Die Reise unserer Gene - Johannes Krause - E-Book
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Johannes Krause

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Beschreibung

Migration und Wanderungsbewegungen sind keine Phänomene der Neuzeit: Seit der Mensch den aufrechten Gang beherrschte, trieb es ihn aus seiner Heimat Afrika in die ganze Welt, auch nach Europa. Bis vor Kurzem lag diese Urgeschichte noch im Dunkeln, doch mit den neuen Methoden der Genetik hat sich das grundlegend geändert. Johannes Krause, einer der führenden Experten auf dem Gebiet, erzählt gemeinsam mit Thomas Trappe, was uns die Gene über unsere Herkunft verraten: Gibt es "Urvölker"? Wann verloren die frühen Europäer ihre dunkle Haut? Welche Rolle spielte die Balkanroute in den vergangenen 40 000 Jahren? Eine große Erzählung, die zeigt: Ohne die Einwanderer, die über Jahrtausende aus allen Richtungen nach Europa kamen und immer wieder Innovationen mitbrachten, wäre unser Kontinent gar nicht denkbar. »Johannes Krause und Thomas Trappe geben einen spannenden Überblick über das, was uns die Revolution der Archäogenetik über die europäische Bevölkerungsgeschichte lehrt. Ihr Buch fängt die Begeisterung ein, die diese junge Wissenschaft auslöst.« Wall Street Journal

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Das Buch

Woher kommen wir? Wer sind wir? Was unterscheidet uns von anderen? Diese Fragen stellen sich heute drängender denn je. Johannes Krause und Thomas Trappe spannen den Bogen zurück bis in die Urgeschichte und erzählen, wie wir zu den Europäern wurden, die wir sind.

Migration und Wanderungsbewegungen sind keine Phänomene der Neuzeit: Seit der Mensch den aufrechten Gang beherrschte, trieb es ihn aus seiner Heimat Afrika in die ganze Welt, auch nach Europa. Bis vor Kurzem lag diese Urgeschichte noch im Dunkeln, doch mit den neuen Methoden der Genetik hat sich das grundlegend geändert. Johannes Krause, einer der führenden Experten auf dem Gebiet, erzählt gemeinsam mit Thomas Trappe, was uns die Gene über unsere Herkunft verraten: Gibt es „Urvölker“? Wann verloren die frühen Europäer ihre dunkle Haut? Welche Rolle spielte die Balkanroute in den vergangenen 40 000 Jahren? Eine große Erzählung, die zeigt: Ohne die Einwanderer, die über Jahrtausende aus allen Richtungen nach Europa kamen und immer wieder Innovationen mitbrachten, wäre unser Kontinent gar nicht denkbar.

Die Autoren

Johannes Krause, geb. 1980, ist Professor für Archäogenetik, Experte für die Entschlüsselung der DNA aus alten Knochen und Direktor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena. 2010 entdeckte er auf Grundlage eines Mittelfingerknochens den Denisova-Menschen, einen neuen Urmenschen. Das Wissenschaftsjournal »Nature« bezeichnete Krause als »rising star in ancient-DNA research«. Er lebt in Leipzig.

Thomas Trappe, geb. 1981, ist Journalist und hat sich intensiv mit dem Rechtspopulismus beschäftigt. Er veröffentlichte in der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« und »Die Zeit«. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Axel-Springer-Nachwuchspreis ausgezeichnet. Er lebt in Berlin.

Johannes Krause

mit Thomas Trappe

Die Reise unserer Gene

Eine Geschichte über unsund unsere Vorfahren

Propyläen

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ISBN: 978-3-8437-2032-8

© 2019 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

INHALT

Über das Buch und die Autoren

Titelseite

Impressum

PROLOG

KAPITEL 1

Ein Knochen auf dem Schreibtisch

Eine Billion am Tag

Fortschritt durch Mutationen

Es grüßt der Urmensch

Die Mutter aller Gene

Die wilden Jahre sind vorbei

Die Mär vom Urvolk

Die Reise von Pest und Cholera

KAPITEL 2

Urmenschen-Sex

Das Problem mit der Inzucht

Die Festung Europa fällt

Giftiger Regen am dunklen Horizont

Eine Brücke nach Osten

KAPITEL 3

Ein Platz an der Sonne

Das einfache Leben in der Wildnis

Natürliche Verhütung, archaische Rituale

Pioniere der Gentechnik

Die Leiche im Keller

Helle Haut als Fleischersatz

Die unverwüstliche Balkanroute

KAPITEL 4

Jäger auf der Flucht

Stress und ungesunde Ernährung

Steigende Gewaltbereitschaft auf engem Raum

Schwedische Traktoren

»Genetische Fossilien« auf Sardinien

Das Zeitalter der Infektionskrankheiten beginnt

KAPITEL 5

Cowboys und Indianer

Die Vier-Komponenten-Europäer

Ein schwarzes Loch von 150 Jahren

Die Spätfolgen nationalistischer Geschichtsschreibung

Männliche Dominanz

Die Milch macht’s

Aufbruch zur Massentierhaltung

KAPITEL 6

Sprachlose Knochen

Vulkanausbruch auf Santorin

Kein Slawisch in Großbritannien

Sprache ist Mathematik

Wurzeln im Iran

Sprache als Herrschaftsinstrument

KAPITEL 7

Fortschritt durch Bronze

Die Erfindung des Patriarchats

Konsumgesellschaft und Massenproduktion

Das Ende des Einzelkämpfers

Der Fruchtbare Halbmond

Das Fundament steht

KAPITEL 8

Der Mensch ist die neue Fledermaus

Der arme Floh

Hilfe vom Pentagon

Die Pest folgt der Migration

Auf dem Rücken der Pferde

Spätrömische Zustände

Grenzen dicht, Misstrauen gegen Fremde

Der Angriff des Klonkriegers

Zurück zu den Wurzeln

KAPITEL 9

Tod im Sammellager

Lepra in Londoner Parks

Die Lepra geht, die Tuberkulose kommt

Eine hundertjährige Todeswelle

Die Täuschungen der Syphilis

Unterschätzte Gefahr

SCHLUSS

Keine Romantisierung, kein Fatalismus

Die Sehnsucht nach Wald und Wiese

Ist die Genetik rehabilitiert?

