Die Regierung der Natur - Leander Scholz - E-Book

Die Regierung der Natur E-Book

Leander Scholz

0,0

Beschreibung

Das Bewusstsein für die Naturzerstörung ist so alt wie die Industrialisierung, die dafür verantwortlich gemacht wird. Dennoch hat es über einhundert Jahre gedauert, bis sich das ökologische Paradigma durchgesetzt hat. Jede politische Ordnung unterstellt aber die Existenz einer Natur, die sie nicht beeinflussen kann. Im Zeitalter der Ökologie ist es die sterbende Natur, die unsere Gesellschaft bestimmt. Wollen die Menschen überleben, müssen sie sich um ihre Lebensgrundlagen kümmern und zahllose natürliche Faktoren zum Gegenstand von Politik machen. In einem überraschenden Durchgang durch die Begründungsfiguren politischer Ordnung zeigt Leander Scholz die Wandlungen des Verhältnisses von Politik und Natur: von der griechischen phýsis zum menschengemachten Anthropozän, von der politischen Ökonomie zur politischen Ökologie, von der Austernwirtschaft an der norddeutschen Küste zur Kybernetik. Die politischen Koordinatensysteme der Gegenwart bleiben davon nicht unberührt. Die Natur zu regieren bedeutet heute auch, von ihr regiert zu werden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 151

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



LEANDER SCHOLZ

DIE REGIERUNG DER NATUR

Ökologie und politische Ordnung

Kleine Edition 40

August Verlag

Für Samuel

INHALT

Der Singular der Erde

1. Die Dichte des Lebens

2. Der Haushalt der Natur

3. Ökologie und Geopolitik

4. Ästhetik des Anthropozäns

Ausblick

Wir können die Sonnenstrahlen aufhalten, aber nur eine Zeitlang.

Georges Bataille

DER SINGULAR DER ERDE

Am zweiten Wochenende des Oktobers 1913 versammelten sich weit über zweitausend junge Männer und Frauen auf dem Hohen Meißner in Hessen. Eingeladen zu diesem Treffen hatte eine lose Vereinigung von Jugendbünden, die den patriotischen Auswüchsen des Kaiserreichs etwas entgegensetzen wollten. Denn im gleichen Monat fanden die offiziellen Festakte zum hundertjährigen Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig statt, in der die napoleonischen Truppen ihre entscheidende Niederlage erlitten hatten. Damit war die erfolgreiche Eroberung des Kontinents durch die revolutionäre Armee beendet. Russland, Preußen, Österreich und Schweden hatten Frankreich besiegt. Zum feierlichen Rückblick auf dieses historische Ereignis sollte ein monumentales Denkmal eingeweiht werden, das die Erinnerung an die große Schlacht zwischen dem europäischen Norden und dem europäischen Süden auf ewig wachhalten sollte, zumal sie jederzeit erneut drohen konnte. Die Zeremonie der Einweihung durch den deutschen Kaiser und die Bundesfürsten stand bereits im Zeichen eines Krieges, der als erster von zwei Weltkriegen in die Geschichte eingehen sollte.

Zu den jugendlichen Gegnern der Reichspolitik gehörten Gruppierungen der Wandervögel und Lebensreformer, die sich für einen fundamentalen Wandel einsetzten. Ihr politisches Ziel war es, die Geschlossenheit einer Jugendbewegung zu demonstrieren, die nichts mehr mit den überkommenen Feindschaften aus der deutschen Gründerzeit zu tun hatte. Die Alternativveranstaltung zur kaiserlichen Jubiläumsfeier war daher als ein „Fest der Jugend“ gedacht, das auf den politischen Aufbruch der frühen Wartburgfeste im 19. Jahrhundert verweisen sollte, die ebenfalls das Ergebnis einer Emanzipation der Jugend waren. Zwar fanden auch diese Feste anlässlich der Erinnerung an den militärischen Erfolg von 1813 statt, aber der Sieg wurde als eine Befreiung nicht nur von den französischen Besatzern begriffen, sondern auch von der Kleinstaaterei und den alten Autoritäten. Es war der demokratische Auftakt einer jungen Nation, die sich noch zu finden hatte. Mit den beiden konkurrierenden Veranstaltungen im Oktober 1913 stand sich die deutsche Nation somit in ihren entscheidenden Grundzügen selbst gegenüber.

