Die Republik der Diebe - Scott Lynch - E-Book

Die Republik der Diebe E-Book

Scott Lynch

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Beschreibung

Fantasy im Breitwand-Format – Locke Lamora ist zurück!

Locke Lamora, Meisterdieb, Lügner und wahrer Gentleman, ist mit seinem Kumpan Jean nur knapp dem Piratentod entronnen. Nun ist er wieder auf Beutejagd, doch dann begegnet er einer Frau, die er längst tot glaubte: Sabetha, seine wahre Liebe – und die ist entschlossen, Locke ein für alle Mal zu vernichten, im Auftrag der finsteren Soldmagier. Für Locke und Jean geht es nun um alles oder nichts…

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Seitenzahl: 1249

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DAS BUCH

Locke Lamora – Meisterdieb, Lügner und wahrer Gentleman – hat sein letztes großes Abenteuer nicht unbeschadet überstanden und droht nun der schweren Vergiftung, die er sich dabei zugezogen hat, zu erliegen. Sein Kumpan Jean hat schon fast jede Hoffnung auf Lockes Genesung aufgegeben, als Archedama Patience sich als Retterin in der Not erweist und den beiden einen Handel anbietet: Sie hilft Locke, wenn er im Gegenzug ihr und der Partei der Tiefen Wurzel für sechs Wochen zur Verfügung steht. Kein Problem, denkt Locke – bis er plötzlich einer Frau gegenübersteht, die er längst verschollen glaubte: Sabetha, seiner einzig wahren Liebe. Doch Lockes Wiedersehensfreude wird getrübt, als er erfährt, dass Sabetha von den finsteren Soldmagiern angeheuert wurde, um ihn ein für alle Mal zu vernichten. Für dieses Abenteuer braucht Locke all seine Gerissenheit und die Hilfe von Jean, denn Sabetha ist nicht nur bildschön, sondern auch der gefährlichste Gegner, mit dem Locke es jemals zu tun hatte …

Erster Roman: Locke Lamora

Zweiter Roman: Sturm über roten Wassern

Dritter Roman: Die Republik der Diebe

DER AUTOR

Scott Lynch wurde 1978 in St. Paul, Minnesota, geboren. Er übte sämtliche Tätigkeiten aus, die Schriftsteller im Allgemeinen in ihrem Lebenslauf angeben: Tellerwäscher, Kellner, Web-Designer, Werbetexter, Büromanager und Aushilfskoch. Zurzeit lebt er in New Richmond, Wisconsin. Mit seinen Gentleman-Räuber-Romanen Locke Lamora und Sturm über roten Wassern hat er sich eine weltweite Fangemeinde erschrieben.

www.twitter.com/HeyneFantasySF

@HeyneFantasySF

www.heyne-fantastisch.de

Scott Lynch

Die Republik

der Diebe

Roman

Deutsche Erstausgabe

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

THE REPUBLIC OF THIEVES

Deutsche Übersetzung von Ingrid Herrmann-Nytko

Deutsche Erstausgabe 05/2014

Redaktion: Uta Dahnke

Copyright © 2013 by Scott Lynch

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-14102-8

www.heyne-fantastisch.de

Für Jason McCray,

einen Mann, der zu seiner Zeit

viele Rollen gespielt hat

PROLOG

Die Aufpasserin

1

Man verfrachte zehn Dutzend hungrige Waisenkinder, lauter Diebe, in ein feuchtkaltes Labyrinth aus Höhlen und Tunneln unter einem ehemaligen Friedhof, lasse sie von einem verkrüppelten alten Mann beaufsichtigen, und schon bald wird man feststellen, was für eine heikle Angelegenheit es ist, die Bande im Zaum zu halten.

Der Lehrherr der Diebe, der im Königreich der Waisen unter dem Hügel der Schatten im alten Camorr das Regiment führte, war noch nicht so gebrechlich, dass einer seiner schmuddeligen kleinen Schützlinge eine Chance gehabt hätte, sich allein gegen ihn aufzulehnen. Nichtsdestotrotz war er sich bewusst, welche Gefahr von den zupackenden Händen und wölfischen Instinkten einer sich zusammenrottenden Gruppe ausgehen konnte – einer Bande, die er im Zuge ihrer Ausbildung dazu brachte, mit jedem Tag noch ein bisschen verwegener zu werden. Die Fassade von Ordnung und Disziplin, von der sein Leben abhing, war bestenfalls so stabil wie nasses Papier.

Natürlich konnte allein seine Gegenwart in einem gewissen Radius für absoluten Gehorsam sorgen. Wo immer er seine Stimme erhob und irgendein Fehlverhalten aufdeckte, waren seine Waisen lammfromm. Aber um seine zerlumpte Truppe auch dann noch in Schach zu halten, wenn er betrunken war oder schlief oder in geschäftlichen Angelegenheiten durch die Stadt humpelte, musste er sie dazu bringen, dass sie eifrig an ihrer eigenen Unterjochung mitwirkte.

Aus den größten, ältesten Jungen und Mädchen im Hügel der Schatten formte er so etwas wie eine Ehrengarde, gewährte ihnen unerhebliche Privilegien und zollte ihnen gelegentlich andeutungsweise Respekt. Doch hauptsächlich sorgte er dafür, dass jedes dieser Kinder in ständiger Todesangst vor ihm lebte. Jedwedes Versagen zog Schmerzen oder die Androhung von Schmerzen nach sich, und wer sich ihm ernsthaft widersetzte, verschwand ganz einfach, und keiner gab sich der Illusion hin, dass diese Kinder es nun einfach irgendwo anders besser hatten.

Auch stellte er sicher, dass die wenigen Auserwählten, die vor ihm zitterten, keine andere Möglichkeit hatten, ihre Frustrationen abzureagieren, als sie an der Gruppe der nächstjüngeren und nächstschwächeren Kinder auszulassen und sie damit in gleicher Weise einzuschüchtern. Diese wiederum tyrannisierten all jene Opfer, die in der Hackordnung gleich unter ihnen standen. Stufenweise wurde das Elend weitergegeben, und auf diese Weise reichte der starke Arm des Lehrherrn der Diebe bis an den Rand seiner Gemeinschaft aus Waisen, die sich aus den Hilflosesten und Duldsamsten zusammensetzte.

An und für sich war es ein bewundernswertes System. Natürlich nur, wenn man nicht selbst diesem Rand der Gesellschaft angehörte, dieser Gruppe aus kleinen, exzentrischen und freundlosen Kindern. Das Leben, das sie im Hügel der Schatten führten, war wie ein täglicher, stündlicher Tritt ins Gesicht.

Locke Lamora war fünf oder sechs oder sieben Jahre alt. Niemand wusste es mit Bestimmtheit, und es interessierte auch keinen. Er war ungewöhnlich klein, unbestreitbar exzentrisch und hatte keine Freunde. Selbst wenn er inmitten einer großen, stinkenden Menge von Waisen umherschlurfte, einer unter Dutzenden, war er allein, und das wusste er verdammt gut.

2

Zusammenkunft. Jedes Mal eine schlimme Zeit unter dem Hügel. Der wogende Strom von Waisenkindern umgab Locke wie ein ihm fremder Wald, und überall lauerten verdeckte Gefahren.

Die erste Regel, um in dieser Situation zu überleben, lautete, dass man vermeiden musste, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während die murmelnde Armee aus Waisen auf das große Gewölbe im Zentrum des Hügels der Schatten zustrebte, wohin der Lehrherr der Diebe sie bestellt hatte, schielte Locke verstohlen nach links und rechts. Es kam darauf an, die berüchtigten Rüpel aus sicherer Distanz zu entdecken, ohne dass es zu einem direkten Blickkontakt kam (denn das war der größte aller Fehler, und es gab nichts Schlimmeres), und sich dann möglichst beiläufig so zu positionieren, dass sich harmlose Kinder zwischen einem selbst und jeder Bedrohung befanden, bis die Gefahr vorbei war.

Die zweite Regel lautete, sich alles gefallen zu lassen, wenn die erste Regel versagte, was sehr häufig passierte.

Hinter ihm teilte sich die Schar. Wie alle Beutetiere, so besaß auch Locke einen feinen Instinkt für herannahendes Unheil. Ihm blieb genügend Zeit, um vorbeugend zurückzuzucken, und dann kam auch schon der Schlag, ein kurzer, heftiger Hieb direkt zwischen die Schulterblätter. Locke knallte gegen die Tunnelwand und schaffte es kaum, auf den Füßen zu bleiben.

Auf den Schlag folgte ein vertrautes Lachen. Es war Gregor Foss, ein paar Jahre älter und mindestens sechs Kilo schwerer als er. Gegen ihn hätte Locke sich genauso wenig wehren können wie gegen den Herzog von Camorr.

»Bei den Göttern, Lamora, was bist du doch für ein schwaches und tolpatschiges kleines Arschloch.« Gregor drückte seine Hand gegen Lockes Hinterkopf und schob ihn vorwärts, wobei Lockes Gesicht an der Tunnelwand aus feuchter Erde entlangschrammte, bis er mit der Stirn schmerzhaft gegen einen der alten, hölzernen Stützbalken prallte. »Kannst nicht mal aus eigener Kraft auf den Beinen stehen. Verdammt noch mal, wenn du versuchen würdest, eine Kakerlake in den Arsch zu ficken, würde sie dich umdrehen und es stattdessen mit dir treiben.«

Alle in der Nähe lachten. Ein paar, weil sie sich wirklich amüsierten, der Rest aus Angst, dabei erwischt zu werden, dass sie es nicht taten. Innerlich kochend, aber schweigend stolperte Locke weiter, als sei es völlig normal, ein mit Dreck verschmiertes Gesicht und eine schmerzende Beule an der Stirn zu haben. Gregor versetzte ihm noch einen Schubs, dieses Mal jedoch ohne großen Kraftaufwand, dann schnaubte er durch die Nase und pflügte durch die Menge nach vorn.