Nationale Grenzen sind keine genetischen

Afrika, der schwarze Block

Volk und Rasse waren einmal

Die beschränkte Kraft der »Intelligenzgene«

Die Verlockungen des Menschen-Designs

Grenzenlos

Quellen

Danksagung

Bildnachweis

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

PROLOG

So etwas hatte Europa noch nicht erlebt. Der Strom an Migranten, der über den Balkan ins Zentrum des Kontinents vordrang, markierte eine echte – hier passt das Wort tatsächlich – Zeitenwende. Nichts war danach mehr wie zuvor. Unzählige bäuerlich geprägte Großfamilien kamen, sie wollten vor allem eins: neues Land in Besitz nehmen. Die alteingesessenen Europäer waren ohne Chance. Zunächst zogen sie sich zurück, später verschwand die alte europäische Kultur. Die Menschen, die Europa fortan bewohnten, sahen anders aus als jene, die sie verdrängt hatten – ein Bevölkerungsaustausch.

8000 Jahre sind seit dieser einschneidenden Migrationswelle vergangen, doch erst seit Kurzem wissen wir Genaueres über sie: Mit revolutionärer Technologie bewaffnet, zermahlten wir uralte Knochen zu Staub und destillierten aus ihrer DNA die Geschichten, die wir in diesem Buch erzählen. Der junge Wissenschaftszweig der Archäogenetik nutzt in der Medizin entwickelte Methoden, um altes Erbgut, das teilweise Hunderttausende Jahre alt ist, zu entschlüsseln. Das Fach nimmt gerade noch Fahrt auf, doch ist der bisherige Erkenntnisgewinn schon unermesslich. In menschlichen Knochen aus einer fernen Vergangenheit erkennen wir nicht nur genetische Profile der Verstorbenen, sondern auch, wie sich ihre Erbanlagen in Europa ausbreiteten, also wann und woher unsere Vorfahren kamen. Die Ankunft der Anatolier vor 8000 Jahren ist dabei nur eine von vielen Wanderungsbewegungen in der Geschichte unseres Kontinents. Die Archäogenetik zeigt, dass es Menschen mit »reinen« europäischen Wurzeln nicht gibt und wohl auch nie gab. Wir alle haben einen Migrationshintergrund, und von ihm erzählen unsere Gene.

Als wir 2014 die steinzeitliche anatolische Einwanderung nachwiesen, ahnten wir nicht, welchen aktuellen Bezug das Thema wenig später bekommen würde. Im Sommer 2015 setzte erneut eine Migration über den Balkan nach Zentraleuropa ein, in deren Folge viele europäische Staaten in Unruhe gerieten und deren langfristige politische Auswirkungen noch lange nicht absehbar sind. Das eigentlich harmlose »Wir schaffen das« vermochte es damals, die Gesellschaft in teils unversöhnliche Lager zu spalten. Heute wird von Migrationsgegnern der Satz fast nur noch als Karikatur seiner selbst zitiert und um das genaue Gegenteil auszudrücken. Masseneinwanderung sei eben nicht zu bewältigen und schon gar nicht etwas, was man einfach so akzeptieren müsse. Auch in den Debatten um den UN-Migrationspakt zeigte sich, welche Brisanz in dem Thema steckt. In Deutschland wurden Rufe laut, den Vertrag nicht anzunehmen, und viele Staaten entzogen dem Abkommen die Unterstützung, weil es Migration nicht beschränke, sondern befördere. Es sind politische Auseinandersetzungen, in denen die Archäogenetik sich nicht zum Schiedsrichter aufschwingen sollte, und sie will das auch gar nicht. Aber sie kann helfen, besser einzuordnen. Und Europa als das zu verstehen, was es ohne Zweifel ist: eine sich über Jahrtausende erstreckende Fortschrittsgeschichte, die ohne die Migration und Mobilität von Menschen unmöglich gewesen wäre.

Die Idee zu diesem Buch entstand in den Nachwehen des »Flüchtlingssommers« 2015. Zu vielen gesellschaftlichen Debatten, die seitdem geführt werden, kann die Archäogenetik ihren Beitrag leisten – es wäre geradezu vergeudete Forschermühe, dieses Wissen im Knochenstaub ruhen zu lassen. Die großen Migrationswellen, die Europa seit der Urzeit prägten, und auch jene, die von hier ausgingen und die westliche Welt begründeten, sind Thema der folgenden Seiten. Sie beschäftigen sich unter anderem mit der ewigen Balkanroute und den seit Menschengedenken auftretenden Konflikten, die mit Migrationen einhergehen. Wir werden erklären, warum die ersten Europäer dunkelhäutig waren. Und warum man mit Genomanalysen einzelne Europäer zwar auf einer Landkarte verorten kann, Völker oder gar Nationalitäten sich aber genetisch nicht eingrenzen lassen. Wir spannen einen Bogen von der Eiszeit, in der die genetische Reise der Europäer begann, bis zum Heute, in welchem wir kurz davorstehen, unsere Evolution in die eigenen Hände zu nehmen. Wohlgemerkt sollen mit dem Buch nicht nur politische Kontroversen adressiert werden, sondern auch erstmals die Erkenntnisse der Archäogenetik über die Geschichte Europas in einem deutschsprachigen Werk zusammengefasst werden.

