Die Räuberschule - Gudrun Pausewang - E-Book

Die Räuberschule E-Book

Gudrun Pausewang

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Beschreibung

Jule liest für ihr Leben gern. Am liebsten Geschichten von Räubern. Bei denen ist wenigstens was los! Sie feiern wilde Feste, tragen Spinnen in ihren Bärten spazieren und essen geröstete Kaulquappen mit Kröteneiern süß-sauer. Und eines Tages begegnet Jule doch tatsächlich einem waschechten Räuberhauptmann! Räuber Rackzack aus dem Schrattwald zeigt Jule, wie richtige Räuber leben, und ein großes Abenteuer beginnt ...

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2015Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH© 2007 Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbHTitelbild und Illustrationen: Dorota Wünsch Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH, Postfach 1860, D-88188 Ravensburg.ISBN978-3-473-47699-2www.ravensburger.de

Jule mit den roten Haaren

Vor vielen, vielen Jahren, als es noch keine Fernseher und Computer, keine Telefone und Handys, ja noch nicht einmal elektrisches Licht gab, lebte in dem Dorf Müffelhausen ein kleines Mädchen. Es hieß Jule und hatte feuerrote, lockige Haare. Mit denen war Jule schon zur Welt gekommen. Sie gehörten zu ihr wie ihre unzähligen Sommersprossen.

Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn alle Leute in Müffelhausen einen feuerroten Schopf gehabt hätten. Aber Jule war die Einzige. Mit roten Haaren zwischen lauter Leuten zu leben, die blonde, braune oder schwarze Haare haben, ist nicht einfach. Die Müffelhausener taten nämlich alles, um nicht aufzufallen: Alle Männer zogen die gleichen Hosen und die gleichen Jacken an und hatten die gleichen Schnurrbärte, alle Frauen trugen die gleichen Röcke und Blusen und drehten sich ihre Haare zu einem Knoten zusammen, den sie auf dem Kopf feststeckten. Alle Leute im Dorf – Männer, Frauen und Kinder – kauften ihre Schuhe beim Müffelhausener Schuhmacher. Der machte sie alle nach demselben Muster.

Das Dorf Müffelhausen bestand aus lauter Hütten und Häusern mit spitzen Dächern, die sich alle ähnlich sahen. Wenn ein Müffelhausener ein neues Haus baute, kam er niemals auf den Gedanken, es anders aussehen zu lassen, als es die Nachbarn seit jeher gewohnt waren. Nicht mal ein Erker oder ein Türmchen war im Dorf zu sehen. Sogar die Gartenzäune waren alle gleich.

Die Müffelhausener grüßten sich auch alle mit den gleichen Worten und feierten die gleichen Feste und lehrten ihre Kinder, sich so zu benehmen, wie sie sich selber benahmen und wie sich schon ihre Urgroßeltern benommen hatten. Gegenüber Fremden zeigten sie sich muffelig, ja geradezu unfreundlich. Denn Fremde waren ja anders.

Aber auch Jule war anders.

Jule wohnte mit ihrer Großmutter in einer Hütte am Waldrand. Auf dem großen Bauernhof, der zwischen Großmutters Hütte und dem Dorf stand, hatte vor Jules Geburt noch ein alter Mann gelebt. Der war gestorben und jetzt stand der Hof leer.

Die Großmutter fütterte und melkte ihre Ziege Olga, wie alle Müffelhausener ihre Ziegen oder Kühe fütterten und melkten. Und wie alle Frauen im Dorf säte, pflanzte und erntete sie Gemüse im Gärtchen hinter ihrer Hütte. An trockenen Sommertagen schob sie ihre Schubkarre in das Wäldchen auf der anderen Seite des Dorfes, um dort Holz für den Herd und den Kachelofen zu sammeln und heimzufahren.

„Ich will mit!“, rief Jule oft. „Ach, nimm mich doch mit!“

„Du bleibst hier“, sagte die Großmutter. „Die Leute starren so auf deinen Lockenkopf und deine Sommersprossen.“

„Das macht mir nichts aus.“

„Aber mir!“

„Allein ist es so langweilig!“

„Wehe, du läufst ins Dorf!“, knurrte die Großmutter. „Du bleibst hier bei der Hütte!“

Kaum war die Großmutter fort, setzte sich Jule auf die Stufe vor der Tür. Wenn sich Kinder sehen ließen, rief sie ihnen zu: „Kommt, spielt mit mir!“ Die Kinder kamen nicht. Wegen der roten Locken und der Sommersprossen.