Sich totstellen. So tun, als mache es einem nichts aus. Das war der richtige Weg, um zu erreichen, dass ein paar Augenblicke der Demütigung sich nicht zu stunden- oder gar tagelangen Qualen auswuchsen; dass es bei blauen Flecken blieb und man sich keine Knochenbrüche oder gar Schlimmeres zuzog.

Der Strom der Waisen wälzte sich vorwärts zu einer der seltenen großen Versammlungen, an der fast alle Hügelbewohner teilnahmen, und die Luft in der Haupthöhle war schon jetzt muffiger und verbrauchter als üblich. Der Lehrherr der Diebe saß auf seinem Stuhl mit der hohen Rückenlehne. Über der Masse der Kinder war sein Kopf kaum zu sehen, und seine ältesten Untertanen bahnten sich einen Weg durch die Menge, um ihre gewohnten Plätze in seiner Nähe einzunehmen. Locke presste sich gegen eine der hinteren Wände und bemühte sich, nicht aufzufallen. Dort, mit dem tröstlichen Gefühl, dass sein Rücken gedeckt war, betastete er seine Stirn und gestattete es sich, kurz einen Flunsch zu ziehen. Seine Finger waren glitschig von Blut, als er sie zurückzog.

Wenig später verebbte der Fluss der hereinströmenden Kinder, und der Lehrherr der Diebe räusperte sich.

Es war ein Tag der Buße im siebenundsiebzigsten Jahr von Sendovani, ein Tag, an dem Hinrichtungen durch Erhängen stattfanden. Und draußen, außerhalb der düsteren Höhlen im Hügel der Schatten, knüpften die Henker des Herzogs von Camorr unter dem strahlenden Frühlingshimmel Schlingen.

3

»Es ist eine betrübliche Angelegenheit«, begann der Lehrherr der Diebe. »Wirklich betrüblich. Dass einige unserer eigenen Brüder und Schwestern in die unbarmherzigen Hände der herzoglichen Justiz gefallen sind. Es ist verdammt bedauerlich, dass sie so dämlich waren, sich schnappen zu lassen! Den Göttern sei’s geklagt. Und dabei habe ich mir immer große Mühe gegeben, euch einzuschärfen, meine Lieben, dass wir einem heiklen Gewerbe nachgehen, das von den Leuten, an denen wir es ausüben, ganz und gar nicht geschätzt wird.«

Locke wischte sich den Schmutz vom Gesicht. Wahrscheinlich beförderte der Ärmel seiner Tunika noch mehr Dreck auf die Haut, als ohnehin schon daran klebte, aber allein das Ritual, sich zu säubern, wirkte beruhigend. Während Locke sich um sich selbst kümmerte, sprach der Herr des Hügels weiter.

»Ein trauriger Tag, meine Lieben, eine wahrhafte Tragödie. Aber wenn die Milch erst einmal sauer ist, kann man sich zumindest schon auf den Käse freuen, hmm? Oh ja! Die Gelegenheit ist günstig! Da draußen herrscht ein für diese Jahreszeit ungewöhnlich schönes Wetter, um Menschen aufzuhängen. Das bedeutet massenhaft Schaulustige mit Geld zum Ausgeben, prall gefüllten Geldkatzen. Und die Blicke dieser Leute werden sich auf das Spektakel richten, nicht wahr?«

Mit zwei gekrümmten Fingern (sie waren vor langer Zeit gebrochen und schlecht verheilt) ahmte er einen Mann nach, der von einer Kante ins Leere tritt und nach vorn stürzt. Am Ende des Sturzes zappelten die Finger hektisch, und ein paar der älteren Kinder kicherten. Jemand in der Mitte der Armee aus Waisen schluchzte, aber der Lehrherr der Diebe achtete nicht darauf.

»Ihr alle werdet rausgehen und in Gruppen die Hinrichtungen beobachten«, verkündete er. »Es soll dazu dienen, Furcht in eure Herzen zu pflanzen, meine Lieben! Unvorsichtigkeit, Ungeschicklichkeit, Mangel an Selbstvertrauen – heute werdet ihr die einzig mögliche Konsequenz sehen. Um das Leben zu führen, für das die Götter euch bestimmt haben, müsst ihr überlegt abgreifen und dann weglaufen. Ihr müsst rennen wie die Höllenhunde, die einem Sünder auf der Spur sind! Auf diese Weise entgehen wir der Henkersschlinge. Heute werdet ihr ein letztes Mal ein paar Freunde sehen, denen dies nicht gelungen ist. Und bevor ihr zurückkommt«, fuhr er mit gesenkter Stimme fort, »wird jeder Einzelne von euch es besser machen. Jeder bringt etwas mit, eine Münze oder ein Schmuckstück. Wer mit leeren Händen dasteht, geht beim Abendessen leer aus.«

»Mut dat sein?«

Die Stimme klang wie ein verzweifeltes Jammern. Locke erkannte sie als die von Tam, einem Neuzugang, dem kleinsten Licht unter den dürftigsten Ablenkern, der kaum begonnen hatte, das Leben im Hügel der Schatten zu verstehen. Er musste auch derjenige gewesen sein, der angefangen hatte zu schluchzen.

»Tam, mein Lämmchen, du mut gar nichts«, säuselte der Lehrherr der Diebe mit einer Stimme wie verschimmelter Samt. Er streckte die Arme aus und ging durch die Schar von Waisen, teilte die Menge wie schmutzige Weizenhalme, bis seine Hand auf Tams kahlgeschorenem Schädel zu ruhen kam. »Aber wenn du nicht arbeitest, gilt dasselbe für mich, nicht wahr? Selbstverständlich brauchst du dich an dieser großartigen Exkursion nicht zu beteiligen. Zum Abendessen erwartet dich dann ein unbegrenzter Vorrat an kalter Friedhofserde.«

»Aber … kann ich nich’ vielleicht was anderes tun?«

»Nun, du könntest mein gutes silbernes Teeservice polieren, falls ich eines hätte.« Der Lehrherr der Diebe kniete nieder und verschwand kurz aus Lockes Blickfeld. »Tam, das ist die Arbeit, die ich zu vergeben habe, und deshalb wirst du sie machen, ist das klar? Bist ein braver Junge. Ein starker Junge. Warum laufen dir dann diese kleinen Rinnsale aus den Augen? Weil es diese Hinrichtungen geben wird?«

»Sie … sie war’n unsere Freunde.«

»Das bedeutet nur …«

»Tam, du kleiner Pisslappen, stopf dir dein Geplärr in deinen albernen Arsch!«

Der Lehrherr der Diebe wirbelte herum, und eine schallende Ohrfeige brachte den Zwischenrufer aus dem Gleichgewicht. Die dicht gedrängte Menge der Waisen geriet in Bewegung, als der Geschlagene rückwärtstaumelte und durch Knüffe seiner kichernden Freunde wieder auf die Beine gestellt wurde. Locke konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Ihm wurde jedes Mal ganz warm ums Herz, wenn er sah, wie einer der älteren Rüpel schikaniert wurde.

»Veslin«, sagte der Lehrherr der Diebe mit gefährlicher Munterkeit, »magst du es, wenn man dich unterbricht?«

»N-nein … nein, Sir.«

»Ich freue mich, dass wir beide zu diesem Thema einer Meinung sind.«

»Ja … natürlich. Ich bitte um Entschuldigung, Sir.«

Der Lehrherr der Diebe wandte sich wieder Tam zu, und sein Lächeln, das noch einen Moment zuvor verschwunden war wie Dampf im Sonnenlicht, kehrte schlagartig zurück.

»Wie ich bereits sagte, als ich über unsere Freunde sprach – unsere bedauernswerten Freunde: Es ist eine Schande. Aber bescheren sie uns nicht ein prächtiges Schauspiel, wenn sie baumeln? Locken sie nicht ein Publikum an, das sich uns anbietet wie eine reife Pflaume, die darauf wartet, gepflückt zu werden? Was für eine Sorte Freunde wären wir, wenn wir eine so günstige Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließen? Gute Freunde? Tapfere Freunde?«

»Nein, Sir«, murmelte Tam.

»In der Tat. Wir wären weder gut noch tapfer. Und deshalb werden wir die Chance ergreifen, richtig? Und wir werden ihnen Ehre erweisen, indem wir nicht weggucken, wenn sie hinunterfallen, klar?«

»Wenn … wenn Sie das sagen, Sir.«

»Jawohl, das sage ich.« Der Lehrherr tätschelte flüchtig Tams Schulter. »Geh mit. Um zwölf Uhr mittags beginnen die Hinrichtungen. Die Meister des Stricks sind die einzigen Menschen in dieser verdammten Stadt, die pünktlich sind. Wenn ihr eure Posten zu spät bezieht, müsst ihr zehnmal so schwer arbeiten, das verspreche ich euch. Aufpasser! Ruft eure Ablenker und Abgreifer zu euch. Haltet unsere Brüder und Schwestern, die noch nicht lange dabei sind, an der kurzen Leine.«

Während sich die Waisen zerstreuten und die älteren Kinder die Namen der ihnen zugeteilten Partner und Untergebenen riefen, schleifte der Lehrherr der Diebe Veslin zu einer der Erdwände der Höhle, um sich ihn dort unter vier Augen vorzuknöpfen.