Für Schwarz-Weiß-Debatten taugen die neuen Erkenntnisse nicht. Zweifelsohne prägten Einwanderer Europa, und fraglos brachten die damit einhergehenden Verwerfungen viel Leid mit sich, etwa für die Jäger und Sammler, die von den anatolischen Ackerbauern verdrängt wurden. Auch ist die Geschichte der Migration eine der tödlichen Krankheiten, die der Pest zum Beispiel, die bis in die Steinzeit zurückreicht. Mit einiger Wahrscheinlichkeit zog sie eine Schneise des Todes durch Europa und ebnete jenen Menschen den Weg, deren Nachfahren später die Bronzezeit einleiteten. Das Buch liefert, dessen sind wir uns bewusst, Argumente für diejenigen, die gegenüber der Migration aufgeschlossen sind, wie auch für jene, die ihr strikte Grenzen setzen wollen. Nur wird hoffentlich niemand nach der Lektüre noch abstreiten, dass die Mobilität in der Natur des Menschen liegt. Am liebsten wäre den Autoren natürlich, wenn sich die Leser ihrem Standpunkt annäherten, dass die seit Jahrtausenden erprobte globale Gesellschaft auch in Zukunft der Schlüssel zum Fortschritt sein wird, auch und vor allem für Europa.

Zwei Autoren arbeiteten an diesem Buch: Johannes Krause, dem ab dem folgenden Kapitel die Rolle des Ich-Erzählers zukommt. Er gehört (das schreibt aus Bescheidenheitsgründen der zweite Autor) zu den etabliertesten Experten auf dem Gebiet der Archäogenetik weltweit und ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena. Co-Autor Thomas Trappe kam nicht nur die Aufgabe zu, das gesammelte Wissen Krauses zu einer kompakten Erzählung zu verdichten, sondern auch, ihr einen zeitgenössischen Rahmen zu geben und in die aktuellen politischen Debatten einzubetten. Trappe arbeitete in den vergangenen Jahren immer wieder journalistisch mit Krause zusammen, außerdem beschäftigte er sich mit dem Nationalismus und dem völkischen Gedankengut heutiger Tage. In vielen Gesprächen beider Autoren entstand der Wille, Wissenschaft und tagesaktuelle Debatte in einem gemeinsamen Buch zusammenzubringen.

Beginnen wollen wir mit einem schnellen Ritt durch das kleine Einmaleins der Archäogenetik. Und mit einem Fingerknochen, der Krauses wissenschaftliche Laufbahn maßgeblich beeinflusste. Dieser machte uns, völlig überraschend, mit einer neuen Menschenform bekannt – und zeugte indirekt von der Affinität der frühen Europäer zum Neandertaler.

KAPITEL 1

Knochenjob

Ein sibirischer Finger führt uns zum neuen Urmenschen. Genetiker in Goldgräberstimmung, sie haben Wundermaschinen. Adam und Eva lebten getrennt. Der Neandertaler war eine Täuschung. Jurassic Park macht alle verrückt. Ja, wir alle sind mit Karl dem Großen verwandt.

Ein Knochen auf dem Schreibtisch

Die Fingerkuppe, die ich eines Morgens im Winter des Jahres 2009 auf meinem Schreibtisch vorfand, war nur noch der klägliche Rest eines Fingers. Der Nagel fehlte, die Haut sowieso, eigentlich war es nur die Spitze eines oberen Fingerknochens, nicht größer als ein Kirschkern. Sie gehörte, wie ich später herausfand, einem fünf- bis siebenjährigen Mädchen. Die Kuppe lag in einem handelsüblichen wattierten Umschlag und kam von weit her, aus Nowosibirsk. Nicht jeder ist erfreut, wenn er noch vor dem Morgenkaffee abgetrennte Körperteile aus Russland auf seinem Schreibtisch findet. Doch ich war es.

Fast ein Jahrzehnt zuvor, im Jahr 2000, hatte der amerikanische Präsident Bill Clinton im Weißen Haus eine Pressekonferenz gegeben, in der, nach zehnjähriger Arbeit und Milliarden an Investitionen in das »Humangenomprojekt«, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms verkündet wurde. DNA war damals auf einmal überall Thema, die FAZ räumte ihr Feuilleton frei, um Sequenzen des menschlichen Genoms abzudrucken – eine endlose Reihe der Basen A, T, C und G, aus denen die DNA besteht. Vielen wurde in dieser Zeit schlagartig bewusst, welche Bedeutung der Genetik künftig zukommen würde. Immerhin bestand die Aussicht, in der DNA des Menschen wie in einem Bauplan zu lesen.

2009 war die Wissenschaft diesem Ziel schon sehr viel näher. Ich arbeitete in dieser Zeit als Post-Doktorand am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie, auch bekannt unter dem geradezu sinnbildlichen Kürzel MPI-EVA. Das Institut war damals schon die weltweit erste Adresse für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die mithilfe hocheffizienter Technik die DNA aus alten Knochen sequenzieren wollten. Vorangegangen waren jahrzehntelange Kraftanstrengungen der genetischen Forschung, die es erst möglich machten, dass mithilfe des Fingerknochens auf meinem Schreibtisch die Entstehungsgeschichte der Menschheit ein wenig umgeschrieben wurde. Denn bei dem Fund aus Sibirien handelte es sich um die 70 000 Jahre alten Überreste eines Mädchens, das einer bisher unbekannten Urmenschenform angehörte. Das verrieten ein paar Milligramm Knochenstaub – und eine hochkomplexe Sequenziermaschine. Nur wenige Jahre zuvor wäre es technisch undenkbar gewesen, einer winzigen Fingerkuppe zu entlocken, von wem sie stammte. Und nicht nur das zeigte uns der Knochensplitter. Wir erfuhren von ihm auch, was das Mädchen mit uns heute lebenden Menschen verband – und wie es sich von uns unterschied.

Eine Billion am Tag

Die DNA als Bauplan des Lebens ist schon seit über hundert Jahren bekannt. 1953 entdeckten James Watson und Francis Crick nach Vorarbeit von Rosalind Franklin ihre Struktur, wofür beide neun Jahre später den Nobelpreis für Medizin bekamen (Franklin war zu diesem Zeitpunkt schon verstorben, im jungen Alter von 37 Jahren). Die Medizin war es auch, die seitdem die DNA-Forschung antrieb und schließlich das Humangenomprojekt einläutete.

