DSA 125: Caldaia - Christian Lange - E-Book

DSA 125: Caldaia E-Book

Christian Lange

0,0

Beschreibung

Ein ganzes Dorf, das direkt aus den Magierkriegen in die Gegenwart geschleudert wurde; eine Baroness, die sich in einer fremden Welt zurechtfinden muss; ein Gefangener, der auf mysteriöse Weise aus einer Kerkerfestung verschwindet - Merkwürdiges geht vor im Grenzgebiet zwischen Almada und Garetien. Die junge Baroness Escalia von Hahnentritt will eigentlich nur das Erbe ihres Vaters antreten, der von den Schergen des Schwarzmagiers Zulipan erschlagen wurde. Doch was für sie erst gestern geschah, liegt aus der Sicht ihrer Mitmenschen über vierhundert Jahre in der Vergangenheit. Sie weiß nicht, wem sie trauen kann, denn anscheinend will sie jeder nur für seine eigenen Ziele verwenden. So beginnt ein anstrengender Kampf um ihre Rechte auf die Baronie Fremmelsfelde, der immer aussichtsloser zu sein scheint ... aber trotz aller Rückschläge lässt sie sich nicht entmutigen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 351

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Biografie

Christian Lange wurde 1974 in Magdeburg geboren. Nach seiner Ausbildung zum Fachinformatiker arbeitet er heute an einem Magdeburger Forschungsinstitut.

In seiner Freizeit beschäftigt er sich vor allem mit Lesen, Schreiben und Fotografieren. Mit dem Schwarzen Auge kam er 1993 in Berührung.

Seitdem hat er vor allem für das Briefspiel der Region Garetien geschrieben. Caldaia ist sein erster Roman.

Titel

Christian Lange

Caldaia

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Originalausgabe

Impressum

Ulisses SpieleBand 11062EPUB

Titelbild: Arndt DrechslerAventurienkarte: Ralph HlawatschBuchgestaltung: Ralf BerszuckE-Book-Gestaltung: Michael Mingers

Copyright ©2012 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR. Alle Rechte von Ulisses Spiele GmbH vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Print-ISBN 978-3-89064-145-4E-Book-ISBN 978-3-86889-641-1

Danksagung

Mein erster und größter Dank gilt meinen Eltern, die mich zum Bücherwurm erzogen haben.

Dank an Alex, Daniel, Thomas, Steffi & Stefan, mit denen ich viele wunderbare Stunden in Aventurien verbracht habe.

Dank an Björn Berghausen, André Jordan, Marc Motsch und all die anderen Briefspieler, die dem Königreich Garetien seit vielen Jahren Leben einhauchen.

Dank auch an Alex Wichert, Thomas Finn und andere, die mich immer wieder zum Schreiben ermutigt und inspiriert haben.

Dank an Uli Lindner, auf dessen Abenteuer »Vergessenes Wissen« aus der Anthologie »Sphärenkräfte« Escalia von Hahnentritt und die Idee zu diesem Buch basieren.

Und natürlich: Dank an meine Frau, die mich oft entbehren muss, wenn ich in Aventurien weile.

Prolog

Escalia schrie. Mühelos schob das Monstrum die Reste des aufgesprengten Stadttors beiseite. Der Blick des hünenhaften, vierarmigen Söldners glitt über sie hinweg, und Escalia erkannte nur Wahnsinn darin. Fremdes Blut floss über seine nackte Brust. Schwarzgekleidete Söldner schoben sich an ihm vorbei, stets darauf bedacht, dem Vierarmigen nicht zu nahe zu kommen. Widernatürliche Chimären sprangen mit weiten Sätzen über die Mauern, durch eine Bresche in der Stadtmauer strömten weitere Söldner in die Stadt. Hinter Escalia brachen Schreie des Entsetzens los. Bestialischer Gestank hüllte sie ein. Überall herrschte Chaos. Doch sie konnte ihren Blick nicht von dem Ungetüm mit den vier Armen lösen. Jene Arme, die ihren Vater getötet hatten. Sie schrie.

Ein kräftiger Stoß gegen ihre Schulter ließ sie zur Seite stolpern. Ein Schwertschlag zischte an ihr vorbei. Sie blinzelte, ahnte den nächsten Angriff mehr, als dass sie ihn kommen sah. Instinktiv riss sie ihr Schwert hoch. Die gegnerische Klinge prallte gegen die Waffe und rutschte ohne Kraft daran ab. Verwirrt blickte Escalia auf den zu Boden sinkenden Körper vor ihr.

»Reißt Euch zusammen!«, schrie jemand neben ihr. Escalia schaute kurz zur Seite und sah Eslam von Wagenhalt einen weiteren Angreifer mit einem Flammenzauber zu Boden schicken. Seine langen, braunen Haare wehten wild um seine Schultern. Die schlichte, weiße Robe war bereits von Blut und Dreck verschmutzt. Dennoch strahlte der junge Magier eine Eleganz aus, von der sich Escalia losreißen musste. Sie presste die Lippen aufeinander und nickte ihm kurz zu. Verdammt, musste ausgerechnet Eslam ihr das Leben retten?

Sie konzentrierte sich wieder auf den Kampf. Ein Blick ins Rund zeigte ihr, dass die Verteidiger es nicht geschafft hatten, die Angreifer vor den Mauern von Fremmelshof zu halten. Irgendetwas hatte das Tor mit großer Kraft aufgebrochen. Ein Torflügel hing noch schief in den Angeln, der andere war nicht mehr zu sehen. Längst tobte die Schlacht in den Straßen und auf den Plätzen der Stadt. Die Schwarzen Söldner, viele von ihnen durch niederhöllische Experimente verunstaltet, drangen in die Stadt. Chimären und Gargylen stießen vom Himmel herab. Manche von ihnen verbreiteten nur Schrecken, andere waren kräftig genug, unvorsichtige Verteidiger in die Höhe zu reißen und zu Tode stürzen zu lassen.

Escalia wandte den Kopf wieder zum Tor. In dessen Trümmern standen jetzt, geschützt durch einen flirrenden magischen Schutzkreis, zwei schwarzgekleidete Magier und ließen Feuer auf die Stadt regnen. Escalias Hoffnung sank. Einem solchen Angriff würde Fremmelshof kaum lange standhalten. Einige Dächer brannten bereits, doch niemand hatte Zeit zu löschen. Einzig die Anwesenheit der Rohalswächter verzögerte noch die Niederlage. Hoffentlich kam der Entsatz aus Wagenhalt bald an.

