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Johannes Krause

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Beschreibung

Die Menschheit am Scheideweg: Hat unsere Spezies eine Zukunft?  In atemberaubendem Tempo haben die Menschen den Planeten ihren Bedürfnissen unterworfen. Im 21. Jahrhundert stehen sie vor den Scherben ihres Tuns: Die natürlichen Ressourcen erschöpft, die Klimaerwärmung eine tödliche Bedrohung, globale Pandemien eine akute Gefahr. Werden wir auch diese Krise meistern? Die Bestsellerautoren Johannes Krause und Thomas Trappe zeigen, was wir aus der Vergangenheit für unser Überleben lernen können – und welche Gefahren in der zügellosen Kraft des Menschen liegen.

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Das Buch

In atemberaubendem Tempo haben die Menschen den Planeten ihren Bedürfnissen unterworfen. Im 21. Jahrhundert stehen sie vor den Scherben ihres Tuns: Die natürlichen Ressourcen erschöpft, die Klimaerwärmung eine tödliche Bedrohung, globale Pandemien eine akute Gefahr. Werden wir auch diese Krisen meistern? Oder werden wir zu Opfern unseres eigenen evolutionären Erfolgs?

Die Bestsellerautoren Johannes Krause und Thomas Trappe zeigen, was wir aus der Vergangenheit für unser Überleben lernen können – und welche Gefahren in der zügellosen Kraft des Menschen liegen.

Die Autoren

PROF. JOHANNES KRAUSE, geboren 1980, ist Experte für die Entschlüsselung der DNA aus alten Knochen. Er war Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena und ist seit 2020 Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Er arbeitete zusammen mit Svante Pääbo an der Sequenzierung des Neandertalergenoms, 2010 entdeckte er auf Grundlage der DNA eines Fingerknochens den Denisovaner, eine neue Urmenschenform. Heute ist Krause spezialisiert auf DNA-Analysen zur Erklärung historischer Epidemien und menschlicher Wanderungsbewegungen.

THOMAS TRAPPE, geboren 1981, wuchs in Thüringen auf und lebt heute in Berlin. Er ist Redaktionsleiter beim Berliner Tagesspiegel und schreibt vor allem über gesundheitspolitische und wissenschaftliche Themen.

2019 veröffentlichten Krause und Trappe den internationalen Bestseller Die Reise unserer Gene, der inzwischen in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt wurde.

Johannes Krause,Thomas Trappe

Hybris

Die Reise der Menschheit:Zwischen Aufbruch und Scheitern

Propyläen

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ISBN 978-3-8437-2593-4

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021

Karten und Grafik »Stammbaum der Menschen«: Peter Palm, Berlin

Grafik Nachsatz: Klaus Pockrandt, Halle (Saale)

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlaggestaltung: STUDIOEIGHTY / shutterstock

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über die Autoren
Titel
Impressum
PROLOG
KAPITEL 1: Labormenschen
Hol den Neandertaler raus
Vom Machbaren und dem Unmöglichen
Das Frankenstein-Genom
Menschen sind berechenbar
Machen, was geht
KAPITEL 2: Hunger
Essen mit seinesgleichen
Zerfetzt von Hyänen
Älter, als sie aussieht
Die Wüste auf Chromosom 1
Kein Stein der Weisen
Der Reiz der Muschelsammlung
Homo sapiens wird selbstbewusst
KAPITEL 3: Planet der Affen
Gebietsansprüche im Nahen Osten
Die ganz alten Griechen
Klein, gedrungen, überlegen
Der aufrechte Udo aus dem Allgäu
Als das Mittelmeer verschwand
Der wichtigste Schmelztiegel
KAPITEL 4: Apokalypse
Auf nach Spanien
Blackout vor 70 000 Jahren
Explosive Mischung
Nordafrika, ein Todestal
Personalengpässe schaden der Evolution
Alle Brücken abgerissen
Die DNA der Geister
Vom Traum zur Illusion
KAPITEL 5: Durchmarsch
Wenig spontane Dates
Neandertaler hätten gerne geraucht
Schmerzen in Amerika
Neandertalerinnen mit Kinderwunsch
Kultur schlägt Biologie
Unfähig zum Maßhalten
Die Entdeckung Amerikas
Bis ans Ende der Welt
Ende in Tasmanien
KAPITEL 6: Zauberwald
Ein Ort zum Fürchten
Endloser Regen
Die kleinen zähen Hobbits
Zertrümmerter Schädel
Schrumpfen und Wachsen auf der Insel
Eurasien nur Nebenschauplatz
Tödliches Australien
Die mit dem Wolf jagen
Auch Zahmheit ist eine Mutation
Das Vertrauen ist weg
KAPITEL 7: Eliten
Die ersten Bäcker
Bleichgesichter
Die Dominanz der Neuen
Die alten Ägypter bleiben unter sich
Fortbildung bei den Viehzüchtern
Ewiges China
Amerikaner handeln gerne
Der andauernde Niedergang der Wildbeuter
KAPITEL 8: Hinter dem Horizont
Viehtransporter auf hoher See
Inselhopping
Männertausch
Ein fataler Hang zu Statussymbolen
Wo der süße Honig fließt
Mit 15 Kanus nach Neuseeland
Süßkartoffeln mit Hühnchen
Abgeschottet in der Karibik
Die amerikanisch-russische Achse
Fremde Schiffe in der Ferne
KAPITEL 9: Steppenhighway
Außenseiterchancen
Die schöne Mumie und ihr Käse
Zu Pferde und unter der Erde
Invasionen
Nichts zu erben, alles zu gewinnen
Indische Eliten
Verhängnisvolle Mutation
Wer im Osten scheiterte
Triumph am Bosporus
Kanonen und Pathogene
KAPITEL 10: Homo hybris
Ein Panzer aus Pathogenen
Verhoben am Neandertaler
Die pandemische Kraft des Menschen
Die vergebliche Suche nach uns selbst
Ein aufregender Gedanke
Allein im All
Ein fast perfekter Bauplan
Dank
Karte: Besiedlung der Welt durch den modernen Menschen
Karte: Klimakurven
Anmerkungen
Quellen
Quellen der Anhänge
Bildnachweis
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