Ein Meilenstein, um DNA zu entschlüsseln, sie also lesen zu können, war in den Achtzigerjahren die Entwicklung der Polymerase-Kettenreaktion.1 Dieses Verfahren ist eine der Grundlagen heutiger Sequenziermaschinen, die die Abfolge der Basen innerhalb eines DNA-Moleküls auslesen. Seit der Jahrtausendwende entwickelten sich die Sequenziermaschinen rasant weiter. Jeder, der sich an seinen alten Commodore 64 erinnert und heute ein Smartphone nutzt, kann sich in Ansätzen vorstellen, wie rasch die Technik auch in der Genetik voranschritt.

Ein paar Zahlen lassen erahnen, in welchen Dimensionen wir uns bewegen, wenn es um die DNA-Entschlüsselung geht: Das menschliche Genom besteht aus 3,3 Milliarden Basen.2 Um die Erbinformationen eines Menschen zu entschlüsseln, brauchte man 2003, als das Humangenomprojekt beendet wurde, noch mehr als zehn Jahre.3 Heute schaffen wir in unserem Labor eine Billion Basenpaare pro Tag. Der Durchsatz der Maschinen hat sich in den vergangenen zwölf Jahren verhundertmillionenfacht, sodass wir heute auf einer einzigen Sequenziermaschine sagenhafte 300 menschliche Genome an einem Tag decodieren können. In zehn Jahren werden weltweit mit einiger Sicherheit die Genome von Millionen Menschen entschlüsselt sein; wobei die künftigen Entwicklungen bislang fast immer unterschätzt wurden. DNA-Sequenzen werden immer schneller und kostengünstiger ausgewertet und damit für alle zur Option. Mittlerweile kostet die Untersuchung eines Genoms weniger als ein großes Blutbild – gut vorstellbar, dass es für junge Eltern bald zur Routine wird, das Genom ihres Neugeborenen zu entschlüsseln. Die DNA-Sequenzierung bietet ungeahnte Möglichkeiten, etwa bei der Früherkennung genetischer Dispositionen für bestimmte Krankheiten, und das Potenzial wird steigen.4

Während die Medizin Genome heute lebender Menschen entschlüsselt, um Krankheiten besser zu verstehen und auf dieser Grundlage neue Therapien und Arzneimittel zu entwickeln, nutzen Archäogenetiker die in der Humangenetik entwickelten Techniken, um archäologische Funde – alte Knochen, Zähne oder auch Bodenproben – zu analysieren und über die darin zu findende DNA Rückschlüsse auf die Herkunft längst verstorbener Menschen zu ziehen. Für die Archäologie eröffnen sich damit ganz neue Wege. Anders als bislang ist sie nicht mehr nur auf Theorien und Interpretationen angewiesen, sondern kann zum Beispiel Wanderungsbewegungen von Menschen auf Grundlage genetischer Analysen in bisher nicht da gewesener Präzision belegen. Die Entschlüsselung alter DNA ist für die Archäologie vergleichbar bedeutend wie eine andere technische Revolution, die auf die Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts zurückgeht. Damals wurde die Altersbestimmung archäologischer Funde mit der Radiokarbonmethode auf völlig neue Grundlagen gestellt. Mit ihr konnten menschliche Überreste erstmals zuverlässig datiert werden, wenn auch nicht auf das Jahr genau.5 Die Archäogenetik ermöglicht es nun sogar, in Skelettfragmenten zu lesen und darin Zusammenhänge zu erkennen, von denen selbst die nichts wussten, denen die Knochen einst gehörten. Die menschlichen Überreste, von denen manche seit mehreren zehntausend Jahren in der Erde lagern, werden so zu wertvollen Boten aus der Vergangenheit. In ihnen stehen die Geschichten unserer Vorfahren geschrieben, die in diesem Buch – einige zum ersten Mal – erzählt werden.

1 Johannes Krause entnimmt eine DNA-Probe aus dem Oberarmknochen des Neandertalers aus dem namensgebenden Neandertal.

2 Die größte Gefahr bei der DNA-Analyse ist die Kontamination. Um eine Verunreinigung zu verhindern, werden die Knochenproben in Schutzanzügen und in luftdicht abgeriegelten Räumen entnommen.

Fortschritt durch Mutationen

Die junge Wissenschaft der Archäogenetik kann uns helfen, neue Antworten auf einige der ältesten und grundlegendsten Fragen der Menschheitsgeschichte zu finden: Was macht uns zum Menschen? Woher kommen wir? Und wie wurden wir zu denen, die wir heute sind?

Einer der wichtigsten Pioniere des Fachs ist Svante Pääbo, seit 1999 Direktor des MPI-EVA in Leipzig. Von Haus aus Mediziner, extrahierte Pääbo 1984 während seiner Promotion an der schwedischen Universität Uppsala – mehr oder weniger heimlich nachts im Labor – DNA aus einer ägyptischen Mumie. Es war der Beginn einer großen Karriere. 2003 nahm Pääbo mich in Leipzig als Diplomand an Bord. Als es zwei Jahre später darum ging, ein Thema für meine Doktorarbeit zu finden, schlug er mir vor, zusammen mit seinem Team das Neandertalergenom zu entschlüsseln. Ein Wahnsinn eigentlich: Beim damaligen Stand der Technik hätte ein solches Unternehmen Jahrzehnte in Anspruch genommen, zudem hätten wir gleich Dutzende Kilogramm wertvoller Neandertalerknochen zermahlen müssen. Doch ich vertraute Pääbo und seiner Fähigkeit, das Projekt realistisch einzuschätzen. Ich nahm den Auftrag an. Die Entscheidung erwies sich als richtig. Dank der atemberaubend schnellen Entwicklung der Sequenziertechnik schlossen wir die Arbeit drei Jahre später ab, und zwar mit sehr viel weniger Knochenarbeit.

