Die Rückkehr der Götter - Fernando Pessoa - E-Book

Die Rückkehr der Götter E-Book

Fernando Pessoa

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Beschreibung

»Bei einem so großen Mangel an Literatur, den es heutzutage gibt, was kann da ein Mensch von Genie anders machen, als sich, nur für sich allein, in eine Literatur zu verwandeln?« So formulierte Fernando Pessoa sein Lebensprojekt: Er erfand eine Reihe von Schriftstellern, die er mit Lebensläufen, Horoskopen und auch Visitenkarten versah. Ihnen legte er Bücher in die Feder und brachte ein ganzes Drama aus Leuten hervor, denn »bei einem so großen Mangel an gleichgesinnten Leuten, den es heute gibt, was kann da ein Mensch von Sensibilität anders machen, als seine Freunde oder zumindest seine Geistesgefährten zu erfinden?« Auf der Messerschneide der Moderne, zwischen der Technikbegeisterung und dem verlorenen Glauben, umkreisten seine Heteronyme die Frage, ob die empfundene Gottferne nicht in Wahrheit eine »Rückkehr der Götter« ankündige. Pessoa stellte diese Aufgabe António Mora, aber in Die Rückkehr der Götter finden sich nicht nur seine Aufzeichnungen, sondern auch die Beiträge der anderen Stimmen zu dem Thema. So bietet der Band die umfassendste Einführung in die zentrale Gedankenflucht des größten modernen Dichters Portugals.

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Seitenzahl: 713

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Fernando Pessoa

ANTÓNIO MORA et al.Die Rückkehr der Götter

Erinnerungen an den Meister Caeiro

Übersetzt, herausgegeben und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Steffen Dix

FISCHER E-Books

Inhalt

Genese und Rechtfertigung der Heteronymie[Bewußtsein der Pluralität][Vorstellung der Heteronyme](Ansichten [Vorbemerkung zur geplanten Edition seiner Werke])[Ein Mythenschöpfer][Die Heteronyme und die Stufen der Dichtung]Vorwort zu den Fiktionen eines Zwischenspiels[Die Genese der Heteronymie][Briefe an Adolfo Casais Monteiro]Anmerkungen zur Erinnerung an meinen Meister Caeiro12345678910111213141516171819202122Aus einem Brief an CaeiroAllgemeines Programm des Portugiesischen NeuheidentumsAufzeichnungen zu einem Vorwort für Alberto Caeiro[Projektskizze zu einem] Vorwort von Ricardo Reis: Aufteilung:123456789101112131415161718192021222324 Gestaltende Elemente des Christismus2526272829303132 Die Götter: ihre Verteidigung33 Die Götter343536373839404142 Das Baugerüst4344[Anhangstexte]4546 An Alberto Caeiro:47Die Rückkehr der Götter – Das heidnische Ideal1 Die Rückkehr der Götter2 Das heidnische Ideal3Wissenschaft und Religion (Zu einer Studie über die Disziplin?)1234567891011121314151617In der Heilanstalt von Cascaes1234567891011121314151617181920Die Rückkehr der Götter1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556575859606162636465666768Prolegomena zu einer Reform des Heidentums (Allgemeine Theorie des Neuen Heidentums)1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738Die Fundamente des Heidentums123456789101112131415161718192021222324252627282930Einführung in das Studium der Metaphysik1 Hauptprinzipien:23456789Ein Entwurf zur Disziplin12Abhandlung zugunsten Deutschlands und seinem Vorgehen im gegenwärtigen Krieg1234567891011121314151617181920212223242526272829[Auswahl einiger Projekte Pessoas mit Hinweis auf António Mora]Athena – Zeitschriftenprogramm von Caeiro, R. Reis etc.Das höhere Heidentum1234567Erläuterung der ZeichenNachwort des ÜbersetzersZur Zusammenstellung und Übertragung der TexteEinige inhaltliche Anmerkungen

Genese und Rechtfertigung der Heteronymie

Fernando Pessoa

[Bewußtsein der Pluralität]

Ich weiß nicht, wer ich bin, welche Seele ich habe.

Spreche ich in aller Aufrichtigkeit, dann bin ich mir nicht sicher, mit welcher Aufrichtigkeit ich spreche. Ich bin auf vielfältige Weise anders als dieses eine Ich, von dem ich nicht genau weiß, ob es existiert (wenn es denn diese anderen ist).

Ich fühle Glaubensüberzeugungen, die ich nicht habe. Mich entzücken Seelenängste, die ich von mir stoße. Die andauernde Aufmerksamkeit mir selbst gegenüber weist mich beständig auf den Verrat der Seele an einem Charakter hin, den ich vielleicht nicht habe, von dem sie selbst nicht einmal glaubt, ich hätte ihn.

Ich fühle mich vielfältig. Ich bin wie ein Zimmer mit unzähligen, wunderlichen Spiegeln, die eine einzige frühere Realität zu falschen Reflexen verziehen, und die dann schließlich in keinem und in allen erscheint.

Wie ein Pantheist sich als ein […] Baum oder sogar als eine Blume fühlt, so fühle ich mich als verschiedene Wesen. Ich fühle mich fremde Leben leben, in mir und auf unvollendete Weise, als ob mein Sein an allen Menschen teilhätte, unvollendet in jedem […], durch eine Summe von zusammengefaßten Nicht-Ichs in einem falschen Ich.

*

Sei vielfältig wie das Universum!

*

Da wir Portugiesen sind, schickt es sich an zu wissen, was wir sind.

a Die Anpassungsfähigkeit, die im Geistigen eine Unbeständigkeit hervorruft und somit eine Mannigfaltigkeit des Individuums innerhalb seiner selbst. Ein richtiger Portugiese ist verschiedene Personen.

b Die Vorherrschaft der Emotion über die Leidenschaft. Wir sind zärtlich und nicht sehr durchdringend; im Gegensatz zu den Spaniern – unseren absoluten Antipoden – , die leidenschaftlich und kalt sind.

 

Ich fühle mich nie portugiesischer, als wenn ich mich von mir verschieden fühle – Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos, Fernando Pessoa und wie viele es sonst noch geben sollte oder geben wird.

*

[Vorstellung der Heteronyme](Ansichten [Vorbemerkung zur geplanten Edition seiner Werke])

Das gesamte Werk, dessen erster Band hier vorliegt, ist in seiner Grundsubstanz, wenn auch in einer anderen Form, ein Drama – hier gibt es Prosastücke, in anderen Büchern findet man Gedichte oder Philosophien.

Es ist, ich weiß nicht, ob es sich um ein Privileg oder um eine Krankheit handelt, eine mentale Konstitution, die das hervorruft. Zweifellos ist es jedoch eine Tatsache, daß der Autor dieser Zeilen – von dem ich nicht genau sagen kann, ob er auch der Autor dieser Bücher ist – niemals nur eine Persönlichkeit hatte, weder dachte noch fühlte er anders als dramatisch, das bedeutet in einer gewissen Person oder in einer gewissen Persönlichkeit, vorausgesetzt, diese könne bestimmte Gefühle deutlicher als er selbst verspüren.

Es gibt Autoren, die Dramen und Novellen schreiben; und in diesen Dramen und in diesen Novellen sprechen sie den Figuren Gefühle und Ideen zu, die in der Lage sind, ihnen ein eigenes Leben zu geben, und oftmals entrüsten sich die Autoren, wenn man diese für ihre eigenen Gefühle oder ihre eigenen Ideen hält. Die Substanz ist hier dieselbe, obschon die Form eine andere ist.

Jeder länger andauernden Persönlichkeit, die der Autor dieser Bücher in sich leben konnte, hat er eine eigene ausdrucksstarke Wesensart gegeben und entwickelte aus dieser Persönlichkeit einen Autor mit einem oder verschiedenen Büchern, mit Ideen, Emotionen und einer Kunst, mit der er, der wirkliche Autor (oder der scheinbare, da wir ja nicht wissen, was die Wirklichkeit ist), nichts gemeinsam hat, ausgenommen, daß er, so wie er sie schreibt, das Medium der von ihm selbst erschaffenen Figuren ist.

Weder dieses Werk noch die ihm folgenden haben irgend etwas mit demjenigen gemeinsam, der sie niederschreibt. Weder stimmt er mit dem überein, was in ihnen geschrieben steht, noch ist er einer anderen Meinung. Er schreibt, als ob man ihm diktieren würde und als ob ihm ein Freund diktieren würde, der eben als Freund auch mit Recht darum bitten könnte, daß dies niedergeschrieben wird, was er diktiert, hält er das für interessant – vielleicht nur aus Freundschaft – , was er dabei unter dem Diktat schreibt.

Der menschliche Autor dieser Bücher kennt in sich selbst keine eigene Persönlichkeit. Wenn er aber einmal eine Persönlichkeit in sich auftauchen fühlt, so bemerkt er frühzeitig, wie sie ein ihm selbst zwar ähnliches, aber doch unterschiedliches Wesen hat; ein geistiger Sohn vielleicht und mit ererbten Eigenschaften, aber doch immer mit all den Differenzen eines unterschiedlichen Wesens.