PROLOG

So fangen Zwanzigerjahre an. Wie sie zuletzt ausgingen, wissen wir, was sie uns dieses Mal bringen, bleibt abzuwarten. In den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts bewegten Kriege, Ideologien, Revolutionen, Wirtschaftskrisen und nicht zuletzt eine Pandemie die Menschheit. Ein Jahrhundert später sind die Vorzeichen nicht sehr viel besser: Zerstörte zu Beginn des 21. Jahrhunderts »9/11« jäh den bis dahin mancherorts gehegten Traum vom Ende weltpolitischer Konflikte, folgten immer neue Krisen, die die vorangegangenen in ihrer Dramatik wieder und wieder zu überbieten schienen. Finanz- und Weltwirtschaftskrise, die Terrorjahre des »Islamischen Staates«, globale Flüchtlingsströme und schließlich die von Selbstzweifeln und Zersetzungserscheinungen heimgesuchten Demokratien. Am Ende der Zehnerjahre schließlich mobilisierte eine ganze Generation die Angst, ja Panik vor dem »Klimakollaps«. Doch selbst diese Furcht vor dem Auslöschen der eigenen Existenzgrundlagen trat wenig später in den Hintergrund: Ein winziges Virus, ohne eigenen Willen und schon gar nicht versehen mit einem höheren Zweck, vermochte es, mehr als ein Jahr lang den Planeten lahmzulegen und nahezu jedes über basale Notwendigkeiten hinausgehende gesellschaftliche Leben zum Erstarren zu bringen. Was für eine Zeit, um am Leben zu sein. Und was für eine Zeit, um die Grundlagen der eigenen Existenz zu fürchten. Die Menschheit, sie hat einen veritablen Kater – nur wird der nicht einfach so verschwinden mit ein paar Aspirin-Tabletten.

Der Klimawandel, der Eintritt ins pandemische Zeitalter, die Überbevölkerung, der drohenden Kollaps von ganzen Ökosystemen, die Gefahren globaler kriegerischer Auseinandersetzungen: Die Problempalette, der sich die Menschheit zu Beginn dieses neuen Jahrzehnts gegenübersieht, ist schier unüberschaubar. Aber wer, wenn nicht wir, könnte sie lösen? Diese unglaubliche Spezies, die auf dem Mars Hubschrauber fliegen lässt und dort sogar Sauerstoff herstellt. Der es gelingt, immer mehr Menschen zu ernähren, ihnen Zugang zu Bildung zu gewährleisten, zu sauberem Trinkwasser, zu medizinischer Versorgung.

Wir sind ohne Zweifel das intelligenteste Wesen, das dieser Planet jemals hervorbrachte. Wir verstehen inzwischen, was die Welt zusammenhält, wie sie entstand und wie sie in ein paar Milliarden Jahren zusammen mit unserer Sonne wahrscheinlich in einem riesigen Feuerball verschwinden wird. Wir halten uns für allwissend und allmächtig und stehen dabei fast ohnmächtig vor der Aufgabe, dem selbstzerstörerischen Trieb zu entfliehen, der in unserer DNA hoffnungslos verankert zu sein scheint. Einem Mechanismus, der uns förmlich zwingt, zu expandieren, zu verbrauchen, die uns umgebenden Ressourcen bis zur Erschöpfung aufzusaugen.

Dieser genetische Bauplan war die Voraussetzung dafür, dass wir werden konnten, was wir geworden sind. Es gibt nur ein Problem: Der fantastische Plan hat einen kleinen Fehler. Denn auf planetare Grenzen ist er nicht ausgerichtet. Jetzt, da wir das erste Mal nach Millionen Jahren Evolution unleugbar an diese Grenze stoßen, drängt sich eine Frage auf, deren Antwort noch gefunden werden muss: Befähigt uns unsere DNA auch dazu, mit dem zu leben, was uns gegeben ist, ohne jede Möglichkeit zur Expansion? Oder sind wir genetisch dazu verdammt, so lange weiterzurennen, bis unserer Spezies die Luft ausgeht?

Dieses Buch ist keines über den unaufhörlichen Aufstieg des Menschen. Genauso wenig soll es aber eines sein über unseren unvermeidbaren Untergang. Es ist eine Erzählung über eine ganz besondere Tierart, die durch das Zusammenspiel unzähliger Zufälle in mörderischem Tempo an die Spitze der Evolution vorstieß, um schließlich den Planeten bis in die letzten Winkel zu beherrschen und an den eigenen Bedürfnissen auszurichten. Diese einmalige Karriere begann vor nicht allzu langer Zeit, nachdem sich zuvor ein gescheiterter Anlauf an den nächsten gereiht hatte. Zahllose evolutionäre Wege führten, seit menschliche Linien sich vom gemeinsamen Vorfahren mit den Schimpansen und den Bonobos abzweigten, in die Sackgasse. Und nur einer von ihnen zu uns.

In dieser Erzählung wird es um die ersten Menschen gehen, die stets aufs Neue versuchten, von Afrika aus die Welt zu besiedeln. Immer wieder misslang es, sei es wegen des Klimas, aufgrund von verheerenden Naturkatastrophen oder wegen der Urmenschen, die Europa und Asien fest im Griff hatten. Wir zeichnen die rasante Ausbreitung des modernen Menschen – des Homo sapiens – bis nach Amerika und Australien nach und den gleichzeitigen Niedergang nicht nur anderer Menschenformen, sondern fast der gesamten Großfauna in dieser Zeit. Wir sehen, wie der Mensch den Wolf zähmt und der Mensch zum größten Feind des Menschen wird. Bis auf die entlegenste Osterinsel begleiten wir unsere lebenshungrigen Vorfahren, die dort vorwegnahmen, was uns heute allen droht: die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen. Schließlich schauen wir auch wieder auf Eurasien, wo in einem langen Kampf die späteren Herrscher der Welt auserkoren wurden, deren schlimmste Gegner später ihre gefährlichsten Begleiter und wirkungsvolle Waffen werden sollten: tödliche Krankheitserreger, die den Lauf der Geschichte immer wieder beeinflussten. Bis der Mensch schließlich im 21. Jahrhundert zu der Überzeugung gelangte, auch diese Geißel besiegt zu haben – und eines Besseren belehrt wurde.