So gewöhnte sich Jule an, mit Olga, der Ziege, zu sprechen. Leider war die ziemlich dumm. Sie konnte nicht antworten, nur meckern. Aber das war ja auch so etwas wie eine Antwort. Trotzdem wurden Jule die Tage lang.

„Bald komme ich in die Schule“, sagte sie zu Olga. „Dann wird es endlich richtig losgehen mit dem Leben.“

Jule war nicht dumm. Sie fragte die Großmutter: „Warum gehst du immer den weiten Weg bis in das Wäldchen hinter dem Dorf? Wir wohnen doch ganz nahe an dem großen Wald. Wenn du hier Holz holen würdest, hättest du’s viel näher.“

„In den Schrattwald geht man nicht“, antwortete die Großmutter mit erhobenem Zeigefinger. „Im Schrattwald haust eine Räuberbande. Mit der wollen wir Müffelhausener nichts zu tun haben. Räuber bringen nur Unheil.“

„Wie sehen Räuber denn aus?“, fragte Jule.

„Wie Ungeheuer. Sie sind doppelt so groß wie unsereiner, haben gelbe Augen, mit denen sie auch nachts sehen können, und Bärenpfoten mit riesigen Krallen. Und sie fressen kleine Kinder.“

„Hat sie denn schon mal jemand gesehen?“, fragte Jule mit Herzklopfen.

„Nein“, antwortete die Großmutter. „Noch niemand aus Müffelhausen.“

„Woher weißt du dann, dass sie wie Ungeheuer aussehen?“

„Als Erwachsener weiß man das“, sagte die Großmutter.

„Das glaube ich nicht“, antwortete Jule.

„Sei nicht so naseweis!“, fuhr die Großmutter sie an.

Als Jule sechs Jahre alt wurde, flocht die Großmutter ihr die roten Locken zu einem festen, dicken Nackenzopf, führte sie in die Schule und knurrte: „Wehe, du heulst!“

Jule war in diesem Jahr die Einzige im ersten Schuljahr. Der Lehrer strich ihr mit der Hand über den Kopf und sagte freundlich: „Willkommen in der Schule, Jule.“ Und zu ihrer

Großmutter sagte er: „Wie die Zeit vergeht! Jetzt kommt also schon Jules Tochter zur Schule …“

Ja, das wusste Jule: Auch ihre Mutter hatte Jule geheißen. Sie war gestorben, als Jule noch ganz klein war. Das hatte ihr die Großmutter erzählt. Aber wer ihr Vater war, wusste sie nicht. Wenn Jule danach fragte, zuckte die Großmutter immer nur mit den Schultern.

Jule staunte über all das Neue: Im Schulsaal saßen mit ihr neunzehn Mädchen und Jungen. Sie war die Jüngste, die Ältesten waren vierzehn Jahre alt. Niemand wollte sich neben sie setzen. Alle starrten auf ihren roten Zopf und ihre Sommersprossen. Der Lehrer, der schon alt und ein bisschen gebeugt und müde war, seufzte: „Schaut zur Tafel, Kinder. Dort gibt es Wichtigeres zu sehen als rote Haare.“

In der Pause, als alle auf dem Schulhof herumstanden, starrten die Kinder doch wieder auf Jules Zopf.

„Wie anders du aussiehst!“, sagte ein Mädchen.

Ein Junge grinste, spuckte auf Jules Sommersprossen und rieb immer wieder fest mit seinem Ärmel darüber.

„Die gehen nicht ab“, sagte Jule. „Die gehören zu mir.“

Ein anderer Junge sagte: „Aber vielleicht der Zopf? Vielleicht wachsen blonde oder schwarze Haare nach?“ Er zog sie so fest am Zopf, dass sie fast umfiel.

„Der geht auch nicht ab“, sagte sie und gab ihm eine Ohrfeige, dass es nur so klatschte. Die tat ziemlich weh. Der Junge verzog sich in eine andere Ecke des Schulhofs und ließ Jule in Ruhe. Die anderen Jungen kamen ihr auch nicht nahe. Keiner mochte geohrfeigt werden.

Jule wollte beim Seilhüpfen mitmachen. Aber ein großes Mädchen schob sie weg und sagte: „Beim Seilhüpfen darf nur mitmachen, wer so aussieht wie wir.“

„Lasst sie mitspielen“, sagte der Lehrer. „Für die roten Haare und die Sommersprossen kann sie ja nichts.“

Aber sobald der Lehrer wieder verschwunden war, schubsten die Kinder Jule weg. Da setzte sie sich auf die Stufe vor der Schultür und schaute zu.

