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Eine Hommage an die Stillen unter uns, die Introvertierten, die Hochsensiblen und diejenigen, die sich in der Gesellschaft oft etwas fremd fühlen. Lange genug wurde versucht, diese tiefgründigen Denker und Beobachter an eine ungesunde Norm anzugleichen. In "Die Revolution der Stillen" lädt Fabian Forth dazu ein, die Normen einer lauten und extrovertierten Gesellschaft bis auf die Grundfeste zu hinterfragen. Nach 8 Jahren Weltreise und leben in unterschiedlichen Ländern und Kulturen ist der introvertierte Autor einigen kollektiven Lügen auf die Schliche gekommen. Die meisten Menschen verstecken sich hinter Masken. Es wird Zeit, unsere abzunehmen! "Die Revolution der Stillen" regt an, die Welt und das Leben in einem neuen Licht zu sehen.
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2024
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"Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?“
Hermann Hesse
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Die Welt braucht die Stillen
Definitionen
Was bedeutet „Introversion“ überhaupt?
Warum sind wir, wie wir sind?
Intrinsisches und extrinsisches Selbstbewusstsein
Intrinsische und extrinsische Motivation
Was bedeutet es „man selbst zu sein“?
Normen in der Gesellschaft
Was ist normal?
Ist normal gut?
Der Ursprung einer Norm
Gesellschaftliche Konditionierung
Was ist Erfolg?
Warum denken wir dann in Normal und Unnormal?
Was suchen wir, wenn wir Sicherheit suchen?
Gruppenverhalten
Wertesysteme in Gruppen
Die Definition von Freundschaft
Konkurrenz
Nachtleben
Die menschliche Misere
Die eigene Wahrnehmung
Grenzen setzen
Man muss nicht bei allem dabei sein
Sind wir im Reinen mit uns und der Welt
Stille als Problem
Ist „still sein“ ein Problem?
Soziale Phobie – Meine Geschichte
Der Narzisst und die People Pleaser
Können wir uns verändern?
Die Stimme im Kopf
Einsamkeit
Wer ist überhaupt „normal“?
Die Revolution
Was wird revolutioniert?
Fokus
Innere Stärke
Leben im Moment
Die stärkste Superkraft
Authentizität
Die innere Revolution
Vorwort
Ich habe vor einiger Zeit ein paar Nächte in einem Hostel in Lagos, im Süden Portugals, verbracht. Am ersten Abend setzte ich mich in die Gemeinschaftsküche, um zu lesen, und wurde Zeuge eines sehr komischen Schauspiels.
Nach einer halben Stunde gesellten sich zwei Reisende zu mir, die direkt anfingen wild über heftige Themen zu diskutieren. Es ging um Politisches, diverse Weltanschauungen und wilde Theorien über das Leben. Allerdings war es kein gleichwertiger Austausch von Perspektiven, sondern der penetrante Versuch den anderen von der eigenen Meinung zu überzeugen. Beide hatten ihre festen Standpunkte, der eine wollte nur seine Geschichten loswerden und der andere wollte nicht nachgeben. Es war interessant zu beobachten, wie das Gespräch nirgendwo hinführte.
Einer der beiden fing an zu kochen, so dass der andere Reisende plötzlich mich als Empfänger seines wirren Monologs auswählte. Ich habe mich spaßeshalber nicht gewehrt, hörte aufmerksam zu und stellte kritischinteressierte Fragen.
Etwa eine Stunde lang war ich Ziel von seinem hektischen Mitteilungsbedürfnis, bis der Zweite wieder die Gesprächsführung übernahm und Bestätigung für sein sehr obskures Weltbild suchte. “Alles ist böse, verschwört sich und wir müssen ständig Angst haben.” - Alles klar! Als ich auch mal zu Wort kommen wollte und der negativen Schimpftirade meines Gegenübers einen Riegel vorschob, wurde ich auch noch, ohne zu zögern, für meine „positive“ Perspektive und „naive“ Weltsicht angegriffen. Das bekommt man wohl als Belohnung für ungeteilte Aufmerksamkeit.