Das programmatische Grußwort zum „Ersten Freideutschen Jugendtag“ hat Ludwig Klages geschrieben, abgedruckt in der nachträglichen Festschrift unter dem Titel „Mensch und Erde“. Im Zentrum seines Textes steht der Gegensatz von Geist und Seele. Dieser bereits lange existierende Antagonismus hat sich nach Ansicht des Lebensphilosophen in der Gegenwart derart zugespitzt, dass nichts Geringeres als die „Selbtszersetzung des Menschentums“ drohe. Die moderne Zivilisation sei seit geraumer Zeit dabei, ihre eigene Lebensgrundlage und damit letztlich sich selbst zu vernichten. Das ist die Bilanz von drei Jahrhunderten Fortschritt, die Klages anhand der Naturzerstörung zieht. Der Text beginnt mit einer „Totenliste“, die nicht nur die Tiere, sondern auch die Pflanzen aufzählt, die bereits durch den Menschen ausgerottet wurden: „Eine Verwüstungsorgie ohnegleichen hat die Menschheit ergriffen, die ‚Zivilisation‘ trägt die Züge entfesselter Mordlust, und die Fülle der Erde verdorrt vor ihrem giftigen Anhauch.“1 Über die Erde ist ein technisches Netz aus Schienensträngen, Telegrafendrähten und Starkstromleitungen gespannt worden, das den brachialen Zugriff der Menschen auf die natürlichen Ressourcen noch um ein Vielfaches steigert. Der „moderne Vernichtungskrieg“, den die Menschen gegen die achtenswerte Natur führen, hat nicht nur die Fülle der Lebewesen stark dezimiert, sondern auch die Ordnung der Populationen nachhaltig beeinträchtigt. Anstelle der ausgestorbenen Arten vermehren sich oft andere Arten derart maßlos, dass es zu fortgesetzten Schüben der Annihilation in der Welt der Tiere und Pflanzen kommt.

Die anschließende Mahnung zur Umkehr stellt ein frühes Manifest der Umweltbewegung des 20. Jahrhunderts dar. Die jungen Menschen, die sich auf dem Hohen Meißner versammelt hatten, sollten sich auf die Seite der „Seele“ und nicht auf die des „Geistes“ stellen. Mit dem „giftigen Anhauch“ ist der philosophische Mentalismus der europäischen Neuzeit gemeint, der von Descartes bis Hegel sein Selbstbewusstsein in der res cogitans im Gegensatz zur res extensa gefunden hat. Seitdem ist der Bezugspunkt der menschlichen Ordnung nicht mehr die Ewigkeit eines Kosmos, sondern die Selbstidentität und die Selbstbehauptung eines Subjekts, das über die Welt wie über ein Werk verfügt. Die Seele hingegen ist für Klages die innere Organisation der Körper im Sinne der aristotelischen Philosophie. Sie verbindet die Materie und macht sie lebendig. Im Unterschied zum Bewusstsein eines Subjekts ist sie nicht an den mentalen Status einer einzelnen Person gebunden. In der Welt der Lebewesen steht sie für die zahlreichen Symbiosen, die „durch das ganze Tierreich und über die ganze Erde verbreitet sind“. Gegen die Konkurrenz der Individuen und den „Kampf ums Dasein“ betont sie die Verbundenheit der Lebewesen und der Menschen mit der Erde.

Auch wenn der naturphilosophische Ansatz von Klages deutliche esoterische und spätromantische Züge trägt, steht er im Zeichen eines neuen wissenschaftlichen Paradigmas, das die mechanistische Auffassung der Natur endgültig beiseiteschiebt und die wissenschaftliche Bühne für die moderne Biologie freigibt, die das 20. Jahrhundert tiefgreifend prägen wird. Lebensphilosophie und life science beenden die Sonderstellung des Subjekts und reihen den Menschen unter die Vielzahl der Lebewesen ein. Was das Leben will, ist nicht identisch mit dem, was die neuzeitlichen Philosophien unter einem autonomen Willen verstehen. An die Stelle sozialphilosophischer und geschichtsphilosophischer Perspektiven tritt ein ökologisch-terrestrisches Programm, das von nun an den maßgeblichen Horizont der neuen, posthumanen Politik abgeben wird.

