel 3.8). Wohlgemerkt wurden »polyphone« Akzente allerdings bereits im 4. Jh. stärker erkennbar.
Dabei sollte aber mitbedacht werden, dass die Kirchen außerhalb der Grenzen des Imperium Romanum, also etwa diejenigen der äthiopischen, armenischen oder persischen Tradition, an diesen Entwicklungen nur indirekt beteiligt waren – etwa dann, wenn die Apostolische Kirche des Ostens im Reich der Sassaniden auf einer Synode in Seleucia-Ctesiphon im Jahr 410 das Glaubensbekenntnis des römisch-reichskirchlichen Konzils von Nicaea (325) in einer syrischen Anpassung als verbindlich definiert, die kirchliche Struktur gefestigt und einen gemeinsamen Termin für das Osterfest für all ihre Gläubigen bestimmt hat (vgl. Kapitel 7.5).
In seiner im Jahr 2022 erschienenen Einführung in die Geschichte des Christentums in der Spätantike schließt der Göttinger Gelehrte Peter Gemeinhardt an diesen Teil noch einen dritten Abschnitt an, der die Ausprägung von verschiedenen christlichen Traditionen im 6. bis 7. Jh. zum Gegenstand hat. Er nennt diese Phase der Geschichte der Kirchen die »Pluralität des Christentums«11: Die mit der Zuwendung der römischen Kaiser zum Christentum im 4. Jh. beförderte Einheit der einen (ost-)römischen Reichskirche ging aufgrund der unterschiedlichen Rezeption des reichskirchlichen Konzils von Chalcedon (451) bis heute verloren (vgl. Kapitel 7.6.4). In diese Auseinandersetzungen wurden auch die Kirchen außerhalb der Grenzen des Imperiums einbezogen.
Diesen Datierungsvorschlag teilt dieses Studienbuch insofern, als es den Abschluss der Geschichte der Kirchen im Altertum im lateinisch-sprachigen Westen mit den strukturellen Voraussetzungen für die iroschottische (ab dem 6. Jh.) und die angelsächsische Mission(ab dem 7. Jh.) gekommen sieht, im griechisch- und orientalisch-sprachigen Osten mit der frühen Ausbreitung des Islam (im 7. Jh.). Ein Ausblick auf die Missionserfolge der Apostolischen Kirche des Ostens bis nach Indien und China reicht dabei bis in das 9. Jh. (vgl. Kapitel 2.5).
Dieses Buch rezipiert damit neuere interdisziplinäre Erkenntnisse, wie sie in der Studie Der Koran als Text der Spätantike von Angelika Neuwirth12 oder den Arbeiten von Guy Stroumsa13 präsentiert werden, welche den Qur’ān als ein Dokument der Spätantike interpretieren. Im lateinischen Westen hat daneben die erfolgreiche, von den britischen Inseln ausgehende Missionierung Mitteleuropas im 7. und 8. Jh. die Grundlagen für diejenigen Strukturen geschaffen, auf denen sich die lateinische Kirche des Mittelalters entwickeln konnte – zum Beispiel durch die Bistumsneugründungen oder -wiederbelebungen von Salzburg, Regensburg, Passau, Freising, Würzburg, Eichstätt oder Erfurt durch den Angelsachsen Wynfreth/Bonifatius († 755) in den Jahren 739 bis 742.
Eine für die Alte Kirche besonders bedeutsame akademische Disziplin ist die Lehre von den »Kirchenvätern«. Diese beschäftigt sich entweder als philologische »Patrologie« (von lat. patres) mit der textlichen Überlieferung der Werke derKirchenväter, also deren Edition, Übersetzung und Kommentierung, oder in einem systematischen Sinne als »Patristik« mit der theologiegeschichtlichen Auslegung dieser Schriften.
Im Klassiker Patrologie. Leben und Werk der Kirchenväter von Berthold Altaner (Würzburg) und Basil Studer (Rom) werden die klassischen vier Kennzeichen dieser »Kirchenväter« so beschrieben: Patres Ecclesiae vertraten den wahren Glauben (doctrina orthodoxa), führten ein besonders frommes Leben (sanctitas vitae), sind von der Kirche angenommen worden (approbatio ecclesiae) und lebten in der Alten Welt (antiquitas). Dieser Zeitraum endet mit Isidorus von Sevilla († 636) und Johannes von Damaskus († 754).14 Weil die strenge Anwendung dieser Kriterien aber dazu führen würde, dass nur diejenigen kirchlichen Schriftsteller näher vorgestellt würden, welche von der eigenen (in dem angeführten Beispiel der katholischen) kirchlichen Tradition anerkannt werden, schließt dieses Studienbuch diejenigen Theologen und ihre Werke mit ein, welche sich in den Sprachen der östlichen Traditionen ausgedrückt haben. Auf diese Weise ist dieses Studienbuch bestrebt, den Reichtum aller christlichen Traditionen aus der Alten Welt miteinander zum Sprechen zu bringen.
Neben den literarischen Quellen eröffnen wissenschaftliche Erkenntnisse der Christlichen Archäologie durch die Untersuchung materieller Quellen vertiefte Einblicke in die frühe Entwicklung der Kirchen – zum Beispiel durch Gräber und ihre Beigaben, Inschriften, Graffiti, Kirchenbauten oder bildliche Darstellungen, also hinsichtlich von Architektur, Malerei, Plastik, Kleinkunst. Diese Analysen ergänzen und korrigieren das Bild, welches die schriftlichen Quellen von den ersten Jahrhunderten des Christentums vermitteln.15 In diesem Studienbuch werden deshalb die materiellen Quellen in die Darstellung ebenso einbezogen wie die schriftlichen.
Das Christentum ist im Orient entstanden. Jesus von Nazareth und seine frühesten Nachfolgerinnen und Nachfolger haben wohl einen Dialekt des Aramäischen gesprochen. Erst in einem zweiten Schritt scheint das Griechische hinzugekommen zu sein – jene damals weit verbreitete Sprache, in der der in Tarsus (in der heutigen Türkei) geborene jüdische (Diaspora-)Pharisäer Saul/Paulus die frühesten christlichen Schriften, seine authentischen Briefe, verfasst hat (vgl. Kapitel 5.1). Bereits im Altertum sind eigenständige christliche Literaturen beispielsweise in syrischer, armenischer, koptischer, äthiopischer, nubischer oder arabischer Sprache entstanden. Diese Schriften kritisch zu edieren, zu kommentieren, zu untersuchen und zu analysieren, ist insbesondere die Aufgabe der Wissenschaft vom Christlichen Orient. Heute gibt es allerdings nur noch wenige Forschungseinrichtungen im deutschen Sprachraum, die sich besonders mit dem Oriens Christianus beschäftigen: in Halle-Wittenberg, in Salzburg sowie in Eichstätt.