Nach zwei Stunden einseitiger Informationsflut und der Darlegung von zwei kompletten Lebensmodellen, wollte ich ein wenig Ruhe und ging mit meinem Buch und meinem alkoholfreien Bier auf die Dachterrasse. Ich dachte, der ruhige Mann, der allein auf der Dachterrasse saß und rauchte, würde ebenfalls die Stille suchen. Aber nach einer höflichen Begrüßung meinerseits wurde ich auch hier in ein Gespräch verwickelt. Ich musste mir eine ganze Reihe an Beschwerden über Steuern, Miete und das Wetter in Deutschland und die verkorkste Finanzsituation in Portugal anhören, warum er hier wohnt und wie er sein Leben bis heute bestritten hat. Und damit waren es schon drei Lebensgeschichten in mittlerweile 3 Stunden. Ich machte noch einen Spaziergang, um endlich meine Ruhe zu finden, und ging ins Bett.
Am nächsten Morgen trank ich auf dem Marktplatz erstmal einen Kaffee und lief dann, in Gedanken über den Vorabend versunken, an der Uferpromenade von Lagos entlang. Irgendwas störte mich daran. Auf der einen Seite war es mein Verhalten, dass ich nicht klarer meine persönlichen Grenzen gewahrt hatte und mich am Ende auf unsinnige Diskussionen einließ, auf der anderen Seite war es die Penetranz, mit der diese lauten Gesellen ihre Negativität und Missgunst verbreiteten, und trotz der Absurdität ihrer Gedanken, einfach lauter und lauter über alle hinwegredeten, bis keiner mehr Widerstand leistete.
Irgendwann blieb ich mitten auf dem Gehweg stehen, fing an zu grinsen und dachte mir: “So ein unstillbares Mitteilungsbedürfnis ist doch scheiße - Introvertiert sein ist geil! Es kann doch nicht sein, dass Menschen so aufdringlich durch die Welt ziehen und ständig ihre Meinungen, ungefragten Ratschläge und Weltansichten anderen aufdrücken, ohne Selbstkontrolle und Gespür für anderer Leute Perspektiven oder Gefühle. Es ist doch schlimm, immer laut sein zu müssen. Es ist doch schlimm, ständig Bestätigung für das eigene Leben im Außen suchen zu müssen. Es ist doch nicht gesund, wenn man sich ständig in den Mittelpunkt drängen muss. Wir Stillen müssen uns nicht an diese extrovertierten Gesellschaftsnormen anpassen! Im Gegenteil. Ich bin lieber still, reflektiert und arbeite an meiner inneren Ruhe anstatt nur um Aufmerksamkeit zu kämpfen. Introvertiert sein ist geil!”
Natürlich waren die drei Charaktere in dem Hostel von der speziellen Sorte, aber mein Punkt blieb valide und die Energie, meiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen, war geboren.
Zu dieser Zeit lag mein erster Podcast “Sag doch mal was” zum Thema Introversion und soziale Ängste schon ein paar Jahre zurück, mein Buch “Einfach mal frei sein” über die innere Entwicklung der ersten dreieinhalb Jahre meiner Weltreise war auch schon zwei Jahre auf dem Markt und ich habe das Thema Introversion bei meinen kreativen Inhalten etwas vernachlässigt. Mein eigener Fokus lag eher auf den Themen Persönlichkeitsentwicklung, Identität, Authentizität und Normen in der Gesellschaft, aber ich habe doch immer wieder gemerkt, dass meine Themen die „Stillen unter uns“ vermehrt ansprechen und das Thema „Introversion“ auch für mich immer noch sehr präsent ist. Auch mit fortgeschrittenem Alter verhalte ich mich oft anders als die Mehrheit der Menschen um mich herum, finde Spaß und Zufriedenheit in anderen Aktivitäten und habe gerne meine Ruhe. Ich finde mich aber auch in Situationen wieder, wo ich extrovertierter bin als die meisten „lauten“ Menschen. Ich rede ständig mit Fremden in Cafés und auf der Straße, stand mittlerweile auf Bühnen vor 200 Leuten und bin auf der Arbeit oft der Einzige, der schwierige Themen ansprechen kann, und stehe dort klar für meine Werte und Grenzen ein. Ich spreche auf, wenn mir etwas wichtig ist, suche aber nicht nach Aufmerksamkeit, wenn mich Themen nicht interessieren. Ich bin auch gerne still, wenn die Menschen um mich herum nur banale Themen diskutieren.