In dieser Zeit gelangte auch das Stück Finger aus dem Altai zu mir. Solche Knochen sind die Datenträger der Archäogenetik, aus denen wir viele Schlüsse ziehen können. Zählte der Urmensch, dem der Knochen gehörte, zu unseren direkten Vorfahren oder starb seine Linie irgendwann aus? Wie unterscheidet sich sein Erbgut von unserem? Die Genome von Urmenschen werden damit zur Schablone, auf die wir unsere heutige DNA legen. Als Wissenschaftler interessieren uns die Stellen, an denen die Schablone nicht mehr passt. Das nämlich sind die Positionen, auf denen sich unsere DNA verändert hat, wo sie mutiert ist. Wenn das Wort in vielen Ohren auch einen unangenehmen Beiklang haben mag, so sind Mutationen doch der Motor der Evolution und der Grund dafür, dass sich Mensch und Schimpanse heute einander durch einen Zaun getrennt im Zoo bestaunen. Für die Archäogenetik sind Mutationen die Marksteine der Menschheitsgeschichte.

In der Zeit, die Sie zum Lesen dieses Kapitels benötigen, wird sich die DNA in Millionen Ihrer Körperzellen chemisch verändern, weil sie fortwährend kaputtgeht und wieder erneuert werden muss, auf der Haut, im Darm, überall. Wenn dabei etwas schiefgeht, spricht man von Mutationen. Sie passieren sehr häufig, was angesichts der dichten Frequenz der Zellerneuerungen nicht überrascht. In der Regel werden Mutationen vom Körper sofort repariert, doch das funktioniert nicht immer. Treten Mutationen in den Keimzellen des Menschen auf, also in Spermien und Eizellen, können sie als Erbanlage an die nächste Generation weitergegeben werden. Dabei greift eine körpereigene Schutzfunktion: Keimzellen mit Mutationen, die schwere Krankheiten verursachen, sterben zumeist ab. Bei kleineren Mutationen muss das hingegen nicht passieren. Dann wird eine genetische Veränderung unter Umständen vererbt.6

Genetische Veränderungen, die zu mehr Nachkommen führen, verbreiten sich in Populationen schneller, weil sie häufiger weitergegeben werden. Dass der Mensch zum Beispiel weniger Haare hat als sein entfernter Cousin, der Menschenaffe, ist wohl Folge von mehreren Mutationen – statt Haaren entwickelten sich Schweißdrüsen. Mit diesem neuen Kühlsystem konnte der spärlich behaarte Urmensch ausdauernder laufen, besser jagen und flüchten, lebte folglich länger und hatte größere Chancen, sich fortzupflanzen. Urmenschen mit Erbanlagen, die für mehr Haare sorgten, hatten hingegen das Nachsehen und starben aus. Die meisten Mutationen sind allerdings nicht zielgerichtet und führen nirgendwohin. Entweder haben sie überhaupt keinen Effekt auf den Organismus, oder aber sie schaden ihm und werden negativ selektiert, das heißt aussortiert. Die seltenen Ausnahmen, in denen sich die Veränderungen als nützlich für Überleben und Fortpflanzung erweisen, werden hingegen positiv selektiert. Solche Mutationen verbreiten sich und treiben die Entwicklung permanent voran. Die Evolution ist damit ein Zusammenspiel von Zufällen unter den Bedingungen eines fortlaufenden Praxistests.

Es grüßt der Urmensch

Der Blick ins Erbmaterial alter Knochen gleicht für Archäogenetiker der Reise in einer Zeitmaschine: Anhand der DNA unserer Vorfahren, die vor mehreren Zehntausend Jahren gelebt haben, können wir erkennen, welche Mutationen sich seitdem in den heute lebenden Menschen durchgesetzt haben und welche Eigenschaften verloren gingen. Auf solche Erkenntnisse hofften wir, als wir den Fingerknochen aus Russland analysierten.

Anatoli Derevjanko, einer der renommiertesten Archäologen Russlands, fand den 70 000 Jahre alten Knochen in der Denisova-Höhle, also auf knapp 700 Metern Höhe im Altai. Das Gebirge liegt mehr als 3500 Kilometer östlich von Moskau an der russischen Grenze zu China, Kasachstan und der Mongolei und damit mitten in Asien. Die Denisova-Höhle ist nicht nur ein beliebtes Ausflugsziel, sondern seit Jahren auch eine Fundgrube für Wissenschaftler, die hier regelmäßig Knochen und allerlei von Menschenhand bearbeitete Gegenstände aus der Steinzeit finden. Dabei ist es ein großer Vorteil, dass es im Altai so sibirisch ist, wie man es sich nur vorstellen kann, denn die Kälte konserviert die Funde besonders gut. Seit Svante Pääbo, ein paar Kollegen und ich Anfang 2010 in die Region kamen, um Derevjanko zu treffen, weiß ich, dass auf der Haut bei 42 Minusgraden Eiskristalle wachsen können.

Im Leipziger Labor durchlief der Fingerknochen aus dem Altai das zigfach geübte Verfahren. Dabei wird ein kleines Loch in den Knochen gebohrt, der gewonnene Knochenstaub kommt in eine spezielle Flüssigkeit, in der sich schließlich die DNA-Moleküle aus dem Puder lösen. Viele Versuche hatten wir in diesem Fall nicht, denn wir konnten nur zehn Milligramm Knochenpulver extrahieren, das entspricht einem Brotkrümel. Wir gingen davon aus, es mit einem gewöhnlichen Knochen eines modernen Menschen zu tun zu haben, vielleicht auch mit dem eines Neandertalers. Plötzlich aber spuckte die Sequenziermaschine Ergebnisse aus, mit denen ich zunächst nichts anfangen konnte. Die DNA passte weder zu der des modernen Menschen noch zu der des Neandertalers. Eilig trommelte ich unser Team zusammen, um die rätselhaften Ergebnisse zu präsentieren. »Welchen Fehler habe ich gemacht«, fragte ich. Zusammen gingen wir die Daten wieder und wieder durch. Doch am Ende war klar: Ich hatte mich nicht geirrt. Als ich später meinen Chef anrief, bat ich ihn, sich kurz zu setzen. »Svante, ich glaube, wir haben den Homo erectus gefunden.« Der Homo erectus ist der gemeinsame Vorfahre von modernem Menschen und Neandertaler, von ihm gibt es bislang keine entschlüsselte DNA. Wir wären, so dachte ich damals, also die Ersten, denen das gelang.