Mit ihrem wissenschaftlichen Ziel, die »formative Phase« des Christentums in den ersten Jahrhunderten seines Bestehens zu erforschen, zu untersuchen und zu beschreiben, ist die Kirchengeschichte des Altertums schließlich eine Partnerinfüralle theologischen Disziplinen, mit denen sich Verbindungspunkte ergeben. Das sind nicht nur andere, ebenso historisch arbeitende Fächer, wie etwa die Kirchengeschichte des Mittelalters oder der Neuzeit, die historische Liturgiewissenschaft oder die Theologie- und Dogmengeschichte, sondern gerade auch die biblischen, die praktischen und die systematischen Disziplinen der Theologie, wenn beispielsweise diskutiert werden soll, wie sich das frühe Christentum in einer nicht-christlichen Welt behauptet oder in ihr in- bzw. transkulturiert hat, wie es in der Auseinandersetzung mit dem sich in etwa zur gleichen Zeit etablierenden rabbinischem Judentum aus dem Israel des Zweiten Tempels hervorgegangen ist (vgl. Kap. 2.2), wie es sich zu den antiken Kulturen, ihren Religionen und philosophischen Strömungen diskursiv verhalten hat oder wie es durch die Förderung der römischen Kaiser zur vorherrschenden Religion im Römischen Reich geworden ist. Gerade die Zusammenarbeit mit den anderen theologischen Fächern eröffnet neue Blickwinkel auf den Gegenstand des Faches und bietet die Chance zur interdisziplinären Kooperation.
Abb. 1.3: Die Kirchengeschichte des Altertums im Kontext anderer Fächer
Zudem kommen nicht-theologische akademische Disziplinen für die interdisziplinäre Zusammenarbeit infrage, die sich ebenfalls mit der (Spät)-Antike befassen. Zu ihnen zählen beispielsweise die Alte Geschichte, die Klassische Philologie, die vergleichende Religionswissenschaft, die Philosophie oder die Orientalistik. Erst in der interdisziplinären Kooperation können die Ergebnisse der einzelnen Wissenschaften zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden. Die Notwendigkeit derartiger interdisziplinärer Kooperation hat der Judaist Peter Schäfer beispielhaft so formuliert: »Das Verhältnis von Judentum und Christentum in der Spätantike ist eines der am meisten diskutierten Themen nicht nur in der Theologie, sondern in allen Disziplinen, die sich mit den gewaltigen und weitreichenden Umbrüchen in den ersten Jahrhunderten christlicher Zeitrechnung befassen. […] Leider haben diese Disziplinen in der Vergangenheit weitgehend unabhängig voneinander gearbeitet […]. Ein Musterbeispiel für diesen beklagenswerten Zustand sind die Alte Kirchengeschichte und die Judaistik mit dem Schwerpunkt des rabbinischen Judentums: Obwohl beide geographisch und chronologisch denselben Bereich abdecken, wissen die jeweiligen Fachvertreter wenig voneinander, beherrschen mitunter nicht einmal die einschlägigen Sprachen, die zur Kenntnis der anderen ›Disziplin‹ nötig sind.«16 Um diese akademische Interdisziplinarität zu leben, haben sich beispielsweise an der Universität Würzburg deshalb diejenigen akademischen Disziplinen, die sich mit dem Altertum beschäftigen, zu einem interdisziplinärem Zentrum zusammengeschlossen, in dessen Rahmen sie in Forschung wie Lehre kooperieren.
Wenn das Christentum also eine geschichtliche Religion ist, in deren Entwicklung sich Gott immer wieder offenbart hat und in der Geschichte handelt, und sich das Christentum als eine sichtbare soziale Größe in unterschiedlichen Kulturkreisen verbreitet und diese beeinflusst hat, dann sind grundlegende Kenntnisse dieser historischen Genese in der Gemeindearbeit, im Schulunterricht oder auch im ökumenischen Dialog wie iminterreligiösen Austausch hilfreich.17 In diesem Sinne haben Hubert Wolf und Christoph Markschies hervorgehoben: »Erinnerung ist nicht irgendeine periphere theologische Kategorie des Christentums. Im Gegenteil: Gedächtnis ist ein theologischer Zentralbegriff; denn als Offenbarungsreligion ist das Christentum eine Erinnerungsreligion. Erinnert werden in der Religion bestimmte Ereignisse einer als Heilsgeschichte verstandenen Vergangenheit. […] Im Christentum werden solche als Heilstaten Gottes gedeuteten Ereignisse der Vergangenheit freilich nicht nur einfach als Erinnerung präsent gehalten, sondern in den kultischen Versammlungen, im gemeinsamen Gottesdienst teilweise erneut gegenwärtig gemacht: Das Christentum ist eine Erinnerungsreligion par excellence.«18
In dieser erinnerungsgeschichtlich begründeten Rückfrage fällt der Geschichte der Kirchen im Altertum insofern eine besondere Aufgabe zu, als sie diese für die »formative Phase« des Christentums aufwirft, in der Entwicklungen angestoßen worden sind, welche die christliche Gegenwart heute noch prägen – etwa in der Ausbildung des Bischofsamtes (Kapitel 3.2). Dieses hervorgehobene Gewicht der erste Jahrhunderte der Christentumsgeschichte zeigt sich beispielsweise daran, dass die katholischen Kirchen, die orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition und die orientalischen Kirchen die Kontinuität mit der Zeit der Apostel personal durch die ununterbrochene Abfolge von Bischöfen gegeben sehen, welche den von Jesus gelehrten Glauben unverfälscht weitertradiert haben, während reformatorische Christinnen und Christen sich inhaltlich auf die Zeit der frühen Kirche berufen. Beiden Zugängen gemein ist die Betonung der Frühzeit des Christentums. Insofern helfen historische Grundkenntnisse aus der Frühphase der Kirchengeschichte dabei, unsere heutige Glaubensgegenwart zu verstehen und Vorschläge für die Entwicklung der Kirchen in der Zukunft zu erarbeiten – und das am besten im interdisziplinären Austausch.