Ein viehisches Brüllen band ihre Aufmerksamkeit. Das Ungetüm hatte vier Schwerter gezogen und griff nun die Verteidiger Fremmelshofs an. Wie tödliche Windmühlenflügel rauschten die rostigen Schwerter durch die Luft. Das Mons­trum verließ sich nicht auf Kampfeskunst, sondern einzig auf rohe Kraft. Erneut tauchte vor Escalia das Bild ihres Vaters auf. Der stolze Rondradan von Hahnentritt, niedergehauen von jenem Ungeheuer …

Sie spürte Tränen über ihr Gesicht laufen. Wenn ihr Vater nicht gegen dieses Vieh bestanden hatte, wie sollte sie es dann? Die Ritterin stellt sich dem Feinde voller Stolz und meidet nicht den Kampf. Wie oft hatte Vater ihr die zwölf Tugenden der Ritterschaft erläutert. War jetzt der Zeitpunkt zu zeigen, dass sie Rondryas Tugend hatte? Sie senkte den Kopf, fixierte ihren Gegner. Vaters Tod durfte nicht ungesühnt bleiben.

Brüllend rannte sie los. Nur noch wenige Schritte, und das Monstrum hatte sie bisher nur kurz eines Blickes gewürdigt. Gut, der Überraschungseffekt würde helfen. Escalia schwang ihre Waffe, um in den ersten Hieb möglichst viel Kraft zu legen. Plötzlich vertrat ihr jemand den Weg. Escalia nutzte den halben Schwung der Waffe und hieb kraftvoll auf die Seite der Söldnerin ein. Ein kurzer Blick zum Vierarmigen zeigte ihr, dass er sich ihr noch immer nicht zugewandt hatte. Gut, schnell die Söldnerin überwinden und dann weiter. Doch die Frau wich mit einer raschen Bewegung aus und ging nun selbst zur Attacke über. Die Unterbrechung ihres Angriffs brachte Escalias Wut auf das Ungetüm zum Wanken. Sie versuchte, ihren Zorn auf die Frau zu konzentrieren, die sie davon abhielt, den Mörder ihres Vaters zu strafen. Doch die Wut verrann. Sie fasste die Söldnerin genauer ins Auge, so wie ihr Vater es ihr einst beigebracht hatte: Lerne deinen Gegner kennen, um ihn zu besiegen! Etwas stimmte nicht an ihr. Wieso trug eine Handlangerin des Schwarzmagiers Zulipan eine Amazonenrüstung? Die Frau war sicher einige Götterläufe älter als sie, Rüstung und Waffe sahen gepflegt aus, trugen aber deutliche Spuren vergangener Kämpfe. Sie kniff die Lippen zusammen. Auch wenn es äußerst merkwürdig war, dass eine Amazone für die Schwarzmagier kämpfte, so sprach doch alles dafür. Zu allem Übel galten die kriegerischen Frauen als exzellente Kämpferinnen. Escalia zog eine Grimasse. Nun gut, schließlich war es egal, ob sie gemäß Rondryas Tugend gegen einen vierarmigen, wahnsinnigen Söldner kämpfte oder gegen eine erfahrene Amazone in Diensten der Schwarzmagier.

Die Söldnerin schlug eine Attacke gegen ihr linkes Bein. Escalia sprang zur Seite, nutzte den Schwung für einen Schlag gegen die linke Seite der Gegnerin. Die Amazone parierte ohne Schwierigkeiten. Wieder ein Schlag gegen ihr linkes Bein. Escalia sprang erneut zur Seite, schlug wieder zu. Wieder parierte die Söldnerin. Escalia fluchte lautlos. Diese Frau war ihr überlegen. War es die größere Kampferfahrung? Escalia hatte erst in wenigen Scharmützeln gekämpft. Nie war sie dabei in echte Bedrängnis geraten. Wieder eine Attacke der Amazone, und nur mit Mühe und Glück wich Escalia aus. ›Verdammt, konzentriere dich!‹ Escalia versuchte eine Finte, doch die Amazone durchschaute das Manöver.

Langsam geriet sie in Schwierigkeiten. Keine ihrer Attacken brachte die Amazone in ernsthafte Gefahr. Sie hingegen hatte immer mehr Mühe, den Schlägen der Söldnerin auszuweichen oder sie zu parieren. Sie war doch keine schlechte Kämpferin! Escalia wurde wütend. Was bildete sich diese Frau ein? Glaubte sie, ihre Gegner durch diese wahrscheinlich gestohlene Amazonenrüstung beeindrucken zu können? Escalia sprang mit einem Schrei vor und legte alle Kraft in den Schlag gegen die Waffenhand der Amazone. Doch die drehte sich nur zur Seite und ließ Escalia ins Leere laufen. Escalia drehte sich schnell wieder um. Langsam wurde ihr die Luft knapp. Der Amazone war keine Anstrengung anzusehen. Stand sie unter einem unheimlichen Zauber? Escalia überlegte fieberhaft, wie sie der Gegnerin beikommen konnte.

Die Angreiferin trieb sie nun mit kräftigen Hieben vor sich her, immer weiter weg vom zerstörten Stadttor, weg vom Mörder ihres Vaters. Escalia nahm am Rande wahr, dass rund um sie der Kampf weiter tobte. Noch immer stürzten Gargylen vom Himmel auf die mit einfachen Schwertern und Dolchen bewaffneten Bürger Fremmelshofs. Magier beider Seiten griffen mit Feuerlanzen und ähnlich tödlichen Waffen den jeweiligen Gegner an. Schmerzensschreie und das Brüllen der Chimären vermischten sich zu einem infernalischen und kaum ertragbaren Lärm. Noch immer wehte ein dämonischer Gestank durch die Stadt.

Escalia beschränkte sich darauf, den Angriffen der Amazone auszuweichen. So konnte sie etwas Kraft sammeln und die Söldnerin beobachten. Jetzt wusste sie, was merkwürdig war. Es waren nicht nur die Rüstung und die Waffe der Amazone. Es war der völlig unbeteiligte Gesichtsausdruck, mit dem die Frau kämpfte. Egal, wie hart ihre Waffen aufeinanderprallten, ob eine Attacke gelang oder ins Leere lief, die angebliche Streiterin Rondryas verzog keine Miene. Das ging doch nicht mit den Zwölfen zu! Mit wem auch immer Escalia bisher die Waffen gekreuzt hatte, keiner war dabei so ohne Gefühlsregung geblieben. Der eine schmähte den Gegner, der andere war voller Anspannung, wieder andere hatten Spaß am Kampf. Doch jeder Einzelne hatte irgendeine Gefühlsregung gezeigt.

Allerhöchstens Ungeduld war ihr inzwischen anzumerken. Auch wenn ihr Gesicht nichts verriet, wurden ihre Attacken schneller und härter. Escalia geriet zunehmend in die Defensive. Mehr und mehr zweifelte sie daran, diese Frau im ehrlichen Zweikampf besiegen zu können. Für einen Augenblick überlegte sie, ob ihr ein unehrenhaftes Mittel in den Sinn kam. Doch sie verdrängte den Gedanken sofort wieder. Was hätte sie von einem unehrenhaft gewonnenen Kampf?