Locke kicherte und fragte sich, wer bei dem heutigen Abenteuer sein Partner sein würde. Außerhalb des Hügels konnte er sich als Taschendieb betätigen, Betrügereien aushecken, dreiste Diebstähle begehen. Obwohl er wusste, dass seine schiere Begeisterung für das Stehlen mit dazu beigetragen hatte, ihn zu einer Kuriosität und einem Außenseiter zu machen, konnte er sich in dieser Hinsicht genauso wenig beherrschen, wie er sich auf dem Rücken Flügel wachsen lassen konnte.

Dieses erbärmliche, von Schikanen geprägte Dasein im Hügel der Schatten war bloß etwas, was er zwischen den herrlichen Momenten erdulden musste, wenn er draußen bei der Arbeit war, wenn er mit wild pochendem Herzen rannte, was das Zeug hielt, um sich in Sicherheit zu bringen, in den Händen wertvolle Dinge, die ihm nicht gehörten. Im Laufe seiner fünf oder sechs oder sieben Jahre hatte er gelernt, dass es nichts Schöneres auf der Welt gab, als andere Menschen zu bestehlen, und dies die einzige wirkliche Freiheit war, die er hatte.

4

»Denkst du, du bist ein besserer Anführer als ich, Junge?« Seine verkrüppelten Hände schwächten den Griff des Lehrherrn der Diebe zwar, aber er hatte immer noch die Arme eines ausgewachsenen Mannes und drückte Veslin gegen die Erdwand wie ein Zimmermann, der eine Verzierung annageln will. »Denkst du, ich benötige deinen weisen Ratschlag, wenn ich etwas sage?«

»Nein, Euer Ehren! Vergeben Sie mir!«

»Veslin, mein Schmuckstück, habe ich dir nicht immer vergeben?« Mit einer scheinbar lässigen Geste schlug der Lehrherr der Diebe die eine Seite seines fadenscheinigen Rocks zurück und entblößte den Griff des Fleischerbeils, das ständig an seinem Gürtel hing. Die Klinge schimmerte schwach vor dem dunklen Hintergrund. »Ich vergebe. Ich ermahne. Fühlst du dich ermahnt, Junge? Ernsthaft ermahnt?«

»In der Tat, Sir, jawohl. Bitte …«

»Wunderbar.« Der Lehrherr der Diebe ließ Veslin los, und der Rock verdeckte wieder seine Waffe. »Dann hat die Angelegenheit für uns beide ja einen glücklichen Ausgang genommen.«

»Danke, Sir. Es tut mir leid. Es ist nur … Tam jault schon den ganzen bei allen Göttern verdammten Morgen lang. Er hat noch nie gesehen, wie jemand gehängt wird.«

»Irgendwann einmal war das für uns alle neu«, seufzte der Lehrherr der Diebe. »Lass den Jungen flennen, solange er nur eine Geldbörse klaut. Und wenn er es nicht schafft, nun, Hunger ist ein tüchtiger Ausbilder. Trotzdem werde ich ihn zusammen mit ein paar anderen Problemkindern in eine Gruppe stecken, die einer speziellen Aufsicht bedarf.«

»Problemkindern?«

»Eines davon ist Tam, wegen seiner Zimperlichkeit. Das andere ist der Zahnlose.«

»Bei allen Göttern«, staunte Veslin.

»Ja, ja, dieser hirnlose kleine Idiot ist so dämlich, dass er nicht mal in seine eigenen Hände scheißen könnte, wenn man sie an seinem Arschloch festnähen würde. Nichtsdestotrotz kommt er in diese Gruppe. Und Tam. Und dann noch einer.«

Der Lehrherr der Diebe warf einen bedeutungsschweren Blick in eine der hinteren Ecken, wo ein mürrischer kleiner Junge an der Wand lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtete, wie andere Waisen in Teams eingeteilt wurden.

»Lamora«, flüsterte Veslin.

»Spezielle Aufsicht.« Der Lehrherr der Diebe kaute nervös an den Nägeln seiner linken Hand. »Mit dem da lässt sich gutes Geld machen, wenn jemand da ist, der darauf achtet, dass er nicht unvorsichtig wird und über die Stränge schlägt.«

»Um ein Haar hätte er die halbe verdammte Stadt den Flammen geopfert, Sir.«

»Nur den Bezirk Pott, den wahrscheinlich keiner vermisst hätte. Dafür wurde er schwer bestraft, und die Strafe hat er, ohne mit der Wimper zu zucken, eingesteckt. Ich betrachte diese Angelegenheit als abgeschlossen. Was er braucht, ist jemand Vernünftigen, der ihn in Schach hält.«

Veslin konnte seinen Ausdruck von Abscheu nicht unterdrücken, und der Lehrherr der Diebe grinste.

»Ich meine nicht dich, Junge. Ich schicke dich und dein kleines Äffchen Gregor als Einsatzkommando los, um für eventuelle Ablenkungsmanöver zu sorgen. Wenn jemand Mist baut, springt ihr für ihn ein. Und falls jemand geschnappt wird, kommt ihr auf schnellstem Weg zu mir zurück.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Sir, sehr dankbar.«

»Dazu hast du auch allen Grund. Der flennende Tam … der schwachsinnige Zahnlose … und ein Teufel in Kniehosen, direkt aus der Hölle. Um diese Crew zu beaufsichtigen, brauche ich ein helles Köpfchen. Lauf los, und weck mir jemanden aus der Fenster-Bande auf.«

»Oh.« Veslin biss sich in die Wange. Die Fenster-Crew, die so genannt wurde, weil ihre Mitglieder darauf spezialisiert waren, als traditionelle Fassadenkletterer und Einbrecher zu agieren, bildeten die wahre Elite der Waisen im Hügel der Schatten. Von den meisten Haushaltsarbeiten waren sie befreit. Sie arbeiteten für gewöhnlich im Dunkeln und durften bis weit in den Nachmittag schlafen. »Das wird ihnen aber nicht gefallen.«

»Es interessiert mich einen Scheißdreck, ob es ihnen gefällt oder nicht. Heute Nacht haben sie ohnehin keinen Job. Bring mir jemanden, der echt was auf dem Kasten hat.« Der Lehrherr der Diebe spuckte einen abgeknabberten, schmutzigen, halbmondförmigen Splitter von einem Fingernagel aus. »Verdammt noch mal, bring Sabetha zu mir.«

5

»Lamora!«

Endlich wurde er aufgerufen, und sogar vom Lehrherrn der Diebe höchstselbst. Misstrauisch tapste Locke über den Boden aus festgestampfter Erde zu dem auf seinem Thron sitzenden Herrscher des Hügels, der einem größeren Kind, das Locke den Rücken zukehrte, etwas ins Ohr flüsterte.

Vor dem Lehrherrn der Diebe warteten bereits zwei weitere Jungen. Einer war Tam. Der andere war der Zahnlose, ein erbarmungswürdiger Dussel, dessen Spitzname daher rührte, dass andere Kinder ihm nach und nach die Zähne ausgeschlagen hatten. Ein mulmiges Gefühl machte sich in Lockes Magengrube breit.

»Das wär’s dann also«, sagte der Lehrherr der Diebe. »Drei mutige und tüchtige junge Burschen. Ihr werdet in einem Sonderkommando arbeiten, unter besonderer Aufsicht. Das ist eure Aufpasserin.«

Das größere Kind drehte sich um.

Sie war schmutzig, wie alle von ihnen, und obwohl es in dem bleichen, silbrigen Licht der alchemischen Laternen in der Höhle schwer einzuschätzen war, sah sie ein bisschen müde aus. Sie trug abgewetzte braune Kniehosen, eine lange, ausgebeulte Tunika, die irgendwann einmal weiß gewesen war, und über einem straff gebundenen Kopftuch eine flache Lederkappe, sodass keine Strähne ihres Haars zu sehen war.

Und dennoch handelte es sich unbestreitbar um eine Sie. Zum ersten Mal in Lockes Leben erwachte irgendein unausgereifter, kreatürlicher Sinn aus seinem Schlummer und machte ihn vage auf diese Tatsache aufmerksam. Der Hügel war voller Mädchen, doch noch nie zuvor hatte sich Locke über eine von ihnen Gedanken gemacht. Er holte tief Luft und spürte ein nervöses Kribbeln in seinen Fingerspitzen.

Sie war mindestens ein Jahr älter und einen guten halben Fuß größer als er, und trotz ihrer Müdigkeit besaß sie diese ungekünstelte, natürliche Selbstsicherheit, mit der gewisse Mädchen Knaben das Gefühl vermittelten, sie seien mit einem Insekt unter einem Stiefelabsatz vergleichbar. Aufgrund seiner mangelnden Eloquenz und Erfahrung allerdings fielen Locke auch nicht annähernd die richtigen Begriffe ein, um die Situation zu erfassen. Er wusste nur, dass er in ihrer Nähe, nach all den Mädchen, die er im Hügel der Schatten gesehen hatte, von etwas Mysteriösem berührt wurde, das viel stärker war als er selbst.

Am liebsten wäre er auf und ab gehüpft. Oder hätte sich übergeben.

Auf einmal ärgerte er sich, weil Tam und der Zahnlose anwesend waren, ärgerte sich über die Bedeutung des Wortes »Aufpasserin« und brannte darauf, etwas zu tun, was auch immer es sein mochte, was diesem Mädchen imponierte.

Seine Wangen brannten bei der Vorstellung, wie die Beule auf seiner Stirn aussehen musste und dass seine Teamgefährten zwei nutzlose, flennende Tölpel waren.

»Sie heißt Beth«, stellte der Lehrherr der Diebe das Mädchen vor, »und heute führt sie über euch die Aufsicht, Jungs. Was sie sagt, hat dieselbe Gültigkeit, als wenn es von mir käme. Also habt ihr zu gehorchen. Wichtig sind ruhige Hände und ein kühler Kopf. Keine Nachlässigkeiten und keine Kapriolen, bei allen Göttern! Dass ihr mir bloß keinen Ehrgeiz entwickelt, das wäre das Letzte, was uns noch gefehlt hat.« Der frostige Blick, mit dem der Lehrherr der Diebe bei diesem Satz Locke musterte, war unübersehbar.