Der Mensch kann alles, und er sollte nichts für gegeben nehmen: Das ist die Botschaft der folgenden Seiten. Geschrieben wurden sie von dem Archäogenetiker Johannes Krause, Direktor des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig, und dem Journalisten Thomas Trappe. Krause war 2010 maßgeblich an der Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms beteiligt, wenig später identifizierte er aus einem 70 000 Jahre alten Fingerknochen aus Sibirien die DNA einer bis dahin unbekannten Menschenform: des sogenannten Denisovaners, dem asiatischen Cousin des Neandertalers. Anschließend gehörte Krause zu den Begründern des Forschungszweigs der Archäogenetik, der immer mehr Details, aber auch grundstürzende neue Erkenntnisse über die Geschichte der Menschheit zutage fördert.1 Und je mehr Puzzleteile zusammengesetzt werden, desto deutlicher wird: Unsere Evolution gleicht zwar einem unaufhaltsamen Aufstieg, ist aber ebenso durchsetzt von fortwährenden Rückschlägen.

Es ist ein erklärtes Anliegen der beiden Autoren dieses Buches, dem Hochglanzbild, das viele Menschen sich von der Vergangenheit ihrer eigenen Spezies machen, ein paar formidable Kratzer zuzufügen. Und damit die Frage in den Vordergrund treten zu lassen, wie es gelingen kann, das 21. Jahrhundert zu einem neuen Kapitel des Erfolgs, nicht des Scheiterns zu machen. Auch wir kennen die Lösung nicht. Aber wir können uns dem Problem annähern. Einem Problem, das seine Wurzeln auch in unserer DNA hat und nicht ohne Grund zum Bestandteil selbiger geworden ist. Einer DNA, der wir – anders als alle anderen Spezies – aber nicht machtlos unterworfen sind. Oder es zumindest nicht sein müssen.

Ein Buch über die Menschheitsentwicklung kann diese unter einem neuen Blickwinkel erzählen und interpretieren – auf keinen Fall aber den Anspruch der Exklusivität erheben. Die Geschichte, die wir hier ausrollen, stützt sich zu einem großen Teil auf Arbeiten internationaler Wissenschaftler: Aufgeführt werden diese im Quellenverzeichnis des Buches, in aller Regel aber nicht im Text. Dies soll nicht ihren Beitrag zum neu gewonnenen Wissen schmälern, sondern dient schlicht dem leichteren Lesefluss. Fast überflüssig zu erwähnen ist, dass auch bei den Forschungsarbeiten, die in den von Johannes Krause mitgeleiteten Instituten – bis 2020 das Max-Planck-Institut (MPI) für Menschheitsgeschichte in Jena und seitdem das MPI für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig – stattfanden, sehr viele Kolleginnen zentrale Arbeit leisteten, ohne die dieses Buch nicht denkbar wäre. Das Gleiche gilt für alle jene Forschenden, die in den zurückliegenden Jahrzehnten grundlegende Erkenntnisse zur menschlichen Evolution formulierten, die bis heute Bestand haben und gelegentlich durch neue genetische Daten nur noch untermauert werden können. Auch auf ihre Schultern stellen wir uns.

Den Ritt durch die Menschheitsgeschichte werden wir beginnen mit dem ältesten entschlüsselten Genom eines modernen Menschen, dessen DNA im Frühjahr 2021 von einem Team des Leipziger MPI publiziert wurde. Doch bevor wir unsere Vorfahren bei der unglaublichen Reise begleiten, die in Afrika ihren Ausgang nahm und rasant ins Heute führte, schauen wir kurz jener Wissenschaft über die Schulter, der wir unser neues Wissen überhaupt erst verdanken. Was führte uns zu diesem Gipfel, von dem wir gerade auf die Welt schauen und von dem wir nicht wissen, ob wir am Ende von ihm stürzen? Warum waren wir es, und nicht andere Menschenaffen, die eine Zivilisation gründeten? Fragen, auf die Forschende in der Archäogenetik mit einem besonderen Ansatz Antworten zu finden versuchen. Dafür schauen sie nicht in die Hirne der Menschen. Sondern sie bauen neue kleine Gehirne. Und zwar die eines alten Bekannten, der im Rennen um die Krone der Schöpfung vor einigen Tausend Jahren den undankbaren zweiten Platz errang: des Neandertalers.

KAPITEL 1

Labormenschen

Ein kurzer Ausflug in die fantastische Welt der Archäogenetik: Um unser Hirn besser zu verstehen, bauen wir das des Neandertalers nach. Und warum eigentlich nicht gleich einen kompletten Neandertaler, oder den Homo erectus?

Hol den Neandertaler raus

Einer der Orte, an denen man sich dem Wesen des ausgestorbenen Neandertalers nähert, indem man Teile von ihm wieder zum Leben erweckt, ist das Leipziger MPI für Evolutionäre Anthropologie. Das Institut ist weltweit führend bei der genetischen Erforschung des Neandertalers, dem nächsten Verwandten des Menschen. 2010 veröffentlichte ein Team um Svante Pääbo, einer der Institutsdirektoren, nach jahrelanger Sequenzier- und Forschungsarbeit das Genom der vor rund 40 000 Jahren verschwundenen Neandertalerinnen – nahezu sämtliche Genome, die bislang entschlüsselt werden konnten, stammen von weiblichen Vertretern. Eine der wichtigsten Erkenntnisse war damals, dass die Neandertaler gar nicht ausgestorben waren, sondern alle heutigen Menschen nördlich der Sahara Gene dieser Urmenschen in sich tragen – die frühen modernen Menschen sich also mit ihnen vermischt hatten, als sie von Afrika kommend die ganze Welt besiedelten.