Daheim erzählte sie, was sie in der Schule erlebt hatte. Viel war es nicht.

„Nur noch neunzehn Kinder“, sagte die Großmutter und schüttelte den Kopf. „In meiner Schulzeit sind wir neununddreißig gewesen. Und meine Großmutter hat mir erzählt, dass es in ihrer Schulzeit über sechzig waren. Unserem Dorf fehlt Saft und Kraft. Es haucht sein Leben aus. Bald wird es nicht mehr da sein.“

Jule fragte, was sie damit meinte.

„Das verstehst du nicht“, antwortete die Großmutter. Das sagte sie immer, wenn Jule etwas wissen wollte.

Jule wollte ihr die Fibel zeigen, die sie vom Lehrer bekommen hatte. Aber die Großmutter hatte keine Zeit. Sie fuhr zum Wäldchen. Da zeigte Jule die Fibel der Ziege Olga. Die verstand gar nichts. Sie ließ nur ihre Spucke in das Buch tropfen.

In dem Buch standen lauter schwarze Zeichen. Buchstaben. Und Jule wusste auch schon, wie man ein I schreibt. Sie schrieb es vor der Ziege mit dem Finger in den Mist. Olga meckerte leise und beschnupperte das I.

„Aber ich gehöre nicht richtig dazu“, erklärte Jule. „Ich bin anders. Wegen der roten Haare und der Sommersprossen.“

Sie lernte schneller Lesen als die meisten anderen Müffelhausener Erstklässler vor ihr. Auch daheim beugte sie sich oft über die Fibel und buchstabierte. Bald las sie auch schon die letzten Seiten ganz hinten, die sehr schwer zu lesen waren.

„Mir scheint, du bist eine sehr Kluge!“, sagte der Lehrer einmal, hob ihr Kinn und lächelte sie an.

„Aber sie hat rote Haare!“, rief einer der größeren Jungen.

„Na und?“, meinte der Lehrer. Mehr wagte er nicht zu sagen. Er hatte zwar eine andere Meinung über Jules rote Haare als die Müffelhausener. Aber die hielt er geheim, denn die Leute im Dorf mochten niemanden leiden, der eine andere Meinung als die Dorfmeinung hatte.

Auch Jules Großmutter regte sich auf, wenn Jule etwas anderes wollte als sie. Als Jule einmal hinter einem Igel her in den Schrattwald hineinlief, rief sie sie sofort zurück und schimpfte: „Du bist genauso aufmüpfig wie deine Mutter! Die ist auch immer neugierig in den Schrattwald hineingelaufen – auch als sie schon groß war …“

Jule trug den Zopf, den ihr die Großmutter jeden Morgen flocht, nur widerwillig. Aber was half’s? Die Großmutter war streng.

Jule ging weiter in die Schule und wusste bald mehr als die anderen. Sie stellte viele Fragen, darunter auch die nach den Räubern im Schrattwald.

„Sind das wirklich Ungeheuer, die kleine Kinder fressen?“

„Selbstverständlich“, sagte der Lehrer laut. „Geh ja nicht in den Schrattwald, wenn dir dein Leben lieb ist!“

Aber als die Schule aus war und alle Schüler hinausliefen, winkte er Jule zurück und sagte leise zu ihr: „Natürlich sind die Räuber keine Ungeheuer, sondern Menschen. Aber andere Menschen. Deshalb haben die Müffelhausener Angst vor ihnen. Und wenn Räuber rauben, können sie sehr unangenehm werden. Das haben die Leute in Keckstedt, Trottenau, Schluckenbach und anderen Städten auf der anderen Seite des Schrattwalds schon oft erfahren müssen. Wir hatten bisher Glück. Ein Raubüberfall auf Müffelhausen lohnt sich nicht. Unser Dorf ist arm und bietet nichts Besonderes.“

Er borgte ihr ein Buch mit Räubergeschichten. Glücklich lief sie damit heim und zeigte es der Großmutter. Aber die begann auf den Lehrer zu schimpfen. „Was sind denn das für neue Moden? Lesen! Damit vergeudet man nur Zeit, die man dringend für die Arbeit braucht! – Sofort bringst du das Ding zurück in die Schule! Und dass du mir ja nicht trödelst!“

Von nun an durfte sich Jule das Räuberbuch in der großen Pause vom Lehrer ausleihen und ansehen. Nein, nicht auf dem Schulhof. Dort hätten die anderen Kinder sie nicht in Ruhe lesen lassen. Sondern neben dem Klassenraum in einer Abstellkammer, wo die zusammengerollten Landkarten und der ausgestopfte Fuchs und die Rechenmaschine standen. Dort störte sie keiner.

