Die Rotte - Sabine Gronover - E-Book

Die Rotte E-Book

Sabine Gronover

0,0

Beschreibung

Mord im Münsterland: Killer, Keiler, Klatenberge Schmitt & Kemper unter Borstentieren … Drei Schüsse hat Jäger Lutz Fröhlich im Naturschutzgebiet Klatenberge bei Telgte auf eine große Wildschweinrotte abgesetzt. Doch nun liegen da im Unterholz zwei erlegte Wildschweine und eine tote Frau. Die Leiche weist eine verblüffende Ähnlichkeit mit einer anderen, gerade erst verschwundenen Frau auf: Heidi Klostermann. Auf der Suche nach der Vermissten stoßen Kommissar Schmitt und sein Kollege Kemper auf Frau Klostermanns dubiose DDR-Vergangenheit. War sie eines der unglücklichen Kinder, die während des SED-Regimes zwangsadoptiert wurden? Die Kripobeamten ermitteln in alle Richtungen, doch irgendjemand scheint ihnen immer einen Schritt voraus zu sein. Die Tote im Wald bleibt nicht die einzige Leiche … Zum Entsetzen des tierphobischen Kommissars stellt sich heraus, dass auch Wildschweine nicht ganz so unschuldig sind, wie sie manchmal scheinen. Denn Die Rotte betrachtet die Klatenberge offenbar als ihr alleiniges Revier und duldet keine Einmischungen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 360

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Bisher von der Autorin bei KBV erschienen:

Wölfe im MünsterlandEdles Geblüt

Sabine Gronover, geboren 1969 in Hamm-Heessen, studierte Diplom-Pädagogik und Kunsttherapie an der WW Universität Münster und arbeitet als Therapeutin an der LWL-Klinik Münster sowie auf einer Palliativstation und im Hospiz. Sie lebt mit ihrer Familie und einigen Tieren auf dem Land in Mersch-Drensteinfurt.

Die Rotte ist der dritte Teil ihrer Münsterland-Krimireihe bei KBV. www.sabinegronover.de

SABINE GRONOVER

DIE ROTTE

© 2021 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

unter Verwendung von © Emoji Smileys People - stock.adobe.com

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-95441-584-7

E-Book-ISBN 978-3-95441-594-6

Für meinen Cousin Michaelund für meinen Mann Michael

Inhalt

Über den Autor

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

19. KAPITEL

20. KAPITEL

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. KAPITEL

DANKSAGUNG

1. KAPITEL

Lutz Fröhlich schulterte sein Gewehr und kniff die Augen zusammen. Der Nebel stieg immer höher und legte sich zäh um seine Hosenbeine. Das war nicht die klügste seiner Ideen, bei dem Wetter hier am Waldrand nach seinem ärgsten Gegner zu suchen, dachte er. Aber eben, als er nach einem starken Kaffee losgezogen war, hatte die Sicht auch noch mehr als fünfzig Meter betragen. Hätte er nicht noch so lange mit dem alten Waldschrat, wie er Nachbar Kümmerling immer nannte, gequatert, dann wäre die Dämmerung nicht so zügig über ihn hereingebrochen. Das würde heute nichts mehr werden mit einem gut gesetzten Schuss.

»Mist«, fluchte er, als ihn ein Zweig im Gesicht traf.

Der kalte Wind blies ihm ins Gesicht. Er wollte gerade umdrehen, da hörte er das typische Geräusch, das sofort sämtliche Jagdinstinkte in ihm weckte. Ruhig nahm er seine Büchse von der Schulter. Das Geräusch wurde lauter. Ein Schnüffeln, Schaben und leises Quieken. Das musste eine ganze Rotte sein. Lutz ahnte, dass es bei diesem Nebel gefährlich war, weiter vorzudringen. Ein Wildschwein griff schnell an, wenn es sich bedroht fühlte. Für den Nahkampf war er nicht ausgestattet. Seine Pistole hatte er im gut gesicherten Waffenschrank vergessen.

Schemenhaft sah er sie schließlich, die Rotte, gut genug, um anzulegen. Es mussten an die sechs Tiere sein, die da im Unterholz wühlten. Während er ganz allein war. Rückzug, riet ihm seine Vernunft. »Alle entwischt ihr mir heute nicht«, murmelte der Jäger in ihm. Drei Patronen hatte er in seiner Halbautomatik. Er war sich sicher, dass die restlichen Tiere im Dickicht verschwinden würden.

Der erste Schuss hallte hart und laut durch den Nebel. Er sah einen dunklen Brocken fallen, begleitet von lautem Quieken. Die Rotte entfernte sich in alle Richtungen, ein Tier mittlerer Größe lief jedoch auf Lutz zu. Er beglückwünschte sich zu seiner ruhigen Hand, zielte und drückte ab. Ein zorniges Quieken, und das Tier gab noch mal richtig Gas. Jetzt wäre der richtige Moment gewesen, eine Pistole zu ziehen. Der dritte Schuss knallte, und das Tier blieb in einer Entfernung von etwa zehn Metern liegen. Zwei Tiere erlegt, der Rest der Rotte war geflohen.

Lutz schulterte das Gewehr und begutachtete seine Beute. Das letzte Tier war ein Überläufer und würde ein zartes Gulasch abgeben. Er lief weiter, um auch das andere Tier zu begutachten, doch kurz davor stutzte er. Dort lagen zwei dunkle Körper im Laub, soweit er das erkennen konnte. Eventuell ein Baumstamm. Oder ein totes Reh, über das sich die Rotte hergemacht hatte. Als er ein paar Damenstiefeletten erkannte, die bis auf den Pfad reichten, wurde ihm übel. Drei Schuss, drei Leichen, aber er hatte doch nur auf Wildschweine geschossen!

Das fröhliche Pfeifen hörte abrupt auf, als das Telefon klingelte. Misstrauisch beäugte Kommissar Schmitt sein Telefon. »Gehen Sie dran, Kemper. Ich habe immer Pech.«

Der junge Polizist, der nun endgültig von der Wache in Oelde ins Büro von Kommissar Schmitt in Warendorf umgezogen war, grinste breit und sprach seinen Text in den Hörer. Ein Leuchten ging über sein Gesicht, und er notierte sich etwas auf einem Zettel.

Schmitt beobachtete ihn besorgt. Er hatte bald Urlaub. Nichts Wildes, ein verlängertes Wochenende in einem Wellness-Hotel. In zwei Tagen wollte er losfahren. Die Freude seines jungen Assistenten über das Telefonat verhieß nichts Gutes. Dirk Kemper brauchte dringend einen neuen Fall. Damit lag er Schmitt seit Wochen in den Ohren. Er war jung und wollte sich beweisen. Sein aufmerksamer Blick und das zufriedene Lächeln im Gesicht sprachen Bände. Schmitt seufzte schwer und wartete ab.