In der Kirchengeschichtsdidaktik19 geht es heute unter anderem darum, Ereignisse aus der Frühzeit der Kirchen für die Studierenden oder Schülerinnen und Schüler möglichst lokal zu »verorten« und dadurch konkret anschaulich zu machen, mehrere Perspektiven und Blickwinkel durch einen Mix von Quellen einzunehmen oder die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zur Analyse, Kontextualisierung, Übersetzung und Interpretation von Quellen und der Entwicklung von narrativer Kompetenz zu stärken. Der deutsche Sprachraum ist kulturgeschichtlich vom Christentum geprägt, so dass die immer weniger kirchlich sozialisierten Studierenden und Schülerinnen und Schüler seine heutige Gestalt durch kirchengeschichtliches Wissen und Kompetenz besser verstehen können – in einer pluraler werdenden Gesellschaft vorzugsweise gerade auch ökumenisch und interreligiös; denn das soziale Umfeld, in dem Schülerinnen und Schüler heranwachsen, verändert sich durch Migrationsbewegungen.
In den letzten Jahren hat sich die Erkenntnis verbreitet, dass die Geschichte der Kirchen in der (Spät-)Antike von einer Polyphonie, also einer »Vielstimmigkeit« unterschiedlicher christlicher Traditionen, geprägt war. Zu dieser Einsicht hat die wieder stärker betonte Beobachtung beigetragen, dass – neben den klassischen griechischen und lateinischen christlichen Texten – noch eine ganze Reihe von christlichen Literaturen entstanden ist – beispielsweise im syrisch-aramäischen, armenischen, koptischen, äthiopischen oder arabischen Kulturraum. In diese Sprachen sind nicht nur die heiligen Schriften der Christinnen und Christen übertragen worden, sondern es sind auch Kommentare zur Schrift, theologische Traktate, spirituelle Werke, liturgische Anleitungen oder kirchenrechtliche Sammlungen entstanden. Um diese Vielschichtigkeit abzubilden, spricht dieses Studienbuch deshalb von verschiedenen literarischen Traditionen des Christentums und bevorzugt es, die verschiedenen christlichen Traditionen nach deren verwendeten Hauptsprachen und ihrer »modernen« kirchlichen Zuordnung aufzuzeigen:
Abb. 1.4: Die literarischen Traditionen des Christentums
Die lateinisch-sprachige Tradition hat dabei vor allem die westliche Hälfe des Mittelmeerraumes geprägt, auch wenn die ersten Christusgläubigen dort anfangs wohl Griechisch gesprochen haben und andere Sprachen wie das Keltische ebenfalls von Bedeutung waren. Beispielsweise berichtet der aus Kleinasien stammende Irenaeus († um 200), dass er als Bischof in Lugdunum/Lyon weitgehend mit dem Griechischen auskomme, sich jedoch »die meiste Zeit mit der barbarischen Sprache beschäftigen« müsse.20 Dennoch lassen sich auch innerhalb des lateinischen Kulturraumes verschiedene literarische Zentren unterscheiden. Diese zeigt Übersicht 1.5. So hat die lateinische Literatur mit Tertullianus von Carthago († nach 220) ihren Anfang im westlichen Nordafrika genommen und hier über Augustinus († 430) bis weit in das 7. Jh. hinein entscheidende Impulse gesetzt. In Mailand hat etwa der bedeutende Kirchenvater Ambrosius als Bischof gewirkt († 397); und im südlichen Rhonetal war Vincentius von Lérins/Lerinensis († um 440) tätig.
Abb. 1.5: Literarische Zentren der lateinisch-sprachigen Kirche
Abb. 1.6: Literarische Zentren der griechisch-sprachigen Kirche
Die griechisch-sprachige Tradition hat eher den östlichen Mittelmeerraum geprägt. In diesem werden besonders die beiden exegetischen wie theologischen »Schulen« von Antiochia und Alexandria mit ihren jeweiligen Vertretern unterschieden (vgl. Kapitel 7). In der zweiten Hälfte des 4. Jh. haben darüber hinaus die drei »Kappadokier« Basilius von Caesarea († 379), Gregorius von Nazianzus († 390) und Gregorius von Nyssa († nach 394) eigene Akzente gesetzt.
Der orientalischen Tradition entsprechen die Literaturen der syrischen, armenischen, koptischen, äthiopischen, georgischen und arabischen Zweige des Christentums.
Tab. 1.1 Traditionen des syrisch-sprachigen Christentums
Westsyrische TraditionPro-chalcedonensische TraditionOstsyrische TraditionPhiloxenus von Mabbug († 523) Jacobus von Sarug († 521) Jacobus von Edessa († 708)Leo von Harran (8/9. Jh.) Theodorus Abu Qurra († 820) Narses von Edessa († 501) Babai Magnus († 628) Isaac von Ninive († 700)Das syrisch-sprachige Christentum kennt zunächst eine gemeinsame Phase der frühen Literatur, die beispielsweise Aphrahat († 345) und Ephraem († 373) umfasst. Nach den kirchlichen Spaltungen des 5./6. Jh. wird dann zwischen einer pro-chalcedonensischen »melkitischen«, einer anti-chalcedonensischen westsyrischen sowie einer dyophysitischen ostsyrischen Tradition unterschieden (vgl. Kapitel 3.8). Einige herausragende Theologen der jeweiligen Richtung benennt die Übersicht 1.7.
Angesichts dieser Buntheit an Überlieferungen werden die Kirchen und Gemeinschaften im ökumenischen Dialog in vier Traditionen eingeteilt:
Abb. 1.7: Die Kirchenfamilien im ökumenischen Dialog
Abb. 1.8: Die katholische Kirche
Eine dieser vier »Familien« von Kirchen ist die heutige katholische Kirche, die sich aus der lateinischen Kirche und über 20 »katholischen Ostkirchen« (als ecclesiae sui iuris) zusammensetzt. Diese katholischen Ostkirchen haben sich gebildet, als im Laufe der Geschichte einzelne Teilkirchen aus östlichen Traditionen des Christentums eine »Union«, also eine Kirchengemeinschaft, mit dem Apostolischen Stuhl von Rom eingegangen sind oder diese niemals aufgegeben haben (so versteht sich die Maronitische Kirche). Die »katholischen Ostkirchen« verfügen deshalb über ein eigenes Kirchenrecht, den Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium (CCEO), und feiern ihre eigenen Liturgien; sie werden aber im übergeordneten Körper der katholischen Kirche verbunden durch ihre Beziehung zum Papst in Rom, der insofern eine Brückenfunktion einnimmt.