Die Spitzenstellung bei der Urmenschen-Forschung hat das Leipziger MPI seitdem mit weiteren Sequenzierungen kompletter Neandertalerinnen-Genome ausgebaut, aber auch mit der Analyse der DNA von Denisovanern. Diese Urmenschenform spaltete sich sehr früh von der Linie des Neandertalers ab und lebte, teils zusammen mit Neandertalern und modernen Menschen, bis vor etwa 50 000 Jahren in Asien. Auch die Denisovaner hinterließen genetische Spuren in heutigen Menschen, nämlich in den Ureinwohnern der Philippinen, Papua-Neuguineas und Australiens, die im Schnitt etwa fünf Prozent Denisovaner-DNA in ihren Genomen tragen. Den entscheidenden Hinweis auf diese bis dahin unbekannte Urmenschenform gab ein rund 70 000 Jahre alter Fingerknochen aus dem russischen Altaigebirge, dessen DNA 2010 am Leipziger MPI entschlüsselt wurde. Bis heute kennen wir keinen Schädel des Denisovaners, geschweige denn ein Skelett – nur die DNA aus kleinsten Knochenteilen, von denen seitdem immer wieder neue in der Denisova-Höhe im Altai auftauchen.

Weit mehr Knochenfunde – sehr viele gut erhaltene Schädel und gelegentlich auch große Teile von Skeletten – gibt es von den Neandertalern: Ihr Genom ist, neben unserem, das am besten erforschte einer Urmenschenform. Dass heute in Leipzig Hirn-Zellen und sogar kleine Organe im Urmenschen-Zustand gezüchtet werden können, fußt auf diesen umfassenden Sequenzierarbeiten und der großen Nähe zum Bauplan des modernen Menschen: Die Unterschiede machen nicht einmal den Bruchteil eines Promilles des ansonsten identischen Genoms aus. Auch von unseren nächsten nicht-menschlichen Verwandten, den Schimpansen und den Bonobos, unterscheiden wir uns im Genom nur zu etwas mehr als einem Prozent – den letzten gemeinsamen Vorfahren hatten diese drei Menschenaffen vor etwa sieben Millionen Jahren.

Die Linien von Neandertalern und Denisovanern auf der einen und die des modernen Menschen auf der anderen Seite trennten sich erst vor rund 600 000 Jahren. Die genetischen Differenzen sind marginal, sorgen aber doch dafür, dass wir einen Neandertaler in seiner Physiognomie und dem Körperbau ganz deutlich von modernen Menschen abgrenzen können. Auf 30 000 Positionen unterscheidet sich die DNA moderner Menschen von jener der Neandertalerinnen, die an diesen Stellen ihres Genoms aussehen wie Schimpansen. Allerdings liegen die meisten dieser Differenzen nicht in den Genen, denn diese machen nur ungefähr zwei Prozent der menschlichen DNA aus. Letztlich sind es lediglich 90 genetische Differenzen, die in den Genomen von Neandertalern und modernen Menschen auch tatsächlich verschiedene Proteine codieren, also für potenziell voneinander abweichende körperliche Merkmale sorgen.

Seit ein paar Jahren ermöglichen es gentechnische Methoden, eine menschliche Zelle an einigen Positionen ihres Genoms in den »Urzustand« zurückzuversetzen, in dem sie sich vor der Aufspaltung von modernen Menschen und Neandertalern befand. Anders gesagt: Im Genom des modernen Menschen werden die evolutionären Schritte rückgängig gemacht, die dieser ging, nachdem er sich von der Linie abspaltete, die zu den Neandertalern führte. Wenn man so will, werden diese Positionen »neandertalisiert«. Das Verfahren ist äußerst mühsam und kleinteilig: Nötig ist dafür eine menschliche Zelle, in deren Erbinformation einige der Gendifferenzen zu den Neandertalerinnen eingearbeitet werden. Ist dieses Werk erst einmal vollbracht, kann die so bearbeitete Zelle in einer Kultur zu einem kleinen Klumpen aus, zum Beispiel, Gehirnzellen anwachsen. Solche Hybridzellen und Zellklumpen kann man derzeit im Leipziger Labor schon besichtigen. Es könnte, so die Hoffnung, der nächste Schritt in der Wissenschaft der evolutionären Genetik sein: DNA-Unterschiede zwischen Ur- und heute lebenden Menschen nicht mehr nur aus alten Knochen auszulesen, sondern an reproduzierten Zellen direkt zu beobachten. Zum Beispiel also zu erkennen, welche Genvarianten uns zum modernen Menschen machen – und den Neandertalern fehlten. Nicht alle Körperzellen taugen als Grundlage für zu neandertalisierende menschliche Zellen. Dafür braucht es Stammzellen, die inzwischen aber problemlos im Labor hergestellt werden können.2 Im Leipziger MPI nutzt man dafür heute menschliche Blutzellen, die anschließend mit dem »Genscherenverfahren« CRISPR/Cas9 genetisch verändert werden.3

Vom Machbaren und dem Unmöglichen

Geht es um die Manipulation menschlicher DNA und die Herstellung hybrider Zellstrukturen, sind die moralischen Implikationen offensichtlich, aber bei Weitem noch nicht zu überblicken, auch nicht für die Wissenschaft. Als ob er den Beweis antreten wollte, dass es auch eine dunkle Seite der Macht über die Gene gibt, verkündete der mittlerweile von der akademischen Bildfläche verschwundene chinesische Wissenschaftler He Jiankui 2018, die Genschere an Embryonen angewendet zu haben. Er begründete diesen molekularbiologischen Eingriff mit dem Ziel, die dabei entstandenen Kinder durch ein modifiziertes Gen gegen eine HIV-Infektion schützen zu wollen. Allerdings publizierte He Jiankui nie eine Studie zu dem Eingriff. Alles, was die großteils entsetzte Wissenschafts-Community sah, war ein öffentlichkeitswirksamer Auftritt auf einem internationalen Kongress. Ein Jahr später kündigte dann der russische Biologe Denis Rebrikov in der Fachzeitschrift Nature an, die Gene von Embryonen editieren zu wollen, um bei den später geborenen Kindern eine angeborene Taubheit zu verhindern. Rebrikov betonte aber, dies nur mit behördlicher Zustimmung zu tun. Von dem geplanten Experiment war seitdem nichts mehr zu hören.