Müffelhausen: Langeweile pur

Nein, Müffelhausen bot wirklich nichts Besonderes. Hier passierte nie etwas, außer dass alte Leute starben, junge Männer junge Frauen heirateten und – immer seltener – Kinder geboren wurden. Kein Müffelhausener erfand etwas, was es noch nicht gab, zum Beispiel einen Hubschrauber oder einen Staubsauger. Keiner von den Dorfleuten war je Dichter oder Maler oder Komponist geworden, noch nicht einmal General. Nie war jemand auf den Gedanken gekommen, in Müffelhausen einen Gesangverein zu gründen oder eine Raubritterburg oder eine Festhalle zu bauen oder wenigstens die Straßen zu pflastern. Nicht einmal gestohlen oder gemordet wurde in diesem Ort.

Post kam selten. Nur der Bürgermeister schickte ab und zu mal einen Brief ab oder bekam einen. Draußen in der Welt kannte so gut wie niemand den Ort Müffelhausen, und fast niemand aus Müffelhausen war je weiter hinausgekommen als bis in das nächste Städtchen Trottenau. Die Welt, die dahinterlag, kannte nur der Lehrer. Aber auch nicht wirklich. Nur aus Büchern.

Das Dorf wurde ja auch immer kleiner und unbedeutender. Vier Bauernhöfe, die Schmiede und die Mühle standen leer. Der Bäcker und die Bäckerin waren krank, ihr Brot schmeckte fade. Der Schuhmacher, die Totengräberin, der Postbote, der Bürgermeister, die Besitzerin des Kramladens und viele andere wichtige Leute im Dorf hatten schon mehr als siebzig Jahre auf dem Buckel.

Und der einzige Polizist Müffelhausens war längst im Ruhestand. Ein neuer wurde nicht eingestellt. Wozu auch? Jeder Müffelhausener wusste, was er durfte und was nicht. Und es passierte ja auch nichts Außergewöhnliches im Dorf. Höchstens der Schlamm spritzte, wenn es goss, oder der Dorfteich trocknete im heißen Sommer aus. Oder es wurde ein Kind mit einem roten Lockenkopf geboren.

Als Jule in die sechste Klasse kam, ließ der Lehrer sie mit den jüngeren Schülern Lesen üben. Als sie im achten Schuljahr war, brachte sie den Erst- und Zweitklässlern das Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen, während er den Großen vergeblich zu erklären versuchte, dass die Erde rund ist. Sie wollten es einfach nicht glauben – und verstehen konnten sie es erst recht nicht.

Manchmal schlief er aber auch hinter seinem Pult ein. Dann unterrichtete Jule alle Schüler, und alle gehorchten ihr – wenn sie nicht dösten. Aufmucken? Nein. Das hatte kein Müffelhausener je gelernt. Man tat das, was befohlen wurde.

Sie war also fast eine Lehrerin, trotz ihrer roten Haare. In den Pausen blieb sie allein. Nur der Lehrer sprach manchmal mit ihr. Er sprach über Dinge, die die anderen Schüler gelangweilt hätten. Zum Beispiel über einen Mann, der irgendwann hinter dem Meer einen Erdteil entdeckt hatte. Oder über einen Schneider in Ulm, der versucht hatte zu fliegen. Oder darüber, dass er selbst sein Leben lang davon geträumt hatte, einmal den Erdball zu umrunden.

Nachmittags musste Jule die Schubkarre quer durch das Dorf schieben, um Holz im Wäldchen zu holen. Denn inzwischen war ihre Großmutter für diese schwere Arbeit zu schwach geworden. Sie lag nur noch im Bett und hüllte sich in ihren großen, warmen Wollschal. Jule musste sie waschen und füttern. Sie musste auch die Ziege Olga melken, Ziegenkäse machen, Kartoffeln setzen und ernten, Kirschen pflücken, einkaufen, Wäsche waschen und bügeln und die Hütte sauber halten. Kurz, sie musste alle Arbeit tun.

Manchmal träumte sie von dem Räuberbuch. Sie sah es vor sich, aber es blieb zu und ließ sich nicht öffnen.