»Wir haben eine tote Frau in Telgte. Offenbar von Wildschweinen übel zugerichtet.« Kemper hielt den Hörer noch in der Hand, als er sich zu seinem Chef umdrehte.

Angewidert verzog Schmitt sein Gesicht. Nie und nimmer würde er zurzeit in Waldgebieten spazieren gehen. Dieses Schwarzwild war eine furchtbare Bedrohung geworden. Erst im März hatten sie einen toten Jäger gefunden, der von einem angeschossenen Wildschwein gebissen worden und verblutet war. Damals hatte es auch erst nach einem Mordfall ausgesehen.

»Dann ist das ein Fall für die Jäger und nicht für die Mordkommission.« Ein letztes Aufbäumen, er verschränkte die Arme über seinem Bauch.

Kemper legte den Hörer zurück und stand auf. »Die Todesursache ist noch unklar. Es ist ja nicht so, dass Wildschweine einfach Spaziergänger töten. Kommen Sie schon, Chef. Wir haben vielleicht einen Fall.«

So ungern Schmitt das Waldgebiet in Telgte auch betreten wollte, so zügig befuhr er dann die B 64 und erreichte in einer Bestzeit von zwanzig Minuten das Gebiet Klatenberg. In seinem Audi fühlte er sich so sicher wie sonst nirgends. Zu seiner leisen Beruhigung standen am Fundort zwei Polizeiwagen, Flutlichter und ein grüner Jeep, der nur einem Jäger gehören konnte, ahnte Schmitt. In bewaffneter Begleitung könnte er sich eventuell aus seinem Auto heraustrauen. Er wusste mittlerweile, dass zwei Wildschweine erlegt worden waren.

»Ein erwachsenes Wildschwein kann eine Schulterhöhe von hundertzwanzig Zentimetern erreichen und eine Länge von bis zu zwei Metern«, erklärte er dem jungen Kollegen an seiner Seite, während er sein Auto hinter dem Jeep zum Stehen brachte. »Ohne Schwanz! Die zwei Meter sind ohne Schwanz gerechnet.«

»Ja, sicher«, gab Kemper lässig zurück. »Aber so ein kleines Schweineschwänzchen tut nichts zur Sache.« Kemper schnallte sich ab, während er selbst sich noch am Gurt festhielt. »Ein Gewicht von bis zu hundert Kilo, Kemper. Ich selbst wiege neunzig Kilo. Das mag man sich gar nicht vorstellen.« Ihm brach der Schweiß aus.

Der Polizist wandte sich zu ihm um. »Chef, bei dem Flutlicht kommt kein Keiler aus dem Gebüsch. Das schaffen Sie schon.«

Schmitt nickte, schnallte sich ab und folgte dem jungen Kollegen zum Fundort. Die Leiche der Frau war natürlich schon in die Gerichtsmedizin gebracht worden. Sie hatte unweit des Weges im Unterholz gelegen. Neben den drei Beamten, die den Platz sicherten und Spuren untersuchten, stand ein Mann, dem man die jagdliche Berufung sofort ansah. Er trug grüne Klamotten, einen braunen Hut und ein Messer am Gürtel. Allerdings ahnte der Kommissar, dass seine Gesichtsfarbe normalerweise deutlich kräftiger war, seine Bewegungen wirkten fahrig. Vielleicht hätte man ihm in diesem Zustand das Gewehr wegnehmen müssen.

»Sie haben die Leiche der Frau also gefunden?«, fragte er den Mann, den er auf Mitte fünfzig schätzte.

»Lutz Fröhlich«, stellte der Mann sich wenig fröhlich vor. »Ich habe eine große Rotte Wildschweine gesehen und natürlich geschossen. Die schwatten Biester breiten sich ja aus wie ein Strohfeuer.«

»Hatten Sie denn keine Angst?« Schmitt war fasziniert davon, dass sich manche Menschen als Krönung der Schöpfung anscheinend für unantastbar hielten. Er selbst glaubte das nämlich nicht. Tatsächlich hatte er vor jedem Tier Angst, das größer als ein Beagle war.

»Nein. Es war ein wenig gefährlich, sicher, weil es so viele waren, aber in der Regel flüchten Wildtiere bei einem Schuss. So ist es hier ja auch gewesen. Ich habe drei Schüsse auf zwei Schweine abgegeben. Doch als ich mir dann die Kadaver ansehen wollte, lagen da drei Leichen. Können Sie sich vorstellen, was ich durchgemacht habe? Ich dachte ja im ersten Moment, ich hätte bei dem Nebel eine Spaziergängerin getroffen.« Allein bei dem Gedanken traten trotz der kalten Luft Schweißtropfen auf seine Stirn.

Schmitt nickte mitfühlend, wunderte sich aber. »Sie können doch nicht gedacht haben, dass eine Frau mit einer Rotte Wildschweinen zusammen einen Spaziergang unternommen hat.«

»So viel gedacht habe ich dann gar nicht mehr«, gestand der Jäger ein. »Sie gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Ich war so erschüttert, hab mich neben sie hingesetzt und geheult. Ehrlich, Herr Kommissar, ich kann einem Wildschwein oder Hirsch den Garaus machen, aber die Weibsbilder will ich beschützen. Da könnte ich keiner Dame ein Haar krümmen. Und dann lag sie da mit ihren schönen, blonden Haaren im dreckigen Laub.« Er wischte sich mit einem Stofftaschentuch über die Stirn.

Kemper stand neben ihnen, und Schmitt bemerkte durchaus das verstohlene Grinsen des jungen Polizisten.

»Reiß dich zusammen, Lutz, sag ich also zu mir und habe die Polizei angerufen, die auch gleich einen Krankenwagen mitschicken wollte. Und wie ich so neben ihr sitze und noch mal nach ihrem Puls fühle, merke ich, dass die Hand eiskalt ist. Das ist ja so schnell nicht möglich, wenn ich sie erschossen hätte.« Er schnäuzte sich, und Schmitt nickte.

»Ja, und dann habe ich mit meiner Taschenlampe mal genauer hingeschaut und die Bisswunden von den Wildschweinen gesehen. Die haben sie übel zugerichtet.«

Die letzten Worte des Mannes führten dazu, dass Schmitt sich verstohlen umsah. Rings herum gab es viel zu viele Bäume, und mittlerweile war es auch richtig dunkel. Schmitt konnte sich nur zu gut vorstellen, dass die Rotte zurück an ihre Futterstelle wollte. Schweine waren nun einmal Allesfresser. Er bedankte sich und wandte sich an einen älteren Beamten der Spurensicherung. In seinem weißen Anzug vor den Nebelschwaden kam er ihm wie ein Überlebender aus einer dystopischen Welt vor. »Irgendwelche verwertbaren Spuren, die auf ein Verbrechen hindeuten?«

»Nein, Herr Kommissar. Bislang nicht, kein Projektil, kein Spaten, aber etwas ist merkwürdig.«

Schmitt blickte zu Kemper, der aufmerksam zuhörte und eifrig sein Notizbuch zückte.