Fälle wie diese zeigen, auf welch schmalem Grat die genetische Forschung derzeit wandelt: Denn selbstverständlich wäre es auch denkbar, mit der Genschere einen menschlichen Embryo zu »neandertalisieren«: Spätestens in zehn Jahren wird die Forschung so weit sein, zahlreiche Stellen im Genom gleichzeitig verändern zu können, auch ohne hochgerüstetes Labor. Forschende ohne Skrupel bräuchten also nicht einmal besonders viel Fantasie, um einen wissenschaftlichen Durchbruch äußerst zweifelhafter Art zu erzielen.

1 Eine aus Gehirnzellen »gezüchtete« Zellkultur. In dieser finden schon biochemische Prozesse statt, die im Labor beobachtet werden können. Von echten Organen sind solche Zellhaufen aber noch weit entfernt.

Am Leipziger MPI wird das Genscheren-Verfahren genutzt, um Zellen zu neandertalisieren – aber eben keine Embryonen. Es geht nicht um die Züchtung von Neandertalern oder Urmenschen, nicht einmal um komplette Organe, sondern nur um Zellhaufen. Denn auch an diesen lassen sich biologische Prozesse beobachten, zum Beispiel die Kontraktionen eines Herzmuskels oder das Wachstum von Hirnzellen sowie deren Interaktionen.

Inzwischen konnten am Leipziger MPI acht Genunterschiede zwischen Menschen und Neandertalerinnen in die gezüchteten Zellkulturen eingebaut werden. Bis zum Bau einer Zellkultur mit allen 90 Genvarianten des Neandertalers wird es aber noch ein paar Jahre dauern. Doch auch hier dürfte sich die exponentielle Beschleunigung, wie wir sie in der Genetik und damit auch der Archäogenetik seit der Jahrtausendwende erlebt haben, fortsetzen. Bis Ende der Zwanzigerjahre sollte es also problemlos möglich sein, nicht nur die 90 genetischen Unterschiede in eine menschliche Zelle einzubauen. Sondern alle 30 000 Positionen, auf denen sich die Neandertaler von uns unterschieden. Das wären dann auch jene Basen im Genom, die keine Proteine codieren – aber trotzdem eine Funktion erfüllen könnten.4

Das Frankenstein-Genom

Die 90 genetischen Unterschiede sind wohlgemerkt nicht die einzigen zwischen Menschen und Neandertalern – sehr wohl aber die einzigen zwischen allen Menschen und allen Neandertalern. Das heißt: Keines der Millionen entschlüsselter Genome heutiger Menschen sieht auf einer der 90 Positionen aus wie das einer Neandertalerin. Sie entwickelten sich also offenbar erst beim modernen Menschen und setzten sich auch durch, als es später wieder zu einer Vermischung unserer Vorfahren mit den Neandertalern kam – offenbar also brauchen wir diese Varianten, oder zumindest einen Teil davon, zum Menschsein. Gleichwohl gibt es aber andere Abschnitte des Neandertalerinnen-Genoms, die die Menschheit bis heute in sich trägt: Im Schnitt weist jeder Mensch außerhalb Afrikas zwei Prozent Neandertaler-DNA auf.5 Bei dem einen sorgen die Neandertaler-Gene für eine besondere Struktur der Haut, bei der nächsten für andere Immungene, und beim Dritten für gar nichts – oder zumindest nichts, was wir erkennen können.

Als 2010 in Leipzig die Entschlüsselung des Neandertalerinnen-Genoms verkündet wurde, ging das eigentlich auf eine Art Frankenstein-Genom zurück, auf einen Mix aus mehr schlecht als recht zu entschlüsselnden Neandertalerinnen, die in einer Höhle in Kroatien gefunden worden waren. Was man damals völlig zu Recht als großen Durchbruch feierte, würde heute wohl kaum für eine Veröffentlichung in einem größeren Journal reichen, betrachtet man die Datengrundlage: Die genetischen Positionen der drei Neandertalerinnen schüttete man in einen Topf und schaute, inwieweit diese sich unterschieden vom Genom des heutigen Menschen, das kaum zehn Jahre zuvor entschlüsselt worden war.6

Das immerhin reichte aber für die anthropologisch wegweisende Erkenntnis, dass alle heutigen Menschen außerhalb Afrikas Neandertaler-Gene in sich tragen, unsere Vorfahren also Sex mit dieser Urmenschenform hatten, und offenbar nicht zu knapp. Trotzdem standen die Forschenden in Leipzig damals noch ganz am Anfang und konnten erst einmal nur ein Schlaglicht auf eine Zeit werfen, die der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis unserer selbst sein könnte. Zu einem Verständnis dafür, warum es die modernen Menschen waren – und eben nicht Neandertaler oder Denisovaner –, die später die ganze Welt besiedelten und sich jede andere Lebensform zum Untertanen machten oder vernichteten.

Inzwischen wurden Dutzende Neandertalerinnen-Genome entschlüsselt, alle am Leipziger MPI. Ständig gibt es neue Publikationen über Belege, dass sich nicht nur Neandertaler mit modernen Menschen paarten, sondern auch moderne Menschen mit Denisovanern und Denisovaner mit Neandertalern. In den zurückliegenden Jahren gab es zu beiden Urmenschenformen beeindruckende Erkenntnisse – aber doch reicht es erst einmal nur, die tief im Genom sitzenden Geheimnisse zu erahnen. Wir mögen den Bauplan des Neandertalers mit all seinen Basen vor uns haben. Es bleibt aber nur ein Bauplan. Der macht ihn nicht greifbar. Um den Neandertaler noch besser zu verstehen, bräuchte man daher: einen lebenden Neandertaler.