Ob diese Eigenschaft im Schriftsteller nun eine Form der Hysterie oder eine sogenannte Persönlichkeitsspaltung ist, der Autor dieser Bücher kann es weder bestreiten noch bekräftigen. Als ein Sklave der Vielfältigkeit seiner selbst brächte es ihm nichts ein, die eine oder die andere Theorie über die schriftlichen Ergebnisse dieser Vielfältigkeit zu bestätigen.

Es verwundert nicht, daß dieser Prozeß der Erschaffung von Kunst eine Befremdung verursacht; was vielmehr verwunderlich wäre, ist die Überlegung, es könne überhaupt irgendeine Sache geben, die keine Befremdung hervorriefe.

Einige Theorien, die vom Autor gegenwärtig vertreten werden, wurden ihm durch die eine oder andere dieser Persönlichkeiten eingegeben, die für einen Moment, eine Stunde oder einige Zeit in seiner eigenen Persönlichkeit, angenommen sie existiert, zum Ausdruck kamen.

Die Behauptung zu vertreten, diese vollkommen unterschiedlichen, deutlich beschriebenen Männer, die ihm sphärenhaft die Seele durchquerten, würden nicht existieren – dazu kann sich der Autor dieser Bücher nicht aufraffen, da er ja nicht einmal weiß, was existieren überhaupt bedeutet, noch wer wirklicher ist, Hamlet oder Shakespeare, oder ob sie in Wahrheit überhaupt wirklich sind.

Bei diesen Büchern handelt es sich vorläufig um folgende: Zum ersten den Band Das Buch der Unruhe, geschrieben von jemandem, der von sich selbst behauptet, Vincente Guedes[1] zu heißen; ferner um den Band Der Hüter der Herden und andere Gedichte und Fragmente von Alberto Caeiro, der 1889 in der Nähe von Lissabon geboren wurde und dort auch 1915 gestorben ist. Wenn einer sagen wollte, es sei absurd, von jemandem zu sprechen, der niemals existiert hat, so würde ich ihm entgegnen, daß es auch keinerlei Bestätigung darüber gebe, ob Lissabon jemals existiert habe oder ich, der dieses schreibt, oder irgendeine Sache sonst.

Alberto Caeiro hatte zwei Anhänger und einen philosophischen Nachfolger. Die beiden Anhänger, Ricardo Reis und Álvaro de Campos, folgten unterschiedlichen Wegen, indem der erste versuchte, das von Caeiro entdeckte Heidentum auszubauen und es künstlerisch in ein orthodoxes zu verwandeln, und der zweite, sich auf einen anderen Teil im Werk Caeiros berufend, ein vollkommen verschiedenes System entwickelte, das sich vollständig auf die Sinneswahrnehmungen begründet. Der philosophische Nachfolger, António Mora (die Namen sind so unvermeidlich, so von außen auferlegt wie die Persönlichkeiten), schreibt an einem oder zwei Büchern, in denen er vollständig die metaphysische und praktische Wahrheit des Heidentums beweisen wird. Ein zweiter Philosoph dieser heidnischen Schule, dessen Name jedoch noch nicht in meiner inneren Vision oder in meinem inneren Gehör auftauchte, wird eine Verteidigung des Heidentums geben, die insgesamt auf anderen Argumenten basiert.

Es ist durchaus möglich, daß später noch andere Individuen von derselben Art einer wahrhaftigen Wirklichkeit erscheinen werden. Ich weiß es nicht; aber sie werden immer herzlich willkommen sein in meinem inneren Leben, in dem sie mit mir besser zu leben vermögen, als ich mit der äußeren Wirklichkeit leben kann. Ich brauche wahrscheinlich nicht zu sagen, daß ich mit einem Teil der Theorien von ihnen übereinstimme, mit anderen Teilen nicht übereinstimme. Diese Dinge sind absolut gleichgültig. Wenn sie schöne Dinge schreiben, so sind sie schön, unabhängig von irgendwelchen metaphysischen Erwägungen über ihre »wirklichen« Autoren. Wenn sie in ihren Philosophien irgendwelche Wahrheiten darlegen – wenn es denn Wahrheiten in dieser Welt überhaupt gibt, was soviel bedeuten kann wie das, daß es nichts gibt – , so sind diese Dinge vollkommen unabhängig von der Intention oder der »Wirklichkeit« desjenigen, der sie ausgesprochen hat.

In dieser Weise ist aus mir wenigstens ein Verrückter mit überstiegenen Träumen geworden oder zumindest nicht nur ein Schriftsteller, sondern eine ganze Literatur; und wenn diese nicht dazu beitragen könnte, mich zu unterhalten, was für mich schon ausreichend wäre, so trägt sie vielleicht dazu bei, das Universum zu erweitern. Wenn jemand nach seinem Tode einen schönen Vers hinterlassen hat, dann hat er Himmel und Erde reicher gemacht und fühlbar geheimnisvoller den Grund für das Vorhandensein von Sternen und Menschen.

Bei einem so großen Mangel an Literatur, den es heutzutage gibt, was kann da ein Mensch von Genie anderes machen, als sich, nur für sich allein, in eine Literatur zu verwandeln? Bei einem so großen Mangel an gleichgesinnten Leuten, den es heutzutage gibt, was kann da ein Mensch von Sensibilität anderes machen, als seine Freunde oder zumindest seine Geistesgefährten zu erfinden?

Zuerst dachte ich daran, diese Werke in bezug auf meine Person anonym zu publizieren und zum Beispiel ein portugiesisches Neuheidentum mit verschiedenen und vollkommen unterschiedlichen Autoren, die an diesem mitarbeiten und es erweitern, zu begründen. Aber so wie das portugiesische intellektuelle Niveau viel zu gering ist, um diese Maske (ohne irgendeine Untreue) aufbehalten zu können, wäre selbst die geistige Anstrengung unnütz, sie auch tatsächlich aufzubehalten.

Ich habe in meiner Vision, die ich nur innerlich bezeichne, da ich die festgelegte »Welt« als äußerlich bezeichne, im wesentlichen die Physiognomie, die Charakterzüge, das Leben, die Aszendenz und in einigen Fällen den Tod dieser Personen fixiert, deutlich herausgebildet und unterschieden. Einige von ihnen kennen sich untereinander, andere nicht. Mich persönlich kennt keiner, ausgenommen Álvaro de Campos. Wenn ich morgen aber nach Amerika reisen würde und plötzlich auf die physische Gestalt von Ricardo Reis träfe, der meines Erachtens dort lebt, so würde mir nicht im geringsten irgendein Erstaunen aus der Seele in den Körper fahren; es wäre alles richtig, vielmehr es müßte so sein. Was ist das Leben?

*

[Ein Mythenschöpfer]

Die Reihe oder die Sammlung der Bücher, deren Publikation mit einem von diesen beginnt, repräsentiert keinen neuen Prozeß in der Literatur, sondern nur eine neue Art, einen bereits alten Prozeß zu gebrauchen.

*

Ich wünsche, ein Mythenschöpfer zu sein. Es ist das höchste Mysterium, das man innerhalb der Menschheit ausführen kann.

*

Die Anfertigung dieser Werke manifestiert nicht irgendeine Art metaphysischer Meinung. Ich will sagen: Mit dem Beschreiben dieser »Ansichten« der Wirklichkeit, zusammengefaßt in Personen, die sie haben könnten, verfolge ich keine Philosophie, die nahelegen würde, es wäre nur wirklich, Ansichten von einer entweder illusorischen oder nicht existenten Wirklichkeit zu haben. Ich habe weder diese noch eine gegenteilige philosophische Überzeugung. Innerhalb meiner streng literarischen Berufung bin ich professionell, aber noch in einem höheren Sinne, der durch diesen Ausdruck zugelassen wird; das heißt, ich bin ein wissenschaftlicher Arbeiter, der sich selbst nicht erlaubt, eine fremde Meinung gegenüber dem literarischen Fachgebiet zu haben, dem er sich hingibt. Das Fehlen der einen oder anderen philosophischen Meinung hinsichtlich der Anfertigung von diesen Bücher-Personen sollte jedoch nicht zu der Annahme verleiten, ich wäre ein Skeptiker. Die Frage bewegt sich auf einer Ebene, auf der die metaphysische Spekulation, die hier eigentlich nicht legitim hingehört, diesen oder jenen Charakter entschuldigt. Wie ein Physiker keine Metaphysik innerhalb seines Labors besitzt und ein Mediziner sie nicht in seiner Diagnose hat, […] nicht, daß sie sie nicht haben könnten, sondern weil […], und so existiert mein metaphysisches Problem nicht, da es zwischen den Umschlägen meiner nichts mit mir zu tun habenden Bücher nicht existieren kann und darf.