3 Die Denisova-Höhle im sibirischen Altai-Gebirge, in der die Fingerknochen des Denisovaner-Mädchens gefunden wurden. In dieser Höhle lebten auch frühe moderne Menschen und Neandertaler.

Was hatten wir in der DNA des Fingerknochens gesehen? Sie unterschied sich auf doppelt so vielen Positionen vom Erbgut heutiger Menschen wie die DNA des Neandertalers von der unseren. Das musste heißen, dass der Mensch aus der Denisova-Höhle und der Neandertaler schon länger getrennte evolutionäre Wege gingen als Neandertaler und moderner Mensch. Unsere damaligen Berechnungen legten nahe, dass sich vor etwa einer Million Jahren aus dem Homo erectus in Afrika zwei getrennte Linien entwickelten. Aus der einen entstanden Neandertaler und moderner Mensch, die andere entwickelte sich in Asien zum Denisova-Menschen weiter. Und das warf vieles von dem, was bisher als gesicherte Erkenntnis der evolutionären Forschung gegolten hatte, über den Haufen, unter anderem die Gewissheit, dass vor 70 000 Jahren neben frühem modernen Mensch und dem Neandertaler keine weiteren Urmenschenformen auf dem Planeten lebten.

Die Daten führten uns aber in die Irre, was wir jedoch damals noch nicht wussten. Und so erzählten wir in unserer ersten Denisova-Publikation, die im März 2010 in der Nature – dem heiligen Gral der Fachzeitschriften – erschien, eben diese Geschichte. Über mich brach sofort die Welt herein, ich erinnere mich noch, wie mehrere Kamerateams gleichzeitig in unserem Labor standen. Eine Woche lang gab ich durchgehend Telefoninterviews zur Entdeckung des »Denisovaners«, wie wir unseren Urmenschen getauft hatten. Doch schon nach wenigen Wochen hegten wir erste Zweifel, ob mit den Daten, die wir gerade publiziert hatten, alles stimmte. Oder besser gesagt: ob wir sie richtig interpretiert hatten.

Halb Schrott, halb Bauplan

Wenn wir von den Genen des Menschen reden und damit das Genom meinen, ist das wissenschaftlich eigentlich nicht korrekt – nur ein sehr geringer Teil der 3,3 Milliarden Basenpaare unseres Genoms sind Gene. Diese zwei Prozent sind dafür zuständig, Proteine zu codieren, sind also die Pläne für rund 30 Billionen Zellen, die Bausteine unseres Körpers.7 Nur etwa 19 000 Gene hat der Mensch insgesamt, und das ist eine erstaunlich geringe Zahl. Eine Amöbe, also ein winziger Einzeller, hat 30 000 Gene, eine gewöhnliche Kiefer mehr als 50 000. Die Zahl der Gene allein ist aber nicht ausschlaggebend dafür, wie komplex ein Lebewesen ist. Denn bei Organismen mit Zellkern können Informationen aus einem Gen zu unterschiedlichen Bausteinen kombiniert werden, das Gen ist nicht zwingend nur für eine Funktion im Körper zuständig. Bei primitiveren Lebewesen, zum Beispiel Bakterien, wird hingegen aus einem Gen meist nur ein Baustein gebildet, der in der Regel auch nur eine Aufgabe übernimmt. Man könnte auch sagen, dass die Gene der Menschen, aber auch der meisten Tiere, ein sehr kleines Team mit extrem gutem Teamplay sind.

50 Prozent des menschlichen Genoms sind – wie bei einer viel zu großen Festplatte – mit Schrott belegt, also mit DNA-Sequenzen, die keinen für uns sichtbaren Zweck erfüllen. Neben den Genen spielen die molekularen Schalter eine wichtige Rolle, sie machen ungefähr zehn Prozent der äußerst komplexen Genomstruktur aus. Diese Schalter werden durch »Transkriptionsfaktoren« aktiviert und deaktiviert und sorgen dafür, dass jeder Teil des Körpers die richtigen Proteine herstellt – und sich etwa die Zellen in der Fingerkuppe nicht für Magenzellen halten und Säure produzieren. Denn grundsätzlich enthalten alle Zellen eines Menschen die gleichen Informationen, aus denen die relevanten erst einmal herausgefiltert werden müssen.

Für die Archäogenetik ist das Phänomen der nutzlosen Genombestandteile Gold wert, denn nur dank ihnen kann die sogenannte genetische Uhr funktionieren. Die Wissenschaftler messen Mutationen im gesamten Genom und leiten daraus ab, wann sich zum Beispiel zwei Populationen aufspalteten – je länger dieser Zeitpunkt zurückliegt, desto mehr Differenzen haben sich in der DNA angesammelt. Bestünde das gesamte Genom aus Genen, würde die Zahl der Differenzen, also Mutationen, nicht von der Dauer der Trennung abhängen, sondern davon, wie stark sich die Umwelt beider Populationen unterscheidet. So haben Afrikaner in einigen Genen weniger Veränderungen als die Nachfahren der Menschen, die aus Afrika auswanderten. Das liegt daran, dass sich die Gene der Auswanderer an neue äußere Bedingungen anpassen mussten, diejenigen der Afrikaner hingegen nicht oder zumindest nicht so stark. Trotzdem finden sich in den Genomen heutiger Afrikaner, außerhalb der zwei Prozent Gene, in etwa so viele Mutationen wie bei allen anderen Menschen auf der Welt. Der Grund: Im großen »Schrott-Anteil« des Genoms gibt es wie in den Genen Mutationen, aber eben kaum positive oder negative Selektion. Seit unseren letzten gemeinsamen Vorfahren haben sich in jedem von uns im gleichen Maße Mutationen angesammelt. Die genetische Uhr funktioniert also immer – egal, wie sehr sich die eigentlichen Gene von zwei miteinander zu vergleichenden Populationen auseinanderentwickelten.