Aus eins mach zehn

Wie in der Anfangsphase der Archäogenetik waren es in den Zehnerjahren eher kleinere technische Innovationen, die es ermöglichten, immer tiefer in die Urmenschen-DNA und damit die Vergangenheit einzutauchen. Meist sind es recht einfach anmutende Tricks, mit denen man in der Archäogenetik vorankommt. So entwickelte man am Leipziger MPI ein Verfahren, bei dem nicht nur aus der DNA-Doppelstrangstruktur Informationen ausgelesen werden können, sondern auch aus Einzelsträngen, die nach Jahrtausenden immer noch vorliegen. Mit der Methode kann die gewonnene DNA-Menge teils um den Faktor zehn erhöht werden, was es ermöglicht, besonders alte Knochen zu sequenzieren, bei denen der Großteil der Erbinformationen schon verschwunden ist. Auf diese Weise glückte etwa die Sequenzierung der bis heute ältesten entschlüsselten Neandertaler, die vor etwa 420 000 Jahren in der Sima de los Huesos (deutsch: Knochenschlund) in Spanien lebten. Auch bei dem Überrest, mit dem die Denisovaner entdeckt wurden, kam dieses Verfahren zum Einsatz. Auch deswegen war es möglich, aus der Winzigkeit eines 70 000 Jahre alten Fingerknochen ein hochqualitatives Genom einer etwa 12-jährigen Denisovanerin zu rekonstruieren.

Eine weitere Errungenschaft der Archäogenetik in den zurückliegenden Jahren war die Berechnung von Abstammungslinien. Durch den Vergleich von Urmenschen-DNA und des Erbguts heutiger Menschen versteht man immer besser, wann sich welche menschlichen Linien auf- und abspalteten. Dafür schaut man einfach mithilfe der »genetischen Uhr« oder auch »molekularen Uhr« auf die Zahl von Genmutationen in sequenzierten Genomen. Je mehr dieser genetischen Differenzen sich finden, desto länger liegt die Aufspaltung zurück.7 So lassen etwa die genetischen Unterschiede zwischen Schimpansen und allen Menschenformen auf einen letzten gemeinsamen Vorfahren vor etwa sieben Millionen Jahren schließen. Die gemeinsamen Ur-Eltern von modernen Menschen, Neandertalern und Denisovanern lebten vor etwa 600 000 Jahren, Neandertaler und Denisovaner trennten sich dann vor rund 500 000 Jahren. Und auch die Vermischungen zwischen den verschiedenen Urmenschen hätten sich allein mit den Mitteln der klassischen Paläoanthropologie wohl nie ermitteln lassen. Dank der Archäogenetik können wir sie heute im Genom jedes Menschen lesen.

Menschen sind berechenbar

Unsere ausgestorbenen Verwandten zum Leben zu erwecken ist bislang nicht mehr als ein Gedankenspiel. Was aber eben nicht heißt, dass es nicht eines Tages genau solche Versuche geben könnte. So etwas wäre dann aber keine Weiterentwicklung der Organzell-Forschung, sondern eine Pervertierung der Technik. Die Zellklumpen, die im Leipziger MPI gezüchtet werden, sind zwar so etwas wie mikrobiologische Vorläufer von Organen mit Neandertalerinnen-DNA, könnten sich aber nicht mal ansatzweise zu kompletten Organen weiterentwickeln, geschweige denn Bestandteil eines Organismus werden, in den man das Organ verpflanzt.8 Trotzdem sind die Zellkulturen für die archäogenetische Forschung von unfassbarem Wert und könnten zum nächsten großen Durchbruch in der Neandertalerforschung führen. Dann nämlich, wenn zelluläre Prozesse dieser Urmenschen nicht mehr theoretisch hergeleitet, sondern direkt beobachtet werden können.

Wie leistungsfähig etwa ist das Herz des Neandertalers im Vergleich zu dem des Menschen? Welche Stoffwechselprozesse leistet die menschliche Leber, die des Neandertalers hingegen nicht – verträgt eine Neandertalerin Alkohol? Oder, und das ist natürlich die ganz große Frage, spielen sich in unserem Hirn andere Prozesse ab als bei der ausgestorbenen Menschenform, können wir zum Beispiel schneller neuronale Vernetzungen bilden? Die Grundannahme dabei kann kaum überraschen: dass irgendwann seit der Trennung von Menschen und Neandertalern in den Hirnen unseren Vorfahren Veränderungen stattfanden, die uns dazu brachten, die Welt zu dem zu machen, was sie heute ist. Die pure Masse unserer Schaltzentrale, so viel ist klar, kann es jedenfalls nicht sein. Das Neandertalergehirn nämlich wiegt im Schnitt 250 Gramm mehr als das des modernen Menschen.

Dass die Idee, Neandertaler zum Zwecke ihrer Erforschung wieder auferstehen zu lassen, nicht völlig theoretisch ist und sicher auch in manch einem Labor zumindest diskutiert wird – wohl eher beim zweiten Glas Wein als beim ersten Kaffee –, bewies vor ein paar Jahren George Church. Der Harvard-Forscher ist ein Pionier der DNA-Sequenzierung, war zur Jahrtausendwende maßgeblich am Human Genome Project beteiligt und rief 2006 das Personal Genome Project ins Leben, in dem möglichst viele Genome von Menschen zu medizinischen Forschungszwecken sequenziert werden sollten. Kurz: Unter Genetikern gilt Church als Referenzgröße.

Allein deshalb lohnt der Blick auf die andere große Idee, die Church 2012 unter anderem in seinem Buch »Regenesis« skizzierte: Er schlug darin vor, Neandertaler zu züchten. Die wichtigste Grundlage, sagte Church damals, sei mit der Sequenzierung des Neandertalerinnen-Genoms gelegt worden. Im nächsten Schritt könnte das Genom in Tausende Einzelteile zerlegt werden, um dann Schritt für Schritt immer mehr Neandertalerinnen-Gene in eine menschliche Stammzell-Linie zu übertragen. Heraus käme am Ende ein »Neandertal-Klon«, sagte Church, der gleichzeitig betonte, dass für ein solches Verfahren eine gesamtgesellschaftliche Debatte nötig sei. Der Nutzen jedenfalls läge auf der Hand, so Church weiter: Eine höhere »Diversität« der menschlichen Gemeinschaft, die ein Vorteil sei für das Überleben jeder Art, also auch des Menschen.