Ein Flammenstrahl schoss an ihnen vorbei, erhellte für einen Moment ein Amulett, das die Amazone um den Hals trug. Escalia sah das Bildnis der Kriegsgöttin aufblitzen. War das ein Zeichen? Wollte die Herrin Rondrya ihr Mut machen? Ihre Gegnerin mochte eine Amazone sein, doch wer auf der Seite der Schwarzmagier kämpfte, konnte kaum in Rondryas Namen unterwegs sein. Nach einer Serie von Attacken der Angreiferin nutzte Escalia die erste sich bietende Gelegenheit. Laut den Namen der Kriegsgöttin rufend, hieb sie eine Serie schneller Attacken gegen ihre Gegnerin. Für einen winzigen Moment schien es Escalia, als würde der Name Rondryas eine Regung auf dem Gesicht der Frau hervorrufen. Für diesen kleinen Moment öffnete sich tatsächlich eine Lücke in der bisher undurchdringlichen Deckung der Amazone. Escalia war überrascht, dass ihr Plan funktioniert hatte. Zu spät lenkte sie ihren Schlag in die Bresche, traf nur den Brustpanzer und glitt daran ab.

Dann war der Moment vorbei. Die Amazone griff wieder mit voller Wucht und unbewegtem Gesicht an. Escalia erkannte die Finte zu spät. Sie versuchte auszuweichen, der Säbel der Gegnerin traf sie dennoch am linken Arm und hinterließ eine klaffende Wunde. Escalia schrie vor Schmerz. Tränen schossen ihr in die Augen und verschleierten ihr die Sicht. Auf gut Glück sprang sie ein paar Schritte nach hinten. Mühsam konnte sie sich so vor den weiteren Schlägen schützen. Doch die Amazone sprang ihr sofort nach, drosch mit kräftigen Schlägen auf sie ein und schlug ihr schließlich das Schwert aus der Hand. Escalia keuchte. Fahrig griff sie nach dem Dolch in ihrem Gürtel, obwohl sie wusste, dass sie damit nicht gegen die Amazone bestehen konnte. War dies das Ende? Noch immer liefen die Tränen über ihre Wangen. Doch es waren nicht mehr nur die des Schmerzes. Sie wollte nicht sterben. Nicht hier und nicht jetzt. Doch da war nichts mehr, was sie hätte tun können. Einen Moment lang kam der Impuls, um ihr Leben zu bitten. Escalia widerstand. Escalia von Hahnentritt, Baroness von Fremmelsfelde, bettelte nicht um ihr Leben. Wenn Rondrya dieses Ende für sie vorsah, dann sollte es so sein. Sie griff den Dolch fester und schaute die Amazone grimmig an. Die Söldnerin erwiderte einen Augenblick lang den Blick, dann hob sie ihr Schwert zum letzten Schlag.

Eine gewaltige Flammenlanze schoss hoch über beider Köpfe hinweg. Escalia spürte die Hitze des Feuers, das etliche Schritt weit über ihr hinwegzog. Auch die Amazone hielt inne.

Dann schlug das magische Feuer im Turm Alvirons ein. Der Lärm der Schlacht verstummte, nur die Schreie einiger Verletzter durchbrachen die Stille. Alles schaute hinauf zum Turm des Magiers. Das weiße Gebäude inmitten der Stadt war von überall zu sehen. Die schmalen Fenster erlaubten keinen Blick ins Innere. Escalia atmete auf, als sie sah, dass die Fassade des Gebäudes unversehrt war. Alviron musste sein Refugium mit einem mächtigen Zauber geschützt haben. Sie war nicht sicher, was der alte Magier dort oben trieb, aber er hatte versprochen, die schwarzen Horden so lange aufzuhalten, bis der Entsatz aus Wagenhalt einträfe. Bis jetzt war davon nichts zu bemerken, doch würde der Turm zerstört werden, stürbe auch die letzte Hoffnung.

Jäh erschütterte ein heftiges Beben die Stadt. Von der Krone des Turms fielen einzelne Brocken Mauerwerk herunter und schlugen krachend auf dem Boden auf. Wieder hielten alle Kämpfer inne. Selbst die Gargylen brachen ihre Angriffe ab, kreisten über der Stadt und schienen den Turm zu beobachten. Jedermann schien zu begreifen, dass mit diesem weißen Turm die Stadt dem Angriff standhielt oder fiel.

Langsam brach ein größeres Stück Mauerwerk aus der Krone des Turms. Eine Treppe im Innern des Gebäudes wurde sichtbar, dahinter ein Raum. Bücherregale standen an den Wänden und kippten nun ins Freie. Wieder krachte es. Das Dach des Turms sackte ein Stockwerk tiefer, begrub die Treppe und die Regale mit den Büchern. Staub wallte aus der zerstörten Krone des Turms, einzelne Fetzen Papier hingen in der Luft und schwebten langsam zu Boden.

Escalias Wunde pochte. Der Schmerz holte sie zurück. Sie drehte sich zurück, bereit, den nächsten Angriff der Amazone zu parieren, der unzweifelhaft folgen würde. Doch die Amazone schaute starr an ihr vorbei. Escalia bemerkte, dass sich der Blick der Gegnerin, der anfangs schräg aufwärts gerichtet war, langsam senkte. Dann begriff sie. Voller Panik schloss sie die Augen, ging in die Knie. Wieder lief ein Beben durch die Stadt. Dann schlug der Turm mit lautem Getöse auf. Staub wallte durch die Straßen, nahm die Sicht. Escalia hustete. Nun war alles aus. Keine Hoffnung mehr. Sie hockte am Boden und versuchte zu erfassen, was geschehen war. Der Staub nahm ihr den Atem. Angeekelt spuckte sie den Staub aus, der ihr mit jedem Atemzug in den Mund wehte. Sie erhob sich langsam, suchte die Amazone.

Was war das? Das Beben hörte nicht auf. Verwirrt schaute sich die Baroness um. Die Wände der Häuser rings um sie wackelten. Putz rieselte von den Mauern, einzelne Ziegel rutschten von den Dächern und zersprangen klirrend auf dem Straßenpflaster. Was geschah hier? Welch dunkle Magie bewirkte dies?

Mühsam versuchte Escalia, die aufsteigende Panik zu beherrschen. Der Boden unter ihren Füßen bebte immer stärker, alles schien zusammenzubrechen. Wo war man noch sicher? Mitten auf der Straße, oder an einer noch stehenden Wand, oder sollte sie gar versuchen, aus der Stadt zu fliehen? Irgendwohin, wo nichts einstürzen konnte? Sie merkte, wie sie die Kontrolle über sich verlor. Sie biss sich fest auf die Lippen. Der Schmerz ließ sie klarer denken. Sie spürte wieder die pochende Wunde am Arm. Wo war die Amazone?