»Vielen Dank, Sir«, sagte Beth und wirkte dabei keine Spur dankbar. Sie schubste Tam und den Zahnlosen in Richtung eines der Ausgänge aus der Höhle. »Ihr zwei wartet am Eingang. Ich muss noch ein persönliches Wort mit eurem Freund hier reden.«

Locke erschrak. Sie wollte mit ihm reden? Hatte sie erraten, dass er sich mit Abgreifen und Ablenken auskannte, dass er nicht so war wie die beiden anderen? Beth blickte sich um, dann legte sie ihre Hände auf seine Schultern und kniete sich hin. Irgendein überreiztes Tier in Lockes Eingeweiden schlug Purzelbäume, als sie ihm in die Augen sah. Seine eherne Regel, jedweden Blickkontakt zu vermeiden, wurde nicht nur gebrochen, sonder verschwand völlig aus seinem Gedächtnis.

Dann geschahen zwei Dinge.

Erstens verliebte er sich – obwohl es noch Jahre dauern sollte, bis er wusste, wie man dieses Gefühl nannte und wie gründlich es sein Leben durcheinanderbringen würde.

Zweitens sprach sie ihn zum ersten Mal direkt an, und an ihre Worte sollte er sich selbst dann noch mit einer herzzerreißenden Klarheit erinnern, als die anderen Ereignisse dieser Zeit in seinem Gedächtnis längst zu einem Nebel aus Halbwahrheiten verblasst waren.

»Du bist der Lamora-Junge, richtig?«

Er nickte eifrig.

»Nun, dann pass mal gut auf, du kleiner Scheißer. Ich habe alles über dich gehört, also halt bloß die Klappe, und steck deine vorwitzigen Finger in die Taschen. Ich schwöre bei allen Göttern, wenn du mir auch nur den geringsten Ärger machst, dann schmeiße ich dich von einer Brücke, und es wird aussehen wie ein verdammter Unfall.«

6

Es war ein unschönes Gefühl, sich plötzlich vorzukommen, als wäre man nur einen halben Zoll groß.

Benommen folgte Locke Beth, Tam und dem Zahnlosen aus der Düsternis, die in den Höhlen des Hügels der Schatten herrschte, hinaus in den vormittäglichen Sonnenschein. Seine Augen brannten, und das Tageslicht war nur zum Teil daran schuld. Was hatte er verbrochen (und wer hatte ihr davon erzählt?), womit er sich die Verachtung ausgerechnet der Person zugezogen hatte, die er nun mehr beeindrucken wollte als jeden anderen Menschen auf der Welt?

Während er darüber nachgrübelte, nahm er seine Umgebung nervös in Augenschein. Hier draußen im Freien, wo alles einem ständigen Wandel unterlag, gab es so viel zu sehen, so viel zu hören. Allmählich regten sich seine Überlebensinstinkte. Im Hinterkopf kreisten seine Gedanken um Beth, doch er zwang sich dazu, sich mit der derzeitigen Situation vertraut zu machen.

Heute war Camorr hell, betriebsam und machte das Beste daraus, dass die schweren, grauen Regengüsse des Frühlings endlich aufgehört hatten. Fenster wurden aufgerissen. Die wohlhabenderen Leute hatten ihre Mäntel und Kapuzen aus Ölzeug gegen sommerliche Kleidung getauscht. Die Armen behielten dieselben stinkenden Klamotten an, die sie zu jeder Jahreszeit trugen. Wie die Kinder, die im Hügel der Schatten hausten, mussten sie ihre Sachen am Leib tragen, denn andernfalls riskierten sie, dass sie von Lumpensammlern aufgelesen wurden.

Als die vier Waisen die Kanalbrücke überquerten, die vom Hügel der Schatten zum Pott führte (Locke war stolz und verwundert zugleich, dass der Lehrherr der Diebe überzeugt war, er hätte durch einen seiner kleinen Tricks diesen Bezirk komplett dem Feuer übergeben können), entdeckte Locke mindestens drei Boote von Leichenfischern, die mithilfe von Haken aufgedunsene Leichname unter Landungsbrücken und Anlegern hervorzogen, die sich zwischen den Stützpfeilern verfangen hatten. Bei kühlem, regnerischem Wetter blieben die Toten manchmal tagelang im Wasser liegen.

Beth führte die drei Jungen auf Schleichwegen durch den Pott, Steintreppen hinauf und über wackelige hölzerne Fußgängerbrücken. Sie mied die engsten und winkeligsten Gassen, in denen Betrunkene, streunende Hunde und verstecktere Gefahren ihnen mit Sicherheit auflauerten. Tam und Locke blieben dicht hinter ihr, aber der Zahnlose machte ständig irgendwelche Abstecher oder trödelte hinterher. Als sie den Pott verließen und auf die zugewucherten Gartenwege des Mara Camorrazza zusteuerten, dem uralten Spaziergängerpark der Stadt, packte Beth den Zahnlosen folglich am Kragen und zerrte ihn neben sich her.

»Du verdammtes Spatzenhirn«, schimpfte sie. »Bleib endlich bei mir und hör mit diesem Scheiß auf.«

»Ich mach kein Scheiß«, murmelte der Zahnlose.

»Willst du Mist bauen und heute Abend nichts zu essen kriegen? Willst du irgendeinem brutalen Rüpel wie Veslin einen Vorwand liefern, dir auch noch die letzten Zähne auszuschlagen?«

»Neeeeeee.« Der Zahnlose dehnte das Wort mit einem gelangweilten Gähnen in die Länge, blickte um sich, als nähme er seine Umwelt zum ersten Mal wahr, dann riss er sich von Beth los. »Ich will deinen Hut tragen«, trötete er und zeigte auf ihre lederne Kappe.

Locke schluckte krampfhaft. Er hatte schon früher miterlebt, wie der Zahnlose diese jähen, unvernünftigen Anwandlungen bekam. Irgendwie war der Junge nicht ganz richtig im Kopf. Er musste oft dafür büßen, wenn er im Hügel die Aufmerksamkeit auf sich zog, denn wer dort auffiel, ohne sich wehren zu können, hatte nichts zu lachen.

»Das geht nicht«, erwiderte Beth. »Und jetzt sei still.«

»Ich will ihn haben. Ich will ihn haben!« Der Zahnlose stampfte tatsächlich mit den Füßen auf und ballte die Fäuste. »Ich verspreche dir, ich mach keinen Scheiß. Aber gib mir deinen Hut!«

»Führ dich nicht so auf! Sonst kannst du was erleben!«

Der Zahnlose reagierte, indem er sich auf Beth stürzte und ihr die Lederkappe vom Kopf riss. Er zerrte so heftig daran, dass auch ihr Kopftuch mitgezogen wurde, und eine strubbelige Mähne aus rötlich braunen Locken fiel auf ihre Schultern. Locke klappte die Kinnlade herunter.

Dieses offen getragene Haar im Sonnenlicht zu sehen kam ihm so unfassbar schön, so richtig vor, dass er einen Moment lang vergaß, dass er der Einzige war, der sich daran ergötzte, und der Vorfall ihrem eigentlichen Auftrag alles andere als dienlich sein würde. Während Locke das Haar anstarrte, bemerkte er, dass im Grunde nur der untere Teil braun war. Die Locken über den Ohren waren von einem Rostrot. Das Haar war einmal gefärbt worden und seitdem in der natürlichen Farbe nachgewachsen.

Nachdem Beth sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte, reagierte sie sogar noch schneller als der Zahnlose, und bevor er mit der Kappe irgendetwas anstellen konnte, hielt sie sie wieder in Händen. Dann versetzte sie ihm mit der Lederkappe einen brutalen Schlag ins Gesicht.

»Au!«

Sie war noch nicht mit ihm fertig und schlug ein zweites Mal zu. Er zuckte zurück. Locke gewann seine Fassung wieder und setzte die teilnahmslose Miene auf, mit der sich die Kinder im Hügel schützten, wenn jemand in ihrer Nähe verprügelt wurde.

»Aufhören! Aufhören!«, schluchzte der Zahnlose.

»Wenn du diese Kappe auch nur noch ein einziges Mal anfasst«, zischte Beth, packte ihn beim Kragen und schüttelte ihn, »dann bringe ich dich auf der Stelle um, das schwöre ich bei Aza Guilla, die sich der Toten annimmt. Du blödes kleines Arschloch!«

»Ich will das nie wieder tun! Ich will das nie wieder tun!«

Sie funkelte ihn wütend an, ließ ihn los, und mit wenigen geschickten Handgriffen versteckte sie ihre roten Locken wieder unter dem straff gebundenen Kopftuch. Als sie die Lederkappe, die das Tuch festhielt, darüberstülpte, verspürte Locke ein Gefühl der Enttäuschung.

»Du hast Glück, dass es außer euch keiner gesehen hat«, sagte Beth und schubste den Zahnlosen vorwärts. »Bei der Liebe der Götter, du kleiner Idiot, hast du ein Glück, dass wir unter uns waren. Los jetzt, Beeilung! Bei Fuß, ihr zwei!«

Locke und Tam folgten ihr schweigend und so dicht auf den Fersen wie ängstliche Entenküken, die sich an die Schwanzfedern der Mutter hefteten.