Der Beamte schob die Kapuze vom Kopf und erklärte: »Wir haben bislang noch keine Handtasche, kein Smartphone oder irgendwelche persönlichen Dinge gefunden. Weder bei der Leiche noch hier in der Umgebung. Wir sollten morgen bei Tageslicht noch mal nachschauen.«

»Manche nehmen auf einen Spaziergang nichts Persönliches mit«, sagte Kemper und steckte das Notizbuch ohne Vermerk wieder ein. »Wenn ich joggen gehe, habe ich auch nichts dabei.«

Schmitt musterte die athletische Figur seines Assistenten und gab einen Grunzlaut von sich. »Einen Haustürschlüssel oder ein Handy sollte man aber durchaus erwarten, wenn sie hier allein in der düsteren Gegend herumspazierte. Haben wir irgendwelche Anhaltspunkte, wer unsere Tote ist?« Schmitt sah in die Runde und stöhnte auf. In seinen Blickwinkel geriet eine schlaksige Gestalt, eine Nikon mit Blitzlicht trug er in der linken Hand. Die Presse war vergleichsweise spät dran, musste Schmitt zugeben. Doch nun brach sie in Gestalt von Gunnert Haase über ihn herein.

»Herr Kommissar, was für eine Dramatik. Schon wieder eine Leiche, bestialisch getötet von einer Rotte Wildschweine. Was können Sie unseren Bürgern dazu sagen?« Gunnert Haase war Schmitt noch von dem Wildschweinvorfall im März bekannt. Nun stand er mit gezücktem Bleistift vor ihm und lächelte ihn, selbst an ein Raubtier erinnernd, an.

»Nicht viel, Herr Haase«, sagte Schmitt. »Wir haben eine Frauenleiche und zwei tote Wildschweine. Die Todesursache der Frau ist noch unklar, die der Tiere entstand durch die Schüsse eines Jägers.«

Leider stand der Jäger Lutz Fröhlich noch immer so nah bei ihnen, dass er sich nun bereitwillig umwandte und Auskunft gab. In der Version, die Schmitt nun von Lutz Fröhlich hörte, klang das Erschießen der Wildschweine wie der Versuch, die arme Frau vor der Rotte zu retten. Schmitt mahnte den Pressemann, in der Zeitung keine Mutmaßungen zur Todesursache der Frau zu schreiben, solange der Bericht aus der Gerichtsmedizin nicht vorlag, und verabschiedete sich schnell.

»Ich fahre jetzt nach Hause. Morgen wissen wir mehr. Sie, Kemper, erkundigen sich bitte, ob schon jemand als vermisst gemeldet worden ist. Können Sie mit den Kollegen zurückfahren?« Kemper nickte, und Schmitt stieg wenig später in sein Auto, atmete tief durch und fuhr los.

Und erst jetzt, allein in seinem Wagen, spürte er, wie erschüttert er von dem Vorfall war. Griffen Wildschweine nun aus heiterem Himmel Spaziergänger an und töteten sie? Das im März war ein Jagdunfall gewesen. Ein verletztes Tier, das nicht wegkonnte, hatte um sich gebissen, und der Jäger war unprofessionell vorgegangen. Wenn die Frau durch wilde Tiere getötet worden war, war es nicht mehr sein Fall. Wenn es aber Mord war und die Wildschweine erst danach den Leichnam aufgespürt hatten, konnte Schmitt seinen Wellness-Trip vergessen. Mühsam starrte er auf die Landstraße, auf der die Sicht nur noch dreißig Meter betrug. Er sollte langsamer fahren, dachte er, als plötzlich schwarze Körper im Nebel auftauchten. Und dann knallte es auch schon, und der leichte Audi geriet ins Trudeln. Schmitt kam sich vor wie in einem Karussell, sein Kopf prallte seitlich gegen das Fenster, während ihm von vorne der Airbag ins Gesicht drückte. Das letzte Geräusch, das er hörte, war ein lautes Quieken.

2. KAPITEL

Sybille runzelte die Stirn und beugte sich ein Stück vor. Nun klingelte sie bereits zum dritten Mal bei ihrer Freundin, doch kein Geräusch drang aus der Wohnung, niemand öffnete die Tür. Sie kaute ratlos auf ihrem Fingernagel herum, als sich nebenan ein Fenster öffnete. »Macht Heidi nicht auf?«

Sybille blickte nach links und entdeckte die Nachbarin von Heidi am geöffneten Küchenfenster. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe schon drei Mal geklingelt. Wir sind heute Abend verabredet. So etwas vergisst sie sonst nie. Haben Sie sie gesehen?«

»Ihr Auto steht jedenfalls in der Einfahrt«, sagte die Nachbarin. »Mehr weiß ich auch nicht. Ich habe sie zuletzt gestern Nachmittag gesehen, als sie von der Arbeit kam. Vor zwei Stunden war in den Klatenbergen der Teufel los. Polizei, Krankenwagen, Feuerwehr, ständig habe ich das Geheule von Sirenen gehört. Als wären wir im Krieg. Nicht, dass was passiert ist.«

Sybille gab zu bedenken: »Das klingt nach einem Verkehrsunfall, meinen Sie nicht? Aber Heidis Auto steht ja hier.« Sie überlegte. Heidi könnte auch in ihrer Wohnung unglücklich gestürzt sein. »Ich schau mal durch die Fenster«, entschuldigte sie sich und lief um das Haus herum. Doch da sah sie nur ihr eigenes Spiegelbild. Ein brauner Pagenkopf und ein rundes Gesicht blickten ihr entgegen, die Daunenjacke trug etwas auf, so pummelig wie ihr Bild im Fenster war sie ja nun nicht. Besorgt sah sie aus, und sie streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus. Alle sichtbaren Räume der Wohnung gaben keinen Hinweis auf Heidis Anwesenheit. Zum Glück, dachte Sybille, lag sie nicht krank oder schwer verletzt in der Wohnung herum. In der Küche lagen ein paar Einkäufe auf dem Tisch. Sybille ging zurück zur Haustür, wo die Nachbarin noch immer die Arme über die Fensterbrüstung gelegt hatte.

»Nichts zu sehen, oder?«, meinte die Frau und schaute Sybille aufmerksam an.

Sie schüttelte den Kopf und zückte ihr Handy, um nun alle verfügbaren Nummern von Heidi anzurufen. Erfolglos. Dann wurde ihre Sorge noch größer, als sie bei WhatsApp unter Heidis Seite den Status las: zuletzt online gestern 15:37. »Ich gehe jetzt zur Polizei«, sagte sie entschlossen, nickte der Nachbarin zu und marschierte zu ihrem kleinen Peugeot. Mit Herzklopfen fuhr sie in Richtung City.