Abb. 1.9: Übersicht über die orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition
Die Familie der orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition umfasst die Kirchen, welche die byzantinische Liturgie verwenden und (mit Ausnahme der sehr kleinen »unkanonischen« Kirchen) untereinander in Kirchen- wie Sakramentengemeinschaft stehen. Diese »orthodoxen« Kirchen verstehen sich selbst als die »eine, heilige, katholische und apostolische Kirche«, wie sie im Glaubensbekenntnis der Synode von Konstantinopel (381) bekannt wird (vgl. Kapitel 5.3). Weil die großen orthodoxen Kirchen zwar ihr eigenes Kirchenoberhaupt selbst wählen, sich aber dennoch gemeinsam als die eine Kirche definieren, sprechen Darstellungen sowohl von der »Orthodoxen Kirche« im Singular als auch den »Orthodoxen Kirchen« im Plural. Die Stellung eines »Ehrenoberhauptes« nimmt unter ihnen der Patriarch von Konstantinopel ein.
Man unterscheidet die gänzlich selbständigen »autokephalen« orthodoxen Kirchen von den »autonomen« Kirchen, die in bestimmten Fragen von einer autokephalen Kirche abhängen. Umstritten ist der Status der »ukrainisch-orthodoxen Kirche«, welche zwar vom Patriarchat von Konstantinopel und den meisten der orthodoxen Kirchen als autokephal anerkannt wird, nicht aber vom Patriarchen von Moskau. In gleicher Weise durchläuft die »Autokephalie« der Orthodoxen Kirche von Nord-Mazedonien noch einen Anerkennungsprozess. Durch Migrationsbewegungen sind die orthodoxen Kirchen heute auch im »lateinisch« geprägten Westen aktiv.
Tab. 1.2 Übersicht über die orientalisch-orthodoxen Kirchen
Alexandrinische TraditionArmenische TraditionWestsyrische TraditionKoptisch-Orthodoxe KircheArmenische Apostolische KircheMalankara Orthodoxe Syrische KircheEritreisch-Orthodoxe KircheSyrisch-Orthodoxe KircheDie altorientalischen Kirchen untergliedern sich einerseits in die orientalisch-orthodoxen Kirchen sowie andererseits die Apostolische Kirche des Ostens. Während sich letztere – parallel zur Kirche im Imperium Romanum – im Persischen Reich entwickelt hat (vgl. Kap. 7.6.4), sind die Kirchen der koptischen und syrischen Christinnen und Christen in der Folge der Ablehnung der christologischen Aussage des vierten reichskirchlichen (= »ökumenischen«) Konzils von Chalcedon (451) aus der (ost-)römischen Reichskirche hervorgegangen. Auch die äthiopische und die eritreische orthodoxe Kirche gehören zu dieser Kirchenfamilie, ebenso die Armenisch-Apostolische Kirche, welche zwar im 4. Jh. wesentliche Impulse zu ihrer Gründung aus der (ost-)römischen Reichskirche heraus empfangen, sich aber ab dem 5. Jh. stärker von dieser abgegrenzt hat (vgl. Kapitel 2.6). Auch wenn diese Kirchen je eigenen Riten folgen, eine eigene Literatur und ihr eigenes Kirchenrecht besitzen, pflegen sie untereinander Kirchengemeinschaft.
Die vierte Gruppe bilden diejenigen Kirchen und Gemeinschaften, die sich aus der lateinischen Tradition des Westens in der Neuzeit entwickelt haben. Dazu gehören beispielsweise die Anglican Community, die Altkatholische Kirche, welche die dogmatischen Aussagen des ersten Konzils im Vatikan der modernen katholischen Kirche (1869–1870) abgelehnt hat, sowie diejenigen Kirchen und Gemeinschaften, die im so genannten »Konfessionellen Zeitalter« eigene Kirchen und Gemeinschaften begründet haben. Sie sind heute ebenso weltweit präsent wie die anderen Traditionen.
Abb. 1.10: Übersicht über die reformatorischen Kirchen und Gemeinschaften
Die Bezeichnung römische bzw. (ost-)römische »Reichskirche« beschreibt in diesem Studienbuch diejenige Kirche, die ab dem 4. Jh. von den römischen Kaisern – die nach dem Ende des westlichen Kaisertums im Jahr 476/482 alleine in Konstantinopel residierten – als Kirche des Imperiums begünstigt wurde (vgl. Kapitel 4.4–5). Diese Identifikation zeigt sich beispielsweise in Bezug auf das erste reichsweite Konzil dieser »Reichskirche«, welches im Jahr 325 in Nicaea stattgefunden hat. Um sie von anderen Synoden abzugrenzen, hat Athanasius von Alexandria († 373) diese Bischofsversammlung als »ökumenische«, d. h. die ganze bewohnte Welt (hē oikumenikē gē) umfassende Synode eingeordnet: Der langjährige Oxforder Gelehrte Henry Chadwick hat aufgezeigt, dass die Christinnen und Christen das aus der antiken Gesellschaft her bekannte Epitheton »ökumenisch« aufgegriffen und für sich verwendet hätten.21 Aus diesem Grunde spricht die Kirchengeschichtsschreibung bis heute von solchen besonderen Synoden als »ökumenischen Konzilien«, von denen die moderne katholische Kirche derzeit 21 zählt, während zwischen den pro-chalcedonensischen Kirchen des Ostens und des Westens deren sieben gegenseitig anerkannt sind (vgl. Kapitel 3.8).
Um zu betonen, dass diese »ökumenischen« Konzilien im Altertum in der Regel nur von Bischöfen aus dem Imperium Romanum besucht worden sind, kennzeichnet dieses Studienbuch sie als »reichskirchliche« Synoden. Dadurch soll deutlich werden, dass etwa auch die Apostolische Kirche des Ostens im Perserreich eigene »reichsweite« persische Synoden einberufen hat.
Abb. 1.11: Die Rezeption der ökumenischen (»reichskirchlichen«) Konzilien des Altertums
Da die Einheit dieser römischen Reichskirche insbesondere als Folge der unterschiedlichen Rezeption der christologischen Aussagen des vierten reichskirchlichen Konzils von Chalcedon (451) verloren gegangen ist, kennzeichnet dieses Studienbuch die Positionierungen zu dieser Synode entweder als pro- oder als anti-chalcedonensisch. Damit soll unter einem konfessionssensiblen Gesichtspunkt betont werden, dass die unterschiedlichen Traditionen verschiedene Wege in der Rezeption dieses Konzils eingeschlagen haben, die erst durch den ökumenischen Dialog zu neuen Annäherungen in der Beschreibung des Christusgeheimnisses und Gemeinsamen Erklärungen zur Christologie geführt oder zu einer neuen Reflexion des päpstlichen Selbstverständnisses beigetragen haben (vgl. die Erklärung »Der Bischof von Rom« vom Juli 2024).