Da, einige Schritt entfernt auf der Straße. Der staubige Dunst legte sich langsam und bedeckte die kniende Söldnerin mit einer grauen Schicht aus Staub. Der Blick der Frau war nun wieder unbeweglich auf sie gerichtet. Nur das Beben hielt sie davon ab, weiterzukämpfen. Mit regungslosem Blick schaute sie zu Escalia, die Waffe bereit.

Der Lärm der Schlacht wich nun dem Lärm umstürzender Mauern und panisch schreiender Menschen. Die Kämpfe waren völlig zum Erliegen gekommen. Selbst die fliegenden Ungeheuer der Schwarzmagier waren vom Himmel verschwunden. Escalia kroch auf allen vieren auf den Rest einer eingestürzten Mauer zu. Die Amazone hingegen schien das Chaos nicht weiter zu interessieren. Ihre Augen wichen keinen Fingerbreit mehr von Escalia. Würde das Beben jetzt aufhören, die Amazone würde noch im gleichen Moment losspringen.

Dann riss die Welt auf. Überall erschienen bleiche Schwaden. Was war das? Wurde der Staub der einstürzenden Gebäude wieder aufgewirbelt? Es schien, als wäre die Welt auf eine Stoffbahn gemalt und jemand risse Löcher in diese. Escalia versuchte zu begreifen, was sie da sah. Wie Nebelbänke lagen diese grauen Flecke in den Straßen. Escalia konnte keine Worte dafür finden, doch sie erkannte, dass dies falsch war. Die Schwaden schienen Dinge zu verschlucken. Voller Entsetzen sah sie, wie Menschen in diese Risse gezogen wurden und schreiend darin verschwanden. Hörte diese verderbliche Magie denn nie auf? Das Beben wurde stärker. Das Straßenpflaster brach auf. Auch darunter riss die Wirklichkeit. Die Amazone, die eben noch auf dem Straßenpflaster gekniet hatte, hatte sich mit einem gewagten Sprung aus der Gefahr gebracht. Nun hockte sie einige Schritt von Escalia entfernt an den Resten einer halb eingestürzten Mauer. Ihr Blick war noch immer ohne Ausdruck und fest auf Escalia gerichtet. Doch während Escalia wütend den starren Blick erwiderte, geschah etwas mit der Amazone. Das Gesicht der Kämpferin geriet unversehens in Bewegung. Escalia starrte die Frau mit offenem Mund an, in deren Antlitz plötzlich viele Gemütsbewegungen gegeneinander kämpften. Escalia glaubte, Freude und Glück, aber auch Hass und Wut zu erkennen. Es war, als würden all jene Emotionen, die die Amazone bisher nicht gezeigt hatte, auf einen Schlag hervorbrechen. Schließlich verzerrte sich das Gesicht der Amazone zu einer unmenschlichen Grimasse, und sie kippte mit verdrehten Augen gegen die Mauer.

Für einige Augenblicke vergaß Escalia das Chaos um sich herum. Sie schaute die besinnungslose Frau an und versuchte zu verstehen. Schwarze Magie, es musste schwarze Magie sein. Was sonst könnte eine Amazone dazu bringen, gegen Fremmelshof zu kämpfen? Was sonst konnte sie einfach so ohnmächtig werden lassen? Escalia konzentrierte sich wieder auf das Geschehen um sie herum. Der Staub, der aus den Trümmern der Gebäude aufstieg, trieb ihr Tränen in die Augen. Noch immer brachen Dächer ein, stürzten Mauern um. Die Kampfhandlungen waren indes völlig zum Erliegen gekommen, selbst der vierarmige Söldnerführer war aus seinem Kampfesrausch erwacht. Die blutigen Schwerter hatte er fallen lassen, er klammerte sich mit seinen vier blutüberströmten Armen an einen Mauerrest. Direkt neben ihm waberte die graue Leere. Voller Genugtuung sah Escalia, wie eine andere graue Schwade am Mauerrest nagte, an dem sich das Monstrum festhielt. Krachend gab die Mauer nach, und der Mörder ihres Vaters verschwand schreiend im grauen Nichts. Sie lächelte grimmig. Für einen kleinen Moment stand die Zeit still, und Escalia schaute zufrieden in das graue Loch, in dem er verschwunden war.

Die Risse in der Welt wurden größer. Jede der Schwaden schien alles verschlingen zu wollen, was in ihrer Nähe war. Escalia hatte nun Mühe, sich festzuhalten. Die besinnungslose Amazone war inzwischen an der Wand heruntergerutscht. Die rechte Hand hielt noch immer den Säbel umklammert. Einer der wabernden, grauen Risse war in ihrer Nähe erschienen. Langsam gab das Straßenpflaster nach. Die Steine verschwanden im Nichts. Nur noch wenige Momente, und die Besinnungslose würde haltlos ins Grau stürzen. Fieberhaft überlegte Escalia, ob sie die Amazone ihrem Schicksal überlassen sollte. Das Grau leckte bereits an den Stiefeln der Frau. Ein Schatten huschte vorbei. Escalia schaute sich verwirrt um. Was war das gewesen? Wieder ein Schatten. Diesmal sah sie es. Ein widernatürliches Wesen tauchte kurz im wabernden Grau auf. Escalia wurde übel. So etwas durfte nicht existieren. Wieder erschien das Wesen, starrte die Amazone an, huschte weiter.

Egal, was die Amazone getan hatte, sie hatte es wohl kaum verdient, einem solchen niederhöllischen Wesen zum Opfer zu fallen. Escalia steckte den Dolch in den Gürtel und rutsche auf allen vieren zu der Ohnmächtigen hin, immer darauf bedacht, Abstand zum grauen Nichts zu halten. Sie klammerte sich an deren Gürtel und griff mit der anderen Hand nach einem gesplitterten Balken. Holzspäne stachen ihr in die Haut. Verzweifelt zog sie sich und die Amazone näher an den Balken und damit fort von dem Weltenriss. Der Schmerz, der durch ihren verletzten Arm schoss, raubte ihr fast die Sinne. Escalia spürte, wie das Nichts an ihr und der Amazone zog. Das Wesen im Nebel schrie, griff nach der Amazone. Escalia war unfähig zu reagieren. Dann wich das Grau plötzlich wirbelnden, grünen und blauen Farben. Das Wesen verschwand. Escalia meinte, einen riesigen, tief grünen Wald zu erkennen, der rasend schnell näher kam. Sie schrie …

Kapitel 1

»Baroness, könnt Ihr mich hören?«

Escalia verzog das Gesicht. Sie war müde. Konnte man sie nicht einfach schlafen lassen?

»Escalia …« Jemand schlug ihr mit der Hand auf die Wange.

Sie stöhnte. Wer wagte es? Unwillig öffnete sie die Lider. Helligkeit schoss ihr in die Augen, bohrte sich brennend in ihren Kopf. Sie kniff die Augen wieder zusammen und ächzte. Übelkeit kam auf.