Den Ursprung des Gegensatzes von Geist und Seele lokalisiert Klages wie sein lebensphilosophischer Lehrer Friedrich Nietzsche im Christentum, das die Welt einem souveränen Schöpfungsakt aus dem Nichts anheimstellt, in das sie auch wieder verschwinden wird. Ewig ist demnach weder der Kosmos noch seine Bewohner, sondern nur der göttliche Wille, dessen ungeheure Machtentfaltungen sich nach zahllosen historischen Umbesetzungen von der Renaissance bis zum Zeitalter des wissenschaftlichen Fortschritts in den modernen Entfesselungen einer industrialisierten Welt wiederfinden lassen. Am Ende dieser langen Reihe steht der „letzte Mensch“, wie Nietzsche ihn als finale Figur des christlichen Nihilismus beschrieben hat, der die Welt buchstäblich konsumiert: „Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdenfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. ‚Wir haben das Glück erfunden‘ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“2 Der „letzte Mensch“ kennt nichts anderes mehr als sich selbst. Um diesem modernen Schicksal entkommen zu können, bedarf es für Klages einer neuen Kosmologie, die in der Lage ist, die anthropologische Epoche von der Neuzeit bis zur Gegenwart und ihre „Verwüstungsorgie“ hinter sich zu lassen.

Die politische Ökologie, die sich seit dem fin de siècle formiert, lässt sich daher nicht auf eine Geschichte des Naturschutzes reduzieren, der im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einem neuen Staatsziel geworden ist. Es handelt sich um den Entwurf einer neuen Ordnung, mit neuen Akteuren und neuen Aufgaben, die dem menschlichen Tun einen neuen Sinn verleiht. Mit der Problematik der Naturzerstörung, die Klages und andere Zivilisationskritiker am Beginn des 20. Jahrhunderts aufwerfen, taucht ein neuer Gegenstand politischer Maßnahmen auf, der die tradierten Formen der Willensbildung von Grund auf verändern wird. Denn auf einmal kann nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich weit Entferntes ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit geraten. Was wichtig ist oder noch werden kann, lässt sich nicht mehr anhand der klassischen Hierarchie politischer Prioritäten beantworten. Die Unterscheidung zwischen einer Menschengeschichte, die sich in bedeutungsvollen Ereignissen und Handlungen vollzieht, und einer Naturgeschichte, die es mit einer Vielzahl von Lebewesen und Faktoren zu tun hat, wird zunehmend undeutlicher. Das verwandelt die Auffassung von Politik. Für die Entstehung der politischen Ökologie ist die Überschreitung der menschlichen Sichtweise essenziell. Vor allem um die Jahrhundertwende wird ihre Formierung vorrangig aus zoologischer Perspektive betrieben. Politik kann jetzt nicht mehr als eine alleinige Angelegenheit der Menschen begriffen werden.

Wie viele konservative Intellektuelle hat sich auch Klages von den Nationalsozialisten eine Umsetzung seines politischen Programms erhofft. Sein kosmologischer Antichristianismus und neuheidnischer Antijudaismus passten dabei problemlos zu dem Versuch einer Allianz mit den neuen Machthabern. Auch große Teile der emanzipatorischen Jugend umarmten den faschistischen Vitalismus. Dass die völkische Bewegung dem „modernen Vernichtungskrieg“ keinen Einhalt gebot, sondern ihn auf allen Ebenen zu einer totalen Mobilmachung steigerte, gehörte zu den tiefen Enttäuschungen des Antimilitaristen, der angesichts der Kriegsbegeisterung im Vorfeld des Ersten Weltkriegs in die Schweiz ausgewandert war. Vor diesem Hintergrund erschien Nietzsche, den die Nationalsozialisten zu ihrem Philosophen gemacht hatten, nicht als Antipode der anthropologischen Epoche, sondern als ihr Vollender. Bereits in seinem Nietzsche-Buch von 1926 hatte sich Klages von dem Denker distanziert, der „wie kein anderer die Verbrechen des Willens zur Macht am Leben enthüllt“, aber „das Leben selber als eben diesen Willen zur Macht zu verstehen unternimmt“.3