Kurz nachdem Jule die achte Klasse hinter sich hatte und die Schule verließ, starb Olga, die Ziege, nachdem sie gerade ein Zicklein geboren hatte. Das überlebte und wurde groß und stark. Jule nannte es Emma. Es war viel klüger als seine Mutter Olga.

Es war ein Elend mit dem Dorf. Die Bäckersleute starben. Nun mussten sich die Müffelhausener ihr Brot selber backen. Auch Jule musste Brot backen. Die Großmutter mäkelte natürlich an Jules Brot herum.

Die Kramladenbesitzerin starb. Nun mussten die Müffelhausener in Trottenau einkaufen. Das kostete viel Zeit. Morgens wanderten sie mit großen Rucksäcken und Taschen los, gegen Abend kehrten sie zurück.

Es fand sich kein Nachfolger für den pensionierten Polizisten. Trotzdem wurde im Dorf nichts gestohlen und nachts nicht krakeelt.

Bald starb auch Jules Großmutter und wurde in ihrem Sonntagskleid auf dem Friedhof von Müffelhausen begraben. Jetzt schimpfte niemand mehr mit Jule. Aber sie fühlte sich sehr allein und fror. Zum Glück war noch die Ziege Emma da. Die war warm und leckte Jule oft über die Sommersprossen.

„Wenn du mal Rat brauchst“, sagte der alte Lehrer zu Jule, als sie den Friedhof verließen, „dann komm.“

„Ich komme bald“, antwortete sie. „Ich will Räuberbücher lesen. Haben Sie noch ein Räuberbuch für mich?“

„Räuberbücher werden nur für Jungen geschrieben“, sagte der Lehrer.

„Macht nichts“, meinte sie. „Dann lese ich eben ein Räuberbuch für Jungen.“

Da die Schule neben dem Friedhof lag, gab er ihr gleich eines mit. Es handelte von Seeräubern.

Als sie nach Hause kam, machte sie ihren Zopf auf und schüttelte die Lockenmähne. Die Zopfspange warf sie gleich weg.

„Jetzt mache ich alles anders“, sagte sie zu Emma, setzte sich zu ihr in den warmen Stall und begann das Buch zu lesen. Sie las den Abend und die halbe Nacht durch. Dann war das Buch zu Ende, und sie atmete tief durch.

„Wie anders es bei denen zugeht“, sagte sie zu Emma. „Aber mir gefällt das Räuberleben!“ Nach einer Weile fügte sie noch hinzu: „Nur nicht das Rauben …“

Schon am nächsten Tag gab sie dem Lehrer das Buch zurück und bekam ein anderes. Auf dem Rückweg wurde sie von der Müffelhausener Hebamme angehalten: „Wie läufst du denn herum? Ohne geflochtenen Zopf! Hat man hier so was schon erlebt?“

„Mein Haar soll wehen“, antwortete Jule.

„Bei uns in Müffelhausen weht kein Haar“, sagte die Hebamme streng. „Bei uns wird es geflochten und später hochgesteckt.“

Jule flocht sich keinen Zopf, sondern schnitt sich das Haar so kurz, dass sich kein Zopf damit flechten ließ. Das war eine praktische Frisur, vor allem für den Wald. Aber die Müffelhausener regten sich wochenlang, nein: monatelang darüber auf. Rote Locken waren schlimm genug. Nun ja, Jule konnte nichts dafür, dass sie die hatte. Aber dass sie sie kurz schnitt, dafür konnte sie was. Das war unerhört. Keine einzige Frau in Müffelhausen trug kurz geschnittenes Haar!

„Na und?“, antwortete Jule, wenn jemand sie auf die kurzen Haare ansprach.

Seit Jule allein mit der Ziege Emma in der Hütte am Waldrand lebte, machte sie vieles anders als zu der Zeit, in der ihre Großmutter noch gelebt hatte. Aber manches ließ sich nicht anders machen. So musste sie weiterhin Brot backen. Aber sie tat keinen Kümmel mehr in den Teig. Jule hasste Kümmel. Sie musste weiterhin Ziegenkäse machen, rührte aber eine Prise Pfeffer hinein. Sie musste Kartoffeln pflanzen, neue Sohlen an ihre Winterstiefel nageln, das Dach reparieren und auf den Kirschbaum klettern, um die Kirschen zu pflücken.

Sie hatte alle Hände voll zu tun. Trotzdem dachte sie immer wieder sehnsüchtig an das Räuberleben.