Damit Personen aus den östlichen Traditionen einfacher aufgefunden werden können, latinisiert dieses Studienbuch die Autoren, spricht also sowohl von Theodorus von Mopsuestia oder Constantinus I. (im Gegensatz zu Theodoros und Konstantinos) als auch von Gregorius Illuminator (Lusaworitsch) oder Jacob von Sarug (anstelle von Yaʻqōb). Fremdsprachliche Fachbegriffe werden in Umschrift (z. B. ousia) wiedergegeben. Auf diese Weise soll es Leserinnen und Lesern ohne vertieftere Kenntnisse der östlichen Sprachen ermöglicht werden, sich dieses Studienbuch besser selbstständig erarbeiten zu können.
• Benennen Sie das wissenschaftliche Ziel des Faches der Kirchengeschichte des Altertums!
• Erklären Sie, worin der Unterschied zwischen der Kirchengeschichte als theologischem Fach und der nicht-theologischen Geschichtswissenschaft besteht!
• Erläutern Sie die drei Lehrkreisen der Alten Kirchengeschichte!
• Benennen Sie drei wichtige akademischen Disziplinen, die eng mit der Kirchengeschichte des Altertums verbunden sind!
• Begründen Sie, weshalb die interdisziplinäre akademische Zusammenarbeit eine breitere Perspektive auf den Gegenstand der Geschichte der Kirchen im Altertum eröffnet!
• Legen Sie dar, wann historisch der Untersuchungszeitraum der Kirchengeschichte des Altertums endet!
• Bewerten Sie, weshalb das Studium der Kirchengeschichte des Altertums für Studium und Beruf hilfreich sein kann!
• Interpretieren Sie die vorrangigen Ziele der Didaktik der Kirchengeschichte!
• Leiten Sie die literarischen Traditionen im Frühen Christentum her!
• Bestimmen Sie, welche vier »Familien« von Kirchen im ökumenischen Dialog der Christinnen und Christen unterschieden werden!
• Formulieren Sie, was man unter den »katholischen« Ostkirchen versteht!
• Bennen Sie fünf Kirchen, die zur Familie der orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition gehören!
• Stellen Sie die beiden Gruppen der »altorientalischen« Kirchen dar!
• Erläutern Sie, aus welchen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften die Familie der »reformatorischen« Kirchen besteht!
• Analysieren Sie, was dieses Studienbuch unter der »(ost-)römischen Reichskirche« versteht!
Die Kompetenzerwartungen:
Die Leserinnen und Leser erkennen, dass der »neue Weg« (Apg 9,2), den Jesus von Nazareth und seine frühesten Nachfolgerinnen und Nachfolger eingeschlagen haben, in der wissenschaftlichen Forschung vom Kontext der verschiedenen Strömungen des Judentums aus der Zeit des Zweiten Tempels (vor dem Jahr 70 n. Chr.) her gedeutet wird. Sie erläutern, weshalb das patristische Christentum und das rabbinische Judentum das Erbe des biblischen Israel für sich in Anspruch genommen und ihr jeweiliges religiöses Profil im Diskurs miteinander geschärft haben. Die Leserinnen und Leser benennen Gründungstraditionen für einflussreiche Kirchen des Ostens wie des Westens und verbinden diese prosopographisch mit Persönlichkeiten aus dem frühen Christentum. Sie leiten die Methoden der frühchristlichen Mission her und sind sich der Problematik von seriösen Schätzungen über deren zahlenmäßige Verbreitung bewusst. Sie sind in der Lage, die interreligiös-diskursive Dimension der Rezeption von biblischen Narrativen exemplarisch zu beurteilen.
Fachliche Inhalte nach der LPO I: »Zentrale Themen unter besonderer Berücksichtigung der strukturellen Entwicklung der Kirche; Sozial- und Frömmigkeitsgeschichte, bedeutende Personen.«
In den letzten Jahrzehnten werden die Verwurzelung Jesu im biblischen Israel seiner Zeit, d. h. der Epoche des so genannten »Zweiten Tempels« (vor 70 n. Chr.), wieder stärker hervorgehoben. Die Gemeindetradition, die sich im Lukasevangelium (um 90 n. Chr.) widerspiegelt,1 überliefert, dass Jesus – dessen aramäischer Name Je(ho)schuʽa sich vermutlich aus der Kurzform für den Gottesnamen YHWH und dem hebräischen Verbum für »helfen, retten« zusammensetzt – in eine jüdische Familie hineingeboren worden sei. So wird einerseits hervorgehoben, dass Maria, die Jungfrau (griech. parthenos), mit Josef verlobt gewesen sei, der »aus dem Haus David stammte« (Lk 1,27). Andererseits wird Elisabet, die Mutter von Johannes dem Täufer, als Verwandte (griech. syngenes) der Maria bezeichnet (Lk 1,36), die »aus dem Geschlecht Aarons« war (Lk 1,5). Insofern stellt das Lukasevangelium für Jesus über seine Familie eine Traditionslinie zum Priestertum des Aaron wie auch zum Königtum des David her.
Abb. 2.1: Ortsangaben in den Evangelien
Zwei heute noch in verschiedenen Traditionen des Christentums gefeierte Festtage erinnern an diese Herkunft Jesu: Auf der einen Seite das »Fest der Beschneidung des Herrn« (Circumcisio Domini), das östliche Traditionen des Christentums, die Syro-Malabarische Katholische Kirche oder die Anglican Community am 1. Januar eines jeden Jahres begehen – also acht Tage nach dessen Geburt am 25. Dezember. Die Liturgie dieses Tages erinnert an die Überlieferung des Lukasevangeliums, dass das neu geborene Kind am achten Tag beschnitten worden sei (Lk 2,21), wie es dem Gesetz des Bundes entsprochen habe (vgl. Gen 17,12), den Gott mit Abraham geschlossen habe (Gen 17,7–14). Auf der anderen Seite das Fest der Begegnung oder Darstellung des Herrn (lat. Praesentatio Jesu in Templo, griech. Hypapantē tou Kyriou), das am 40. Tag nach der Geburt des Herrn zumeist am 2. Februar eines Jahres begangen wird. Es memoriert die Darstellung aus demselben Lukasevangelium, nach der die Eltern Jesus in den Tempel nach Jerusalem gebracht hätten, wo dieser dem Gott Israels geweiht (Lk 2,22–23) und das vorgeschriebene Opfer von einem Paar Turteltauben oder zwei jungen Tauben zur kultischen Reinigung der Mutter nach der Geburt dargebracht worden sei (Lk 2,24). Der Autor dieses Evangeliums beschreibt die Familie Jesu also als eine, welche diese Gebräuche des biblischen Israel beachtet habe.