Locke bebte vor Erregung. Zuerst war er entsetzt gewesen, mit welch unfähigen Partnern man ihn zusammengetan hatte, doch jetzt fragte er sich, ob deren Probleme nicht dazu angetan waren, ihn in Beths Augen besser dastehen zu lassen. Oh ja. Sollten sie ruhig jammern, einen Rappel kriegen, mit leeren Händen nach Hause gehen. Zur Hölle noch mal, von ihm aus konnten sie sogar die Stadtwachen alarmieren, damit sie dann alle, begleitet vom schrillen Klang der Trillerpfeifen und bellenden Hunden, durch die Straßen gehetzt würden. Beth wäre alles lieber als das, sogar er.

7

Schließlich verließen sie den Mara Camorrazza und gerieten in einen Wirbel aus Lärm und Chaos.

Es herrschte ein für diese Jahreszeit ungewöhnlich schönes Hinrichtungswetter, und in der normalerweise öden Gegend rings um die Alte Zitadelle, dem herzoglichen Sitz der Justiz, ging es zu wie beim Karneval. Auf dem Kopfsteinpflaster drängte sich das gemeine Volk, während hier und da die Kutschen der Reichen durch die Menge ratterten, eskortiert von gedungenen Wachleuten, die nebenher trabten und dabei Drohungen und Schläge austeilten. Locke wusste bereits, dass in mancherlei Hinsicht die Welt außerhalb des Hügels genauso war wie die Welt in seinem Innern.

Die vier Waisen bildeten eine menschliche Kette, um sich durch diesen Tumult hindurchzufädeln. Locke hielt sich an Tam fest, der sich wiederum an Beth klammerte. Um den Zahnlosen auf jeden Fall im Auge zu behalten, schob sie ihn vor sich her wie einen Rammbock. Aus seiner Perspektive erblickte Locke nur wenige Erwachsenengesichter; die Welt verwandelte sich in eine endlose Prozession aus Gürteln, Bäuchen, Rockschößen und Wagenrädern. Sowohl mit Glück als auch durch ihre Hartnäckigkeit kämpften sie sich weiter nach Westen vor, in Richtung der Via Justica, dem Kanal, an dem seit einem halben Jahrtausend Hinrichtungen stattfanden.

Am Rand des Kanalufers verhinderte eine niedrige Steinmauer, dass man in das sieben oder acht Fuß darunter liegende Wasser fiel. Diese Barriere war bröcklig, aber immer noch stabil genug, dass Kinder darauf sitzen konnten. Beth hielt den Zahnlosen fest in ihrem Griff, während sie Locke und Tam half, sich aus der Menschenmasse zu lösen und auf die Mauer zu klettern. Locke wollte es so deichseln, dass er neben Beth zu sitzen kam, aber Tam presste sich an sie, und Locke hätte ihn nicht von seinem Platz vertreiben können, ohne eine Szene zu verursachen. Er versuchte, seinen Unmut zu verbergen, indem er eine entschlossene Haltung zeigte und sich umsah.

Von hier aus konnte Locke wenigstens alles besser überschauen. Zu beiden Seiten des Kanals herrschte ein Gewimmel, und von Booten aus verhökerten Händler Brot, Würstchen, Bier und Andenken. Mittels an Stangen befestigter Körbe sammelten sie die Münzen ein und lieferten die Waren an die Kunden über ihnen aus.

Locke konnte Gruppen von kleinen Gestalten ausmachen, die durch den Wald aus Jacken und Beinen huschten – Waisen aus dem Hügel der Schatten bei der Arbeit. Er sah auch die dunkelgelben Röcke der Stadtwachen, die in Trupps und mit auf dem Rücken hängenden Schutzschilden durch die Menge gingen. Wenn diese gegensätzlichen Elemente zusammentrafen und sich miteinander vermischten wie schlechte Alchemie, konnte eine Katastrophe passieren, doch bis jetzt hörte man weder Gebrüll noch Alarmpfiffe, und nichts deutete auf einen Zwischenfall hin.

Die Schwarze Brücke hatte man für den Verkehr gesperrt. Die Lampen, die den düsteren Steinbogen schmückten, waren mit schwarzen Tüchern verhängt, und eine kleine Gruppe von Priestern, Gefangenen, Wachleuten und herzoglichen Beamten stand hinter der Exekutionsplattform, die an der einen Seite aus der Brücke hervorragte. Zwei Boote der Gelbjacken ankerten im Kanal zu beiden Seiten der Brücke, um die Wasserfläche unter den Erhängten freizuhalten.

»Müssenwer nich’ unnere Arbeit tun?«, fragte der Zahnlose. »Müssenwer nich’ ’n Geldbeutel klauen oder ’n Ring oder sonswas …«

Beth, die für höchstens eine halbe Minute ihre Hände von ihm genommen hatte, packte ihn wieder und zischte: »Kein Wort darüber, wenn wir unter Leuten sind. Halt bloß die Klappe! Wir werden hier sitzen und gut aufpassen. Nach den Hinrichtungen fangen wir an zu arbeiten.«

Tam erschauerte und blickte noch bekümmerter drein als sonst. Locke seufzte, verwirrt und ungeduldig. Es war traurig, dass ein paar ihrer Kameraden aus dem Hügel der Schatten erhängt werden würden, aber in erster Linie war es traurig, dass sie sich von den Gelbjacken hatten schnappen lassen. Überall in Camorr starben Menschen, in Gassen und Kanälen und Tavernen, bei Bränden, durch Seuchen, die ganze Stadtbezirke entvölkerten. Tam war doch auch ein Waise; hatte er nicht kapiert, wie es zuging? Sterben war für Locke beinahe so selbstverständlich wie Abendbrot essen oder Pinkeln, und es machte ihm nicht das Geringste aus, wenn jemand starb, den er nur flüchtig gekannt hatte.

Alles deutete darauf hin, dass es bald so weit war. Auf der Brücke erhob sich ein gleichmäßiger Trommelschlag, der vom Wasser und den Steinen widerhallte, und allmählich verstummte das aufgeregte Gemurmel der Leute. Nicht einmal ein Gottesdienst vermochte Camorri so aufmerksam und andächtig zu machen wie eine öffentliche Hinrichtung.

»Loyale Bürger von Camorr! Es ist die Mittagsstunde, der siebzehnte Moment, der Monat Tirastim in unserem siebenundsiebzigsten Jahr von Sendovani.« Ein in Seide und Zobelfelle gekleideter, dickbäuchiger Herold brüllte die Worte von der Schwarzen Brücke. »Diese Missetäter wurden für schuldig befunden, Kapitalverbrechen begangen zu haben, die gegen das Gesetz und die Sitten von Camorr verstoßen. Kraft der Autorität Seiner Gnaden, Herzog Nicovante, und besiegelt durch die Urteile der ehrenwerten Richter der Roten Kammer, bringt man die Verbrecher hierher, damit sie ihre Strafe empfangen.«

Neben ihm gab es Bewegung auf der Brücke. Sieben Gefangene wurden nach vorn geschleift, jeweils von zwei Konstablern mit scharlachroten Kapuzen. Locke sah, dass Tam sich nervös auf die Fingerknöchel biss. Beth legte einen Arm um Tams Schulter, und Locke knirschte mit den Zähnen. Er selbst machte alles richtig, wusste sich zu benehmen, unterließ alles, wodurch er unangenehm hätte auffallen können, und Tam war derjenige, den Beth in den Arm nahm?

»Du wirst dich daran gewöhnen, Tam«, sagte sie leise. »Und jetzt erweise ihnen die letzte Ehre. Reiß dich zusammen.«

Auf der Brückenplattform legten die Meister des Stricks Schlingen um die Hälse der Verurteilten. Die Länge der jeweiligen Henkersstricke entsprach der Körpergröße des Opfers, und das Ende war an Metallringen gleich hinter den Füßen der Gefangenen befestigt. Die Henkersplattform war nicht mit einem ausgeklügelten Mechanismus ausgestattet, und es gab keine raffinierten Manöver. Schließlich war man nicht in Tal Verrar. Hier, im Osten, stieß man die Gefangenen einfach über den Rand der Plattform.

»Jerevin Tavasti«, brüllte der Herold und las den Text von einem Pergament ab: »Brandstiftung, Verschwörung zwecks Erhalts gestohlener Güter, tätlicher Angriff auf einen Beamten des Herzogs! Malina Contada, Falschmünzerei, verbunden mit dem Missbrauch des Namens und Bildes Seiner Gnaden, des Herzogs! Caio Vespasi, Einbruch, arglistige Vermummung, Brandstiftung und Pferdediebstahl! Lori Vespasi, Verschwörung zwecks Erhalts gestohlener Güter.«

So viel zu den Erwachsenen; nun ging der Herold weiter zu den drei Kindern. Tam schluchzte, und Beth flüsterte: »Psssst, bleib ganz ruhig.« Locke fiel auf, dass Beth völlig kühl und gefasst war, und er versuchte, ihre gleichgültige Pose zu imitieren. Augen geradeaus, Kinn hoch, die Mundwinkel leicht nach unten gezogen. Wenn sie ihn während der Zeremonie ansähe, würde sie seine Haltung bemerken und sie billigen …

»Mariabella, kein Nachname«, donnerte der Herold. »Diebstahl und krimineller Ungehorsam! Zilda, kein Nachname. Diebstahl und krimineller Ungehorsam!«

Die Henker banden Gewichte an die Beine der drei letzten Gefangenen, da deren Körper zu leicht waren, um einen ausreichend schnellen Tod herbeizuführen, wenn man sie über den Rand der Plattform stieß.

»Lars, kein Nachname. Diebstahl und krimineller Ungehorsam.«

»Zilda war freundlich zu mir«, wisperte Tam mit brechender Stimme.