Dieser vermeintliche Widerspruch, den Klages bei seinem Lehrer ausgemacht zu haben meinte, ist tatsächlich die abgründige Heimsuchung der Lebensphilosophie selbst. Bei seinem groß angelegten Angriff auf die Werte des europäischen Kontinents hatte Nietzsche die religiösen und philosophischen Wahrheiten daraufhin befragt, welche Herrschaftsansprüche mit ihnen verbunden sind. In jeder Wahrheit hält sich ein „Wille zur Macht“ verborgen, dessen geheime Absicht es zu demaskieren gilt und der danach zu bewerten ist, ob er der Lebenskraft und ihrer Steigerung dient oder nicht. Eine unverstellte Macht, die nichts anderes sein will als sie selbst, wäre die Reinform des Lebens. Aus diesem Grund hat Heidegger in dem Verkünder der „ewigen Wiederkunft“ die geschichtliche „Vollendung der abendländischen Metaphysik“4 gesehen. Eine pure Macht, die kein Mittel mehr zu einem Zweck ist und nur sich selbst zum Ziel hat, kann den Titel der Ewigkeit beanspruchen. Zu diesem endgeschichtlichen Zustand vorzudringen ist die große Passion sehr unterschiedlicher politischer Lager am Beginn des 20. Jahrhunderts. Die totale Mobilmachung im Zeichen der Lebensphilosophie, der rückhaltlose Kampf um die planetarische Herrschaft und die Anrufung der Erde als eine neue Quelle politischer Ordnung gehören demselben historischen Moment an. Der Höhepunkt und der Zusammenbruch der anthropologischen Epoche nach zwei Weltkriegen und einer humanitären Katastrophe größten Ausmaßes ist zugleich die Geburtsstunde einer politischen Ökologie, die nicht nur ein Ende der andauernden Naturzerstörung verspricht, sondern im ökologischen Gleichgewicht auch die mentale Ressource für eine neue ethisch-politische Orientierung sieht.

Die entscheidende Frage der politischen Philosophie ist nicht, worin eine gerechte Ordnung besteht, sondern was die Quelle der Ordnung ist. Denn das eine präfiguriert das andere. Jede politische Ordnung setzt die Existenz einer Natur voraus, die sie nicht beeinflussen kann. Sie basiert auf der Unterscheidung zwischen dem, was Gegenstand einer Willensanstrengung sein kann, und dem, was sich dieser entzieht. Sie ist das Ergebnis von willentlichen Setzungen, der geltenden Natur und dem, was sich zwischen beiden mit der Zeit einspielt. In der Antike war der Bereich der phýsis streng getrennt vom politischen Bereich. Was von Natur aus gegeben ist, lässt sich nicht verändern und kann daher nicht zu den politischen Angelegenheiten gehören. Der politische Raum ist von Grund auf durch das bestimmt, was keine Politik ist und niemals werden kann. Wie Politik und Natur voneinander getrennt werden und sich damit zugleich wechselseitig bedingen, bestimmt die konkrete Gestalt der politischen Ordnung. Das gilt nicht nur für eine bestimmte Kultur oder für eine bestimmte Epoche. Das jeweilige Naturverständnis prägt auch dann die Grundzüge des politischen Raums, wenn sich die praktische Politik selbst nicht mehr an natürliche Vorgaben gebunden sieht.