Church unterstellte dabei nicht, dass die modernen Menschen zwingend intelligenter sein müssten als die Neandertaler – deren größeres Hirnvolumen könnte auch auf das Gegenteil hindeuten. Gehe es für die Menschheit eines Tages darum, »mit einer Epidemie klarzukommen, den Planeten zu verlassen oder was auch immer«, könne die »Denkweise« der Neandertaler »von Vorteil sein«, so Church in einem Spiegel-Interview. Wären die Neandertaler also, hätten sie im evolutionären Wettlauf nicht den Kürzeren gezogen, die besseren Wissenschaftler geworden? Würden sie sich heute nicht damit begnügen, Zellen ausgestorbener Urmenschen zu rekonstruieren – sondern hätten auch weltweite Seuchen, Antibiotikaresistenzen und den Klimawandel besiegt? Oder hätten gar nicht erst den Pfad beschritten, der zu all diesen Problemen führte? Fragen, die man den Neandertalern am besten selbst stellen sollte, denkt man Churchs Vision zu Ende.

2 Auch dank der Archäogenetik hat man heute eine recht genaue Vorstellung darüber, wie die Neandertaler aussahen – über ihr Sozialverhalten ist jedoch noch wenig bekannt. Einen engen Zusammenhalt innerhalb der eigenen Familie dürfte es auch bei diesen Urmenschen gegeben haben.

Einen Neandertaler zu klonen ist auch heute noch Science-Fiction, und wenig spricht dafür, dass sich das ändern könnte. Als Plan B brachte Church die Herstellung eines Hybrids ins Spiel: Dabei würden spezifische Mutationen, die Neandertaler vom modernen Menschen unterscheiden, in das menschliche Genom eingebaut. Diese Methode hätte den Vorteil, dass nur bestimmte Gene eingepflanzt würden, der Mensch sich also die nützlichen Eigenschaften des Neandertalers herauspicken könnte. Das gleiche Verfahren gelte übrigens nicht nur für den Neandertaler, sondern auch für andere Urmenschen, deren Genom man entschlüssele, meinte Church. Bis zu einer Million Jahre könnte man damit in die Vergangenheit reisen, die Menschen jener Zeit also theoretisch – zumindest Teile ihrer DNA – wieder zum Leben erwecken. Das wäre dann eine Shoppingtour im Kaufhaus der menschlichen Evolution.

Aus archäogenetischer Sicht ist dies allerdings eine mehr als gewagte Prognose. Denn dass wir das Genom der Neandertalerinnen inzwischen nahezu komplett sequenziert haben, verdanken wir einem reichen Fundus von gut erhaltenen Knochenfunden, aus denen DNA extrahiert werden konnte – die älteste Probe ist etwas mehr als 400 000 Jahre alt. Und auch wenn es weltweit unzählige Funde von Homo erectus gibt, also vom wahrscheinlichen gemeinsamen Vorfahren von uns, den Neandertalern und Denisovanern, sind diese bislang nur anthropologisch, nicht aber archäogenetisch auswertbar. Wollte man das Genom in ähnlicher Weise wie beim Neandertaler rekonstruieren, bräuchte man nicht nur einfache Knochen, sondern solche, aus denen sich DNA extrahieren lässt – und die gibt es bislang nicht.

Was sehr wohl denkbar wäre, und hier könnte man Churchs Ideen von 2012 sogar noch weiterspinnen: das Genom von Homo erectus am Computer zu berechnen. Als Grundlage dafür würden drei Genome dienen: die eines Schimpansen, eines modernen Menschen und eines Neandertalers, die bekanntlich alle auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen. Aus den Unterschieden des Menschenaffen auf der einen und den beiden Menschenformen auf der anderen Seite ließe sich zunächst ableiten, welche spezifischen Mutationen nach der Abzweigung der gemeinsamen Linie von modernen Menschen und Neandertalern stattfanden. An jenen Stellen, an denen wir dem Schimpansen gleichen, die Neandertaler aber nicht, hat sich demnach nur die DNA der Neandertaler verändert – das Gleiche gilt in umgekehrter Richtung, also für Genpositionen, die nur beim modernen Menschen gegenüber dem Schimpansen differieren.

Damit könnten dann mittels Genschere alle Positionen im Genom eines modernen Menschen in den »Urzustand« gebracht werden. Das Resultat wäre aber kein reiner Homo erectus, wie er vor einer Million Jahren in Afrika existierte, sondern ein Homo-sapiens-erectus-Hybrid, bei dem die Gene heutiger Menschen auf die Grundeinstellungen zurückgesetzt wurden. Wissenschaftsethisch ist allein der Gedanke daran eine Zumutung – man kann ihn aber gerade deswegen nicht zur Seite schieben. Die Berechnung eines solchen Hybrid-Genoms jedenfalls würde heute ein handelsübliches Notebook schaffen.

Machen, was geht

In Churchs Labor wird sicher weder heute noch zukünftig ein Neandertaler gezüchtet, ebenso wenig wie am Leipziger MPI. Doch abgesehen von allen ethischen Fragen spräche ein ganz trivialer Grund gegen ein solches Experiment. Zum einen müsste man, wollte man wirklich eine alte Menschenform als Population wieder zum Leben erwecken, nicht einen, sondern gleich Hunderte Neandertaler zur Welt bringen. Da nichts rechtfertigen würde, sie von der Gesellschaft der modernen Menschen auszuschließen oder sie gar einzusperren, würden sie sich eher über kurz als über lang – wie schon vor 50 000 Jahren – sexuell mit uns (und wir mit ihnen) einlassen, es entstünden gemeinsame Kinder. Nach wenigen Generationen, vermutlich nach weniger als 100 Jahren, würde der Genpool der sehr wenigen Neandertaler in jenem der Milliarden moderner Menschen untergegangen und wenig später vermutlich völlig verschwunden sein – bis auf die zwei Prozent Neandertaler-Gene, die Menschen außerhalb Afrikas ja sowieso in sich tragen.