*

[Die Heteronyme und die Stufen der Dichtung]

Einige dieser Figuren nehme ich in Erzählungen auf oder in Untertiteln von Büchern und unterzeichne mit meinem Namen das, was sie sagen; andere entwerfe ich vollständig, unterschreibe aber nicht, ohne den Hinweis zu geben, daß ich sie hervorgebracht habe. Die Arten dieser Figuren lassen sich in folgender Weise voneinander unterscheiden: Es sind die, die ich absolut hervorhebe, selbst der Stil ist mir fremd, und wenn es die Figur notwendig macht, dann ist er sogar das vollkommene Gegenteil von meinem; die Figuren, bei denen ich unterschreibe, unterscheiden sich nicht von meinem eigenen Stil, außer in unvermeidlichen Einzelheiten, ohne die sie sich nicht voneinander abheben würden.

Ich werde einige dieser Figuren miteinander vergleichen, um zu zeigen, worin zum Beispiel diese Differenzen bestehen. Der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares und der Baron von Teive[2] – beide Figuren haben nichts mit mir zu tun – schreiben beide in derselben Stilsubstanz, mit derselben Grammatik und derselben eigentümlichen Art oder Form: Sie schreiben in einem Stil, der, ob gut oder schlecht, gleich meinem ist. Ich vergleiche die beiden, da sie Beispiele für ein und dasselbe Phänomen sind – es ist die Nichtanpassung an die Realität des Lebens oder noch vielmehr die Nichtanpassung aus denselben Motiven und Gründen. Aber während das Portugiesisch bei Baron von Teive und bei Bernardo Soares von der gleichen Art ist, so wankt doch etwas der Stil; der des Adligen ist intellektuell, von Bildern entkleidet, ein wenig – wie soll ich sagen? – steif und eng; der des Bürgerlichen ist flüssig, an der Musik und der Malerei teilhabend, ein wenig architektonisch. Der Adlige denkt klar, schreibt klar, beherrscht seine Emotionen, obgleich nicht seine Gefühle; der Hilfsbuchhalter dagegen beherrscht weder seine Emotionen noch seine Gefühle, und wenn er denkt, dann ist es ein erweitertes Fühlen.

Es gibt zum anderen bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen Bernardo Soares und Álvaro de Campos. Aber bei Campos tritt sofort die Nachlässigkeit des Portugiesischen zutage, die Gelöstheit im Bildlichen, es ist intimer und weniger beabsichtigt als bei Soares.

Es gibt Fälle im Auseinanderhalten der einen von den anderen, die wie schwere Packen in meinem Unterscheidungsvermögen lasten. So das Auseinanderhalten der musikalischen Komposition des Bernardo Soares von einer Komposition im gleichen Tenor, die meine ist.

Es gibt Momente, in denen ich das alles unvorhergesehen vollbringe, mit einer Perfektion, die mich entsetzt; die mich unbescheiden entsetzt und die mich, wie ich nicht einmal an ein Bruchstück menschlicher Freiheit glaube, entsetzt, da sich alles in mir vollzieht, wobei es mich aber ebenso entsetzen würde, wenn es sich in anderen vollziehen würde – in zwei Fremden.

Nur eine große Intuition kann der Kompaß in den offenen Feldern der Seele sein; nur mit einem Sinn, der sich der Intelligenz bedient, sich ihr aber nicht angleicht, obwohl er sich hier auf sie begründet, kann man diese Traumfiguren in ihrer Wirklichkeit eine von der anderen unterscheiden.

*

In diesen Persönlichkeitsspaltungen oder vielmehr in den Erfindungen von unterschiedlichen Persönlichkeiten gibt es zwei Stufen oder Typen, die sich dem Leser, wenn er ihnen aufmerksam folgt, durch verschiedene Charakteristiken offenbaren werden. In der ersten Stufe unterscheidet sich die Persönlichkeit anhand eigener Ideen und Gefühle, die nichts mit meinen zu tun haben; ebenso wie auf einem niederen Niveau dieser Stufe, auf dem sie sich nur anhand von Ideen unterscheidet, die zwar rational und argumentativ dargelegt sind, die aber auch nicht die meinen sind; oder selbst wenn sie es wären, dann kenne ich sie nicht. Der Anarchistische Bankier ist ein Beispiel dieses niederen Niveaus; das Buch der Unruhe und die Person Bernardo Soares entsprechen der höheren Stufe.

Der Leser sollte bemerken, daß, obwohl ich das Buch der Unruhe publizieren würde (publizieren werde), als ob es von einem Bernardo Soares, Hilfsbuchhalter in der Stadt Lissabon, wäre, ich es doch nicht vollständig in die Fiktionen eines Zwischenspiels[3] einschließen kann. Bernardo Soares unterscheidet sich zwar von mir in seinen Ideen, seinen Gefühlen, seiner Art des Sehens und Verstehens, er unterscheidet sich aber nicht von mir im Stil, in dem er dies alles zum Ausdruck bringt. Anhand des mir eigenen Stils entstand eine andere Persönlichkeit, in der es nicht mehr gab als die unvermeidliche Unterscheidung des besonderen Tons, der die spezifische Eigenheit der Emotionen notwendig abzeichnet.

Bei den Autoren der Fiktionen eines Zwischenspiels sind es nicht nur die Ideen und die Gefühle, die sich von den meinen unterscheiden: Selbst die Technik der Komposition, selbst der Stil hebt sie von mir ab. Hier ist jede Persönlichkeit vollständig verschieden kreiert und nicht nur unterschiedlich gedacht worden. Daher herrscht der Vers in den Fiktionen eines Zwischenspiels vor. In der Prosa ist es schwieriger, ein anderer zu sein.

*

Aristoteles gliederte die Dichtkunst in die lyrische, die elegische, die epische und in die dramatische. Wie alle gut durchdachten Klassifikationen ist diese brauchbar und klar; wie alle Klassifikationen ist sie falsch. Die Genres lassen sich nicht mit einer derartig vertrauten Einfachheit unterteilen, vielmehr, wenn wir deutlich jenes untersuchen, aus dem sie sich zusammensetzen, werden wir sehen, wie es von der lyrischen bis zur dramatischen Poesie eine kontinuierliche Abstufung gibt. In der Tat, und wir können bis zu den eigentlichen Wurzeln der dramatischen Dichtkunst – zum Beispiel bis zu Aischylos – zurückgehen, wäre es zutreffender zu sagen, daß die lyrische Dichtung nur in den Mund von verschiedenen Persönlichkeiten gelegt wird.

Die erste Stufe der Poesie ist jene, in welcher der Dichter, sich auf sein Gefühl konzentrierend, dieses Gefühl ausdrückt. Wenn er allerdings ein Geschöpf mit wechselnden oder verschiedenartigen Gefühlen ist, so wird er sie ausdrücken, als ob es eine Vielzahl an Persönlichkeiten gäbe, die lediglich durch Temperament und Stil vereint sind. Noch eine Stufe weiter auf der poetischen Skala und wir treffen auf den Dichter mit verschiedenen und fiktiven Gefühlen, die aber eher imaginär als tatsächlich gefühlt sind, und der jeden Zustand seiner Seele vielmehr durch die Intelligenz als durch die Emotion lebt. Dieser Dichter wird sich ausdrücken als eine Vielzahl von Persönlichkeiten, die aber schon nicht mehr durch Temperament und Gefühl vereint sind, da das Temperament durch die Imagination und das Gefühl durch die Intelligenz ersetzt wurden, die sich allerdings noch in demselben einfachen Stil äußern. Ein weiterer Schritt auf derselben Skala der Entpersönlichung oder auch der Imagination und wir treffen auf den Dichter, der sich jedem einzelnen seiner verschiedenen mentalen Zustände in einer Form hingibt, in der er sich gänzlich entpersönlicht, so daß, wenn er analytisch jeden einzelnen Seelenzustand lebt, er aus ihm auch den Ausdruck einer anderen Persönlichkeit macht und daher selbst den Stil zu variieren versucht. Geht man nun den letzten Schritt, so werden wir einen Dichter antreffen, der verschiedene Dichter ist, einen dramatischen Dichter, dessen Dichtung lyrisch ist. Jede Art an heraufkommenden Seelenzuständen wird sich unbemerkt in eine Persönlichkeit verwandeln, mit eigenem Stil, mit deutlich unterschiedenen Gefühlen, die selbst gegenteilig zu den typischen des Dichters in seiner eigenen Person sein können. Und so hat man die lyrische Dichtung – oder irgendeine in der Substanz zur lyrisch analogen literarischen Form – zur dramatischen Dichtung erhoben, ohne ihr aber insgesamt die Form des Dramas gegeben zu haben, weder implizit noch explizit.

Nehmen wir an, ein in der Entpersönlichung Vervollkommneter wie Shakespeare hätte, anstatt die Persönlichkeit des Hamlet als einen Teil eines Dramas zu erschaffen, ihn als eine einfache Persönlichkeit ohne Drama erschaffen. Er hätte dann, um es so zu sagen, ein Drama mit nur einer Persönlichkeit geschrieben, einen ausgedehnten und analytischen Monolog. In diesem Falle wäre es jedoch nicht legitim, in dieser Persönlichkeit eine Definition der Gefühle und Gedanken Shakespeares zu suchen, es sei denn, diese Figur wäre ihm mißlungen. Es wäre dann nur ein schlechter Dramatiker, der sich hier offenbart.