Mit dieser Sozialisierung seiner Familie decken sich weitere Überlieferungen über das Leben Jesu: So hat dieser nach dem Markus- und dem Matthäusevangelium sein öffentliches Auftreten in der Synagoge von Kafarnaum begonnen, in der er die Schrift ausgelegt und die Zuhörenden betroffen gemacht hat (Mk 1,21–28/Mt 4,13–17). Das Lukasevangelium verlegt (wahrscheinlich unhistorisch) Jesu ersten Auftritt in den Tempel zu Jerusalem, in dem der 12-jährige Jesus mit den Schriftgelehrten diskutiert haben soll (Lk 2,41–50). Nach dem Johannesevangelium schließlich tut sich Jesus auf einer jüdischen Hochzeit in Kana in Galiläa hervor, auf der er Wasser in Wein verwandelt und sich dadurch als Herr über die Schöpfung zu erkennen gegeben hat (Joh 2,1–12) – ein Ereignis, an das der römische Ritus deshalb heute als eine der drei Stationen der göttlichen »Theophanie« erinnert, des öffentlichen Sichtbarwerdens von Jesus als Gott (griech. Theos), neben der Anbetung der Weisen aus dem Osten (Mt 2,1–12) und der Taufe Jesu im Jordan (Mt 3,13–17).
Darüber hinaus erwähnt das Lukasevangelium, dass Jesus in der Synagoge von Nazareth, dem Ort, an dem »er aufgewachsen war,« aus der Schrift vorgelesen habe (Lk 4,16). Nach der Überlieferung des Johannesevangeliums (Joh 2,13; 6,4; 11,55) hat er mindestens drei Mal das Pessachfest in Jerusalem gefeiert; und der Autor des Matthäusevangeliums legt dem »Nazarener« (Mk 1,24) die Worte in den Mund: »Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern um zu erfüllen« (Mt 5,17).
Die Erneuerungsbewegung, die Jesus initiiert hat, wird angesichts dieser Sozialisation Jesu vom Kontext anderer jüdischer Reformbestrebungen seiner Zeit her gedeutet.2 Es scheint, als hätten sich diese als Opposition zu der führenden und auf Ausgleich mit den römischen Autoritäten bedachten Gruppe der Sadduzäer am Tempel verstanden. So haben beispielsweise die in den neutestamentlichen Schriften häufig erwähnten Pharisäer offenbar eine Reform des Bundesvolkes durch eine Rückbesinnung auf die Überlieferung der Tora, der fünf Bücher des Mose, angestrebt. Die Essener dagegen suchten ihr Heil durch einen Rückzug in zurückgezogene Gemeinschaften in der Wüste, wie sie vielleicht in der Gemeinschaft von Qumran sichtbar werden. Die so genannten Zeloten wollten den politischen Umsturz gewaltsam herbeiführen; und Johannes der Täufer rief das Bundesvolk zur Umkehr durch eine Taufe mit Wasser zur Buße auf (Mk 1,4).
Gerade mit der Bewegung des Letzteren scheint Jesus in einem engeren Kontakt gestanden zu haben: Die synoptischen Evangelien erzählen davon, dass Jesus selbst von Johannes getauft worden sei (Mk 1,9–11). Diese Angabe ergänzt das Johannesevangelium dahingehend, dass beide, Johannes wie Jesus, zur gleichen Zeit getauft hätten (Joh 3,22–35). Wenn diese Angabe zutrifft, dann scheint Jesus vom Täufer zunächst das Konzept eines standortgebundenen Umkehrpredigers übernommen zu haben. Nach den Berichten der synoptischen Evangelien ist er in einem zweiten Abschnitt jedoch dazu übergegangen, als Wanderprediger umherzuziehen und dem ganzen Volk im Sinne einer eschatologischen Erneuerung das Reich Gottes, die basileia tou theou, zu verkünden (Mk 1,14). Das Lukasevangelium fasst diesen Abschnitt im Leben Jesu so zusammen: »In der folgenden Zeit wanderte er [sc. Jesus] von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf und verkündete das Evangelium vom Reich Gottes« (Lk 8,1).
Bei dieser auf das Bundesvolk konzentrierten Erneuerungsbotschaft ist Jesus jedoch nicht alleine geblieben. Die synoptischen Evangelien überliefern, dass er rasch Frauen und Männer um sich geschart habe, deren »neue« Aufgabe als »Menschenfischer« (halieis anthrōpōn) der Verfasser des Markusevangeliums bei seiner Schilderung der Berufung des Simon und des Andreas am See von Galiläa in einen profilierten Gegensatz zu deren tatsächlichen Alltagsberufen als »Fischer« (halieis) setzt. Derselbe Autor überliefert weiter, wie Jesus diejenigen, die er um sich gesammelt habe, auf einen Berg gerufen und zwölf von ihnen auserwählt habe, die er dann »aussenden wollte, damit sie predigten und mit seiner Vollmacht Dämonen austrieben« (Mk 3,13–14). Es wird angenommen, dass die spätere Gemeindetradition in der Angleichung der Anzahl von zwölf Auserwählten an die zwölf Stämme Israels (z. B. Num 1,1–16) den Anspruch auf eine eschatologische Erneuerung des gesamten Bundesvolkes zum Ausdruck bringen wollte. Für diese Vermutung spricht auch, dass Jesus nach der Version der so genannten »Aussendungsreden« (Mk 6,6–14 par.) des Matthäusevangeliums die Zwölf angewiesen habe: »Geht nicht zu den Heiden und betretet keine Stadt der Samariter, sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel! Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe« (Mt 10,5–7).
Vor diesem Hintergrund erscheint es wahrscheinlich, dass unter den Christusgläubigen eine Öffnung zu einer Missionierung der Völker erst aus dem Rückblick auf Jesu Tod und Auferstehung erfolgt sei, als sie das vierte Lied vom Gottesknecht (Jes 52,13–53,12) einer entsprechenden Relecture unterzogen hätten, in dem ausgesagt wird, dass Gottes »entstellter« Knecht »viele Völker in Staunen« versetze (Jes 52,13–15). Die neutestamentlichen Schriften enthalten jedenfalls verschiedene »Aussendungsreden«, die eine derartige Perspektive einnehmen: Nach dem Markusevangelium weist der auferstandene Herr die nach dem Selbstmord des Judas Iskariot (Mt 27,5) verbliebenen Elf an: »Geht hinaus in die ganze Welt, und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen!« (Mk 16,15). Im Lukasevangelium begründet der Auferstandene diese Ausweitung des Fokusses mit der israelitischen Messiasvorstellung: »Er sagte zu ihnen: So steht es in der Schrift: Der Messias wird leiden und am dritten Tag von den Toten auferstehen, und in seinem Namen wird man allen Völkern, angefangen in Jerusalem, verkünden, sie sollen umkehren, damit ihre Sünden vergeben werden« (Lk 24,46–47). Das Matthäusevangelium verbindet die Aussendung zu allen Völkern darüber hinaus mit einer Anweisung zu Taufe und Verkündigung: »Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (Mt 28,19–20). Das Johannesevangelium schließlich verstärkt die Aussendung durch Jesus mit der Einhauchung des Heiligen Geistes, der die Ausgesandten bei ihrem Wirken begleiten werde: »Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist!« (Joh 20,21–22). Die Überzeugung der Christusgläubigen, mit dem Beistand des Heiligen Geistes in dieser Welt zu handeln, wird uns im Kapitel über die Ausprägung von kirchlichen Ämtern wieder begegnen (vgl. Kap. 2.2).