Aber ich merke auch, wie die Mehrheit immer noch erwartet, dass man laut ist, dazugehört und sich anpassen soll. Ich bemerke, wie Leute, die sich gerne reden hören, es nicht lassen können auf die Stillen einzureden. Ich merke immer wieder, wie schwierig es für die Stillen unter uns ist, sich in dieser Welt zu entfalten, ihre Stärken zu erkennen und sie selbst zu sein, weil diese laute Gesellschaft ständig lauthals über sie hinwegredet. Und der wichtigste Punkt dabei ist:
Introvertiert sein ist super! Wir brauchen mehr Introversion und Introspektion in der Gesellschaft - Gelabert wird genug. Wir haben genug vorlaute Menschen an der Spitze von Politik und Wirtschaft und das nicht, weil sie die Qualifikationen erfüllen. Nein, nur weil sie penetranter und lauter reden als andere, ohne zurückzuweichen. Weil sie die Welt als ständigen Kampf sehen, sich ständig in Konkurrenz mit dem Rest der Welt sehen, sich profilieren und gewinnen wollen. Oft fühlen sich die falschen Menschen zu Führungspositionen hingezogen und das nicht, weil sie faire und gute Anführer sind, sondern weil sie sich von der Macht angezogen fühlen. Die Welt braucht aber bedachte, empathische, kreative, bewusst handelnde Frauen und Männer an den Spitzen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in dieser Welt. Wir müssen als Gesellschaft wieder lernen zuzuhören – uns selbst und anderen. Wir brauchen die Stimmen der Stimmlosen.
Deshalb…
Lasst uns mit Selbstbewusstsein und Stärke introvertiert sein! Lasst uns den Menschen geduldig zuhören und verschiedene Perspektiven auf das Leben verstehen! Lasst uns reden, wenn wir wirklich etwas zu sagen haben! Lasst uns mit Ruhe und Gelassenheit für unsere Überzeugungen und Grenzen einstehen! Lassen wir unsere Stimmen nach reiflicher Überlegung erklingen! Lasst euch nicht unterkriegen und erkennt eure Ruhe als Stärke an! Lasst uns eine Stimme für die Stimmlosen sein!
VIVA LA INTROVERSIÓN
VIVA
VIVA
Die Welt braucht die Stillen
Ich habe durch meine langjährigen Reisen bereits viele Leben gelebt und vieles zu akzeptieren gelernt. Ich habe mir die absurdesten Weltbilder und Meinungen angehört, habe Lebensgeschichten aus vielen verschiedenen Kulturen und gesellschaftlichen Klassen kennen gelernt.
Ich denke, jeder Mensch darf das so leben, wie er oder sie es will. Es gibt kaum einen Lebensweg, eine Profession, ein Glaubenssystem, eine Meinung, die ich durch meine Reisen und intensives Zuhören nicht irgendwie nachvollziehen kann – nicht unbedingt akzeptieren, tolerieren oder für gutheißen kann – einfach nur nachvollziehen. Ich habe mir die Geschichten von Frauen in Indien, von Obdachlosen in Australien, von Farmern in Neuseeland und Bankern in Europa angehört. Wenn ich mir Mühe gebe und lange genug zuhöre, kann ich jede Entscheidung und Überzeugung von jedem Menschen verstehen. Jeder Mensch hat aus verschiedenen Gründen unterschiedliche Wege eingeschlagen und wiederum andere Wege für sich als abgeschlossen oder unerreichbar definiert. Ich verstehe auch die Frustration, die das Leben mit sich bringen kann und weswegen manche Menschen mit ihren Entscheidungen nicht zufrieden sind.