Sie hatte kaum die B 51 überquert, als die Nachrichten kamen. »Heute am späten Nachmittag ist eine Frauenleiche in den Klatenbergen von einem Jäger aufgefunden worden. Er bemerkte eine Rotte von Wildschweinen, die sich über den Leichnam hermachten …«

Mehr hörte Sybille nicht, denn ihr wurde es plötzlich speiübel, und sie musste am Straßenrand halten, um zu würgen. Sollte das etwas das Ende ihrer Freundin gewesen sein? Die große, sportliche Biologin war zu Schweinefutter geworden? Sybille atmete tief die feuchte, kalte Abendluft ein und stieg dann wieder in ihren Wagen. Zur Polizeidienststelle war es nicht weit, doch vor Ort musste sie feststellen, dass das Gebäude geschlossen und dunkel vor ihr lag.

»Was zum Teufel soll das denn?«, fluchte sie. Eine Polizeistation konnte man doch nicht wie einen Kiosk einfach schließen.

Ein junger Mann schlenderte vorbei und schaute sie amüsiert an. Sybille wusste nicht, was so lustig an diesem Abend sein sollte. »Die Polizei, dein Freund und Helfer, aber nicht zu jeder Zeit. Brauchst du Hilfe?«

Das war sicher eine nett gemeinte Frage und keine Anmache, denn immerhin war sie gut fünfzehn Jahre älter als der Mann. »Ich möchte meine Freundin als vermisst melden. Heute Nachmittag ist doch eine Frauenleiche in den Klatenbergen gefunden worden. Angeblich ist sie von Wildschweinen angefallen worden. Wo kann ich mich denn jetzt melden?«

Der junge Mann blieb nun stehen, die Hände tief in die Taschen eines grünen Parkers gesteckt. »Ich würde einfach die 110 wählen und mich verbinden lassen. Eine der Dienststellen aus Warendorf oder Münster ist für unser kleines Dorf zuständig.« Er grinste sie an und versicherte ihr dann: »Ich glaube aber nicht, dass die Frau von Wildschweinen getötet wurde. Die greifen ja nicht einfach eine Spaziergängerin an, weil sie Hunger haben. Einzelne, verletzte Tiere oder Bachen mit Frischlingen können schon mal gefährlich werden. Schweine sind Allesfresser, und wenn sie auf Aas treffen, greifen sie zu.«

Sybille war entsetzt. Ihre Freundin als mögliches Aas zu bezeichnen, erschuf Bilder in ihrem Innern, die sie nicht brauchen konnte. Ihr Dankeschön fiel entsprechend kalt aus.

Sie setzte sich ins Auto und wählte den Notruf der Polizei. Umgehend wurde sie mit der Polizeistation Warendorf verbunden, und eine müde, weibliche Stimme bat sie, sich früh am nächsten Morgen erneut zu melden. Dann sei der ermittelnde Kommissar wieder da. Ihre Aussage sei eventuell wichtig, denn man wisse noch nicht, wer die Frau sei. Nein, ob sie blonde Haare habe, wusste die Beamtin nicht. Aber sie werde für eine lange Zeit nicht mehr unbeschwert spazieren gehen können, ergänzte die Frauenstimme am Telefon. Wegen der Wildschweine, nicht wegen der Triebtäter.

Auch dieser kurze Dialog hielt nichts Tröstliches für Sybille bereit, nun war auch noch das Wort Triebtäter gefallen. Denn eins wusste sie über ihre Freundin. Heidi hatte keine Feinde, und sie war auch kein Mensch, der sich in irgendwelche Abenteuer stürzte. Also Triebtäter, Raubmord oder Wildschweine – ein Alptraum, in den sie da geriet. Noch vor einer Stunde hatte sie sich auf ein gemütliches Abendessen im Restaurant Steenpoate gefreut, nun hatte sie den Eindruck, nie wieder etwas essen zu können.

Bekümmert fuhr sie nach Handorf zurück und überraschte ihren Mann bei einem Glas Rotwein mit der aparten Nachbarin, die ihr lächelnd mit roten Wangen zuprostete.

»Oje, das gibt jetzt bestimmt wieder ein Blutbad in Telgte und Umgebung, oder? Haben sich die Jäger schon zusammengerottet? Und wo wir gerade bei Blutbad sind: Wie viele Schweine hat dein Chef gestern mit seinem Auto erwischt?« Der Ton seiner Freundin Ella wechselte zwischen Spott und Empörung.

Dirk sah ihn wieder vor sich, seinen Chef. Völlig aufgelöst hatte er im Auto gesessen, als er mit den Kollegen der Spurensicherung an der Unfallstelle angekommen war. Kreidebleich hatte er im Licht der Taschenlampe hinter dem Steuer gesessen, Blut war ihm an der Schläfe hinuntergelaufen. Und nur das tote Wildschwein neben seinem Wagen hatte ihnen die Unfallursache gezeigt. Kommissar Schmitt hatte eine ganze Weile lang gar nichts gesagt. Viel mehr Sorgen als die Kopfverletzung hatte dem Sanitäter der Abfall seines Blutdrucks gemacht, der durch den Schock in den Keller gerutscht war.

»Diese dunklen Viecher waren plötzlich überall, sie rannten an meinem Auto vorbei, dass die Erde bebte. Wenn ich ausgestiegen wäre, hätten sie mich angegriffen.«

Dirk schüttelte noch im Nachhinein den Kopf über die Panik seines Chefs, der völlig vergessen hatte, dass er in seinem stehenden Auto auf der Landstraße bei den Lichtverhältnissen und dem Nebel durch den Verkehr viel gefährdeter war. Er war einfach sitzen geblieben und hätte jeden Moment von einem nachfolgenden Auto oder LKW erwischt werden können.

»Ein totes Schwein lag neben seinem Audi, es hat zum Glück nur ein wenig den Stoßdämpfer verbeult«, antwortete er seiner Freundin schließlich. »Und das Tier war nicht einmal besonders groß.

»Darf ich mitkommen und einen Bericht für den NABU verfassen?«

Dirk verdrehte die Augen. Seine Freundin nahm ihre Arbeit beim NABU sehr ernst, und sie konnte hartnäckig sein. Er stellte seine Tasse Kaffee ab und gab ihr einen Kuss auf die Nase. »Ich kann dich nicht daran hindern, Fotos von der Umgebung zu machen, aber solange wir noch nicht wissen, was die Todesursache ist, weißt du ja gar nicht, was du über die Wildschweine schreiben sollst. Sind sie Opfer oder Täter?«

»Als Wildtier in Deutschland per se ein Opfer«, grinste Ella frech. »Ich tippe auf Mord, was deine Frauenleiche angeht. Und damit ist dein phobischer Kommissar wieder mittendrin in einem Fall mit Tierbeteiligung. Das Schicksal ist gemein zu ihm.«

Dirk knöpfte seine Uniform zu und ließ die Muskeln spielen. »Das Schicksal meint es gut mit ihm, denn er hat mich und mein breites Kreuz. Ich muss los und ruf dich an, wenn wir etwas wissen.«