»Die Götter wissen das«, sagte Beth. »Und jetzt kein Wort mehr.«

»Mit eurem Körper habt ihr Verbrechen begangen, und deshalb soll euer Körper den Tod erleiden«, fuhr der Herold fort. »Über fließendem Wasser werdet ihr am Hals aufgehängt und bleibt so lange hängen, bis der Tod eintritt, damit eure ruhelosen Seelen über das Wasser zum Eisernen Meer getragen werden, wo sie keiner Seele oder Heimstatt im Herrschaftsbereich des Herzogs mehr Schaden zufügen können. Mögen die Götter eure Seelen gnädig und beizeiten empfangen.« Der Herold senkte die Pergamentrolle und wandte sich den Gefangenen zu. »Im Namen des Herzogs lasse ich euch Gerechtigkeit widerfahren.«

Ein Trommelwirbel. Einer der Meister des Stricks zog ein Schwert, für den Fall, dass ein Gefangener Widerstand leistete. Locke hatte schon eine Hinrichtung gesehen und wusste, dass die zum Tode Verurteilten nur eine einzige Chance bekamen, den letzten Rest ihrer Würde zu wahren.

Heute lief bei den Hinrichtungen alles glatt. Nach einem furiosen Anschwellen endete der Trommelwirbel abrupt. Jedes Paar der mit Kapuzen vermummten Gelbjacken trat vor und stieß seinen Gefangenen von der Kante der Hinrichtungsplattform.

Tam wandte sich mit einem Ruck ab, womit Locke gerechnet hatte, doch als die sieben Stricke sich mit knackenden Geräuschen strafften, die vom Hanf oder von Genickbrüchen oder von beidem stammen konnten, war selbst er überrascht, wie der Zahnlose reagierte.

»Ahhhhhhh! Ahhhhhhhhhhhhhhhhh! AHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHH!«

Jeder Schrei war länger und lauter als der vorhergehende. Beth hielt dem Zahnlosen den Mund zu und rang mit ihm. Über dem Wasser schwangen vier große Körper und drei kleinere wie Pendel auf Bahnen, die rasch immer kürzer und kürzer wurden.

Lockes Herz klopfte wie wild. Jeder in ihrer Nähe musste sie anstarren. Er vernahm Kichern und ärgerliche Kommentare. Je mehr Aufmerksamkeit sie auf sich zogen, umso schwieriger würde es werden, ihrem wirklichen Anliegen nachzugehen.

»Pssst«, zischelte Beth und strengte sich mächtig an, um den Zahnlosen unter Kontrolle zu bringen. »Sei still, verdammt noch mal. Sei still!«

»Was ist los, Mädchen?«

Zu seinem Entsetzen sah Locke, dass zwei Gelbjacken sich gleich hinter ihnen durch die Menge gedrängt hatten. Bei den Göttern, noch schlimmer konnte es gar nicht kommen! Angenommen, sie machten Jagd auf Waisen aus dem Hügel der Schatten? Was wäre, wenn sie anfingen, heikle Fragen zu stellen? Er unterdrückte den Impuls, einfach ins Wasser zu springen, und verharrte mit weit aufgerissenen Augen an Ort und Stelle.

Beth presste weiterhin ihren Unterarm auf den Mund des Zahnlosen, doch irgendwie gelang es ihr, sich umzudrehen und den Kopf vor den Konstablern zu verneigen.

»Mein kleiner Bruder«, keuchte sie. »Er sieht zum ersten Mal eine Hinrichtung. Wir möchten keine Störung verursachen. Ich habe dafür gesorgt, dass er den Mund hält.«

Der Zahnlose hörte auf sich zu wehren, dafür begann er zu schluchzen. Die Gelbjacke, die sie angesprochen hatte, ein Mann mittleren Alters mit einem Gesicht voller Narben, blickte angewidert auf ihn hinab.

»Seid ihr vier allein hierhergekommen?«

»Mutter hat uns geschickt«, erklärte Beth. »Sie wollte, dass die Jungen einer Hinrichtung beiwohnen. Sie sollen sehen, was dabei herauskommt, wenn man faul ist und sich in schlechte Gesellschaft begibt.«

»Eine vernünftige Frau. Es gibt nichts Besseres als eine Hinrichtung, um einem Balg den Unfug auszutreiben.« Der Mann runzelte die Stirn. »Warum hat eure Mutter euch nicht begleitet?«

»Oh, sie liebt Hinrichtungen, unsere Mutter«, behauptete Beth. Dann senkte sie die Stimme zu einem Flüstern. »Aber, ähm, sie hat Dünnschiss. Ganz fürchterlich. Sie hockt schon den ganzen Tag auf ihrem …«

»Ah. Nun ja, dann.« Die Gelbjacke hustete. »Mögen die Götter ihr eine rasche Genesung bescheren. Und den da solltet ihr so schnell nicht wieder zu einer Zeremonie am Tag der Buße mitnehmen.«

»Dem stimme ich zu, Sir.« Beth verneigte sich abermals. »Mutter wird ihm das Fell gerben, wenn sie hört, wie er sich angestellt hat.«

»Dann macht euch auf den Heimweg, Mädchen. Damit sich dieses Theater nicht noch wiederholt.«

»Selbstverständlich, Sir.«

Die Konstabler tauchten wieder in die Menge ein, die mittlerweile lebhafter wurde. Beth rutschte von der Steinmauer herunter, reichlich unelegant, weil der Zahnlose und Tam mit ihr kamen. Ersteren hielt sie immer noch fest umklammert, der andere wollte partout ihren Arm nicht loslassen. Er hatte nicht laut geschrien wie der Zahnlose, aber Locke sah, dass Tränen in seinen Augen standen, und er sah noch bleicher aus als zuvor. Locke ließ seine Zunge durch seinen Mund wandern, der ganz trocken geworden war, als die Gelbjacken sich mit ihnen beschäftigten.

»Kommt jetzt«, befahl Beth. »Nichts wie weg von hier. Wir haben alles gesehen, was es zu sehen gibt.«

8

Noch eine Wanderung durch den Wald aus Jacken, Beinen und Bäuchen. Locke, der spürte, wie seine Erregung wieder anwuchs, hielt sich vorsichtig am Rücken von Beths Tunika fest, um sie nicht zu verlieren, und er war erfreut und enttäuscht zugleich, als sie nicht im Mindesten darauf reagierte. Beth führte sie zurück in die grünen Schatten des Mara Camorrazza, wo keine vierzig Yards von Hunderten von Menschen entfernt ein beschaulicher Friede herrschte und man allein war. Kaum hatten sie ein abgeschiedenes Fleckchen erreicht und konnten sich in Sicherheit wähnen, da stieß Beth Tam und den Zahnlosen zu Boden.

»Was ist, wenn eine andere Gruppe vom Hügel das mitgekriegt hat? Bei allen Göttern!«

»Es tut mir leid«, jammerte der Zahnlose. »Aber sie … aber sie … wurden getötet.«

»Menschen sterben, wenn man sie aufhängt. Deshalb erhängt man sie ja!« Beth wrang das Vorderteil ihrer Tunika mit beiden Händen aus, dann holte sie tief Luft. »Beruhigt euch wieder. Sofort. Jeder von euch muss eine Geldbörse oder sonst was klauen, bevor wir zurückgehen.«

Der Zahnlose brach abermals in krampfhaftes Schluchzen aus, rollte sich auf die Seite und kaute an seinen Handknöcheln. Tam, der erschöpfter klang, als Locke es jemals für möglich gehalten hätte, sagte: »Ich kann nicht, Beth. Es tut mir leid. Man würde mich erwischen. Ich kann einfach nicht.«

»Dann bekommst du heute Abend nichts zu essen.«

»Schön«, sagte Tam. »Bring mich zurück, bitte.«

»Verdammt noch mal.« Beth rieb sich die Augen. »Ich muss euch mit irgendwas Geklautem zurückbringen, andernfalls krieg ich genauso viel Ärger wie ihr, habt ihr verstanden?«

»Du gehörst zur Fenster-Gruppe«, murmelte Tam. »Dir tut keiner was.«

»Ich wünschte, das wäre so«, sagte Beth. »Ihr zwei müsst euch unbedingt zusammenreißen …«

»Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht.«

Locke witterte eine glänzende Gelegenheit. Am Kanalufer hatte Beth sie vor Scherereien bewahrt, und jetzt war für ihn der ideale Augenblick gekommen, die ganze Gruppe zu retten. Bei dem Gedanken, wie Beth darauf reagieren würde, lächelte er, dann reckte er sich, so weit es ging, in die Höhe und räusperte sich.

»Tam, sei kein solcher Schwächling«, sagte Beth, ohne auf Locke zu achten. »Du wirst etwas stehlen oder für eine Ablenkung sorgen, damit ein anderer abgreifen kann. Ich lasse dir keine andere Wahl …«

»Entschuldigung«, warf Locke zögernd ein.

»Was willst du?«

»Ich könnte den beiden was von mir abgeben.«

»Wie bitte?« Beth drehte sich zu ihm um. »Wovon sprichst du?«

Locke fasste unter seine Tunika und förderte zwei Lederbörsen und ein Taschentuch aus feiner Seide zutage, das nur wenig beschmutzt war.

»Drei Teile«, sagte er. »Und wir sind zu dritt. Sag einfach, jeder von uns hätte ein Stück geklaut, und wir können sofort nach Hause gehen.«

»Wo, bei allen Höllen, hast du …«

»In der Menge«, sagte Locke. »Du hattest den Zahnlosen am Wickel … Du hast dich so sehr mit ihm beschäftigt, dass du es wohl nicht mitgekriegt hast.«

»Ich hatte dir noch nicht erlaubt, etwas zu stehlen!«

»Na ja, aber du hattest es mir auch nicht verboten.«

»Aber das ist …«

»Ich kann die Sachen nicht zurückgeben«, maulte Locke, und es klang viel trotziger als gewollt.