Aus einem dem Temperament geschuldeten Motiv, das ich nicht analysieren will, auch wäre dessen Analyse kaum wichtig, entwarf ich in mir verschiedene Persönlichkeiten, die untereinander und auch mir selbst gegenüber unterschiedlich sind, Persönlichkeiten, denen ich verschiedene Gedichte zugeordnet habe und die nicht so sind, wie ich sie, mit meinen Ideen und Gefühlen, schreiben würde.

So sollten die Gedichte von Caeiro, die von Ricardo Reis und auch die von Álvaro de Campos betrachtet werden. In keinem von ihnen kann man meine Ideen und Gefühle finden, vielmehr drücken viele dieser Gedichte Ideen aus, die ich nicht akzeptiere, und Gefühle, die ich nie verspürte. Man hat sie einfach nur zu lesen, wie sie sind, was übrigens bedeutet, man sollte sie auch tatsächlich so lesen.

Ein Beispiel: Ich schrieb mit Schrecken und Widerwillen das achte Gedicht aus dem Hüter der Herden in seiner gesamten infantilen Blasphemie und seinem absoluten Antispiritualismus. Was meine eigene Person betrifft, die eben in der Form anscheinend wirklich ist, wie ich sozial und objektiv lebe, so gebe ich mich weder der Blasphemie hin noch bin ich antispiritualistisch. Alberto Caeiro jedoch, wie ich ihn kennengelernt habe, ist so: Und daher hat er es also dementsprechend auch zu schreiben, ob ich es nun will oder nicht, ob ich so denke oder nicht. Will man mir das Recht streitig machen, dieses in dieser Form zu vollbringen, dann wäre das dieselbe Sache, wie Shakespeare das Recht streitig zu machen, der Seele von Lady Macbeth einen Ausdruck zu geben unter Berufung darauf, daß er weder eine Frau noch, wie man weiß, hysterisch-epileptisch war, oder man müßte ihm andererseits eine halluzinatorische Tendenz und ein auch vor dem Verbrechen nicht zurückweichendes Streben zuschreiben. Wenn es sich so bei den fiktiven Persönlichkeiten in einem Drama verhält, dann ist es auf gleiche Weise bei fiktiven Persönlichkeiten ohne Drama erlaubt, das bedeutet, es ist erlaubt, da es sich um fiktive Persönlichkeiten handelt, und nicht, weil sie in einem Drama handeln.

Es scheint überflüssig zu sein, noch weiter eine an sich so einfache und intuitiv leicht verständliche Sache zu erklären. Jedoch kommt es vor, daß die menschliche Dummheit gewaltig ist und die menschliche Gutwilligkeit nicht sehr oft spürbar.

*

Vorwort zu den Fiktionen eines Zwischenspiels

Die Astrologen schreiben die Wirkungen in allen Dingen dem Walten der vier Elemente zu – dem Feuer, dem Wasser, der Luft und der Erde. In diesem Sinne könnten wir auch das Wirken der Einflüsse verstehen. Einige wirken auf die Menschen wie die Erde, sie zu Staub machend und auslöschend, dies sind die Befehlshaber der Welt. Einige wirken auf die Menschen wie die Luft, sie einhüllend und die einen vor den anderen versteckend, dies sind die Befehlshaber der jenseitigen Welt. Einige wirken auf die Menschen wie das Wasser, sie durchweichend und sie in ihrer eigenen Substanz verwandelnd, das sind die Ideologen und Philosophen, die über andere die Energien der eigenen Seele verbreiten. Einige wirken auf die Menschen wie das Feuer, das in ihnen alles Nebensächliche verbrennt und sie nackt und real hinterläßt, in ihrer Eigenheit und Wahrhaftigkeit, und das sind die Erlöser. Caeiro entspringt dieser Gattung. Caeiro hatte diese Kraft. Wenn Caeiro so ist, wie kann es dann von Bedeutung sein, daß er aus mir entstammt?

So wie er auf Reis einwirkte, der bis dahin noch nichts geschrieben hatte, brachte er in ihm eine eigene Form und eine ästhetische Person zur Geburt. So wie er auf mich selbst eingewirkt hat, befreite er mich von Schatten und Lumpen, gab meiner Inspiration noch mehr Inspiration und meiner Seele noch mehr Seele. Nach all dem, auf so wundersame Weise hervorgerufen, wer wird da noch fragen, ob Caeiro existierte?

*

[Die Genese der Heteronymie]

Seit meiner Kindheit hatte ich immer das Bedürfnis, die Welt mit fiktiven Persönlichkeiten anzureichern, mit meinen rigoros konstruierten Träumen, gesehen mit einer fotografischen Klarheit und verstanden im Innersten ihrer Seele. Ich war noch nicht älter als fünf Jahre, ein isoliertes Kind, und auch nichts anderes wünschend als dies zu sein, da begleiteten mich schon einige meiner Traumfiguren – ein Kapitän Thibeaut, ein Chevalier de Pas und noch andere, die ich schon vergessen habe und deren Vergessen, wie eine unvollständige Erinnerung an sie, eine der großen Sehnsüchte meines Lebens ist.

Dies scheint zunächst einfach nur eine jener infantilen Imaginationen zu sein, in der sich Kinder mit der Zuschreibung eines eigenen Lebens an Puppen und Marionetten unterhalten. Es war jedoch mehr: Ich brauchte keine Puppen, um diese Figuren vollständig zu erdenken. Deutlich und sichtbar waren sie in meinem andauernden Traum, sie waren für mich exakt menschliche Wirklichkeiten, die irgendeine Puppe in ihrer Irrealität nur zerstört hätte. Es waren Leute.

Unabhängig davon verflog diese Tendenz nicht mit der Kindheit, sie entwickelte sich mit meinem Erwachsenwerden, sie verwurzelte sich mit zunehmendem Alter und wandelte sich schließlich in eine natürliche Form meines Geistes. Heute habe ich bereits keine Persönlichkeit mehr: Was es in mir an Menschlichem gab, das teilte ich auf verschiedene Autoren auf, von deren Werk ich nur der Vollstrecker bin. Ich bin heute der Treffpunkt einer kleinen, nur mir gehörenden Menschheit.

Insgesamt handelt es sich einfach nur um ein bis auf die Spitze getriebenes dramatisches Temperament, das, anstatt Dramen in Akten und mit Handlung, Dramen in Seelen schreibt. So einfach ist dieses scheinbar so konfuse Phänomen in seiner Substanz.

Jedoch bestreite ich nicht – ich bevorzuge sie sogar – die psychiatrische Erklärung; aber man sollte wissen, daß jede höhere Geistesaktivität, so wie sie anormal ist, automatisch für eine psychiatrische Interpretation empfänglich wird. Es kostet mich nichts, einzugestehen, ich sei verrückt; aber ich bestehe auf das Verständnis, daß ich in keiner anderen Weise verrückt bin, als es auch Shakespeare gewesen ist, wie auch immer der relative Wert der Produkte sei, die dem gesunden Teil unserer Verrücktheit entspringen.

Als ein Medium meiner selbst bestehe ich in allen weiter. Jedoch bin ich weniger wirklich als die anderen, weniger einheitlich […], weniger persönlich, eminent beeinflußbar von ihnen allen. Auch ich bin Anhänger von Caeiro, und ich erinnere mich noch an jenen Tag – den 13. März 1914 –, als ich eine große Anzahl der ersten Gedichte des Hüter der Herden »das erste Mal hörte« (das bedeutet, sie wie in einem Geistesblitz niedergeschrieben habe) und gleich darauf ohne Unterbrechung die sechs intersektionistischen[4] Gedichte niederschrieb, aus denen sich der »Schräge Regen« (Orpheu 2)[5] zusammensetzt, ein deutliches und logisches Resultat des Einflusses von Caeiro auf das Temperament von Fernando Pessoa.

*

[Briefe an Adolfo Casais Monteiro][6]

Postfach 147

Lissabon, den 13.01.1935

Geschätzter Kamerad:

 

Ich bedanke mich herzlich für Ihren Brief, auf den ich auch unverzüglich und vollständig antworten möchte. Bevor ich aber eigentlich beginne, möchte ich um Entschuldigung bitten, daß ich Ihnen auf so einfachem Kopierpapier schreibe. Das etwas bessere Papier ist mir leider ausgegangen, es ist Sonntag und ich kann kein anderes besorgen. Aber ich glaube, schlechtes Papier verkraftet man leichter als eine Verzögerung.

Gleich zu Beginn möchte ich Ihnen sagen, daß ich niemals »andere Gründe« in irgendeiner der von Ihnen geschriebenen Sachen sehen würde, sofern diese meiner eigenen Auffassung widersprächen. Ich bin weder einer der wenigen portugiesischen Poeten, die ihre eigene Unfehlbarkeit hochhalten, noch einer, der irgendeine Kritik, die man ihm gegenüber anbringt, wie einen Akt der Gotteslästerung ansieht. Unabhängig davon und was auch immer meine geistigen Nachteile sein mögen, ist in mir die Tendenz zum Verfolgungswahn gleich Null. Darüber hinaus kenne ich auch bereits hinreichend Ihre eigene geistige Unabhängigkeit, die ich, wenn es mir erlaubt ist, es so zu sagen, billige und lobe. Niemals habe ich mir vorgenommen, ein Meister oder ein Chef zu sein – nicht ein Meister, da ich nicht zu lehren verstehe, noch verstehe ich, wie man zu lehren hat; und auch nicht ein Chef, da ich keine Eier braten kann. Daher sorgen Sie sich nicht um das, was Sie irgendwann einmal zu meiner Person zu sagen haben. Ich suche nicht nach Kellergeschossen in noblen Stockwerken.