Im Auto auf dem Weg von Münster ins benachbarte Telgte wartete er auf die Nachrichten. Solange er am Vortag noch im Dienst gewesen war, hatte es keine Vermisstenmeldung gegeben, die auf die Leiche im Klatenberg gepasst hätte. So eine Mordermittlung machte ja erst richtig Spaß, wenn man im Umkreis des Opfers zu ermitteln begann, Fäden verfolgte und nach einem Motiv suchte, fand Dirk. Er grinste bei dem Gedanken an seine morbide Freude über eine Arbeit, die immerhin aufgrund von Mord und Totschlag entstand. Noch lag ein dämmriger Dunst über der Stadt, aber bei Tageslicht mussten sie nach weiteren Spuren suchen. Es konnte gut sein, dass das Handy im dichten Laub lag. Eventuell hatte die Frau ja um Hilfe rufen wollen, und dann war ihr das Mobilteil aus der Hand gefallen. In den Nachrichten wurde schließlich nur von einem Leichenfund in Telgte berichtet. Die Rolle der Wildschweine wurde hier sehr vorsichtig und vage beschrieben, nicht dass gleich eine Panik unter den Bürgern ausbrach. Er erinnerte sich noch zu gut an das Auftauchen des Wolfes im Münsterland und die Panik, die darauf gefolgt war.

Kommissar Schmitt traf er schließlich auf der kleinen Polizeistation in Telgte, wo sie nun fürs Erste ihr Lager aufschlugen. Er fand den Kommissar schwer seufzend vor.

»Kemper, in meiner Seele kämpfen zwei düstere Erklärungen um die Vorherrschaft. Wenn die Frau von Wildschweinen getötet wurde, kann ich niemals wieder einen Spaziergang in Mutter Natur tätigen. Bezüglich meiner Ängste bin ich realistisch.«

Er unterbrach seinen Chef. »Nie und nimmer, Chef. Die Frau wurde ermordet, da bin ich mir ganz sicher.«

Schmitt seufzte noch schwerer. »In dem Fall ist mein Wellness-Wochenende nur noch ein schöner Plan von gestern. Und ich hatte mich wirklich auf die Entspannung gefreut. Massage, Innenpool und Sauna. Mein alternder Körper braucht dringend eine Auffrischung.«

Belustigt betrachtete Dirk den Kommissar, der stets in guter Kleidung mit Stoffhose und Seidenhemd im Büro saß. Ein kleiner Bauch spannte über dem Gürtel, die spärlichen Haare waren zu einem kurzen Bürstenschnitt frisiert. Er schätzte ihn auf Ende fünfzig, müde wirkte er auf ihn nicht.

In diesem Moment öffnete sich die Bürotür, und eine uniformierte Frau trat mit einem gewissen Eifer ein. »Hier sind die Meldungen von heute Nacht, Herr Schmitt. Eine davon könnte die Frauenleiche betreffen, sehen Sie nur.«

Sein Chef nahm der Beamtin den Ausdruck ab und pfiff durch die Zähne. »Eine Frau vermisst ihre Freundin, mit der sie gestern Abend zum Essen verabredet war«, las Schmitt laut vor. »Der Anruf kam von einer Mobilnummer. Tippen Sie mal los.« Und schon diktierte ihm Schmitt eine Handynummer. Kaum hatte Dirk die letzte Ziffer eingetippt, da meldete sich mit hektischer Stimme auch schon eine Frauenstimme, als hätte sie nur auf den Anruf gewartet.

»Hallo, hier ist Sybille Horstmann.«

»Polizeibeamter Kemper, guten Morgen. Sie haben gestern Abend Ihre Freundin als vermisst gemeldet und …« Weiter kam er nicht.

»Ja, genau, und ich habe furchtbare Angst, dass Heidi die Frauenleiche vom Klatenberg ist. Sie hat blonde, lange Haare. Passt das?« Er blickte seinen Chef an und hob den Daumen hoch, wofür er einen missbilligenden Blick erntete. »Können wir uns in der Gerichtsmedizin treffen?«, fragte Dirk sie. Am anderen Ende der Leitung blieb es still, dann hörte Dirk ein Schluchzen und fühlte sich betroffen. Hatte er etwas Falsches gesagt?

»Die Tote hat blonde, lange Haare, nicht wahr?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung war kaum noch zu hören. Er blickte fragend zu seinem Chef. Wie viel durfte er am Telefon verraten?

Schmitt nahm ihm schließlich den Hörer ab. »Hallo, hier spricht Kommissar Schmitt. Wir haben eine Frauenleiche aufgefunden, die Todesursache ist noch unklar. Das Alter ließ sich ebenfalls gestern Abend schlecht schätzen, aber sie hat tatsächlich blonde, lange Haare. Das muss aber noch nichts heißen. Es wäre wirklich gut, wenn Sie uns in die Gerichtsmedizin begleiten könnten. Dann wissen wir es ganz genau. Sollen wir Sie von irgendwo abholen, oder möchten Sie sich selbst dorthin begeben? Die Adresse lautet Münster, Röntgenstraße 23.« Sein Chef machte keine unnötigen Worte. Dirk lauschte auf die Antwort. »Ich komme dorthin, ich arbeite in Münster. Passt es Ihnen in einer Stunde?« Die Stimme vibrierte, und Sybille Horstmann legte sofort auf, nachdem Schmitt den Termin bestätigt hatte.

»Wir fahren los«, sagte Schmitt und schlüpfte in seinen Trenchcoat. Den hatte Dirk an seinem Chef noch nie gesehen, er musste neu sein. Unterwegs im Auto erklärte Schmitt ihm, dass der Gerichtsmediziner bereits angefangen habe. »Ich hoffe sehr, dass er die Leiche in einen vorzeigbaren Zustand versetzen kann, bevor unsere Frau Horstmann kommt. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir in einer Stunde wissen, wie unsere Tote heißt und wer sie ist.«

Aufgeregt saß Dirk neben dem Kommissar und sah aus dem Fenster, an dem die Baumreihen viel zu schnell vorbeizogen.

Eine halbe Stunde später wussten sie dann endlich, dass es tatsächlich ein Mord war, der in Telgte stattgefunden hatte. Dirk stand mit Schmitt zusammen in dem kalten, sterilen Raum der Gerichtsmedizin, vor ihnen auf dem Metalltisch lag die Leiche einer schlanken, großen Frau mit langen, blonden Haaren, aus denen nun Laub und Dreck herausgewaschen waren. Er erhaschte einen kurzen Blick auf den nackten Brustkorb, auf dem die berüchtigte T-Naht das Ende der Obduktion zeigte. Darüber hinaus konnte er sehr gut die lange Stichwunde sehen. Da hatte jemand mit viel Kraft ein Messer tief in den Körper gestoßen. Er schluckte. Für einen flüchtigen Moment sah die tote Frau seiner Ella ähnlich. Ihm wurde trotz der Kälte im Raum ganz heiß, wenn er daran dachte, einen geliebten Menschen so sehen zu müssen. Er wollte gleich besonders freundlich zu Frau Horstmann sein, nahm er sich vor.