Am Ende würde man wahrscheinlich auf Jahrzehnte ethischer Debatten und Unsummen an Kosten zurückschauen, wahrscheinlich aber kaum auf bahnbrechende neue Erkenntnisse – außer jene, dass der moderne Mensch geradezu unfähig ist, etwas zu unterlassen, zu dem er fähig ist. Doch dieses Beweises bedarf es wohl längst nicht mehr.

3 Als der große Aufbruch der modernen Menschen aus Afrika begann, trafen sie im Norden auf die großteils bitterkalte Mammutsteppe. Ein riesiger Jagdgrund, der das Fundament legte für die spätere Ausbreitung unserer Vorfahren.

Um sich dem großen Rätsel Homo sapiens anzunähern, können die neandertalisierten Zellkulturen in unseren Laboren nur ein Hilfsmittel sein, in dem sich mit etwas Glück die eine genetische Veränderung ablesen lässt, die den heutigen Menschen den entscheidenden Vorteil bescherte. War es die Fähigkeit zur Kultur, die uns zu komplexen und arbeitsteiligen Gesellschaften führte und es den Einzelnen ermöglichte, sich zum Wohle der Gesamtheit immer weiter zu spezialisieren? Oder doch eine Grausamkeit gegenüber den eigenen Mitmenschen und noch mehr gegen jene, die nicht dazugehörten? Die Bereitschaft, sein Leben zu riskieren, um selbiges in ungeahnte Dimensionen zu befördern? War es alles nur ein dummer Zufall, bei dem der moderne Mensch auf die richtige Spur der Evolution geriet, Neandertaler und Denisovaner hingegen nicht? Oder ist es am Ende die falsche Spur, eine Sackgasse, auf deren Ende wir gerade mit Vollgas zurasen? Und was in uns treibt uns nur dazu, uns auf den entscheidenden Metern vielleicht doch noch einen Neandertaler-Klon auf den Beifahrersitz zu setzen?

Betrachten wir die genetischen Rekonstruktionsarbeiten, die mit den neandertalisierten Zellen in Leipzig gerade stattfinden, also zunächst einmal als ein wertvolles technisches Hilfsmittel, das uns helfen könnte, diese Fragen eines Tages vielleicht beantworten zu können. Und begeben wir uns, ganz im Sinne der »klassischen« Archäogenetik, weit zurück. In eine Zeit, in der die nördliche Hemisphäre zu großen Teilen von Eis überzogen war und dieser Flecken Erde von Neandertalern und Denisovanern dominiert wurde. Und irgendwo in den böhmischen Wäldern, unweit des heutigen Prags, eine Frau zur letzten Ruhe gebettet wurde. Eine Frau, die nach gängiger archäologischer Lehre hier hätte gar nicht sein dürfen und die eine frühe Vorbotin des Untergangs der Neandertaler und Denisovaner war. In ihr fand sich das älteste bislang sequenzierte Genom eines modernen Menschen: in der Alten Tschechin.

KAPITEL 2

Hunger

Wir begeben uns in die bitterkalte Eiszeit. Unsere Vorfahren hatten im Norden keine Chance, hier herrschten ihre Cousins – und raue Tischsitten. Wir lernen die Alte Tschechin kennen. Unsere Vorfahren finden einen Weg, mit dem deprimierenden Gedanken an die eigene Endlichkeit umzugehen. Im Hintergrund lauern die Hyänen.

Essen mit seinesgleichen

Woanders als in Höhlen und ohne gute Befeuerung war es im Europa der Eiszeit, die erst vor etwa 11 500 Jahren endete, kaum auszuhalten. Das galt für alle Menschenformen, die hier lebten, gleichermaßen. Die Höhlen waren Lebensmittelpunkt der damaligen Menschen, und nicht umsonst sind sie, neben Gräbern, für Archäologen die ergiebigsten Fundstellen. Der Fingerknochen, der uns die Menschenform des Denisovaners offenbarte, stammt aus der Denisova-Höhle. In der Chauvet-Höhle in Frankreich gibt es beeindruckende Auerochsen- und Pferdeporträts, die unsere Vorfahren dort vor wahrscheinlich mehr als 32 000 Jahren anfertigten, und die schwäbische Karsthöhle Geißenklösterle bewahrte die ältesten Flöten der Welt, hergestellt aus Vogel- und Mammutknochen.

Aus der Höhle El Sidrón im Norden Spaniens hingegen kennen wir inzwischen ein beeindruckendes Zeugnis von Esskultur, in diesem Fall von einer Gruppe von Neandertalern. Diese nämlich vertilgten vor etwa 49 000 Jahren Unmengen einer ganz besonderen Fleischsorte: Neandertaler. Vom Kind, vom Greis, von Mann wie Frau – alles fanden Archäologinnen auf einem Haufen aus etwa 2000 Knochenfragmenten, die auf einer Fläche von nicht mehr als fünf Quadratmetern abgelegt wurden, das frische Fleisch säuberlich abgeknabbert. Die Höhlenentdeckung ist dabei nur ein Beweis von vielen dafür, dass die Neandertaler ihresgleichen verspeisten, aus welchen Gründen auch immer. Inzwischen sind Neandertalerknochen, deren Besitzer komplett oder wenigstens teilweise aufgegessen wurden, für Archäologen eher die Regel als die Ausnahme. Ein Phänomen, das man von den frühen modernen Menschen, die während der Eiszeit in Europa lebten und von denen die Alte Tschechin eine erste Botin war, nicht kennt: Allem Anschein nach beerdigten unsere Vorfahren ihre Toten lieber. Die Ess- wie Bestattungssitten von Neandertalern und Menschen unterschieden sich damit fundamental.