Ich stimme vollkommen mit Ihnen darin überein, daß mein Einstand nicht sehr glücklich war, den ich mit einem Buch in der Art der Botschaft gab. In der Tat bin ich ein mystischer Nationalist, ein rationaler Sebastianist[7]. Aber unabhängig davon, ja sogar bis ins Gegenteil hinein, bin ich auch noch viele andere Dinge. Und diese Dinge, eben der Natur des Buches geschuldet, wurden in der Botschaft[8] nicht berücksichtigt.

Ich habe mit diesem Buch meine Publikationen begonnen aus dem einfachen Grund, da ich es, mir ist unklar warum, fertig- und zusammengestellt hatte. So wie es nun fertig war, stachelte man mich zu einer Publikation an: Ich willigte ein. Ich muß aber sagen, daß ich dies nicht mit Augen machte, die auf den ausgeschriebenen Preis des Sekretariats[9] gerichtet waren, obwohl darin auch kein größeres intellektuelles Verschulden gelegen hätte. Mein Buch war im September fertiggestellt, und ich glaubte schon, nicht einmal mehr an dem Preisausschreiben teilnehmen zu können, da ich einfach ignoriert hatte, daß die Frist zur Abgabe der Bücher, die ursprünglich auf Ende Juli festgesetzt worden war, bis Ende Oktober verlängert wurde. Als es dann jedoch Ende Oktober bereits fertige Exemplare der Botschaft gab, konnte ich es auch in der Form einreichen, wie es vom Sekretariat gefordert wurde. Für eine Teilnahme entsprach das Buch exakt den vorgegebenen Bedingungen (Nationalismus). So habe ich dann eben teilgenommen.

Wenn ich früher gelegentlich über die Reihenfolge einer zukünftigen Publikation meiner Werke nachgedacht habe, stand ein Buch von der Art der Botschaft nie an erster Stelle. Ich schwankte hin und her, ob ich mit einem großen Gedichtband beginnen sollte – einem Band von ungefähr 350 Seiten –, der die verschiedenen Unterpersönlichkeiten von Fernando Pessoa er-selbst beinhaltet, oder ob ich diese Publikation mit einer Kriminalgeschichte beginnen sollte, die ich bisher aber noch nicht fertigstellen konnte.

Wie ich bereits sagte, so stimme ich mit Ihnen darin überein, daß der Einstand, den ich auch noch selbst gegeben habe, mit der Publikation der Botschaft nicht sehr glücklich war. Aber ich halte an der Tatsache fest, daß es der beste Einstand gewesen ist, den ich hätte geben können. Dies speziell aus dem Grund, da diese Facette – im gewissen Sinne eine zweitrangige – meiner Persönlichkeit sich nie ausreichend in meiner Mitarbeit an verschiedenen Zeitschriften (mit Ausnahme des »Portugiesischen Meers«, eines Teils dieses Buches)[10] manifestieren konnte, und auch speziell daher, daß es sich nun eben gerade empfohlen hat, auch so zu erscheinen und auch genau zu diesem Zeitpunkt zu erscheinen. Es fiel zusammen, ohne daß ich es geplant oder mir vorgenommen hätte (ich bin zu jeder praktischen Vorausschau unfähig), mit einigen der kritischen Momente (im wahrsten Sinne des Wortes) in der Neugestaltung des nationalen Unterbewußtseins. Was ich aus Zufall erbrachte und was sich durch ein Gespräch abschloß, war exakt mit Winkelmaß und Zirkel durch den Großen Architekten festgelegt.

(Ich unterbreche. Ich bin weder verrückt noch betrunken. Ich schreibe einfach nur direkt drauflos, so schnell wie es mir die Maschine erlaubt, und ich werde mich der Ausdrücke bedienen, die mir eben unterkommen, ohne darauf zu achten, ob sie sehr literarisch sind. Nehmen Sie an – und Sie tun gut daran, es anzunehmen, schließlich ist es wahr – , daß ich ganz einfach nur mit Ihnen spreche.)

Ich beantworte Ihnen nun konkret Ihre drei Fragen: (1) zukünftiger Plan einer Publikation meiner Werke, (2) Genese meiner Heteronyme und (3) Okkultismus.

Nachdem nun unter den Ihnen aufgezeigten Bedingungen die Publikation der Botschaft, die nur eine einseitige Manifestation darstellt, fertiggebracht ist, werde ich versuchen, auf folgende Weise zu verfahren. Gegenwärtig bin ich dabei, eine gänzlich überarbeitete Version des Anarchistischen Bankiers zu vervollständigen; diese müßte in Kürze fertig sein, und sobald sie fertig ist, werde ich sie unverzüglich publizieren. Wenn ich dies gemacht habe, dann übersetze ich die Schrift sofort ins Englische und werde versuchen, sie auch in England zu publizieren. So sollte es sein, schließlich hat sie europäische Qualitäten. (Beziehen Sie diesen Satz nicht auf den Nobelpreis.) Danach – und hier beantworte ich Ihre eigentliche Frage, die sich auf die Poesie bezieht – werde ich während des Sommers versuchen, einen großen Band der kleineren Gedichte von Fernando Pessoa ihm-selbst zusammenzustellen, und man wird sehen, ob ich ihn am Ende des laufenden Jahres publizieren kann. Das wäre wohl dann der Band, auf den Casais Monteiro wartet, und es ist der, den ich selbst zu machen wünsche. In diesem würde man dann auch alle anderen Facetten antreffen, ausgenommen der nationalistischen, die sich ja bereits in der Botschaft manifestierte.

Ich bezog mich, wie Sie sahen, bisher nur auf Fernando Pessoa. Ich denke noch nicht an Caeiro, an Ricardo Reis oder an Álvaro de Campos. Im Sinne einer Publikation werde ich hier nichts unternehmen können, außer man würde mir (sehen Sie nach oben) dafür den Nobelpreis verleihen. Denn schließlich – ich denke daran in aller Traurigkeit – habe ich in Caeiro meine gesamte Macht zur dramatischen Entpersönlichung gelegt, in Ricardo Reis habe ich meine gesamte geistige Disziplin gelegt, gekleidet in die Musik, die ihm eigen ist, in Álvaro de Campos habe ich meine gesamte Emotion gelegt, die weder mir noch dem Leben etwas brachte. Denken Sie sich nur, mein lieber Casais Monteiro, sie alle müssen in bezug auf eine Publikation von Fernando Pessoa unrein und simpel übergangen werden!

Ich glaube, ich habe nun Ihre erste Frage beantwortet.

Sollte ich nachlässig gewesen sein, dann sagen Sie mir worin. Wenn ich antworten kann, werde ich antworten. Bis hierher habe ich keine weiteren Pläne. Und wie ich weiß, was meine Pläne sind und was sie einbringen, ist Grund genug, zu sagen: Gott sei Dank!

Ich gehe nun dazu über, Ihre Frage in bezug auf die Genese meiner Heteronyme zu beantworten. Ich werde sehen, ob ich sie Ihnen vollständig beantworten kann.

Ich beginne mit dem psychiatrischen Teil. Der Ursprung meiner Heteronyme ist ein tiefer Zug der Hysterie, der in mir steckt. Ich weiß nicht genau, ob ich einfach nur hysterisch bin oder ob ich nicht vielmehr ein Hystero-Neurastheniker bin. Ich plädiere eigentlich eher für die zweite Hypothese, da es in mir Anzeichen eines schwachen Willens gibt, den die Hysterie, wörtlich genommen, aber nicht in das Register ihrer Symptome einschließt. Wie dem nun sei, der geistige Ursprung findet sich in meiner organischen und beständigen Tendenz zur Entpersönlichung und zur Simulation. Diese Phänomene – zu meinem Glück und zum Glück für andere – vergeistigen sich nur in mir; ich will sagen, sie manifestieren sich nicht in meinem praktischen und äußerlichen Leben, im Kontakt mit anderen Menschen; sie explodieren nach innen, und ich lebe sie allein mit mir. Wenn ich eine Frau wäre – bei der Frau brechen hysterische Phänomene bekanntlich in Attacken und ähnlichen Dingen aus – , dann würde jedes Gedicht von Álvaro de Campos (der Hysterischste in mir) die gesamte Nachbarschaft in Alarmbereitschaft versetzen. Aber ich bin ein Mann – und bei Männern zeigt sich die Hysterie vorwiegend in geistigen Aspekten; so endet schließlich alles in Stille und Poesie …

Dies erklärt, tant bien que mal, den organischen Ursprung meiner Heteronymie. Ich werde Ihnen nun die genaue Geschichte meiner Heteronyme erzählen. Ich beginne mit jenen, die schon gestorben sind, und mit einigen, an die ich mich nicht mehr sehr deutlich erinnern kann – die verlorengegangen sind in der fernen Vergangenheit meiner fast vergessenen Kindheit.