»Langsam«, erklang die Stimme erneut. Ihr Kopf fühlte sich an, als sei er in dicke Tücher gehüllt. Wessen Stimme war das? Sie legte die Hand vor die Augen, bevor sie sie vorsichtig wieder öffnete. Noch immer war die Helligkeit kaum zu ertragen.

»Was ist geschehen?«, hörte sie sich krächzend sagen.

Ihre Augen gewöhnten sich langsam an das Licht. Das Erste, was sie erkannte, war das Gesicht Eslam von Wagenhalts. Der Magier hockte vor ihr und schaute sie besorgt an. Seine sonst stets weiße Robe war von blutigen Flecken und Dreck bedeckt, sein sonst so gepflegtes Haar hing wirr über die Schultern. Escalia schaute an ihm vorbei. Hinter Eslam sah sie eingestürzte Mauern und aufsteigende Rauchschwaden. Die Luft war voller Staub. Die Erinnerung kam nicht behutsam. Mit einem Male fiel ihr alles wieder ein: Fremmelshof, der Angriff, die Flammenlanze, der einstürzende Turm, die Risse in der Welt … Vor ihren Augen begann sich alles zu drehen. Würgend übergab sie sich.

Der Magier stützte sie. »Wie geht es Euch, Escalia?«

Erschöpft lehnte sie sich an einen Mauerrest am Straßenrand. Eslam hockte noch immer vor ihr und schaute sie besorgt an.

Sie wich seinem Blick aus. »Seid so gut und antwortet auf meine Fragen, Magister.« Ihre Stimme hatte abweisender geklungen, als sie es gewollt hatte.

Der Magier ließ sie los. »Es scheint, als hätte Magistra von Garlischgrötz recht behalten und wir waren tatsächlich in einer Globule …«

»Verschont mich mit Eurem Magiergeschwätz«, unterbrach sie ihn. Verärgert versuchte sie sich aufzurichten. Doch erneut schoss ihr ein brennender Schmerz durch den Kopf. Sie stöhnte auf und kippte zurück gegen die Mauer.

Eslam erhob sich abrupt. »Ihr müsst vorsichtig sein. Anscheinend habt Ihr etwas auf den Kopf bekommen.« Sie spürte die Besorgnis in seiner Stimme.

»Was ist passiert, Magister?«, wiederholte Escalia ihre Frage drängender. Ihre Stimme war momentan das einzig Kraftvolle an ihr. Sie hasste es, dass Eslam sie in diesem Zustand sah.

»Wie ich bereits sagte, wir waren innerhalb einer Globule. Das Ritual, das Magister Alviron wirkte, um uns Zeit vor den Schwarzen Horden zu verschaffen, hat den ganzen Ort aus der Zeit gerissen.«

Escalia schüttelte den Kopf und bereute die Bewegung sofort. Sie presste die Hände an die Schläfen. Mühsam kämpfte sie die Übelkeit nieder. »Globule? Aus der Zeit gerissen? Ich verstehe kein Wort.« Irgendeine Stelle an ihrem Hinterkopf pochte schmerzhaft.

Eslam holte tief Luft und schien einen Moment zu überlegen. »Der Tag, den wir als gestern erlebt haben, ist heute über 440 Götterläufe her!«

Escalia vergaß die Schmerzen und starrte Eslam an. Das Gesicht des jungen Rohalswächters sah grau und eingefallen aus. Obgleich er kaum älter war als sie, schienen die Anstrengungen der letzten Zeit den stets perfekten Weißmagier stark mitgenommen zu haben.

»Wir befinden uns nicht mehr im Jahre 592 nach dem Fall Bosparans …«

»Ihr redet wirr, Magister.« Escalia erinnerte sich rechtzeitig daran, nicht den Kopf zu schütteln. Der Magier musste ebenfalls etwas auf den Kopf bekommen haben.

»… sondern im Jahr 1031 nach dem Fall der Tausendtürmigen.«

Die Augen des Magiers schauten traurig zu ihr herab.

Über 400 Götterläufe sollten vergangen sein? Unmöglich!

»Unmöglich«, wiederholte sie ihren Gedanken laut.

»Schaut Euch um. Sah es in der Welt, die Ihr kennt, außerhalb der Stadtmauer so aus?« Die Hand des Weißmagiers zeigte die Straße hinab.

Escalia richtete sich vorsichtig auf, darauf bedacht, den Kopf möglichst wenig zu bewegen. Sie schaute in die Richtung, die Eslam ihr wies.

Fremmelshof lag in Trümmern. Der Turm Magister Alvirons war nur noch ein Haufen Schutt. Das Haus der Rohalswächter, das direkt daneben gestanden hatte, war schwer beschädigt, stand aber noch. Der Tempel der Göttin Perein hingegen war zerborsten. Das Stadthaus ihrer Familie war ebenfalls nur noch ein Trümmerhaufen. Escalia zog sich zitternd an dem Mauerrest empor und schaute sich um. Ein Großteil der Fremmelshofer Häuser war in sich zusammengefallen, nur wenige standen noch. Langsam wankte sie zur Mitte der Stadt. Eslam bot ihr seinen Arm zur Stütze an, aber sie stieß ihn zurück. Überall zwischen den Trümmern sah sie Tote, grausam verstümmelte und verbrannte Leichen. Escalia presste sich die Hand vor den Mund. Immer wieder lagen da Menschen, die sie gekannt hatte. Aber immer wieder gab es auch die Reste widernatürlicher Kreaturen. Zerbrochene Gargylen, abgeschlagene Tentakel, ein menschlicher Arm, bedeckt mit Schuppen. Ihr wurde abermals übel.

Zwischen all dem Chaos und der Zerstörung sah sie vereinzelt Überlebende auf den Haufen aus Mauerwerk und zerborstenen Balken umherkriechen. Manch einer mochte nach seinen vermissten Lieben, andere nach Habseligkeiten suchen.

Escalia spürte Tränen über ihre Wangen fließen. Sie wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Die Stadtmauer, die die Fremmelshofer Bürger vor Angriffen hatte schützen sollen, war an vielen Stellen eingestürzt und gab einen ungewohnten Blick auf das Land ringsum frei. Außerhalb der Mauern, wo Escalia das weite, hügelige Land der Caldaia, die Felder und Hütten der Bauern und die allgegenwärtigen Schafherden kannte, wuchsen nun mächtige, alte Baumstämme.

Sie drehte sich, schaute über die Schultern. So weit sie über die Trümmer sehen konnte, gab es rund um die Reste der Stadt nur wilden, ungezügelten, grünen Wald. Der Weg, der vom zerborstenen Tor aus Richtung Brayosuntergang, also zur Feste Gippelstein führte, endete jäh vor einer riesigen Eiche.

Escalia wankte. »Bei Brayos und seinen Geschwistern, wie ist das möglich?«

Eslam von Wagenhalt hielt sie fest. Doch Escalia stieß ihn heftig zurück, kaum dass sie seine Berührung wahrnahm. Sie stolperte, fand gerade noch an der Mauer Halt.