Zwei- oder dreimal in der Woche holte sie mit der Schubkarre Holz. Aber seit dem Tod der Großmutter schob sie ihre Schubkarre nicht mehr ins Wäldchen auf der anderen Dorfseite, sondern unter die großen Bäume am Waldrand, gleich hinter der Hütte. Hier begann der große, finstere Schrattwald, in dem die Räuber hausten.

Jemand sah sie in diesen Wald fahren, ein anderer sah sie von dort zurückkommen. Das sprach sich in Windeseile herum. Deshalb bekam Jule Besuch von der Frau des Bürgermeisters.

„Stimmt es, Jule“, fragte sie, „dass du dein Holz im Schrattwald sammelst?“

Jule nickte.

„Ja weißt du denn nicht, dass im Schrattwald die Räuber hausen? Riesen mit gelben Augen und Bärenkrallen! Ungeheuer, die sich, wenn sie hungrig sind, über Kinder hermachen!“

„Das erzählt man sich“, sagte Jule. „Vielleicht ist es auch nur ein Gerücht. Der Schrattwald fängt gleich hinter meiner Hütte an. Dort liegt viel mehr Holz herum als im Wäldchen. Da wäre ich doch blöd, wenn …“

„Aber wenn dich diese Kerle erspähen und schnappen! Die sind imstande, dich …“

„Die erschrecken vor meinem roten Haar und den Sommersprossen“, lachte Jule und winkte ab.

Bevor die Frau Jules Hütte verließ, sagte sie noch: „So wie du läuft kein anständiges Mädchen herum. Also lass dein Haar wieder wachsen!“

Jule lachte nur.

Nach ein paar weiteren vergeblichen Besuchen gaben die Müffelhausener es auf, sie vor den Räubern zu warnen und zum Müffelhausener Haarknoten zu drängen.

„Sie ist wirklich sehr anders als wir“, seufzten sie und hielten sich von ihr fern.

Kein Bursche warf einen Blick auf sie, kein Mädchen wollte ihre Freundin sein, niemand half ihr bei der schweren Arbeit. Die Müffelhausener hatten beschlossen, Jule, so gut es ging, einfach nicht zu beachten.

Es muss etwas geschehen!

Jule sammelte das ganze Holz vom Waldrand weg und musste ihre Schubkarre immer tiefer in den Wald schieben, um sie zu füllen. Aber noch nie war sie einem Räuber begegnet, höchstens mal irgendwelchen schwarzbärtigen Kerlen in Lodenumhängen, die durch den Wald schritten, ihr einen finsteren Blick unter dem breiten Hutrand zuwarfen und wieder verschwanden. Wahrscheinlich Holzfäller. Oder fremde Wanderer, die sich verirrt hatten.

„Emma“, sagte sie eines Abends zu ihrer Ziege, „es muss etwas geschehen. Ich will nicht mehr so leben wie die Leute hier in Müffelhausen. Ich will ein anderes Leben haben!“

Eines Abends putzte sie ihre Schuhe, kämmte ihre roten Locken und ging zum Lehrer. Er war inzwischen schon so alt, dass seine Finger zitterten. Gern hätte er mit dem Unterrichten aufgehört, um sich auszuruhen. Aber es gab keinen jungen Lehrer in Müffelhausen. Und von anderswo wollte keiner in dieses langweilige Dorf kommen. Die Müffelhausener Kinder mussten ja rechnen, schreiben und lesen lernen. Also blieb dem Alten nichts übrig als weiterzumachen.

„Nun, was führt dich zu mir?“, fragte er, als Jule auf seinem uralten durchgesessenen Sofa zwischen lauter verstaubten Sofakissen Platz genommen hatte.

„Hier in Müffelhausen passiert nichts, ändert sich nichts, ist alles wie immer“, seufzte Jule. „Um Müffelhausen herum liegt die weite Welt. Dort geht’s oft wild her, wie man so hört. Ich möchte fort von hier, in die Welt hinaus, möchte mit dabei sein, wo etwas passiert. Aber wie mach ich das? Ich hab doch kein Geld, um eine Reise zu bezahlen!“

„Nichts einfacher als das“, meinte der Lehrer. „Du hast doch bei mir Lesen gelernt. Und wie du lesen kannst! Lies Bücher, dann kommt die Welt zu dir. Aus den Büchern wirst du Dinge erfahren, von denen du dir vorher nichts träumen ließest!“