Was ich allerdings nicht akzeptieren kann und was mich immer wieder aufwühlt, ist wenn jemand denkt, er oder sie könne das Leben von jemand anderem kontrollieren, bewerten und darüber bestimmen. Egal, ob auf der Arbeit, in der Familie oder in der Politik. Sei es, dass man jemandem versucht zu sagen, was er oder sie tun oder nicht tun kann. Sei es, wie sich jemand zu verhalten hat. Sei es, was jemand anzuziehen hat. Sei es, was jemand mit dem eigenen Leben, Körper oder Zeit anstellen soll. Sei es, jemandem zu sagen, was im Leben möglich oder nicht möglich ist. Und das muss nicht unbedingt ein klares „Du darfst das nicht“ sein. Die Regeln, die unser Leben am meisten einschränken, sind die, die wir gar nicht mehr diskutieren, weil sie so tief in uns programmiert wurden, dass wir gar nicht wissen, dass wir sie hinterfragen können.
Ich stelle mit Bedauern immer wieder fest, dass viele Introvertierte, besonders auch sensible und generell stille Menschen, sehr stark darunter leiden, was die laute, extrovertierte und egozentrische Gesellschaft als Norm vorgibt und was für Regeln wir uns beugen, die uns im Leben ständig begleiten und klein halten. Dabei ist die Introversion, das Genießen von Stille und die dadurch verstärkte Neigung zur Introspektion, eine wundervolle Gabe. Leider wird die Schönheit dieser Gabe auch manchmal überschattet von den Selbstzweifeln, der Ausgrenzung und Verurteilung der eben erwähnten lauten und egozentrischen Gesellschaft.
Und doch sind beispielsweise viele finanziell sehr erfolgreiche Menschen introvertiert, haben nur im Laufe ihres Lebens gelernt mit Aufmerksamkeit und der Öffentlichkeit umzugehen. Mark Zuckerberg, Angela Merkel, Bill Gates, J.K. Rowling, Jeff Bezos, Julia Roberts und Joaquin Phoenix sind alles Introvertierte und sozial etwas schwierige Charaktere, die aber in Stille und abseits von Partys und Aufmerksamkeit so lange an ihren Projekten und Karrieren gebastelt haben, bis sie ihren Durchbruch erfahren haben. Viele erfolgreiche Autoren sind introvertiert. Ich denke, es hilft einfach dabei, eine Leidenschaft dafür zu haben, sich allein hinzusetzen, die eigenen Ideen zu Ende zu denken und Welten in Gedanken zu erschaffen.
An dieser Stelle ziehe ich meinen Hut vor Menschen mit extrovertierter Natur, die sich hinsetzen und Bücher schreiben.
Auch viele Musiker und Schauspieler, bei denen man denken könnte, sie lieben die Aufmerksamkeit auf der Bühne, haben eine sehr introvertierte Natur und Hang zur Introspektion. Wenn das nicht der Fall wäre, hätte man ja nicht unbedingt die Muße und Geduld sich in Ruhe hinzusetzen, die eigenen Gefühle in Worte zu packen, um mit ihren Einblicken in die menschliche Natur andere Menschen zu berühren. Vielen Menschen aus dieser Kategorie ist vielleicht auch einfach der Kragen geplatzt, weil sie das oberflächliche Getue der Gesellschaft irgendwann nicht mehr ertragen konnten und dachten: „OK, dann muss ich halt aufsprechen!“. Das Schreiben von Poesie und Lyrik, solange es von Herzen kommt und nicht nach Bauplan generiert wurde, ist im Grunde immer eine Form von tiefer Introspektion.