Die Mutter aller Gene

Die Zweifel an unserer Interpretation der Denisovaner-DNA waren, das wissen wir heute, berechtigt. Der Weg, auf dem wir später die echte, nicht weniger überraschende Geschichte dahinter aufklären konnten, ist exemplarisch dafür, wie rasant sich die Archäogenetik in den zurückliegenden Jahren entwickelte – und wie dabei immer wieder Gewissheiten fielen, die in der Archäologie zum Teil für Jahrzehnte Bestand gehabt hatten. Denn es stellte sich heraus: Gerade weil wir die Daten aus dem Altai falsch gedeutet hatten, konnten wir einen noch größeren Trugschluss der Urmenschenforschung aufdecken. Die DNA des asiatischen Denisova-Menschen gewährte uns – indirekt, aber eindeutig – einen völlig neuen Blick auf die Besiedlung Europas durch den modernen Menschen. Und wir erfuhren, dass er hier schon vor Hunderttausenden Jahren auf den Neandertaler traf. Und Sex mit ihm hatte.

Um den Stammbaum des Denisova-Mädchens zu rekonstruieren, nutzten wir für die erste Publikation die DNA der Mitochondrien, die auch als Kraftwerke der Zellen bezeichnet werden. Die mitochondriale DNA, kurz: mtDNA, ist nur ein winziger Bruchteil unseres Genoms. Während heute die Sequenzierung der viel umfangreicheren und relevanteren Kern-DNA Standard ist, griff man vor 2010 zumeist auf die mtDNA zurück, um ganz erheblich Zeit und Kosten zu sparen.8 Zwar liefert die mtDNA keine sehr detailreichen Ergebnisse, doch eignet sie sich gut für die Erstellung von Stammbäumen. Zum einen erben alle Menschen ihre mtDNA ausschließlich von ihren Müttern, zum andern kommt recht zuverlässig im Schnitt alle 3000 Jahre eine Mutation in der mtDNA hinzu, die an die Folgegeneration weitergegeben wird – über die Dauer von 3000 Jahren wird also in weiblicher Linie identische mtDNA vererbt. Vergleicht man die mtDNA zweier Individuen, kann man berechnen, wann ihre letzte gemeinsame Vorfahrin lebte – man spricht dabei von der »genetischen Uhr«. Die mtDNA heute lebender Menschen führt auf eine einzige Vorfahrin zurück, eine »Urmutter«. Sie lebte vor rund 160 000 Jahren und wird in der Genetik die »mitochondriale Eva« genannt. Es gibt auch das Gegenstück, den »Ur-Adam«, auf den die von Vater zu Sohn weitergegebenen Y-Chromosomen zurückgehen. Allerdings lebte Adam fast 200 000 Jahre vor der Ur-Eva, die beiden waren also mit Sicherheit kein Paar.9

Dass wir bei der ersten Denisova-Publikation nicht auf die Sequenzierung der Kern-DNA warten wollten, hatte einen einfachen Grund. Anatoli Derevjanko hatte außer uns auch noch einem weiteren Labor ein Stück Fingerknochen zukommen lassen, und wir befürchteten, die Kollegen könnten uns mit einer Publikation zuvorkommen. Normalerweise ist ein solches Vorpreschen auch kein Problem, denn sowohl aus der mt- wie auch aus der Kern-DNA lässt sich die genetische Uhr ablesen.10 Die Kern-DNA vertieft also die Erkenntnisse aus der mtDNA erheblich, widerspricht ihr aber in der Regel nicht. Genau das aber war beim Denisova-Mädchen der Fall, denn die Kern-DNA zeigte einen völlig anderen Stammbaum. Demnach spalteten sich die Denisovaner nicht von den gemeinsamen Vorfahren von modernem Menschen und Neandertaler ab, also dem Homo erectus, sondern, sehr viel später, von der Linie des Neandertalers. Die neuen Daten besagten also, dass sich zuerst eine Linie von den Vorfahren der heutigen Menschen trennte, um sich später in Neandertaler und Denisovaner aufzuspalten. Die Vorfahren des modernen Menschen zogen nach Europa, die andere Form gen Asien. Das kam dem, was wir heute wissen, schon recht nahe. Eine relevante Korrektur fehlte noch, auf sie sollten wir aber noch sechs Jahre warten müssen.

Aufgelöst wurde der Widerspruch zwischen mt- und Kern-DNA durch einen Urmenschen-Fund in der nordspanischen Sima de los Huesos (übersetzt »Knochenloch«). Genetisch untersucht wurde er 2016 von der Arbeitsgruppe Svante Pääbos, die Knochen waren etwa 420 000 Jahre alt und konnten anhand ihrer Kern-DNA einem Neandertaler zugeordnet werden. Der Clou: Bis dahin ging man davon aus, dass es zu dieser Zeit noch gar keine Neandertaler in Europa gab. Denn bei allen Neandertalerknochen, die man bis dahin untersucht hatte, wurde auf Grundlage der mtDNA berechnet, dass sich diese Menschenform vor maximal 400 000 Jahren von unseren Vorfahren in Afrika abgespalten hatte. Der spanische Fund zeugte nun von einer viel früheren Einwanderung11 und somit auch davon, dass an den alten Berechnungen etwas nicht stimmte. Außerdem stand in der Publikation, dass die mtDNA des spanischen Neandertalers nicht mit jener übereinstimmte, die man von anderen, sehr viel späteren Neandertalern kannte. Dafür ähnelte die mtDNA des Spaniers aber jener des Denisova-Mädchens. Und das war der entscheidende Hinweis.