»Das war ein brutaler Mord«, hörte Dirk jetzt die sonore Stimme des Gerichtsmediziners. Die vielen Bisswunden am Körper sind alle post mortem entstanden. Unsere Leiche ist bereits am Montag getötet worden.«

Dirk blickte zu seinem Chef, der sich am Ohr kratzte und ergeben nickte. Eventuell lag auch eine gewisse Erleichterung im Gesicht des Kommissars. Sein Chef legte sich lieber mit einem blutrünstigen Menschen an als mit einem wilden Tier. Der Gerichtsmediziner schob nun das grüne Tuch bis zum Kinn und schob achtsam die abgeschürfte Hand der Frau unter das Tuch. Bis auf eine blutige Schramme an der Stirn sah die Tote nun einigermaßen ansehnlich aus, sah man mal von der extremen Blässe der Haut ab.

»Gab es Abwehrspuren?«, fragte sein Chef.

»Schwer zu sagen.« Der Gerichtsmediziner machte ein bekümmertes Gesicht. »Unter den Fingernägeln haben wir jede Menge Dreck vom Waldboden gefunden. Sie ist zu Boden gegangen und hat im Todeskampf die Hände ins Laub gekrallt. Da müssen wir nun erst die Laborergebnisse abwarten, aber ich fürchte, es ist so schnell gegangen, dass wir keine verwertbaren Spuren finden werden. Vergewaltigt worden ist sie jedenfalls nicht.«

Also lag ein persönliches Motiv vor, kombinierte Dirk. Eine Spaziergängerin hatte ja kaum genug Werte bei sich, die einen Raubmord rechtfertigten. »Trug sie Schmuck bei sich?«, fragte er zur Sicherheit.

»Ja, drei Ringe und eine Kette, alles echt, aber bescheiden. Und sie hatte ein paar blaue Flecken, die aber älteren Datums sind.«

Sybille stöhnte genervt und bückte sich schon zum zweiten Mal nach ihrem Autoschlüssel. Sie betrachtete das rot geklinkerte Gebäude der Rechtsmedizin mit der weißen, zweiflügeligen Tür und betete. Lass es nicht Heidi sein, lass es nicht Heidi sein.

Sie hatte sich immer gefreut, wenn sie im Münsteraner Tatort einzelne Gebäude wiedererkannte. Hier in der Rechtsmedizin regierte Dr. Börne alias Jan Josef Liefers. Sie mochte den Schauspieler sehr, und sie liebte Krimis. Doch das hier war Realität und besaß nichts von dem Adrenalinzauber, wenn sonntagabends die Tatortmelodie ertönte. Sie zog die Nase hoch und betrat das Gebäude. Dort wurde sie schnell durch einige Gänge geführt und von einem älteren Herrn in einem schicken Trenchcoat in Empfang genommen.

»Liebe Frau Horstmann, ich bin Kommissar Schmitt, wir haben miteinander telefoniert.« Der Mann lächelte sie liebenswürdig an. »Bevor ich Sie nun zu der toten Frau führe, muss ich wissen, in welchem Verhältnis Sie zu der Frau stehen, die Sie vermisst gemeldet haben.«

»Heidi ist eine enge Freundin von mir. Wir kennen uns aber erst seit ein paar Jahren.«

Der Kommissar nickte und lächelte sie weiter an. »Gut. Dann schauen wir mal zusammen, und Sie nehmen sich alle Zeit, die Sie brauchen, in Ordnung?«

Mehr als ein Nicken brachte sie nicht zustande. Ihr Bauch krampfte sich zusammen, und in ihrem Kopf war nur noch Platz für das Mantra: Bitte lass es nicht Heidi sein.

»Erschrecken Sie nicht, liebe Frau Horstmann«, hörte sie die Stimme des Kommissars neben sich. »Mein Assistent Polizeibeamter Kemper und der Gerichtsmediziner Dr. Bohne sind ebenfalls mit im Raum.«

Nur vage bemerkte sie einen großen, schweren Mann im weißen Kittel und einen gut aussehenden, bedeutend jüngeren Mann in Uniform. Dieser trat nun zur Seite, und sie konnte den blonden Kopf einer Frau erkennen, während sie langsam näher an den Metalltisch herantrat. Das grelle Licht tat ihren Augen weh. Nur noch eine kleine Drehung des Körpers, und sie konnte in das Gesicht der Frau blicken. Ein beißender Geruch ging von der Leiche auf dem Tisch aus. Heidi hatte immer ein frisches, blumiges Parfum benutzt, dieser Geruch hätte ihr nicht gefallen. Sybille rümpfte die Nase und starrte in das fahle Gesicht. Sie blickte auf die leicht gekrümmte Nase, die hohen Wangenknochen und den zarten Mund. Dann glitt ihr Blick weiter über den verdeckten Körper.

»Soll ich sie weiter abdecken?«, hörte sie die Stimme von einem der Männer.«

Sie antwortete nicht, konnte den Blick aber auch nicht abwenden. Sie war ratlos. Nehmen Sie sich all die Zeit, die Sie brauchen, hatte der Kommissar gesagt, aber wie viel Zeit hatte sie wirklich? Sie konnte das Scharren der Füße neben sich hören. Als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte, schreckte sie auf.

»Frau Horstmann? Ist alles in Ordnung?« Es war der Polizist, der plötzlich ganz nah neben ihr aufgetaucht war. »Wollen Sie sich setzen?«

Sie schüttelte den Kopf. Das war es nicht. Sie fühlte sich nicht schwach, sie war total ratlos. »Kann ich ihre Füße sehen?«, fragte sie leise und wandte sich an das Ende des Tisches. Einer der Männer hob das Tuch hoch und legte die Füße frei. Alle zehn Nägel zeigten sich rot lackiert, größtenteils war der Lack aber nur noch rudimentär zu sehen. Im Herbst wurde man nachlässig mit den Füßen, stellte sie fest, sie selbst musste sich auch dringend die Zehen neu lackieren. Das sah ja scheußlich aus. Was für ein unnützer Gedanke, schalt sie sich und richtete sich auf.

»Das ist sie nicht. Das ist nicht Heidi!«

3. KAPITEL

Chef, Sie schweigen nun schon seit geraumer Zeit, und ich finde, dass wir durchaus etwas zu besprechen haben.« Sein Kollege hampelte ungeduldig neben ihm im Auto herum und versuchte, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wie ein Kindergartenkind.

Schmitt stöhnte. »Ich denke nach.« Das tat er wirklich. Er war sich so sicher gewesen, dass Sybille Horstmann sich von ihrer toten Freundin verabschieden musste. Er hatte sich bereits tröstende Worte zurechtgelegt. Stattdessen hatte die Frau nun vehement auf die Vermisstenmeldung gepocht. Ihre Freundin Heidi sei eventuell noch am Leben, man müsse sie dringend finden. Immerhin sehe die Leiche ihrer Freundin so ähnlich, als wäre es ihre jüngere Schwester. Erneut redete Kemper ungeduldig auf ihn ein, während er stur auf die Straße blickte und jede Kurve so weit wie möglich schnitt.