Und auch wenn man in die Felder der Persönlichkeitsentwicklung, Sinnfindung, Coaching Spiritualität und mentalen Gesundheit guckt - was ist die eine Fähigkeit, die Leuten von Anfang bis Ende nähergebracht wird? Richtig: Ruhe! Was brauchst du für Selbstreflektion? Ruhe. Meditation? Ruhe. Ziele definieren? Ruhe. Du willst dein höheres Selbst erkennen? Ruhe. Du willst fokussiert an einem Ziel arbeiten? Ruhe. Du willst die höchste aller Erleuchtungen erfahren, wie die buddhistischen Mönche im Himalaya? Allein sein und Ruhe!
Alle Wege zur Selbsterkenntnis aus allen Kulturen, Religionen und Traditionen beinhalten zu einem großen Anteil Techniken, die mit Ruhefindung im Innen und Außen zu tun haben. Wie kommt es dann aber, dass wir uns in der Gesellschaft ständig von der Ruhe ablenken wollen?
Natürlich bedeutet der Hang zu Ruhe und Introversion nicht automatisch, dass wir auch innerlich ruhig sind. Ich weiß, dass viele von uns sehr aktive Denker sind und das nicht immer positiv. Aber dazu komme ich später in diesem Buch.
Aber Ruhe und Zeit mit sich selbst zu verbringen sind so integrale Bestandteile auf dem Weg zu einem selbstbestimmten und zufriedenen Leben. Intrinsisches Selbstbewusstsein, das wir aus uns selbst heraus generieren, ist immer nachhaltiger und stärker als Selbstbewusstsein, das wir durch Ansehen in der Gesellschaft und Bestätigung von außen erfahren. Intrinsische Motivation, die aus eigener, innerer Überzeugung und Neugier geboren wird, ist immer ein stärkerer und längerer Antrieb für unser Handeln, als wenn wir etwas ausschließlich für andere tun.
Natürlich ist Bestätigung von außen und ein positives Umfeld immer schön und hilfreich, aber am Ende müssen wir uns morgens selbst motivieren aus dem Bett aufzustehen. Und wir introvertierten, stillen und sensiblen Menschen haben dazu super Startvoraussetzungen, wir müssen nur noch lernen unsere Gaben richtig einzusetzen.
In dieser heutigen Welt, in der wir uns so stark über unsere ewig wechselnde Meinung definieren, ist innere Ruhe und Fokus wichtiger denn je. An einem Tag definieren wir uns über unsere Seite bei politischen Konflikten, am nächsten Tag über unsere Haltung zu Impfungen und dann über die Meinung zu Ernährungsgewohnheiten. Und nach ein oder zwei Monaten haben wir alles wieder vergessen. Wir brauchen ruhige Gemüter, die nicht aus jeder neuen Erfahrung direkt eine Meinung bilden, wir brauchen Menschen, die in Ruhe über die verschiedenen Perspektiven reflektieren und dann zu einem Schluss kommen, der möglicherweise gut für mehrere Seiten ist. Wir brauchen Menschen, die neue Ideen nicht direkt rausposaunen als die ultimative Heilung aller Probleme, sondern Menschen, die der Welt wohl überlegte und gut bewertete Lösungen präsentieren.
Und das nicht nur auf der großen Bühne dieser Welt. Wir brauchen Menschen die ruhig und reflektiert für ihre Werte in der Familie einstehen, sich in ihrer Gemeinde für die Stimmlosen und Randgruppen einsetzen und auf der Arbeit wohl überlegten Input von sich geben, anstatt nur ihr Ego zu polieren und versuchen, lauter zu sein als alle anderen.
Wir brauchen Introversion und Introspektion in der heutigen Zeit – mehr, als wir denken.