»Sprich nicht in diesem Ton mit mir! Um der Götter willen, spiel jetzt nicht den Beleidigten«, sagte Beth. Sie kniete sich hin und legte die Hände auf Lockes Schultern. Bei der Berührung und unter ihrem forschenden Blick fing er plötzlich unkontrollierbar an zu zittern. »Was hast du? Was ist los mit dir?«

»Nichts«, sagte Locke. »Nichts.«

»Ihr Götter, was bist du doch für ein seltsamer kleiner Junge.« Sie sah wieder Tam und den Zahnlosen an. »Ihr drei seid das reinste Fiasko. Mit euch erlebt man nichts als Katastrophen. Zwei weigern sich zu arbeiten. Einer arbeitet unaufgefordert. Ich glaube, uns bleibt gar keine andere Wahl.«

Beth nahm Locke die Geldbörsen und das Taschentuch ab. Ihre Finger streiften die seinen, und er zitterte wieder. Beths Augen wurden schmal.

»Hast du dir vor Kurzem den Kopf gestoßen?«

»Ja.«

»Wer hat dich geschubst?«

»Ich bin bloß hingefallen.«

»Natürlich, was denn sonst.«

»Ehrlich!«

»Du scheinst ordentlich was abgekriegt zu haben. Vielleicht bist du auch krank. Du zitterst.«

»Mir … mir geht es gut.«

»Wie du meinst.« Beth schloss die Augen und massierte sie mit den Fingerspitzen. »Ich denke, du hast mir eine Menge Ärger erspart. Möchtest du, dass ich … Hör mal, ist da jemand, der dich schikaniert, und du willst, dass das aufhört?«

Locke erschrak. Ein älteres Kind, und ausgerechnet noch dieses ältere Kind, ein Mitglied der Fenster-Gruppe, bot ihm Protektion an? Wäre sie dazu imstande? Wäre sie imstande, Veslin und Gregor an die Kandare zu nehmen?

Nein. Locke zwang sich, seinen Blick von Beths ach so faszinierendem Gesicht abzuwenden und sich selbst auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Es würde immer irgendeinen Veslin, irgendeinen Gregor geben. Und was wäre, wenn die anderen Kinder ihn umso mehr ablehnten, weil Beth sich für ihn eingesetzt hatte? Sie gehörte der Fenster-Gang an; er nur einer Straßenbande. Er arbeitete am Tag, sie des Nachts. Bis zum heutigen Tag hatte er sie noch niemals gesehen; welche Art von Schutz konnte sie ihm überhaupt bieten? Er würde sich weiterhin totstellen. Sich nach Möglichkeit unsichtbar machen. Regel eins und Regel zwei befolgen. Wie immer.

»Ich bin bloß hingefallen«, wiederholte er. »Es geht mir gut.«

»Nun ja«, erwiderte sie mit einer gewissen Kühle. »Du musst es ja wissen.«

Locke öffnete und schloss den Mund ein paarmal und überlegte krampfhaft, was er sagen konnte, um dieses exotische Wesen zu betören. Zu spät. Sie wandte sich von ihm ab und zerrte Tam und den Zahnlosen wieder auf die Füße.

»Ich kann es nicht fassen«, sagte sie, »aber ihr zwei Blödmänner habt es dem Brandstifter, der fast den Pott abgefackelt hätte, zu verdanken, dass ihr heute Abend was zu essen kriegt. Ist euch überhaupt klar, was uns allen blüht, wenn ihr jemandem auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verratet?«

»Ich weiß Bescheid«, antwortete Tam.

»Ich mach euch die Hölle heiß, wenn mir zu Ohren kommt, dass ihr gepetzt habt«, fuhr Beth fort. »Niemand darf davon erfahren! Habt ihr mich verstanden? Na, was ist, Zahnloser?«

Der arme Kerl nickte und kaute wieder auf seinen Fingerknöcheln herum.

»Dann gehen wir jetzt zum Hügel zurück.« Beth zupfte an ihrem Kopftuch und rückte die Lederkappe zurecht. »Ich behalte die Sachen und liefere sie selbst beim Meister ab. Kein Wort darüber. Zu niemandem!«

Wieder packte sie den Zahnlosen beim Kragen und behielt ihn den ganzen Rückweg zum Friedhof fest im Griff. Tam folgte ihr auf dem Fuße; er sah erschöpft aus, aber erleichtert. Locke bildete den Schluss und grübelte unentwegt über dieses für ihn so unbefriedigend verlaufene Erlebnis nach. Womit hatte er Beth verprellt? Hatte er etwas Falsches gesagt oder getan? In welchem Punkt hatte er sich geirrt? Wieso war sie nicht begeistert von ihm, weil er ihr so viel Ärger erspart hatte?

Unterwegs redete sie kein einziges Wort mehr mit ihm. Und ehe er sich, nachdem sie den Hügel erreicht hatten, einen Vorwand ausdenken konnte, um sie noch einmal anzusprechen, war sie plötzlich verschwunden, eingetaucht in das Gewirr aus Tunneln, die zum privaten Wohnbereich der Fenster-Crew führten, in den er ihr nicht folgen konnte.

An diesem Abend war er finsterster Stimmung, aß nur wenig von der Mahlzeit, die er sich durch seine geschickten Finger verdient hatte, und haderte nicht mit Beth, sondern mit sich selbst, weil er sie aus irgendeinem Grund verärgert hatte.

9

Die Tage vergingen. Sie kamen Locke länger vor als alle anderen Tage, die er je erlebt hatte, denn jetzt hatte er außer den kurzen, aufregenden Momenten, die ihm seine täglichen Verbrechen bescherten, und dem ständigen Kampf ums eigene Überleben noch etwas anderes, womit er sich beschäftigen konnte.

Beth ging ihm nicht aus dem Kopf. Er träumte von ihr, wie ihr von der Lederkappe befreites Haar im Sonnenlicht glänzte, das durch das dichte Laubwerk des Mara Camorrazza sickerte. Seltsamerweise waren ihre Haare in seinen Träumen von der Wurzel bis zur Spitze ganz und gar rot, frei von jedem Färbemittel, jeder Verhüllung. Der Preis für diese Bilder war, dass er nach dem Aufwachen nichts als eine große Enttäuschung und Kälte spürte. Im Dunkeln lag er da und kämpfte mit geheimnisvollen Emotionen, die ihn vorher noch nie geplagt hatten.

Er musste sie wiedersehen. Es irgendwie einrichten.

Anfangs nährte er die Hoffnung, dass er auch weiterhin einer Gruppe von Problemfällen zugeteilt und Beth ihre ständige Aufpasserin sein würde. Leider schien der Lehrherr der Diebe keine derartigen Pläne zu verfolgen. Allmählich dämmerte Locke, dass er selbst die Initiative ergreifen musste, wenn er je wieder eine Chance erhalten wollte, Beth zu beeindrucken.

Es war schwer, von den Verhaltensweisen abzuweichen, die er sich angewöhnt hatte, ganz davon zu schweigen, sich über die Regeln hinwegzusetzen, die jemand so weit unten in der Hierarchie wie er einfach einhalten musste, weil man es von ihm erwartete. Und dennoch begann er immer häufiger durch die Höhlen und Gänge des Hügels der Schatten zu wandern, in der Hoffnung, einen Blick auf Beth zu erhaschen, und auf seinen Spaziergängen ertrug er Prügel und Häme der älteren Kinder, die sich langweilten. Er stellte sich tot. Er reagierte nicht. Regel eins und Regel zwei. Es war beinahe ein schönes Gefühl, blaue Flecken einzuheimsen, weil er sich auf einer echten Mission befand.

Die Waisen aus den Straßengangs, die im Hügel kein besonderes Ansehen genossen (und das waren nahezu alle), schliefen en masse auf dem Boden kinderkrippenähnlicher Höhlen, wobei sich jeweils ein paar Dutzend in einem Raum zusammenquetschten. Wenn Locke in der Nacht von seinen Träumen geweckt wurde, versuchte er jetzt, wach zu bleiben. Er spitzte die Ohren, um Geräusche aufzuschnappen, die das Murmeln und Rascheln der ihn umgebenden Kinder durchdrangen, um das Kommen und Gehen der Fenster-Crew mitzukriegen, wenn deren Mitglieder ihren heimlichen Geschäften nachgingen.

Vorher hatte er immer inmitten der Gruppe seiner schnarchenden Kumpane geschlafen, wo er sich sicher und geborgen fühlte, oder mit dem Rücken an einer Wand, was ihm gleichfalls ein beruhigendes Gefühl vermittelte. Jetzt wagte er sich auf riskante Plätze am äußeren Rand der zusammengedrängten Masse vor, nur um sehen zu können, wer durch die Tunnel wanderte. Schließlich konnte jeder vorbeihuschende Schatten und jeder Schritt, den er hörte, von ihr stammen.

Seine Erfolge waren dürftig. Einige Male begegnete er ihr bei den abendlichen Mahlzeiten, aber sie sprach nie mit ihm. Sofern sie ihn überhaupt wahrnahm, gab sie es durch nichts zu erkennen. Und wenn Locke versucht hätte, sich ihr aus eigenem Antrieb zu nähern, während sie umringt war von ihren Freunden aus der Fenster-Gang, die sich wiederum in Gesellschaft der älteren Rabauken aus der Straßen-Gang befanden … einen schwerwiegenderen Fehler hätte er gar nicht begehen können. Also brachte er all seine schwachen Kräfte auf, um durch die Gänge zu pirschen und ihr nachzuspionieren, und ergötzte sich an dem Kribbeln in seinem Bauch, das jedes Mal einsetzte, wenn er sie auch nur für eine halbe Sekunde zu Gesicht bekam. Diese flüchtigen Blicke und das Prickeln entschädigten ihn für viele frustrierende Tage, an denen er vor Sehnsucht verging.