Weil in der antiken Philosophie die phýsis als stabiler Ordnungsrahmen vorausgesetzt wird, kann die Politik in ihren grundlegenden Zwecksetzungen als Fortführung der Naturordnung begriffen werden. Jedem Lebewesen, also auch jedem Tier und jeder Pflanze, und sogar jedem Ding, wohnt ein eigener Sinn inne, der seine Existenz erfüllt. Allem ist von Anfang an ein unabänderliches télos eingeschrieben, ein spezifischer Zweck, den man zwar missachten kann, jedoch stets um den Preis des eigenen Unglücks. Gelingen kann die eigene Existenz allein dann, wenn man sein Leben entsprechend der richtig verstandenen Natur führt. Freiheit bedeutet in der antiken Lebenswelt nicht, dass man unter prinzipiell unbegrenzten Möglichkeiten wählen kann, sondern dass man in der Lage ist, die von Natur aus gegebenen Möglichkeiten selbstständig zu verwirklichen. Da alle Möglichkeiten bereits in der Natur vorgezeichnet sind, kann es nichts grundsätzlich Neues oder vollkommen Künstliches geben. Etwas kann besser oder schlechter gemacht werden, aber die Vorstellung, dass alles auch ganz anders sein könnte, ist der antiken Philosophie fremd. Vieles kann sich ändern, aber was von Natur aus gegeben ist, wird niemals völlig anders sein. Selbst die kulturellen und technischen Werke sind Ausfaltungen der vorgegebenen Ordnung, zu der sie im Verhältnis einer mimesis stehen.

Dieses Naturverständnis hat über viele Jahrhunderte bis weit in das europäische Mittelalter seine Gültigkeit behalten. Erst die Neuzeit zeichnet sich durch einen tiefen Bruch mit der natürlichen Teleologie aus. Mit der Karriere der mechanistischen Auffassung, für die jeder Körper gleich verfügbar ist, geht eine Erosion der Naturordnung einher. Darin hat Hans Blumenberg das Besondere der Neuzeit gesehen: „Der Nullpunkt des Ordnungsschwundes und der Ansatzpunkt der Ordnungsbildung sind identisch; das Minimum an ontologischer Disposition ist zugleich das Maximum an konstruktiver Potentialität.“5 Die Welt gehört von nun an den Gesten einer tabula rasa und den Bauplänen des Konstruktivismus. Je weniger die Menschenwelt durch die Natur bestimmt wird, desto umfangreicher erscheinen die Möglichkeiten, diese Welt selbst einzurichten und wie ein Werk herzustellen. Die Lebewesen werden nun als mechanische Apparate verstanden, die sich aufziehen, bewegen und auch reparieren lassen. Analog dazu sollen die Staaten wie ein homo magnus mit künstlichem Kopf und künstlichen Gliedern gebaut werden. Die Vorstellung einer ordo universi, die im politischen Ideal eines europäischen Reichs repräsentiert wurde, verliert zusehends an Einfluss. Die neuen territorialen Staaten mit absolutem Willen, geboren aus den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts, beruhen nicht mehr auf einer universalen Ordnung, sondern auf einer balance of power, austariert im Westfälischen Frieden von 1648.

Die Freiheit der Neuzeit unterscheidet sich grundsätzlich von allen vorhergehenden. Sie wird jetzt als ein Wille gedacht, der sich selbst das Gesetz gibt und von keiner anderen Autorität mehr abhängt. Das gilt nicht bloß für die Subjekte, sondern auch für die Staaten, die zur alleinigen Quelle des Rechts werden und deren Potenz enorm gesteigert wird. Das dunkle Double dieser Freiheit besteht in einer Willkür, die weiß, dass sie zu allem fähig ist. In der Antike galt das Böse als ein Mangel des Guten. Der Böse ist unfähig, sich zu beherrschen, ihm gelingt es nicht, das Richtige zu tun. Sein Wesen ist niedrig und nur ein schlechtes Abbild dessen, was an seiner Stelle möglich gewesen wäre. Der Böse ist der Schwache. Das ändert sich in der Neuzeit von Grund auf. Der Böse verkörpert von nun an die Abgründe einer wirklichen Freiheit. Er ist ihr Entdecker und ihr vornehmster Vertreter. Das Böse ist kein Mangel des Guten mehr. Es hat seine eigene Qualität und verdankt sich einer Quelle, die auf allen Fahnen der Moderne steht. Die absolute Freiheit gehört dem Reich des Bösen an, bevor ihr Derivat in den politischen Programmen des Liberalismus auftauchen kann. Das liberale Evangelium ist zunächst, wie Schelling ausführt, ein diabolisches: „Denn schon die einfache Überlegung, daß es der Mensch, die vollkommenste aller sichtbaren Kreaturen ist, der des Bösen allein fähig ist, zeigt, daß der Grund desselben keineswegs in Mangel oder Beraubung liegen kann. Der Teufel nach der christlichen Ansicht war nicht die limitierteste Kreatur, sondern vielmehr die illimitierteste.“6