Ich schreibe dieses Buch im Grunde an die 20 Jahre jüngere Version von mir selbst. An den jungen Fabian als Teenager, der sich verloren fühlte in einer lauten, extrovertierten Gesellschaft, die oberflächlichen, materialistischen Werten hinterherrennt und glaubt jedem Menschen sagen zu können was er oder sie zu tun hat, wie man sich zu verhalten hat und welche Lebenswege akzeptabel sind und welche nicht. Ein junger Mann, der vielleicht etwas zu emphatisch war, sich den Weltschmerz auf die eigenen Schultern stellte und sich hilf- und machtlos fühlte, irgendetwas dagegen zu tun. Ein junger Mann, der fast sein ganzes Leben Außenseiter war, weil er den Status Quo nicht akzeptieren wollte, aber genauso wenig dem, von der Gesellschaft akzeptierten, Protest gegen den Status Quo folgen wollte. Ein junger Mann, der anfing seinen gesamten Frust über Gesellschaft, Familie und Leben in sich hineinzufressen und nicht wusste wohin mit seiner Wut. Ein junger Mann, der es nicht einsehen wollte, sein Leben in einem vorgefertigten gesellschaftlichen Konstrukt abzusitzen und anfing alles zu hinterfragen, was uns als „Normal“ vorgelebt wird.
Heute blicke ich gerne auf den jungen Fabian zurück. Ich bin froh, dass er sich schon als junger Teenager nicht den oberflächlichen Werten seiner Altersgruppe beugte. Ich bin froh, dass er alles, was sich für ihn nicht richtig angefühlt hat, hinterfragt hat. Ich bin froh, dass er bis ins jetzige Alter standhaft geblieben ist und es nicht verlernte für sich selbst zu denken. Ich bin froh, dass er die ganze Wut und den Frust gegenüber sich und der Welt nicht in die Kreation eines narzisstischen Egos gesteckt hat, sondern in die Entwicklung eines empathischen, kreativen und freien Geistes. Ich bin froh darüber, dass er es geschafft hat, die ganzen emotionalen Zusammenbrüche und innere Verzweiflung durchzustehen und nicht einzuknicken in die negative Spirale, die ihn so oft verschlingen wollte. Ich bin froh darüber, dass er durchgehalten hat, bis er letztendlich genug Ressourcen gesammelt hatte, um das eigene Leid zu verstehen und in positive, kreative Energie zu verwandeln.
Der YouTuber Zach Anner, der die Leiden seiner Zerebralparese-Erkrankung mit Humor und Kreativität in Motivationsvideos umwandelt, sagte in einem Video einmal: „Sei der Mensch, den du gerne getroffen hättest, als du ein Kind warst.“ Und hiermit will ich ein Buch hinterlassen, das ich gerne gelesen hätte, als ich dieser junge Fabian war.
Definitionen
Was bedeutet „Introversion“ überhaupt?
In der Gesellschaft wird leider viel zu oft mit Begriffen und Definitionen um sich geworfen, ohne richtig zu hinterfragen, was wir da tun. Es ist sehr schwer zu greifen, was Menschen wirklich ausmacht und was sich unter tiefen Schichten langjähriger Prägung durch Erziehung, Umfeld, Kultur und Werten wirklich verbirgt.
Ich habe mittlerweile so viele verschiedene Definitionen von „Introversion“ gehört und ich finde keine mehr vollständig zutreffend. Wir sind alle sehr komplexe Wesen mit vielen Neigungen, Vorlieben und Verhaltensweisen und dann werden wir ausschließlich über unser Verhalten bei Abendaktivitäten in großen Gruppen definiert? Das kann nicht sein. Ich weiß, dass viele von uns, die sich eher als „Introvertiert“ definieren würden, mit den richtigen Leuten und in kleinen Gruppen auch extrem laut und wild sein können. Ich kenne Menschen, die man eher als extrovertiert betiteln würde, die auf allen Partys die lautesten sind, aber auf der Arbeit oder im Alltag total still und unsicher sind. Ich selbst kann beispielsweise sehr extrovertiert sein, wenn es darum geht Fremde auf der Straße anzusprechen, neues auszuprobieren oder Menschen in Cafés kennenzulernen. Durch meine Reisen habe ich es gelernt, offen durch die Welt zu gehen und Menschen mit Neugier zu begegnen. Selbst Smalltalk an der Supermarktkasse oder beim Bäcker kommt mittlerweile wie von selbst. Auf der anderen Seite beteilige ich mich auf der Arbeit nicht an Tratsch oder Konversationen über Serien, Meinungen und Nachrichten, weil es für mich oft nirgendwo hinführt. Auch gehe ich nicht mit zu allen Teamevents, weil ich keinen Alkohol trinke und Partys langweilig finde. Viele Kollegen würden mich dementsprechend als introvertiert betiteln, aber die Menschen, die ich im Café oder bei Meetups kennenlerne, würden denken, ich sei extrem extrovertiert.