»Das ist nur Eure Schuld«, schrie sie. »Ihr verfluchten Magier. Ihr habt diesen niederhöllischen Krieg angezettelt. Nur weil Ihr Euch nicht über das Erbe Rohals einigen konntet. Durch Euch alle ist diese Stadt zerstört, mein Vater tot, die ganze Welt eine andere …«

Weinend rutschte sie an der zerstörten Mauer hinab.

***

Als das Brayosrund am nächsten Morgen über dem Wald aufstieg, hatte sich Escalia wieder gefasst. In der Nacht war sie ziellos durch die zerstörte Stadt gestreift. Sie hatte leblose Körper umgedreht, um zu prüfen, ob nicht doch noch Leben in ihnen war. Vergeblich.

Als der Morgen begann, fühlte sie sich, als erwache sie aus einem Albtraum. Ihr Vater hatte ihr immer eingeschärft, nicht über Dinge zu trauern, die sich nicht mehr ändern ließen. Stattdessen sollte sie sich um jene Dinge kümmern, die sie in ihrem Sinne und im Sinne Brayos‘ und seiner Geschwister beeinflussen konnte.

Es gab Einiges, um das sie sich kümmern konnte, nein, sogar musste. Auch wenn es kaum möglich schien, dass unter den Trümmern noch Menschen überlebt hatten, musste weiter nach ihnen gesucht werden, die Verletzten mussten versorgt, Nahrung beschafft werden.

Vielleicht hatten ja auch einige der Schwarzen Söldner des Zambronius dieses, dieses … brayosverflucht, sie hatte kein Wort dafür. Wie sollte sie es nennen, wenn ein magisches Ritual ihre ganze Stadt aus der Zeit riss und erst 400 Götterläufe später wieder freigab?

Escalia zwang sich, diese Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Sie ahnte, dass dies nur in Wut und Hass gegen die anwesenden Magier enden würde. Sie hatte die Weißkittel bislang ignoriert, aber außer Eslam von Wagenhalt und der alten Magistra von Garlisch… ach, wie auch immer die alte Vettel hieß, hatten noch etliche andere überlebt. Wahrscheinlich hatten sie sich mit ihren Zaubern retten können. Sie verbannte die Magier aus ihren Gedanken. Es gab Wichtigeres zu tun.

Sie ging durch die zerstörten Straßen und befahl jeden zu sich, der ohne Hilfe stehen und gehen konnte. Die Bürger der Stadt und die Bauern der Umgebung, die vor dem Angriff der schwarzen Söldner Schutz in Fremmelshof gesucht hatten, schienen froh zu sein, dass endlich jemand die Führung übernahm. Die kräftigsten Männer teilte sie zur Suche in den Trümmern ein. Balken mussten bewegt, Steine zur Seite geschleppt werden. Die wenigen überlebenden Kinder schickte sie an den Rand der Lichtung. Sollten sich Söldner in den Wald geflüchtet haben und wiederkommen, so konnten die Kinder sie zwar nicht aufhalten, aber zumindest schnell die Überlebenden warnen. Als die Kinder aus der Stadt liefen, zögerte Escalia. War es richtig, sie dieser Gefahr auszusetzen? Was hätte Vater getan? Sie konnte sich die Fragen nicht beantworten.

Mit dem Rest ihrer Leute plante Escalia, ein provisorisches Lager zu errichten. Sie überlegte, ob sie dies innerhalb der Stadt, außerhalb der Mauern oder gar im Wald tun sollte. Ein Lager in der Stadt versprach einen wenn auch geringen Schutz vor Gefahren von außen. Allerdings konnte sie nicht beurteilen, ob es vielleicht weitere Erschütterungen geben konnte, die noch mehr Trümmer einstürzen lassen würden. Vielleicht war es sogar besser, in den Wald zu gehen, falls die Stadt wieder in dieser … Wie hatte Eslam es genannt? Falls die Stadt wieder in dieser Globule verschwinden würde. Kurz dachte sie daran, Eslam um Rat zu fragen. Sie verwarf die Idee sofort wieder. Nach einigem Überlegen entschied sie sich für ein Lager in der Stadt. In der Mitte des Marktplatzes gab es nichts, was einstürzen könnte. Hier sollten sie halbwegs sicher sein.

Escalia befahl den Leuten das Nötige. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass die Menschen ihren Aufgaben nachgingen, gesellte sie sich zu den Männern, die in den Trümmern suchten. Sie entschied, bei den Überresten von Alvirons Turm zu suchen. Zwar glaubte sie nicht, dass Alviron Rohalion den Einsturz seines Turms überlebt haben konnte, doch sie musste zumindest versuchen, ihn zu finden.

Vielleicht, ja, vielleicht konnte der alte Magier seinen Zauber rückgängig machen und sie in ihre Zeit zurückbringen.

»Was tut Ihr da?« Die herrische Stimme Prishyas von Garlischgrötz unterbrach die traurige Arbeit.

Escalia erhob sich, wischte sich den Staub von der verschwitzten Stirn. »Wir suchen nach Überlebenden.«

Die alte Magierin wedelte unwirsch mit der Hand. Ihre grauen Haare hatte sie streng nach hinten gebunden. Die graue Robe der alten Frau war makellos, ihre knotigen Hände umfassten ihren Magierstab. Escalia vermied es, der Frau ins Gesicht zu schauen. Das faltige Antlitz mit den schwarzen Augen darin empfand sie als abstoßend.

»Hört damit auf! Sofort! Wer bis jetzt nicht aus dem Schutt gekrochen ist, hat längst seinen Weg zu Boron angetreten.«

»Wie könnt Ihr nur so kalt sein?« Escalia stemmte empört die Hände in die Seiten.

»Verschont mich mit Eurer Gefühlsduselei, junge Dame. Ich erlaube nicht, dass Ihr oder irgendjemand alles hier in Unordnung bringt. Diese Ruinen bergen Artefakte von unschätzbarem Wert für die Wissenschaft«, erklärte die Magierin.

»Ihr habt kein Recht, so etwas anzuordnen. Auch wenn Fremmelshof in Trümmern liegt, dies ist meine Stadt, hier entscheide ich.« Escalia war wütend. Wie konnte die Alte sich nur so aufspielen?

Die Magierin lächelte kalt. »Mädchen, vor 440 Götterläufen mag dies vielleicht Eure Stadt gewesen sein. Aber heute, im Jahre 1031 nach Bosparans Fall, ist dies einfach nur ein Trümmerhaufen, über den Ihr nichts, aber auch gar nichts zu entscheiden habt.«

Escalia verschlug es die Sprache. Wie konnte die alte Vettel sich diese Worte erlauben? Die Magierin nutzte den Moment und befahl Escalias Suchtrupp, die Ruinen zu verlassen und sich vor die Stadt zu begeben. Dort würde ein provisorisches Lager errichtet und jede helfende Hand dringend gebraucht.