Bei dem neuzeitlichen Vorhaben, die Welt als Werk zu errichten, spielt die grenzüberschreitende Macht des Bösen eine zentrale Rolle. In der Epoche der Anthropologie wird aus der Unveränderlichkeit der Naturordnung die Natur des Menschen. An die Stelle eines universalen summum bonum tritt das summum maximum menschlicher Begierden. Die Leidenschaften, die es einst zu beherrschen galt, sind nun der größte Rohstoff für den Aufbruch in eine neue Zeit. In der erscheinen die Menschen vor allem als nackt und hungrig. Sie sind schutzbedürftig und machtgierig zugleich. Jeder kann jeden töten. Und jeder kann von jedem getötet werden. Weil die Natur sie unzureichend ausgestattet hat, müssen sich die Menschen ihre Welt jetzt selbst bauen. Ihre Gleichheit verdanken sie keiner göttlichen oder natürlichen Ordnung mehr, sondern einem unerbittlichen Tod, dem niemand entkommen kann. Vor ihm sind alle gleich. Wem es gelingt, sich die Macht des Todes anzueignen, der beherrscht den Bau der Welt. Denn nur wer so weit geht, das gesamte Leben dem Tod auszusetzen, sowohl das der Menschen als auch das der Tiere und Pflanzen, der erzeugt den maximalen Druck, aus dem etwas Neues hervorgeht.

Besonders radikal bei dem Versuch, die neue Zeit zu erzwingen, waren die französischen Revolutionäre. Ihre Schreckensherrschaft zeichnete die gesamte Gesellschaft mit der Guillotine und verhalf den neuen Kräften der Produktion zum Durchbruch. Hegel, der philosophische Kommentator der französischen terreur, hat die politische Leistung der Jakobiner und ihrer tödlichen Tugend genau beschrieben, wenn er das maschinelle Sterben, bei dem alle Stände derselben Prozedur unterzogen werden, bedeutungslos nennt: „Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat; denn was negiert wird, ist der unerfüllte Punkt des absolut freien Selbst; er ist also der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlkopfs oder ein Schluck Wassers.“7

In der Neuzeit wird aus der politischen Theologie des Mittelalters eine politische Thanatologie. Der Tod im Singular nimmt den Platz des vormals göttlichen Weltherrschers ein. Aber im Unterschied zur religiösen Offenbarung kann man der neuen Autorität nicht gehorchen. Weil keine andere Botschaft von der Despotie des Todes zu vernehmen ist als die Angst vor der eigenen Sterblichkeit, kann man es diesem „absoluten Herrn“ nicht recht machen. Man kann sich ihm nicht unterordnen, seine Anerkennung verdienen und zu seiner Rechten sitzen. Die Inthronisierung des Todes zwingt im selben Moment zur Abwendung von der einzigen Gewissheit des modernen Schicksals und zu ihrer Verdrängung. Aus diesem Grund geht die neuzeitliche Todesobsession zugleich mit dem Verschwinden der Sterberituale einher, die das malum metaphysicum über viele Jahrhunderte eingehegt haben. Das Elend der Sterblichkeit ist kein Grund mehr für ein memento mori, das die Eitelkeit des menschlichen Strebens dämpfen soll, sondern entpuppt sich als der stärkste Motor der Moderne. Aus dieser Einsicht hat Ludwig Feuerbach den Tatmenschen geformt: „Je kürzer unser Leben ist, je weniger wir Zeit haben, gerade desto mehr haben wir Zeit; denn der Mangel an Zeit verdoppelt unsre Kräfte, konzentriert uns nur auf das Notwendige und Wesentliche, flößt uns Geistesgegenwart, Unternehmungsgeist, Takt, Entschlossenheit ein, es gibt darum keine schlechtere Entschuldigung als mit dem Mangel an Zeit.“8