Abb. 2.2: Christus der gute Hirte, Fresko aus der Calixtus-Katakombe in Rom
Eine derartige Interpretation des Lebens Jesu prägt das Motiv des »Guten Hirten« (griech. ho poimēn ho kalos/lat. pastor bonus), das in der frühen christlichen Kunst weit verbreitet ist. Abbildung 2.2 zeigt ein vermutlich aus dem 3. Jh. stammendes Fresko aus der Calixtus-Katakombe in Rom. Hat beispielsweise Psalm 23 Gott selbst als den »guten Hirten« gedeutet oder der biblische Prophet Jeremia die Hoffnung ausgedrückt, dass Gott seinem Volk einen neuen Hirten schenken werde (Jer 3,15), so bezieht Jesus diese Erwartungen auf sich, indem er sich selbst als diesen erwarteten guten Hirten, der sein Leben für die Schafe hingeben werde (Joh 10,11), bezeichnet.
Da sich die ersten Anhängerinnen und Anhänger Jesu aus dem Bundesvolk rekrutierten, verwundert es nicht, dass die neutestamentlichen Schriften beschreiben, wie diese zunächst dessen Praktiken folgten. So berichtet der Autor der Apostelgeschichte, dass diejenigen, die zum Glauben an Jesus gekommen seien, »einmütig im Tempel« verharrt, in »ihren Häusern« aber »das Brot« gebrochen und »miteinander Mahl« gehalten hätten (Apg 2,46). Darüber hinaus seien Simon/Petrus und Johannes »um die neunte Stunde zum Gebet in den Tempel hinauf[gegangen]« (Apg 3,1). Wie wohl für die meisten jüdischen Gläubigen dieser Zeit war insofern der herodianische Tempel in Jerusalem ein wichtiger Bezugspunkt für die junge Jesusbewegung. Vielen Besucherinnen und Besuchern der Heiligen Stadt ist dessen plastische Rekonstruktion aus den 1960er Jahren unter der Bezeichnung »Holyland-Modell« bekannt, das sich heute auf dem Campus des Jerusalemer Israel-Museums befindet.
Abb. 2.3: Modell des herodianischen Tempels
Gleichwohl beinhaltet die Apostelgeschichte erste Hinweise darauf, dass auch Nicht-Angehörige des Volkes zum Glauben an Jesus als den Sohn Gottes gekommen seien. Als eines der ersten Beispiele für Bekehrungen aus den Völkern nennt ihr Autor den Hauptmann der römischen Kohorte in Caesarea, Cornelius (Apg 10,1–44), wobei er anfügt, dass die »gläubig gewordenen Juden, die mit Petrus gekommen waren, […] es nicht fassen [konnten], dass auch auf die Heiden die Gabe des Heiligen Geistes ausgegossen wurde« (Apg 10,45). Als ein weiteres Exempel nennt er einen Äthiopier, den »Kämmerer, ein[en] Hofbeamte[n] der Kandake, der Königin der Äthiopier« (Apg 8,26), den Philippus getauft habe (Apg 8,37–39). Weil dieser aus dem Propheten Jesaja gelesen haben soll (Apg 8,28), wird angenommen, dass es sich bei ihm um einen so genannten »Gottesfürchtigen« (theosebes oder phoboumenos) gehandelt haben könnte, d. h. einen Angehörigen aus den Völkern, der jedoch offenbar von der israelitischen Religion angezogen war, weswegen er unter anderem den Sabbat beachtete, Speise- und Fastenregeln befolgte und an israelitischen Liturgien teilnahm – ohne allerdings als Mann beschnitten zu sein. An diese Zielgruppe scheint sich der zum Christusglauben gekommene jüdische Pharisäer Saul/Paulus in seiner Mission besonders gewandt zu haben (vgl. Kap. 2.4).