Escalia, die noch immer keine passende Antwort parat hatte, musste hilflos mit ansehen, wie ihre Untertanen zögerlich dem Befehl der Magistra nachkamen. Sie spürte die Blicke der Männer und Frauen auf sich, doch sie fand keine Worte gegen die Magistra.

Ihre Unsicherheit wuchs. Sie hatte noch gar nicht darüber nachgedacht. Hatte die Magierin vielleicht recht? Galt ihr Geburtsrecht in diesen Tagen nicht mehr? Sicher hatte man die Baronie neu belehnt. Es lief ihr kalt den Rücken herunter. Wie selbstverständlich war sie davon ausgegangen, dass Fremmelsfelde noch immer ihr Land sei. Doch der jetzige Baron würde das Land wohl kaum so einfach hergeben. Sie schluckte, was sollte ohne eigenes Lehen aus ihr werden?

›Vater, warum hast du mich in so einer Situation allein gelassen?‹ Escalia suchte sich eine ruhige Ecke in der Nähe ihres zerstörten Hauses und verkroch sich dort.

***

Das Brayosrund schickte sich gerade an, hinter den Bäumen zu versinken, die die Fremmelshofer Ruinen umringten, als Alarmrufe über die Lichtung gellten.

Escalia schreckte auf und rannte durch die Ruinen in die Richtung, aus der die Schreie kamen. Im Laufen wollte sie ihr Schwert ziehen. Als ihr Griff ins Leere ging, erinnerte sie sich, dass sie ihre Waffe beim Kampf mit der Amazone verloren hatte. Was war eigentlich aus dieser Frau geworden? Egal, ihr Schwert war jetzt wichtiger. Sie musste es unbedingt wiederfinden. Vater hätte sie gescholten, wenn er davon erfahren hätte. Ein Krieger entfernt sich nie mehr als zwölf Schritt von seinem Schwert, hatte er einst gesagt. In Ermangelung anderer Waffen zog sie ihren Dolch und lief weiter. Noch im Laufen ließ sie die Waffe wieder sinken.

Am Rande der Lichtung stand ein alter Mann. Er trug eine schlichte, grüne Kutte, die von ein paar gestickten Ährensymbolen geziert wurde. Die Ränder der Kutte waren schmutzig, der Stab, auf den der Alte sich stützte, war kaum mehr als ein knorriger Ast. Im Schatten der Bäume konnte Escalia eine Handvoll Gestalten ausmachen, die mit Forken und ähnlichem Werkzeug bewaffnet waren.

Einige Fremmelshofer standen bereits vor dem Alten und hatten die Schwerter abwehrend erhoben. Sie schienen jedoch unsicher zu sein, wie sie sich verhalten sollten. Nach all den Schrecken der Magierkriege schien ihnen ein Angriff mit simplem Ackergerät einfach zu merkwürdig.

Escalia ging an den Bewaffneten vorbei auf den alten Mann zu. Ihren Dolch steckte sie demonstrativ zurück in den Gürtel. Der Alte lächelte sie freundlich an, obgleich Escalia bemerkte, dass sein Blick nicht ohne Angst war. Immer wieder wanderten seine Augen zu den Bewaffneten hinter ihr und zu den Ruinen der Stadt.

»Peraine zum Gruße, junge Dame«, begrüßte sie der Alte. Ah, natürlich, dies war ein Geweihter der Perein. Warum war sie durch die Ährensymbole nicht selbst darauf gekommen? So sehr hatte sich das Gewand doch gar nicht verändert.

Sie deutete eine Verbeugung an, zwang sich ebenfalls ein freundliches Lächeln ab. »Perein zum Gruße, ehrwürdiger Hüter der Saat.«

Der Geweihte stutzte, winkte dann ab. »Zu viel der Ehre, ich bin ein einfacher Geweihter der Gebenden und Gütigen Göttin im Tempel zu Hahnendorf. Ihro Gnaden Geppert Groterian nennt man mich. Erlaubt, dass ich frage, wer Ihr seid und was hier geschehen ist?« Groterian deutete vage hinter sie.

Hahnendorf? Escalia war überrascht. Das Nest zu Füßen des Hahnenfelsens besaß einen Perein-Tempel? Bisher hatte Escalia kaum weiter als bis zum Waldesrand gedacht. Dass sich auch dahinter die Welt verändert haben mochte, hatte sie bis eben erfolgreich verdrängt. Aber natürlich, Fremmelshof als Hauptstadt der Baronie war einst verschwunden. Wer auch immer statt Ihrer Baron geworden war, hatte sich später eine neue Hauptstadt suchen müssen.

»Ich bin Escalia von Hahnentritt«, begann sie, noch ganz in Gedanken. Sie merkte auf, als die Gestalten im Wald zu tuscheln begannen und auch der Geweihte für einen Moment sein Lächeln verlor und sie genauer fixierte.

»Was ist? Kennt Ihr meinen Namen?«, fragte sie. Aufregung schoss durch ihren Körper. Natürlich, durch ihren Bruder mochte die Linie der Hahnentritts die Magierkriege überstanden haben. Aarion war noch ein Kleinkind gewesen, als der Krieg ausbrach. Kaum laufen hatte er können, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Bis jetzt hatte die Magistra nur erwähnt, dass eine andere Familie über die Baronie herrschte. Escalia hatte nicht einmal im Traum daran gedacht, dass ihre Familie noch existieren konnte. Sie fühlte sich schwindelig. Wer hatte schon die Möglichkeit, nach Generationen die Nachfahren des eigenen Bruders zu treffen?

Groterian schüttelte den Kopf. »Ich kenne die Familie derer von Hahnentritt. Von Euch habe ich jedoch noch nie gehört.«

Sie atmete auf. Es gab ihre Familie also noch. Diese hinterhältige Magierin hatte ihr diese wichtige Information tatsächlich vorenthalten. Sie musste später unbedingt mit dem Geweihten unter vier Augen reden.

»Was Ihr hinter mir seht, sind die Reste der Stadt Fremmelshof. Ich kann nicht erklären, wie es geschah, aber Schwarze Magie riss sie während der Magierkriege von Deres Antlitz. Irgendwie hat eine Magierin aus Eurer Zeit es geschafft, die Stadt wieder zurückzubringen«, versuchte sie das Geschehen so gut es eben ging in Worte zu fassen.

Sie sah, dass Groterian versuchte, ihre Worte zu verstehen, und konnte seine Verwirrung nur zu gut nachvollziehen.

»Die Magierkriege sind über 400 Götterläufe her.«

Sein Blick wanderte an ihr vorbei. Escalia hörte Schritte und warf einen Blick über ihre Schulter. Eslam von Wagenhalt und Prishya von Garlischgrötz kamen ruhigen Schritts, gefolgt von einigen weiteren Magiern.