Der Trugschluss in der ersten Denisovaner-Publikation entstand, das wurde nun plötzlich deutlich, weil wir die mtDNA der späteren Neandertaler als Referenz nahmen, die aber offenbar gar nicht mehr jener des Ur-Neandertalers entsprach. Die jüngeren Individuen hatten anscheinend, irgendwann nach der Lebenszeit des spanischen Neandertalers, eine andere mtDNA in ihr Erbgut aufgenommen – und zwar von einem frühen modernen Menschen, besser gesagt, von einer frühen modernen Frau. Ein Neandertaler hatte sich in Europa oder im angrenzenden Nahen Osten mit dieser Frau gepaart, daher deutete die mtDNA auf eine engere Verwandtschaft von späteren Neandertalern und modernen Menschen. Die Denisovaner in Asien blieben hingegen unter sich – zumindest zeigen sie für die Zeit des Denisova-Mädchens keine genetischen Spuren einer Vermischung – und konservierten in der mt- und Kern-DNA die relativ enge Verwandtschaft zum Ur-Neandertaler. Mit dem neuen Wissen passten nun die Daten aus mt- und Kern-DNA perfekt zusammen. Nur der bislang bekannte Zeitstrahl der Aufspaltungen im menschlichen Stammbaum musste noch etwas angepasst werden. So dürften sich Neandertaler und Denisovaner bereits vor einer halben Million Jahren voneinander getrennt haben und nicht, wie zunächst angenommen, vor 300 000. Die Abspaltung der gemeinsamen Linie von Neandertaler und Denisovaner vom modernen Menschen wiederum muss vor etwa 600 000 Jahren stattgefunden haben statt vor 450 000.

Die Entdeckung, dass der Denisovaner die mtDNA des Ur-Neandertalers in sich trug und die späteren Neandertaler sich dem modernen Menschen angenähert hatten, bewegte mich nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch persönlich. Einer der Gründe, warum ich mich überhaupt für Urmenschen begeistere, hat mit der Geschichte meiner Heimatstadt Leinefelde im thüringischen Eichsfeld zu tun. Dort, nur wenige Straßen entfernt von meinem Elternhaus, wurde nämlich Johann Carl Fuhlrott, der Entdecker des Neandertalers, geboren. Als Heranwachsender war Fuhlrott für mich ein Idol. Dass ich eines Tages sein Werk ein wenig ergänzen könnte, hatte ich mir damals nicht einmal erträumt.

4 Die Nachbildung eines Neandertalers im Neanderthal Museum in Mettmann. Die meisten heute lebenden Menschen tragen Gene dieses Urmenschen in sich, wenn auch nur zu etwa zwei Prozent.

Die wilden Jahre sind vorbei

Die Entdeckung des Denisovaners und die Neuentdeckung des Neandertalers zeigen, wie rasant sich die Archäogenetik in jüngster Zeit entwickelte und wohl auch weiter entwickeln wird. Die Wissenschaft ist, auch wenn sie gerade erst in Schwung kommt, den Kinderschuhen entwachsen. Oder besser gesagt: Sie hat die Pubertät hinter sich gelassen. Denn zur Geschichte dieses jungen Forschungszweigs gehört auch eine wilde Phase, in der aus einer manchmal irrationalen Fortschrittsbegeisterung heraus hanebüchene Studien veröffentlicht wurden. Diese waren auch der Grund, warum viele Genetiker bis vor wenigen Jahren Zweifel hegten, ob man alte DNA überhaupt jemals zuverlässig entschlüsseln könnte. Die überschießende Euphorie, die erst recht die Skeptiker auf den Plan rief, hatte auch ein bisschen mit einem der größten Kinoerfolge Steven Spielbergs zu tun.

Die wenigsten Knochen sind für eine Sequenzierung geeignet, denn dafür muss die DNA gut erhalten sein. Strahlung, Wärme und Feuchtigkeit sind ihre größten Feinde, und der allergrößte ist die Zeit. Je länger ein Knochen liegt, desto weniger wahrscheinlich ist es, in ihm brauchbare DNA zu finden. Irgendwelche DNA hingegen lässt sich immer aufspüren. Sie stammt von Bakterien, die den herumliegenden Knochen besiedeln, von Archäologen, die ihn ausgegraben haben, und von allen, die jemals auch nur in seine Nähe kamen, zum Beispiel in einem Museum. DNA verteilt sich ähnlich effektiv wie Sand in einem Ferienhaus am Meer, nämlich unaufhörlich und bis in die letzten Winkel. Die DNA zum Beispiel, die Svante Pääbo in den Achtzigern aus seiner Mumie entnahm, kam – das ist heute so gut wie sicher – nicht etwa aus Ägypten, sondern aus Schweden, nämlich von ihm selbst.

Trotz allem brach in den Neunzigern eine wahre Welle von DNA-Sequenzierungen los. Das Thema war publikumswirksam und damit ein vielversprechendes Forschungsthema, spätestens seit große Teile der Öffentlichkeit glaubten, man könne aus alten Mücken in Bernstein Dinosaurier zum Leben erwecken – weil es Spielbergs Jurassic Park so darstellte. Vieles, was damals an alter DNA sequenziert wurde, war nicht das Papier wert, auf dem die zugehörigen Studien gedruckt wurden. Meistens handelte es sich um kontaminierte Fossilien, und selbst bei den am sorgfältigsten behandelten Proben ließ sich zumindest nicht ausschließen, dass sie mit DNA von Bakterien und Forschern verunreinigt war. Zwar gab es bereits Ende der achtziger Jahre wissenschaftliche Kriterien für die Authentizität alter DNA, doch wurden diese von vielen Forschern nicht berücksichtigt.

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