Seit der Kindheit hatte ich beständig die Tendenz, um mich herum eine fiktive Welt zu erschaffen, um mich herum Freunde und Bekannte zu versammeln, die niemals existierten. (Genau betrachtet kann ich aber nicht mit Sicherheit sagen, ob sie es sind, die real nicht existieren, oder ob ich es bin, der nicht existiert. In diesen wie in allen anderen Dingen sollte man nie zu dogmatisch sein.) Ich erinnere mich, dass ich, seitdem ich mich als den kenne, den ich Ich nenne, im Geistigen beständig verschiedene irreale Figuren brauchte, die mit körperlicher Form, Bewegung, Charakter und Lebenslauf ausgestattet waren und die für mich so sichtbar und wirklich vorhanden waren wie die Dinge jener Sache, die wir, eigentlich mißbräuchlich, das wirkliche Leben nennen. Diese Tendenz, die in mir vorhanden ist, seit ich mich erinnere, ein Ich zu sein, hat mich ständig begleitet; und obwohl sich ein wenig der Musikstil geändert hat, mit der diese Tendenz mich verzaubert, änderte sich doch nie die grundsätzliche Art der Verzauberung.

Ich erinnere mich an einen gewissen Chevalier de Pas, der mein erstes Heteronym gewesen zu sein scheint oder vielmehr mein erster nicht existierender Bekannter – für ihn habe ich mit sechs Jahren Briefe geschrieben, die er mir dann zuschickte, und diese Figur beherrscht noch immer einen Teil meiner Zuneigung, die sogar schon an Sehnsucht grenzt. Mit weniger Deutlichkeit erinnere ich mich noch an eine andere Gestalt, deren Name mir nicht mehr geläufig ist – aber es muß wohl auch ein ausländischer gewesen sein – und die in irgendeiner Form, ich weiß nicht worin, ein Rivale des Chevalier de Pas gewesen ist … Sind das Dinge, die bei allen Kindern vorkommen? Zweifellos – oder vielleicht. Aber ich habe sie bis zu einem Punkt gelebt und lebe sie noch immer, daß mir, wenn ich mich an sie zurückerinnere, eine ungeheure Kraftanstrengung notwendig wäre, um mich von ihrer Nichtrealität zu überzeugen.

Diese Tendenz, um mich herum eine andere Welt zu erschaffen, heute zwar mit anderen Leuten, aber immer noch dieselbe, hat nie meine Imaginationsfähigkeit verlassen. Es gab verschiedene Phasen, zwischen denen die ausgeprägteste schon erfolgt ist. Aus dem einen oder anderen Motiv unterläuft wohl dem, der ich bin oder von dem ich annehme, daß ich es bin, ein vollständig fremder Geisteswitz. Man könnte sagen, vollkommen unmittelbar und spontan und als ob er ein wahrer Freund von mir wäre, gebe ich ihm dann einen Namen, entwickle einen Lebenslauf und sehe seine Figur – Gesicht, Statur, Anzug und Gestik – direkt vor mir. Auf diese Weise habe ich verschiedene Freunde und Bekannte bekommen und dazugewonnen, die niemals existierten, die ich aber noch heute, nach dreißig vergangenen Jahren, höre, fühle und sehe. Ich wiederhole: höre, fühle und sehe … Und ich habe nach ihnen Sehnsucht.

(Wie ich nun schon angefangen habe, zu sprechen – und auf der Maschine zu schreiben, was für mich wie sprechen ist – , fällt es mir schwer, eine Bremse zu finden. Die Plackerei genügt jetzt für Sie, mein lieber Casais Monteiro! Ich werde nun übergehen zur Genese meiner literarischen Heteronyme, was ja letztlich das ist, was Sie wissen wollten. Was ich bis hierher gesagt habe, ist die Geschichte der Mutter, welche die Heteronyme ans Licht brachte.)

Wenn ich nicht irre (aber der Fehler kann hier nicht sonderlich groß sein), kam mir ungefähr 1912 die Idee, einige Gedichte nach heidnischem Vorbild zu schreiben. Ich hatte einige Dinge in einem irregulären Vers entworfen (nicht im Stil von Álvaro de Campos, sondern eher in einem halbregulären Versmaß), habe jedoch den Fall bald wieder aufgegeben. Nichtsdestotrotz hat sich aber in einem schlecht umrissenen Halbdunkel das vage Abbild einer Person ergeben, die das alles vollbrachte. (Ohne daß ich es bemerkt hätte, war Ricardo Reis geboren.)

Ich erinnere mich, daß ich, anderthalb oder zwei Jahre danach, mir mit Sá-Carneiro[11] einen Spaß in der Form erlauben wollte, indem ich einen komplizierten bukolischen Dichter entwarf und ihn, ich weiß nicht mehr genau wie, in irgendeiner Weise als wirklich darstellte. Ich habe einige Tage an diesem Dichter gearbeitet, aber es gelang mir nichts Rechtes. An dem Tag, an dem ich eigentlich schon endgültig aufgeben wollte – es war der 8. März 1914 – , habe ich mich an ein Schreibpult begeben, nahm Papier und begann sofort zu schreiben, stehend, wie ich immer schreibe, wenn es mir möglich ist. Ohne abzusetzen, schrieb ich mehr als dreißig Gedichte, in einer Art Ekstase, deren Natur ich niemals werde definieren können. Das war der Tag des Triumphes in meinem Leben, und es wird niemals mehr einen anderen derartigen geben. Ich begann mit dem Titel: Der Hüter der Herden. Und was dann folgte, war das Erscheinen von jemandem in mir, dem ich sofort den Namen Alberto Caeiro gab. Entschuldigen Sie die Absurdität des Satzes: Mein Meister ist in mir erschienen. Dies war die unmittelbare Empfindung, die ich hatte. Nachdem diese über dreißig Gedichte geschrieben waren, griff ich unmittelbar zu neuem Papier und schrieb wieder, ohne abzusetzen, die sechs Gedichte, die den »Schrägen Regen« von Fernando Pessoa ausmachen. Unmittelbar und vollständig … Es war die Rückreise von Fernando Pessoa/Alberto Caeiro zu Fernando Pessoa er-selbst. Oder besser, es war die Reaktion von Fernando Pessoa auf seine Nichtexistenz als Alberto Caeiro.

Nachdem Caeiro nun erschienen war, ging ich sofort – instinktiv und unbewußt – dazu über, für ihn Anhänger ausfindig zu machen. Ich habe den latenten Ricardo Reis aus seinem falschen Heidentum entrissen, entdeckte für ihn den Namen und führte ihn zu sich selbst, da ich ihn in dieser Zeit schon sah. Und sofort und wie eine gegensätzliche Ableitung zu Ricardo Reis entsprang mir auf das heftigste noch ein weiteres neues Individuum. In einem Wurf und an der Schreibmaschine, ohne Unterbrechung oder Berichtigung folgte die »Triumph-Ode« von Álvaro de Campos – die Ode mit diesem Namen und dem Mann, der diesen Namen trägt.

Ich habe so eine nichtexistente coterie geschaffen. Dies alles habe ich aber in einen Rahmen der Wirklichkeit festgesetzt. Ich ordnete die Einflüsse, kannte die Freundschaften, habe, innerhalb von mir selbst, die Diskussionen und die Unterschiede in den Ansichten gehört, und grundsätzlich scheint es mir, daß ich, der Schöpfer von alldem, am wenigsten daran Anteil nahm. Es scheint, als ob dies alles unabhängig von mir selbst geschehen ist. Und wenn ich an irgendeinem Tag die Möglichkeit besitzen werde, die ästhetische Diskussion zwischen Ricardo Reis und Álvaro de Campos zu veröffentlichen, wird man sehen, wie unterschiedlich sie sind und wie wenig ich mit dieser Materie zu tun habe.

Als die Publikation des Orpheu anstand, war es in letzter Minute notwendig, noch irgendeine Sache zu besorgen, um die Seitenzahl auszufüllen. Ich machte also Sá-Carneiro den Vorschlag, ein »altes« Gedicht von Álvaro de Campos zu schreiben – ein Gedicht, wie es Álvaro de Campos geschrieben hätte, bevor er Caeiro kennenlernte und unter seinen Einfluß geriet. Und so schrieb ich die »Opiumhöhle«[12], indem ich versuchte, Álvaro de Campos all die latenten Tendenzen zu geben, wie sie sich später zeigten, aber ohne irgendein Anzeichen des Zusammentreffens mit seinem Meister Caeiro. Es war eines der von mir geschriebenen Gedichte, die mir am schwersten gefallen sind, da ich nun eine doppelte Anstrengung zur Entpersönlichung zu entwickeln hatte. Aber letztlich glaube ich, daß es mir nicht schlecht gelungen ist und daß es voll und ganz Álvaro entspricht …

Ich glaube, Ihnen nun ausreichend den Ursprung meiner Heteronymie erklärt zu haben. Wenn es jedoch noch irgendeinen Punkt geben sollte, der einer weiteren hellsichtigeren Erklärung bedarf – ich schreibe sehr schnell, und wenn ich schnell schreibe, bin ich nicht sehr hellsichtig – , dann sagen Sie es, und ich werde sie Ihnen bereitwillig zukommen lassen. Und in aller Aufrichtigkeit hier noch als ein wahrhafter und hysterischer Zusatz: Beim Schreiben von gewissen Passagen der Anmerkungen zur Erinnerung an meinen Meister Caeiro von Álvaro de Campos habe ich wirkliche Tränen geweint. Das nur dazu, damit Sie wissen, wen Sie hier lesen, mein lieber Casais Monteiro!