Was bedeutet es also, introvertiert zu sein?
Eine Definition, mit der viele zu kämpfen haben, ist diese: „Introvertierte sind nur schüchtern und extrovertiert sein ist die Norm.“
Ich glaube, diese Aussage ist mehr verbreitet, als man denkt, und es ist die untergründige Wahrnehmung in der Gesellschaft, wenn sich Menschen nicht wirklich mit der Thematik auseinandergesetzt haben. Es ist auch Grund für die meisten störenden Kommentare wie “Warum bist du denn so still?“ und „Sag doch mal was.” Viele Menschen sind der Annahme, dass es eine Schwäche ist, still zu sein. Wir leben in einer lauten Welt voll mit ständiger Hektik, Konkurrenzkampf und lauten Exzessen für kurzlebigen Spaß. Alles ist schnell und wild, und wenn jemand anders tickt, macht das viele Menschen skeptisch. Dass es tatsächlich Menschen gibt, die nicht so ein starkes Mitteilungsbedürfnis haben ist für viele unverständlich - und was unverständlich ist, dem wird erstmal mit großer Skepsis begegnet. Und da die Norm eben von denen vorgegeben wird, die am längsten und lautesten Reden, bestimmen leider unbewusst die Lauten das, was wir als Normal akzeptieren. Ich komme auch noch mehr auf die Normen der Gesellschaft zu sprechen, aber für jetzt sage ich einfach mal: Es gibt im Endeffekt kein „Normal“ und jeglicher Vergleich zwischen Typen von Menschen, zu einer vermeintlichen “Norm”, ist im Endeffekt bedeutungslos.
Eine weitere sehr gängige Definition, auch bei Introvertierten, ist „Introvertierte gewinnen Energie durchs allein sein und Extrovertierte gewinnen Energie durch Treffen von Menschen.“
Für die meisten Menschen, die sich ein paar Gedanken über diese Thematik machen, ist diese zweite Definition der aktuelle Stand der Beobachtung. Und zu einem gewissen Teil mag das auch stimmen. Man könnte denken, wir ziehen uns zurück und verbringen Zeit alleine mit Büchern, Natur oder Musik, um unsere Energiereserven wieder aufzufüllen. Aber gewinnen wir wirklich Energie durchs allein sein oder erholen wir uns einfach von etwas, was uns Energie entzieht? Auch Introvertierte gewinnen Energie, wenn sie sich gesehen und gehört fühlen und Bestätigung durch andere Menschen erfahren und es ist schön Komplimente von anderen zu hören. Und auch Introvertierte sammeln Energie, wenn sie mit den richtigen Menschen zusammen sind. Und auch Extrovertierte verlieren Energie, wenn sie mit den falschen Menschen und – seien wir mal ehrlich – beispielsweise mit mir zusammen Zeit verbringen. Weil ich mich nicht auf oberflächliches Gerede einlasse, mich nicht komplett den Wertesystemen in Gruppen unterstelle und zu starke Meinungen gerne mit neuen Perspektiven in Frage stelle, würde ich sehr extrovertierten Menschen, wenn sie nur auf der Suche nach Bestätigung sind, ziemlich auf die Nerven gehen und somit auch Energie entziehen.
Ich denke, wir haben täglich Zugriff zu den gleichen Energiereserven. Unser Körper könnte theoretisch jeden Tag das gleiche leisten. Ich drehe die Frage deswegen gerne um und frage:
Was entzieht uns Energie?