»Es war nicht Schwarze Magie«, berichtigte die Magistra Escalias Worte. Ohne sich weiter zu erklären, wandte sie sich an Groterian. »Ihr seid der Hahnendorfer Peraine-Geweihte?«

Groterian nickte, sein Lächeln war verschwunden. Escalia sah das Misstrauen in seinen Augen. »Geppert Groterian, Geweihter der Peraine.«

»Dann kennt Ihr sicher auch die Legende vom Fremmelshofer Krater und der Stadt, die hier einst verschwand?« Magistra von Garlischgrötz unterbrach den Geweihten.

»Natürlich, man sagte über den Krater, der hier noch bis gestern zu finden war, dass während der dunklen Zeit der Magierkriege an ebendieser Stelle eine ganze Stadt verschwunden sein soll. Aber das ist doch nur eine alte Legende …«, stotterte Groterian. Sein Blick wanderte über die Ruinen. Escalia konnte allzu gut nachvollziehen, dass er Schwierigkeiten hatte, das Gehörte zu verstehen.

»Ihr irrt, Euer Gnaden«, gab Prishya zurück. »Wie ich sehe, seid Ihr nicht allein gekommen. Habt Ihr einen Vertreter des hiesigen Barons dabei?«

Der Geweihte schüttelte den Kopf. »Ich war gerade in Kleinfurt, einem Dorf in der Nähe. Einige Bauern erzählten mir, dass im Wald etwas Merkwürdiges geschehen sei. Sie sprachen von dämonischem Tosen. Ich weiß nicht, ob der Baron oder sein Vogt bereits davon erfahren haben.«

Die Magistra schüttelte ärgerlich den Kopf. »Gut, gut, dann schickt nach dem Baron oder seinem Vogt. Wir haben Verwundete und kaum Nahrung. Zudem muss er schnellstens Bewaffnete stellen, die dieses Gebiet für weitergehende magische Untersuchungen schützen.«

Groterians Augen wechselten von der Magistra zu Eslam und dann zu Escalia. Dann hob er seine Stimme. »Verzeiht, verehrte Magistra, aber ich bin nicht Euer Diener. Ich diene der Göttin Peraine und werde mich gern um Eure Verwundeten und Kranken kümmern. Auch für Nahrung werde ich sorgen. Aber Politik und Magie sind nicht meine Sache.«

Escalia senkte den Kopf und gestattete sich ein verhaltenes Grinsen. Der Geweihte gefiel ihr. Obgleich er offensichtlich unsicher war, bot er der herrischen Magistra Widerstand. Wenn er das konnte, musste sie das auch können. Schließlich war sie Escalia von Hahnentritt, Baroness von Fremmelsfelde.

Geppert Groterian wartete eine Antwort der Magierin nicht ab. Er deutete eine knappe Verbeugung an, drehte sich um und ging zum Waldrand. Vorsichtig traten einige Männer zwischen den Bäumen hervor. Wie Escalia bereits vermutet hatte, waren es nur einige Bauern, die aus dem Dunkel des Walds traten. Sie musterte die Männer. Ihre Bekleidung unterschied sich kaum von jener der Bauern aus ihrer Zeit. Ein einfaches Wams, mit einem Strick gegürtet. Darunter trugen die Bauern allerdings ungewöhnlich lange Hosen. Zu ihrer Zeit hatten sie nur kurze Hosen getragen, die kaum übers Knie gingen. Das Leben auf dem Lande schien sich also nur unwesentlich verändert zu haben.

Escalia meinte, die Angst in den Gesichtern der Bauern deutlich zu spüren. Gerade vor den Magiern schienen die Männer nicht nur Respekt, sondern deutlich Angst zu haben. Bei einigen meinte Escalia sogar kaum verhohlenen Hass zu bemerken. Nur die ruhige Autorität des Perein-Geweihten schien sie am Weglaufen zu hindern. Groterian wechselte ein paar Worte mit ihnen, dann verschwanden die Bauern eilig wieder im Wald.

»Die Bauern werden morgen in der Frühe mit Nahrung zurückkehren. Ich habe auch einen von ihnen gebeten, den Baron in Kenntnis zu setzen. Und nun bringt mich bitte zu den Verletzten.«

Bevor die Magistra antworten konnte, trat Escalia auf den Geweihten zu. »Kommt, Euer Gnaden, ich zeige Euch den Weg.«

***

Während der Geweihte bis in die Nacht hinein die Verwundeten versorgte, wich Escalia nicht von seiner Seite. Es tat gut, endlich etwas zu tun zu haben, bei dem sie nicht von den Magiern bevormundet wurde.

Diese kümmerten sich jetzt nur noch um ihre eigenen Verletzten. Mit dem Erscheinen des Geweihten schienen sie an der Versorgung der Fremmelshofer Bürger nicht mehr übermäßig interessiert zu sein. Vater hatte ihr eine entsprechende Vermutung bereits vor einiger Zeit mitgeteilt. Als die Rohalswächter vor einigen Monden nach Fremmelshof gekommen waren, hatte sie sich gefragt, warum diese auf dem Marktplatz ein großes Haus hatten errichten dürfen. Vater hatte erklärt, dass er für die Anwesenheit der Rohalsjünger dankbar sei. Die Magier, die den Pfad und der Gesinnung des verhüllten Rohal folgten, hätten sich bereit erklärt, die Stadt vor den schwarzen Horden Zulipans zu verteidigen. Doch er wusste auch, dass sie eigentlich nur wegen Magister Alviron da waren. Weil dieser ein Verhüllter Meister sei, so hatte Vater erklärt. Ohne diesen wäre die Stadt für sie uninteressant gewesen. Insgeheim hatte sich Escalia damals gefragt, ob die Stadt nicht auch für die Schwarzen Magier uninteressant wäre, wenn hier gar nichts Magisches zu finden war. Doch sie hatte sich nicht getraut, die Frage zu stellen.

Zwar hatten die Magier Eslams direkt nach der Katastrophe viele Leute mit Magie vor dem Tode retten können, aber etliche lagen noch immer darnieder und litten an schweren Verletzungen. Der Geweihte hatte in den Taschen seiner Robe diverse Kräuter und wusste anscheinend Einiges um deren Heilkraft. Ihr eigenes Wissen um die Heilkunst war hingegen dürftig, aber wie es sich für eine Baroness gehörte, verstand sie sich aufs Kriegshandwerk, und dazu gehörte es auch, eine Wunde verbinden zu können. Der Geweihte schien dankbar um diese Hilfe.

»Ihr sagtet, dass Ihr den Namen meiner Familie kennt.«

Der Geweihte nickte leicht, fuhr aber ohne Antwort fort, einer Frau, deren linker Arm von Trümmern zerquetscht worden war und nun abgenommen werden musste, einen Trank mit betäubenden Kräutern einzuflößen.

»Erzählt mir etwas über meine Familie.«, bat Escalia.

Groterian schaute ihr kurz in die Augen, dann widmete er sich wieder seiner Patientin.