Noch einige Anmerkungen zu dieser Materie … Ich sehe vor mir, in einem nichtfarbigen, aber wirklichen Traumgebäude, die Gesichter und die Gesten von Caeiro, von Ricardo Reis und von Álvaro de Campos. Ich habe ihnen ihr Alter und ihr Leben konstruiert. Ricardo Reis wurde 1887 (ich erinnere mich nicht genau an den Tag und an den Monat, aber ich weiß es ungefähr) in Porto geboren; er ist Arzt und lebt gegenwärtig in Brasilien. Alberto Caeiro wurde 1889 geboren und starb 1915; er wurde in Lissabon geboren, verbrachte aber fast sein gesamtes Leben auf dem Land. Er hatte weder einen Beruf noch irgendeine Ausbildung. Álvaro de Campos wurde am 15. Oktober 1890 (um 13.30 Uhr, nach dem Horoskop stimmt die Stunde) in Tavira geboren. Wie Sie wissen, ist er Schiffsingenieur (in Glasgow ausgebildet), hält sich jetzt aber bei völliger Untätigkeit in Lissabon auf. Caeiro war von mittlerer Statur, und obwohl etwas fragil (er starb an Tuberkulose), erschien er doch nicht so zerbrechlich, wie er es war. Ricardo Reis ist ein wenig, aber wirklich nur ein wenig, kleiner und kräftiger, wobei aber sehr hager. Álvaro de Campos ist groß (1,75 m an Statur, 2 cm mehr als ich), mager und neigt dazu, etwas gebückt zu gehen. Alle mit rasiertem Gesicht – Caeiro blond und etwas bleich, blaue Augen; Reis von einer leicht matten Bräune; Campos zwischen hell und bräunlich, ungefähr der Typ eines portugiesischen Juden, das Haar jedoch glatt und an der Seite normalerweise etwas abstehend, ein Monokel. Wie ich bereits erwähnte, hatte Caeiro fast keine Ausbildung, nur die ersten Klassenstufen; Vater und Mutter starben ihm früh, und so ist er mit einer kleinen Rente zu Hause geblieben. Er lebte mit einer älteren Tante, eine Tante von Seiten der Großmutter. Ricardo Reis wurde in einem Jesuitenkolleg ausgebildet und ist, wie gesagt, Mediziner; seit 1919 lebt er in Brasilien, da er Monarchist ist, verabschiedete er sich spontan von seinem Vaterland. Er ist Latinist durch fremde Erziehung und halber Gräzist durch eigene Erziehung. Álvaro de Campos hat eine gewöhnliche Gymnasialausbildung und wurde dann nach Schottland zu einem Ingenieurstudium geschickt, erst Maschinenbau und dann Schiffsbau. Einmal machte er in den Ferien eine Reise in den Orient, aus der die »Opiumhöhle« hervorgegangen ist.[13] Ein Onkel, der Priester war, hat ihm Latein gelehrt.

Wie schreibe ich im Namen dieser drei? … Caeiro in reiner und unerwarteter Inspiration, weder weiß ich noch plane ich, daß ich schreiben werde. Ricardo Reis nach einer abstrakten Überlegung, die sich sofort in einer Ode konkretisiert. Campos in einem plötzlichen Schreibimpuls, bei dem ich aber eigentlich nie genau weiß, was. (Mein Semiheteronym Bernardo Soares, der übrigens einige Dinge mit Álvaro de Campos gemeinsam hat, erscheint mir immer, wenn ich müde und schläfrig bin, so daß er ein wenig die Qualitäten der Nachdenklichkeit und der Hemmung hat; diese Prosa ist eine beständige Träumerei. Er ist ein Semiheteronym, da diese Persönlichkeit nicht meine ist, sie jedoch meiner Persönlichkeit aber auch nicht völlig fremd ist, sondern es handelt sich nur um eine einfache Verstümmelung von ihr. Ich bin weniger rational und affektiv. Die Prosa, abgesehen davon, daß sie eine gewisse tenue mir gegenüber zeigt, ist meiner gleich, und auch das Portugiesisch ist genau dasselbe; dazu im Gegensatz schrieb Caeiro ein schlechtes Portugiesisch, Campos schrieb ausreichend gut mit Ausnahme kleinerer Fehler, wie »ich eigen« anstatt »ich selbst«[14] etc. zu schreiben, Reis schreibt besser als ich, aber mit einem Purismus, den ich als übertrieben ansehe. Für mich ist es schwierig, die Prosa von Reis – noch unveröffentlicht – oder von Campos zu schreiben. Die Simulation im Vers ist einfacher, sie ist sogar spontaner.)

Mein lieber Casais Monteiro, Sie werden jetzt bei dieser Lektüre denken, irgendwo ins Unglück gestürzt zu sein, inmitten eines Irrenhauses zu stehen. Das Schlimmste an der ganzen Sache ist wohl auch noch, daß ich vollkommen ohne Zusammenhang schreibe. Ich wiederhole jedoch: Ich schreibe, als ob ich mit Ihnen sprechen würde, damit ich direkt und unmittelbar schreiben kann. Wenn es nicht so wäre, würden Monate vergehen, ohne daß ich schreiben könnte.

Es fehlt noch die Beantwortung Ihrer Frage zum Okkultismus. Sie fragen mich, ob ich an den Okkultismus glaube. So gestellt ist die Frage nicht sehr klar; ich verstehe jedoch die Intention und werde versuchen, eine Antwort zu geben. Ich glaube an Welten, die höher stehen als die unsrige, und ich glaube an die Bewohner dieser Welten, an Erfahrungen verschiedener Stufen der Geistigkeit, die sich bis zu einem göttlichen Wesen verfeinern, das vermutlich diese Welt geschaffen hat. Es kann gut sein, daß es noch andere Wesen gibt, die ebenso göttlich sind und die andere Universen geschaffen haben, und daß diese anderen Universen neben unserem bestehen, ob sie sich nun untereinander durchdringen oder nicht. Aus diesen und anderen Gründen vermeidet der Äußere Orden des Okkultismus oder besser vermeiden die Freimaurer (ausgenommen die angelsächsischen Freimaurer) den Begriff »Gott«, der ihren theologischen und allgemeinen Implikationen zugrunde liegt, und bevorzugt, »Großer Architekt des Universums« zu sagen, ein Ausdruck, der jedoch offenläßt, ob Er der Schöpfer oder einfach nur der Lenker der Welt ist. Wenn aber nun diese Stufen des Seins wirklich gegeben sind, kann ich nicht an eine direkte Kommunikation mit Gott glauben; aber gemäß unserer geistigen Abstimmung könnten wir in Kommunikation treten mit den nächsthöheren Stufen des Seins. Es gibt drei Wege im Okkulten: den magischen Weg (einbezogen Praktiken wie die des Spiritismus, intellektuell auf der Stufe der Hexerei, die auch Magie ist), ein in allen Beziehungen extrem gefährlicher Weg; den mystischen Weg, der keine eigentlichen Gefahren birgt, aber unsicher und langsam ist; und den, welchen man den alchimistischen Weg nennt; es ist der schwierigste, aber auch der vollkommenste von allen, da er eine Umwandlung der eigenen Persönlichkeit beinhaltet, die sie, ohne große Risiken, vielmehr noch mit einer Verteidigung versieht, welche die anderen Wege nicht haben. In bezug auf »Einweihung« oder nicht kann ich Ihnen nur dies sagen, von dem ich nicht weiß, ob es Ihre Frage beantwortet: Ich gehöre keinem Einweihungsorden an. Das Zitat, als Epigraph zu meinem Gedicht »Eros und Psyche«, von einem Auszug (der freilich übersetzt ist, da das Ritual in Latein abgefaßt ist) des Rituals des Dritten Grades des Templerordens von Portugal zeigt einfach nur an – was eine Tatsache ist – , daß es mir möglich war, in den Ritualen der ersten drei Grade von diesem Orden herumzublättern, einem Orden, der ungefähr seit 1888 eingeschlafen ist. Wenn er sich nicht in diesem Schlaf befände, würde ich diesen Auszug aus dem Ritual auch nicht zitieren, so wie allgemein nicht Auszüge aus Ritualen, die noch lebendig sind, zitiert werden sollten.