»Chef, was halten Sie denn jetzt davon? Will diese Sybille es nur nicht wahrhaben, dass ihre Freundin tot ist, lockt sie uns auf eine falsche Fährte, um Zeit zu gewinnen, oder hat die Tote eine ältere Schwester, die zufällig gleichzeitig verschwunden ist?«

»Ja«, nickte er, weil er all das für möglich hielt. Dann wandte er sich doch noch mit einem kurzen Blick seinem jungen Heißsporn zu. »Hören Sie, Kemper, der Gerichtsmediziner hat bestätigt, dass unsere Leiche erst Anfang bis Mitte dreißig war, also definitiv jünger als Heidi Klostermann. Wenn diese tote Frau eine Schwester von ihr ist, dann finden wir das heraus, und dann haben wir vielleicht unsere Leiche identifiziert.«

»Sybille Horstmann sagt, Heidi habe keine Schwester.«

»Und Sybille Horstmann begleitet ihre Freundin Heidi schon seit ihrer Geburt?«, fragte er den Polizisten. Die Frau hatte ihnen beiden erzählt, dass sie erst seit wenigen Jahren mit Heidi befreundet war.

»Ist ja schon gut, ich habe verstanden.« Sein Kollege guckte sich im Auto um. »Gibt es etwas zu essen in diesem rollenden Ausstellungsstück?«

»Hier wird nicht gekrümmelt. Der ist nur geliehen.« Er dachte an das Foto, das ihnen Sybille Horstmann von ihrer Freundin gezeigt hatte und das er nun auch auf seinem Diensthandy hatte. Die Ähnlichkeit der beiden blonden Frauen war verblüffend. Allein dem Foto nach konnte er selbst nicht mit Gewissheit sagen, ob die Tote nicht doch Heidi Klostermann war. Dazu wies die Leiche zu viele Leichenflecken auf und sah dadurch älter aus, als sie eventuell war. Aber es gab Fachleute, die Fotos biometrisch mit Hilfe von Software vergleichen konnten. In wenigen Stunden würden sie wissen, ob Sybille Horstmann eine Freundin verloren hatte. Na ja, verloren hatte sie sie in jedem Fall, erinnerte er sich. Heidi Klostermann war ja zunächst mal wie vom Bildschirm verschwunden. Denn auch die Firma hatte bestätigt, dass die Biologin nicht zur Arbeit erschienen war. Sie mussten sich dringend die Wohnung von dieser Heidi anschauen, aber so einfach kam er da nicht rein. Schließlich lag weder ein dringender Tatverdacht gegen die Frau vor noch ein bestätigter Tod.

Schmitt blickte nach rechts zu seinem hungrigen Beifahrer. Es juckte ihm in den Fingern, den Polizisten heimlich durch die Wohnung zu schicken. Kemper war der richtige Mann für solche Aufträge. Er ahnte, dass da noch eine Welle auf sie zurollen würde. Wenn er an seinen Unfall von gestern Abend dachte, hätte er beinahe während der vollen Fahrt die Augen geschlossen. Nie und nimmer hätte er seinen Wagen verlassen. Er hatte die Warnblinkanlage angeschaltet und auf Hilfe gewartet. Leichte Röte stieg ihm ins Gesicht, denn er war auch zu einer medizinischen Untersuchung nicht ausgestiegen. Na gut, da hatte der Sanitäter eben im Auto den Blutdruck messen und die Platzwunde versorgen müssen. In seinem Alter war ihm nicht mehr so viel peinlich. Leider spürte er dennoch, wie sein Gesicht röter und röter wurde. Doch es war keine marodierende Wildschweinrotte, die nun auf sie zukam. Gott sei Dank. Lieber einen verrückten Mörder jagen, als so einem Urzeitvieh in die Augen schauen zu müssen.

Sie waren in Telgte angekommen, und er parkte den Leihwagen vor der kleinen Polizeiwache.

Kemper stieg aus und verkündete: »Ich renn eben zum Bäcker Mönning rüber, brauchen Sie etwas?«

Er bat um ein Käsecroissant und betrat die Bezirksdienststelle, wo er gleich die Fotos von der Leiche und von Heidi Klostermann einem kundigen Beamten überließ.

Schmitt hatte sich gerade eine Tasse Kaffee eingegossen und wartete auf sein Croissant, da erhielt er auch schon das Ergebnis. »Kommissar Schmitt?«, fragte der Kollege aus Telgte, dessen roter Bart für Schmitts Geschmack viel zu lang war. Zottelig sah das aus.

»Ja, kommen Sie rein. Was haben Sie für mich?« Er zeigte auf einen Stuhl, denn er hasste es, wenn Leute auf ihn herunterschauten.

»Also, die beiden Personen sind nicht identisch.«

»Das ist sicher?«, hakte Schmitt nach.

»Zu siebenundneunzig Prozent. Die Ähnlichkeit ist aber so frappierend, dass wir von einer Verwandtschaft ausgehen können.« Der Beamte nickte und schaute ihn aus blassblauen Augen an.

»Geschwister?«

»Ich denke schon. Leider gibt das Foto keine DNA her.«

Das sollte wohl ein Scherz sein, der aber kein Grinsen wert war, fand Schmitt. Nachdenklich starrte er auf den roten Bart und sprach eher zu sich selbst als zu dem Beamten, den er eigentlich gar nicht kannte. Seine eigene Dienststelle lag ja in Warendorf. »Wenn die beiden Frauen miteinander verwandt sind und eine nun tot ist, die andere verschwunden, müssen wir dringend von einem Zusammenhang ausgehen, richtig?«

»Sie sind der Kommissar.«

Den Satz hörte er zwar gerne, er brachte ihn aber nicht weiter. »Dann sollten wir uns nun einen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung von Heidi Klostermann besorgen.«

»Das mache ich als Ihr erster Assistent.« Kemper war ins Zimmer geschlendert und raschelte mit diversen Brottüten. Eine reichte er seinem Chef.

»Ich habe nicht alles mitbekommen. Ist unsere Tote nun doch Heidi Klostermann?« Zu Schmitts Entsetzen griff Kemper noch während des Sprechens in eine Tüte und biss kräftig in das Käsebrötchen, das er herausgeholt hatte. Mit einem hungrigen Blick drehte sich der Telgter Beamte zur Brötchentüte und zu Kemper. Der hielt ihm die Tüte hin, in der sich offenbar noch ein weiteres Brötchen befand. »Kannst du mitnehmen«, bot Kemper großzügig an.