Noch mehr Tage und Wochen verstrichen in dem diffusen Hier und Jetzt der Kindheit. Jene kurzen lichten Augenblicke, die er in Beths Gegenwart verbracht, in denen er tatsächlich mit ihr ein paar Worte gewechselt hatte, durchlebte Locke in seiner Erinnerung immer wieder, bis es ihm vorkam, als hätte sein Leben an jenem Tag überhaupt erst begonnen.

In jenem Frühling starb Tam. Locke hörte, wie darüber getuschelt wurde. Der Junge war dabei erwischt worden, wie er versucht hatte, eine Geldbörse zu stehlen, und sein anvisiertes Opfer hatte ihm mit einem Gehstock den Schädel eingeschlagen. So etwas kam häufig vor. Wenn es für diesen versuchten Diebstahl Zeugen gab, würde der Mann wahrscheinlich nur einen Finger seiner schwächeren Hand verlieren. Bestätigte niemand seine Aussage, würde er hängen. Schließlich war Camorr zivilisiert; es gab akzeptable und nicht akzeptable Gründe, ein Kind zu töten.

Nicht lange danach kam der Zahnlose ums Leben, am helllichten Tag wurde er von einem Wagenrad zerquetscht. Locke fragte sich, ob das alles nicht auch sein Gutes hatte. Für Tam und den Zahnlosen war das Dasein im Hügel eine einzige Tortur gewesen, und vielleicht fanden die Götter eine bessere Verwendung für die beiden. Betroffen fühlte sich Locke ohnehin nicht. Er hatte sein eigenes Problem, mit dem er sich obsessiv beschäftigte.

Wenige Tage nach dem Tod des Zahnlosen kehrte Locke nach einem langen, verregneten Nachmittag zurück. Er hatte im Bezirk Nordecke gearbeitet, in dem es Märkte für gutsituierte Bürger gab. Dort hatte er Waren von Verkaufsständen gestohlen. Er schüttelte die Regentropfen von seinem behelfsmäßigen Umhang, einem fürchterlich stinkenden Lederlumpen, der ihm des Nachts als Zudecke diente. Dann begab er sich zu der Gruppe älterer Kinder, die von Veslin und Gregor angeführt wurde. Jeden Tag filzte diese Bande die kleineren Kinder, wenn sie mit ihrer Beute heimkamen.

Normalerweise verwendeten sie den größten Teil ihrer Energie darauf, Lockes Kameraden zu verspotten und zu bedrohen. An diesem Tag jedoch unterhielten sie sich aufgeregt über etwas anderes. Während Locke darauf wartete, dass er an die Reihe kam, schnappte er ein paar Gesprächsfetzen auf.

»… Er ist ganz geknickt. Sie gehörte zu den Großverdienern.«

»Das weiß ich, sie hat ja dauernd damit geprahlt.«

»Ist das alles, was du zu der Fenster-Crew zu sagen hast? Die sahnen doch alle mächtig ab, oder nicht? Na ja, was jetzt passiert ist, wird denen gar nicht gefallen. Es beweist, dass sie genauso sterblich sind wie wir. Sie bauen genau denselben Mist.«

»Das war ein richtig beschissener Monat. Zuerst der arme Kerl, der was auf die Birne gekriegt hat, dann das kleine Arschloch, dem wir die Zähne ausgeschlagen haben, und jetzt sie.«

Locke spürte, wie sich sein Magen verkrampfte.

»Wer?«, fragte Locke.

Veslin verstummte mitten im Satz und starrte Locke an, als wundere er sich, dass diese mickerige Kreatur aus der Straßengruppe des Sprechens mächtig war.

»Wie ›wer‹, du kleiner Arschkitzler?«

»Von wem sprecht ihr?«

»Das geht dich einen Scheißdreck an.«

»WER?«

Unwillkürlich ballte Locke die Fäuste, und sein Herz hämmerte, als er noch einmal aus Leibeskräften brüllte: »WER?«

Veslin brauchte nur ein einziges Mal zuzutreten, und Locke ging zu Boden. Er sah den Tritt kommen, sah, wie der Rowdy den Fuß hob und damit auf sein Gesicht zielte, sah, wie der Fuß immer größer wurde, und trotzdem konnte er nicht ausweichen. Boden und Decke vertauschten die Plätze, und als Locke wieder etwas erkennen konnte, lag er auf dem Rücken, mit Veslins Ferse auf seiner Brust. Warmes, nach Eisen schmeckendes Blut rannte seine Kehle hinunter.

»Wie kommt er dazu, so mit uns zu reden?«, fragte Veslin in mildem Tonfall.

»Keine Ahnung. Ist aber gar nicht schön, was er sich da anmaßt«, sagte Gregor.

»Bitte«, keuchte Locke, »verratet mir …«

»Was sollen wir dir verraten? Glaubst du, du hast das Recht, alles zu wissen?« Veslin kniete auf Lockes Brust, filzte seine Kleidung und zog die Sachen heraus, die er an diesem Tag gestohlen hatte. Zwei Geldbörsen, eine silberne Halskette, ein Taschentuch und ein paar Holztiegel mit Jereshti-Kosmetika. »Weißt du was, Gregor? Ich kann mich nicht entsinnen, dass Lamora heute Abend was mitgebracht hat.«

»Ich kann mich auch nicht erinnern, Ves.«

»Genau. Wie findest du das, du trauriger kleiner Hosenpisser? Wenn du ein Abendessen willst, kannst du deine eigene Scheiße fressen.«

Locke war viel zu sehr an die Art von Lachen gewöhnt, das sich jetzt im Tunnel erhob, um noch darauf zu achten. Er versuchte aufzustehen und erntete für seine Bemühungen einen Tritt gegen den Hals.

»Ich will doch nur wissen«, ächzte er, »was passiert ist.«

»Wieso interessierst du dich dafür?«

»Bitte … bitte …«

»Nun, wenn du hübsch artig bist.« Veslin steckte Lockes Beute in einen schmutzigen Stoffsack. »Die Fenster-Gruppe hat heute Nacht ganz schön was auf den Arsch gekriegt.«

»Die haben’s richtig verbockt«, steuerte Gregor bei.

»Sie wurden beim Einsteigen in ein großes Haus erwischt. Nicht alle haben’s geschafft. Eine haben sie im Kanal verloren.«

»Wer war das?«

»Beth. Sie ist ertrunken.«

»Du lügst«, flüsterte Locke. »DU LÜGST!«

Veslin verpasste ihm einen Tritt seitlich in den Bauch, und Locke krümmte sich vor Schmerzen. »Wer sagt … wer sagt, dass sie …«

»Ich sag das, verdammt noch mal.«

»Wer hat es dir erzählt?«

»Der Herzog hat mir einen Brief geschrieben, du dämliches Arschloch. Ich weiß es vom Meister, was dachtest du denn! Beth ist gestern Nacht ertrunken. Sie kommt nicht mehr in den Hügel zurück. Warst du verknallt in sie, oder was? Das wär ja ’n Witz!«

»Fahr zur Hölle!«, flüsterte Locke. »Der Henker soll dich …«

Mit einem zweiten brutalen Tritt an genau dieselbe Stelle brachte Veslin ihn zum Schweigen.

»Gregor«, sagte er, »wir haben ein echtes Problem. Der hier ist nicht richtig im Kopf. Hat vergessen, was er zu unsereinem sagen darf und was nicht.«

»Dafür kenn ich genau die passende Medizin, Ves.« Gregor trat Lock zwischen die Beine. Lockes Mund klappte auf, doch außer einem heiseren, gequälten Zischen kam nichts über seine Lippen.

»Zeig’s dem kleinen Scheißkerl.« Veslin grinste, während er und Gregor Locke mit heftigen, wohlgezielten Tritten bearbeiteten. »Gefällt dir das, Lamora? Gefällt dir, was du kriegst, wenn du dich mit uns anlegst?«

Nur das Verbot des Lehrherrn der Diebe, einen seiner Waisen vorsätzlich umzubringen, rettete Locke das Leben. Zweifelsohne hätten die Jungen ihn zu Brei zertreten, wenn sie für ihren Spaß nicht mit ihrem eigenen Hals hätten bezahlen müssen, und dennoch gingen sie um ein Haar zu weit.

Es dauerte zwei Tage, bis Locke wieder so beweglich war, dass er arbeiten konnte, und da er keine Freunde hatte, quälten ihn während dieser Zeit Hunger und Durst. Aber seine Genesung stimmte ihn nicht zufrieden, und die Wiederaufnahme seiner Arbeit bereitete ihm keine Freude.

Er stellte sich wieder tot, versteckte sich wieder in dunklen Ecken, befolgte wieder Regel Nummer eins und Regel Nummer zwei. Wieder war er im Hügel ganz allein.

ERSTES BUCH

IHR SCHATTEN

Jetzt kann ich es dir nicht sagen.

Wenn der tosende Sturm

mich nicht länger vor sich herwirbelt,

sondern endlich zu einem Flüstern abgeklungen ist,

dann kommt vielleicht die Zeit,

in der ich es dir erzählen kann.

CARL SANDBURG, AUS The Great Hunt

Kapitel eins

Die Dinge verschlechtern sich

1

Das schwache Sonnenlicht, das auf seine Lider fiel, holte ihn aus dem Schlaf. Die Helligkeit drang in seine Augen, nahm zu und ließ ihn benommen blinzeln. Ein Fenster stand offen, und die milde Nachmittagsluft, die ins Zimmer wehte, brachte den Gruch von Süßwasser mit sich. Das hier war nicht Camorr. Wellen schlugen gegen ein sandiges Ufer. Das war ganz sicher nicht Camorr.

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