Nun glaube ich aber, mein lieber Kamerad, Ihre Fragen, wenn auch etwas unzusammenhängend, so aber doch genügend beantwortet zu haben. Wenn es noch andere gibt, zögern Sie nicht, auch diese zu stellen. Soweit ich kann, werde ich sie beantworten und auch in der besten mir möglichen Form. Es könnte nur sein, und Sie werden mich entschuldigen, daß ich nicht sehr schnell antworten werde.

Ich umarme Sie, mein lieber Kamerad, in großer Bewunderung und Verehrung

Fernando Pessoa

P. S. (!!!)

14/1/1935

Unabhängig von der Kopie, die ich normalerweise für mich zurückbehalte, wenn ich auf der Maschine schreibe und es sich um irgendeinen Brief handelt, der Erklärungen von dieser Art beinhaltet, habe ich noch eine weitere Kopie angefertigt für den Fall, daß dieser Brief verlorengehen sollte oder Sie ihn eventuell noch für einen anderen Zweck gebrauchen könnten. Diese Kopie wird Ihnen ständig zur Verfügung stehen.

Noch eine andere Sache. Es kann sein, daß Sie, lieber Casais Monteiro, für irgendeine Ihrer Studien oder einen ähnlichen Zweck in Zukunft einen Abschnitt aus diesem Brief zitieren müssen. Sie sind dazu berechtigt, aber mit einer Ausnahme, und ich bitte um Erlaubnis, dies deutlich zu betonen. Es handelt sich um den Abschnitt über den Okkultismus auf Seite 7 meines Briefes; was in diesem Abschnitt geschrieben steht, sollte nicht in gedruckten Buchstaben reproduziert werden. Ich glaube, daß das, was ich auf Ihre Frage geantwortet habe, sich vorsätzlich ein wenig außerhalb der Grenzen bewegt, die in dieser Materie natürlich sind.

Es handelt sich um einen persönlichen Brief, und ich habe daher auch nicht gezögert, ihn zu schreiben. Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß diesen Paragraphen auch eine andere Person lesen würde, vorausgesetzt allerdings, auch diese Person wird die Bedingung befolgen, das in diesem Abschnitt Geschriebene nicht in gedruckten Buchstaben zu reproduzieren. Ich glaube, in dieser Beziehung mit Ihnen rechnen zu dürfen.

Noch immer bin ich Ihnen den längst überfälligen Brief betreffs Ihrer letzten Bücher schuldig. Vorläufig halte ich an dem fest, von dem ich glaube, es Ihnen schon in meinem letzten Brief gesagt zu haben: Obwohl ich einige Tage (ich nehme an, es wird nur im Februar sein) in Estoril verweilen werde, muß ich diese Korrespondenz noch erledigen, da ich nicht nur bei Ihnen in der Schuld stehe, sondern auch noch bei einigen anderen Leuten.

Ich würde gern noch einmal eine Frage stellen, die ich bereits an Sie gerichtet habe, die mir aber bisher von Ihnen noch nicht beantwortet wurde: Haben Sie meine Versmanuskripte in englischer Sprache erhalten, die ich Ihnen vor einiger Zeit zugesandt habe?

»Der Ordnung halber«, wie man so schön in der Geschäftssprache sagt, würde ich Sie bitten, mir sofort Bescheid zu geben, wenn Sie diesen Brief erhalten haben.

Danke

Fernando Pessoa

*

Postfach 147

Lissabon, den 20.01.1935

Mein lieber Kamerad:

Vielen Dank für Ihren Brief. Also gut, ich sollte Ihnen noch einige Dinge von Interesse berichten. Schließlich kam mir der Zweifel, ob ich schon alles gesagt habe, was auch nicht verwunderlich ist bei der hastigen und schnellen Art, in der ich Ihnen geschrieben habe, einer Art, die vielmehr einem geistigen Gespräch entsprach, was ich letztlich ja auch mit Ihnen geführt hatte.

Ich antworte auf den eben von Ihnen erhaltenen Brief, und ich antworte auf ihn in vollkommener Spontaneität, woraus sich auch ein Fehlen von Methode und Ordnung ergeben kann. Aber irgendeine Sache werde ich letztlich schon beantworten. Ich komme nun zu den Punkten, die ich zu beantworten habe.

Vorläufig bedanke ich mich erst einmal für Ihre ehrenwerte Studie, die Sie in bezug auf meine Person betrieben haben: Warten Sie aber mit ihr, bis ich den großen Band publiziert habe, der die weite autonyme Ausdehnung von Fernando Pessoa umfaßt. Wenn keine unvorhergesehene Komplikation eintritt, sollte das Buch im Oktober des laufenden Jahres vollständig und gedruckt vorliegen. Und Sie werden dann auch ausreichende Informationen haben: Dieses Buch, in dem es eine Menge zu publizieren gibt – die Botschaft repräsentiert nur einen zusätzlichen Aspekt – , ist das der Heteronyme. Damit werden Sie dann auch einen »Eindruck der Gesamtheit« haben, vorausgesetzt natürlich, daß es in mir eine derartig festumrissene Sache wie eine Gesamtheit gibt.

Insgesamt beziehe ich mich einfach nur auf die Poesie, jedoch beschränke ich mich nicht auf dieses Buchstabenlächeln. Was aber die Prosa betrifft, Sie kennen mich bereits, gibt es noch eine ganze Menge zu publizieren. Bis zu dem Zeitpunkt, den ich als den möglichen für das Erscheinen dieses Bandes betrachte, sollten der Anarchistische Bankier (in einer neuen Form und Bearbeitung) erscheinen, ein Kriminalroman (den ich gerade schreibe und der nicht jener ist, auf den ich mich im letzten Brief bezogen habe) und noch die eine oder andere Schrift, die durch die Umstände heraufbeschwört werden kann.

Ihre Beobachtung, nach der es bei mir einen großen Mangel an dem gibt, was man ganz legitim eine Evolution nennen könnte, ist ausgesprochen aufmerksam. Es gibt einige Gedichte von mir, die ich vor zwanzig Jahren geschrieben habe und die – wie ich es einschätzen kann – von derselben Qualität sind wie die, die ich heutzutage schreibe. Ich schreibe nicht besser als damals, abgesehen von der Kenntnis der portugiesischen Sprache – was aber kulturell und nicht poetisch bedingt ist. Ich schreibe unterschiedlich. Vielleicht liegt die Lösung des Falles im folgenden.

Ich bin dem Wesen nach – hinter den ungewollten Masken des Poeten, des Denkers und was es sonst noch gibt – ein Dramatiker. Das Phänomen meiner intensiven Entpersönlichung, das ich im letzten Brief zur Erklärung der Existenz meiner Heteronyme dargelegt habe, erfordert auf selbstverständliche Weise diese Definition. So gesehen entwickele ich mich nicht, ICH REISE. (Wegen irgendeines Fehlgriffes an der Großbuchstabentaste sind mir die beiden letzten Worte in Großbuchstaben entwischt. Aber es ist wahrscheinlich richtig, und ich werde es daher so belassen.) Ich habe mich in der Persönlichkeit gewandelt, ich habe mich (und hierin kann es eine Evolution geben) in der Möglichkeit bereichert, neue Persönlichkeiten zu erschaffen, neue Arten in der Täuschung, wie ich die Welt verstehe, oder vielmehr in der Täuschung, man könne sie überhaupt verstehen. Und daher sehe ich diesen Zug in mir nicht als vergleichbar mit einer Evolution, sondern mit einer Reise: Ich steige nicht von einem Stockwerk zum anderen hinauf; sondern auf ebener, gerader Fläche begebe ich mich von einem zu einem anderen Ort. Gewiß habe ich einige Einfachheiten und Naivitäten gegenüber den Gedichten meiner Kindheit verloren; dies ist jedoch keine Evolution, vielmehr ein Älterwerden.

Ich glaube, in diesen flüchtigen Worten Ihnen den Schimmer einer klaren Idee von dem gegeben zu haben, was Sie als den Punkt betrachten, nach dem bei mir eine Evolution im eigentlichen Sinne fehlt, und ich stimme damit überein, ich akzeptiere es.

Ich beziehe mich nun auf den Fall der Publikation meiner Bücher in näherer Zukunft. Es gibt keinen Grund, sich mit irgendwelchen Schwierigkeiten in diesem Sinne zu beunruhigen. Wenn ich wirklich Caeiro, Ricardo Reis und Álvaro de Campos publizieren wollte, könnte ich dies sofort erledigen. Es scheint jedoch, daß ich zu befürchten habe, Bücher in dieser Art und von diesem Typ ließen sich nicht verkaufen. Die Zurückhaltung ist nur hierin begründet. Was einen großen Gedichtband betrifft, so wird dieser, wie auch jeder andere, seine garantierte Publikation finden. Wenn ich mehr an ihn als an andere denke, dann nur daher, daß ich in seiner Publikation einen größeren geistigen Vorteil sehe und ein geringeres Risiko im Verkauf der Ausgabe.

Betreffs der Publikation des Anarchistischen Bankiers