Diese Öffnung des »neuen Weges« für Menschen aus den Völkern scheint innerhalb der jungen Jesusbewegung allerdings früh die Frage aufgeworfen zu haben, ob für diese Neubekehrten aus den Völkern das gesamte Gesetz des Volkes gelten solle oder nicht und ob Angehörige des Volkes mit ihnen Mahlgemeinschaft halten dürften. Das vielleicht aus dem 2. Jh. v. Chr. stammende nicht-kanonische jüdische Buch der Jubiläen (Liber Anniversariorum) etwa untersagte Angehörigen des Volkes eine solche Verbindung: »Und auch du, mein Sohn Jakob, erinnere dich an mein Wort und bewahre die Gebote Abrahams, deines Vaters! Trenne dich von den Völkern und iss nicht mit ihnen und handle nicht nach ihrem Werk und sei nicht ihr Gefährte! Denn ihr Werk ist Unreinheit, und alle ihre Wege sind befleckt und Nichtigkeit und Abscheulichkeit.«3
Über diesen Themenkomplex scheint es demnach zu einem Diskurs zwischen verschiedenen Denkrichtungen innerhalb der noch jungen nachösterlichen Jesusbewegung gekommen zu sein. In dieser Debatte scheinen sich eine tora-freiere Strömung um Saul/Paulus aus Antiochia und eine eher am Gesetz orientierte Gruppierung um Jakobus, Petrus/Kephas und Johannes in Jerusalem gegenüber gestanden zu haben. Über die Auseinandersetzung liegen zwei Berichte vor: Der zeitlich nähere und von einem Teilnehmer selbst verfasste Galaterbrief des Saul/Paulus (um 55 n. Chr.) einerseits (Gal 2,1–10) und die Darstellung der späteren Apostelgeschichte (um 90–100 n. Chr.) andererseits (Apg 15,1–35).4 Beide literarische Quellen überliefern übereinstimmend, dass die Diskussion in der Gemeinschaft der Christusgläubigen in Antiochia am Orontes, der Hauptstadt der römischen Provinz Syrien, aufgekommen sei, als »einige Leute von Judäa herab[gekommen seien] und [ge]lehrt [hätten] […]: Wenn ihr euch nicht nach dem Brauch des Mose beschneiden lasst, könnt ihr nicht gerettet werden« (Apg 15,1/Gal 2,4). Vertreter der beiden Seiten hätten sich daraufhin in Jerusalem getroffen, um die Frage zu erörtern und die Gemeinschaft (koinōnia) zwischen beiden Gruppen aufrechtzuerhalten (Gal 2,1–2/Apg 15,2). Diese Zusammenkunft, die als der »Apostelkonvent« bezeichnet wird, wird zumeist auf das Jahr 48 n. Chr. datiert. Sie hat späteren Versammlungen, den »Synoden«, als ein Vorläufer gegolten, da die Beteiligten nach dem Autor der Apostelgeschichte davon überzeugt waren, mit dem Beistand des Heiligen Geistes gehandelt zu haben (Apg 15,28)
Über die Ergebnisse der Begegnung schreibt Saul/Paulus an die Gläubigen in Galatien, die zugrunde liegende Frage sei in dem Sinne gelöst worden, dass ihm von den Jerusalemer Autoritäten nichts auferlegt worden sei (Gal 2,6). Diese hätten ihm vielmehr zum Zeichen der Gemeinschaft die Hand gegeben (dexias edōkan koinōnias) und bekräftigt: »Wir sollten zu den Völkern (eis ta ethnē) gehen, sie zu den Beschnittenen (eis tēn peritomēn)« (Gal 2,9). Im Gegensatz zu dieser Version des Saul/Paulus überliefert die Apostelgeschichte, dass sich die Gläubigen aus den Völkern von »Götzenopferfleisch, Blut, Erstickte[m] und Unzucht« fernhalten sollten (Apg 15,29). Nach dieser Beschreibung der Geschehnisse hätten die »Apostel und die Ältesten zusammen mit der ganzen Gemeinde« (Apg 15,22) darauf bestanden, dass sich die neu Bekehrten aus den Völkern an Mindeststandards halten müssten, wie sie sich im rabbinischen Judentum, in Ausdeutung von Gen 9,4–6, unter dem Stichwort der »Noachidischen Gebote« entwickelt haben.5 Die exegetische Wissenschaft hält Apg 15,19–21 deshalb mehrheitlich für eine spätere Hinzufügung.
Trotz diesem vermeintlichen Konsens scheint es weiterhin zu Auseinandersetzungen in der Frage der Mahl-, und damit wohl auch der eucharistischen Gemeinschaft, gekommen zu sein. Denn Saul/Paulus berichtet im Galaterbrief (um 55 n. Chr.), dass Simon/Petrus in Antiochia zunächst eine solche Koinōnia mit Gläubigen aus den Völkern gehalten, von dieser Praxis aber Abstand genommen habe, als »Leute aus dem Kreis um Jakobus ein[ge]tr[of]fen« seien, weil er »die Beschnittenen fürchtete« (Gal 2,11). Ihm habe es der Begleiter des Saul/Paulus, Barnabas, gleichgetan (Gal 2,12), der besonders mit Zypern in Verbindung gebracht und im griechischen Teil der Insel verehrt wird.
Während der Autor der Apostelgeschichte die Problematik nicht tiefer erörtert und seine Darstellung ab dem so genannten »Apostelkonvent« auf die Nacherzählung der missionarischen Erfolge des Saul/Paulus konzentriert (ab Apg 15,36), könnten Hinweise wie im Ersten Korintherbrief des Apostels (55 n. Chr.) darauf hindeuten, dass die Auseinandersetzungen über die sich aus der Befolgung der Tora ergebenden Pflichten weitergeschwelt zu haben scheinen (1Kor 1,12: in der christlichen Gemeinde in Korinth sollten nicht die einen zu Paulus, die anderen zu Apollos und wieder andere zu Petrus/Kephas halten). Darüber hinaus üben die beiden unter der Bezeichnung Recognitiones Clementis überlieferten Schriften, die wahrscheinlich aus dem 3. Jh. stammen und unter den Namen des Bischof Clemens von Rom († um 99 n. Chr.) tradiert worden sind, Kritik an der gesetzesfreien Mission des Saul/Paulus.6 Die in griechischer Sprache abgefassten Homiliae beinhalten einen fiktiven Dialog zwischen Simon/Petrus und Saul/Paulus, der sich hinter der Figur von Simon dem Magier (Simon Magus) verbergen dürfte. Dieser wird in der Apostelgeschichte als ein Zauberer gekennzeichnet (Apg 8,9), der sich später jedoch von Philippus für den Glauben an Jesus hat gewinnen lassen (Apg 8,13). Simon/Petrus hinterfragt in dem Austausch, ob des Saul/Paulus Konversion zum Christusgläubigen (Apg 9,1–29) diesem überhaupt die Autorität gebe, den christlichen Glauben selbst auszulegen, da er den Herrn nicht selbst getroffen habe, sondern ihm dieser nur in einer Schau erschienen sei: »Selbst wenn Dir [sc. Simon alias Saul/Paulus] also unser Jesus in einer Vision erschienen und bekannt geworden ist, dann ist er [mit Dir] wie mit einem Widersacher im Zorn zusammengetroffen. Deshalb sprach er [sc. der Herr] durch Visionen und Traumbilder oder auch durch Offenbarungen, die von außen kommen. Ob aber jemand aufgrund einer Erscheinung zur Lehre befähigt werden kann?«7 Anstelle also eine eigene – gemeint ist wohl: gesetzesfreie – Mission zu verkünden, solle sich Saul/Paulus, so geht die Argumentation der Schrift, eher an ihn, Simon/Petrus halten, der die wahre Lehre vom Mensch gewordenen Herrn selbst empfangen habe: »Wenn Du also wirklich am [Werk] der Wahrheit mitarbeiten willst, dann lerne zuerst von uns, was wir von ihm [sc. Jesus] gelernt haben, und wenn Du ein Jünger der Wahrheit geworden bist, werde unser Mitarbeiter!«8 Die Position eines Garanten für die Wahrheit nimmt in dem Schriftencorpus Jacobus ein, den Saul/Paulus in seinem Brief an die Galater (55 n. Chr.) als eine der drei »Säulen« (styloi) der Jerusalemer Gemeinschaft der Christusgläubigen bezeichnet hat (Gal 2,9). Ihn tituliert Simon/Petrus