Zwei kauende Beamte in dem kleinen Büro brauchte Schmitt nicht, und er schickte den rothaarigen Kollegen nun mit dankenden Worten hinaus und setzte Kemper in knappen Worten über den neuen Ermittlungsstand in Kenntnis. »Also, ich möchte einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung von Heidi Klostermann haben. Gefahr in Verzug, Mordermittlung, lassen Sie sich etwas einfallen. Ich will noch heute Nachmittag in die Wohnung.«

Kemper nickte ihm kauend zu und setzte sich an den Computer, um den Antrag loszuschicken. Kemper war in mancher Hinsicht ein Flegel, aber er schätzte den jungen Polizisten, der sich mit Eifer in jeden Fall stürzte und ihm den Rücken frei hielt. Auch gegen Wölfe, Pferde und Wildschweine. Er nahm sich den Obduktionsbericht noch mal vor. An der Leiche war nur tierische DNA gefunden worden. Tierische DNA! Was hatte die tote Frau im Wald gemacht? Sie war sicher nicht zufällig bei einem Spaziergang ein Opfer geworden.

»Ist das Handy oder irgendein anderer Besitz mittlerweile wieder aufgetaucht? Ist die Spusi noch mal bei Tageslicht los?«, fragte er Kemper und malte zwei Augen auf ein Schmierblatt.

»Ja, natürlich. Bislang ohne Meldung.«

»Fressen Schweine nicht auch Elektronik?«, fragte er. »Ich habe mal gelesen, dass ein Bauer in seinem Schweinestall einen Herzinfarkt bekommen hat und tot zusammenbrach. Von dem war hinterher kaum noch etwas zu finden.«

Kemper lachte und sah auf. »Ja, von der Geschichte habe ich auch schon gehört. Aber ich denke nicht, dass die Tiere in freier Wildbahn ein so krankes Verhalten an den Tag legen. Wollen Sie, dass wir noch mal zum Fundort der Leiche fahren?«

»Auf gar keinen Fall. Das nächste Wildschwein, dem ich begegne, befindet sich als Gulasch auf meinem Teller. Außerdem, Kemper, ist es wohl auch der Tatort. Immerhin hat die Frau ihre Hände im Todeskampf ins Erdreich gegraben.« Das Augenverdrehen des Polizisten übersah er einfach.

Um vierzehn Uhr kam die Bewilligung des Durchsuchungsbeschlusses, und Schmitt sprang auf – froh, etwas tun zu können. Die Vermisstenmeldungen aus der Umgebung hatten keine Treffer erzielt. Als sie bei dem Haus ankamen, in dem Heidi Klostermann wohnte, ging gleich ein Fenster am Nachbarhaus auf und eine Frau mittleren Alters mit blond getönten Haaren beugte sich heraus. Schmitt guckte hoch und grüßte. Neugierige Nachbarn waren wunderbare Zeugen und Informanten, wusste er.

»Oje, ist was mit Heidi?«, fragte die Frau mit Blick auf Kemper, der anders als Schmitt eine Uniform trug.

»Wir wollen uns mal in der Wohnung umsehen«, erklärte Schmitt ihr und guckte die Straße entlang, ob der Schlüsseldienst, den sie offiziell mit dem Öffnen der Tür beauftragen mussten, schon da war. Zeit für einen Plausch, noch kamen sie eh nicht ins Haus. »Wann haben Sie denn Frau Klostermann zuletzt gesehen?«

»Am Montag, als sie von der Arbeit kam.« Sie beugte sich noch ein Stück tiefer vor und legte die Arme lässig auf die Brüstung.

Hoffentlich fiel sie ihm nicht noch vor die Füße, dachte er und beobachtete fasziniert, wie sich über ihr eine Spinne an einem Faden herunterließ. Sein Kollege war schon vorausgegangen und lungerte im Garten herum.

»Haben Sie schon einmal eine Frau hier beobachtet, die der Frau Klostermann ähnlich sah, oder wissen Sie, ob sie eine jüngere Schwester hatte?« Er blinzelte, als ein einsamer Sonnenstrahl ihn traf.

Die Dame schmunzelte. »Wenn Sie glauben, dass ich meine Nachbarn beobachte, haben Sie wahrscheinlich sogar ein klein wenig recht. Aber ich tue dies nur wohlwollend, das wissen alle.« Sie lachte ihn verschmitzt an. »Nein, ich habe nie etwas von einer Schwester gehört. Die Sybille, ihre Freundin, kam halt öfter her. Wenn die es nicht weiß, weiß es keiner. Hören Sie mal, jetzt möchte ich aber auch etwas wissen. Wer ist denn nun die tote Frau, die im Klatenberg gefunden wurde? Und ist es wahr, dass die Wildschweine neuerdings Spaziergänger angreifen? Ich habe schon einmal welche aus meinem Garten vertreiben müssen.«

Schmitt war sich nicht sicher, ob sie ihn auf den Arm nehmen wollte. Verstohlen blickte er um sich. Die Häuser hier besaßen recht ordentliche Gartengrundstücke und befanden sich nicht weit weg vom Waldgebiet. Unwillkürlich machte er einen Schritt rückwärts in Richtung Auto. Um den Garten der Nachbarin verlief eine Hecke, kein Hindernis für eine Wildsau. Er hörte sie lachen. Offenbar machte sich die Nachbarin nicht allzu viele Sorgen um Heidi.

»Wenn man so laut ist wie wir, kommt kein Wildschwein raus, Herr Kommissar. Nun erzählen Sie schon.«

Er wandte sich ihr wieder zu. »Sie haben doch bestimmt schon im Radio gehört, dass die Tote erstochen wurde, oder? Es handelt sich nicht um Ihre Nachbarin, die Identität muss noch geklärt werden.«

Sie nickte. »Das wusste ich schon. Ich habe Sybille eben angerufen. Ah, Sie haben den Schlüsseldienst bestellt.«

Schmitt folgte ihrem Blick. Ein roter Bulli parkte hinter seinem Wagen.

»Ich hätte auch einen Haustürschlüssel gehabt, Sie hätten nur fragen müssen«, meinte die Nachbarin.

Schmitt drehte sich wieder um und starrte sie verblüfft an. War die so phlegmatisch oder provozierte sie gerne ihre Mitmenschen? »Danke für Ihre Mitarbeit. Ich denke, dass ich Sie in Bälde noch vorlade, damit Sie eine Zeugenaussage tätigen.« Und mit diesen gestelzten Worten drehte er sich um und begrüßte einen Mitarbeiter der Firma Gertzen.

Fünf Minuten später sprang die weiße Wohnungstür auf, und etwas Pelziges glitt aus dem Spalt zwischen Hauswand und Türrahmen. Schmitt griff erschrocken das Nächste, was in seiner Reichweite war, und fand sich eng an den Mann vom Schlüsseldienst gepresst.

Kemper lachte laut. »Es ist nur eine kleine Hauskatze. Das hätte die Dame am Fenster uns ruhig sagen können. Immerhin muss der kleine Kerl doch versorgt werden.«