Genie und Wahnsinn - Fernando Pessoa - E-Book

Genie und Wahnsinn E-Book

Fernando Pessoa

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Beschreibung

Genie und Wahnsinn‹ fasst annähernd alle Nachlassfragmente zusammen, die von der großen Schlüsselfigur des portugiesischen Modernismus zu Themen wie Genie, Wahnsinn, Degeneration oder Psychopathologie niedergeschrieben wurden. Der junge Pessoa erweist sich als ein beachtlicher Kenner beinahe aller Abhandlungen, die bezüglich dieser Materie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg im Umlauf waren und die in der damaligen Zeit die intellektuelle Aufmerksamkeit beherrschten. Zwischen den sehr vielfältigen Texten befinden sich beispielsweise kunstvolle Kommentare zu wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Abhandlungen, welche von Cesare Lombroso über Gabriel Tarde bis hin zu Max Nordau reichen; es gibt ausgeklügelte Versuche, die psychische Konstitution Shakespeares oder eigener Zeitgenossen zu deuten, und es lassen sich umfangreiche Ansätze ausmachen, mit denen der junge Pessoa seine eigene Seelenverfassung ergründen will.

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Fernando Pessoa

Genie und Wahnsinn

Schriften zu einer intellektuellen Biographie

Aus dem Portugiesischen und Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Steffen Dix

FISCHER E-Books

Basierend auf der von Jerónimo Pizarro herausgegebenen Kritischen Ausgabe

Inhalt

[Eine geistige Reise]Genie, Wahnsinn und Degeneration[Vom Genie]GenieDie Manie des ZweifelsBeobachtungen zum Genie.Der höhere SchwachkopfGenie.Das Genie und das Talent innerhalb einer Gesellschaft.Genie und TalentSoziologieSoziologie, Literatur.GenieGenieDas GenieGenie.GoetheDas GenieShakespeare[Von der Degeneration]Entartung, Degeneration.Die Psychologie des »Messianismus«Kritik an Nordaus Verständnis von der Entartung.Umwandlung der Degeneration.Verschiedenes.Schande und Künstlichkeiten.Dichtung als eine Form der Degeneration.Simulierend.Moderne Degeneration.Moderne Degeneration DilettantentumDegeneration und HandlungWichtig!Genie und DegenerationTheorie des Genies[Genie und Wahnsinn]Genie.Genie und WahnsinnGenie und Wahnsinn.Genie und Wahnsinn.Genie und Wahnsinn.Genie und Wahnsinn.Genie und Wahnsinn.Hysterisch.Notizbücher[Notizbuch Z]Genie und Wahnsinn.Kreative ImaginationDie Arten des GeniesFormen des Egoismus[Notizbuch T]Der Prozeß der menschlichen Degeneration.GegensatzGegensatz[Notizbuch J]Das psychologische Fundament eines metaphysischen SystemsFreier WilleDie Geistesstörung des JesusDiese Aufzeichnungen sollen nicht [...]Geschichte der Diktatur/Sozialpolitische Fragmente[Geschichte der Diktatur]Einleitung:Teil ITeil IIITeil IVTeil VDie Psychologie der Massen:Repräsentative Menschen:GenieAbleitungenDer Begriff der Degeneration[Sozialpolitische Fragmente]Ein erstaunliches Vorwort zum WerkSklavereiEthopathologieEinführung in das Studium der EthopathologieDie Fragestellung Shakespeare–BaconWilliam Shakespeare, Pseudonym.Die Identität ShakespearesDie Identität ShakespearesGenie: (Klassifikation)Literatur und Psychiatrie»Die Literatur der Dekadenz« –Befragung.Julio de Mattos.Die neuerliche Unpäßlichkeit in der portugiesischen Literatur.Die neue portugiesische LiteraturDer wissenschaftliche Aberglaube.Über Kunst und KünstlerBei Macaulay – ein seltener, wenn [...]Der (…) Charakter FlaubertsDie Immoralität der BiographenLucios BekenntnisAutopsychographieIn mir selbst bemerke [...]LebensregelAuszüge aus einigen Erzählfragmenten[Doktor Jones][Marcos Alves]Der Anfang von Marcos Alves.Paranoide Periode.Spaziergang nach der Szene im Hotel.Anderes KapitelLetztes KapitelVorletztes KapitelDas zweite Kapitel beginnt:Die Briefe von Marcos Alves:Letztes Kapitel.Letztes Kapitel.EndeEpilog[Die Liebesgeschichte eines genialen Menschen][Quaresma, Entzifferer][Der Fall des verschlossenen Zimmers][Der magische Brief][Der Fall Vargas][Ein literarischer Fragebogen aus dem Jahr 1916 und Antwort Pessoas]Sehr geehrter Kollege, [...]FRAGEBOGENErläuterung der ZeichenFernando Pessoas intellektueller Werdegang am Schnittpunkt von Genie und Wahnsinn

[Eine geistige Reise]

(Der Verrückte reist zur Anschauung des Universums)

Die Verrückten haben ein klares Gehirn; verwirrt und wahnsinnig ist das Gehirn derer, die nicht verrückt sind.

Das Mysterium des Universums, die Komplexität des Lebens, die Zukunft eines jeden einzelnen (…), all dies sind Probleme, die bei wacher Betrachtung zum Wahnsinn führen werden. Nur wenn man sie auf verwirrte Weise betrachtet, bleibt der Geist heil.

Jeder Stein auf dem Boden ist ein Mysterium, der vom Mysterium unseres mysteriös voranschreitenden Körpers auf mysteriöse Weise erfaßt wird. Dies deutlich zu sehen ist bereits ein Symptom des Wahnsinns …

Der Verfolgungswahn? Ist nicht der universale Überlebenskampf eine Tatsache? Sind wir nicht alle bewußte – oder unbewußte – Feinde der anderen? Der Verfolgungswahn ist das korrekte Verständnis der natürlichen Feindschaft im Angesicht all der Dinge, die nicht von mir sind.

Die reine Erregung? Die närrische Eingebung vom Mysterium des Lebens, welche wie ein Vogelschwarm unbewußt und beschwingt frohlockend zum Gehirn emporsteigt.

Der Größenwahn? Das Empfinden unserer göttlichen Erhabenheit, da wir existieren, nur da wir existieren.

Die Melancholie? Die unverständliche Wahrnehmung der Bestürzung und des Mysteriums von der Welt und vom Leben.

Alle Formen des Wahnsinns sind Formen einer klaren Sicht. Die Gesunden des Geistes sind die Blinden und Verwirrten der Seele.

Verrücktwerden bedeutet, sich dem Mysterium entgegen zu bewegen, es von weitem zu erblicken. Verrücktwerden bedeutet, daß man zu leben beginnt.

Wer verfügt über die Anschauung des Lebens – des Mysteriums? Die genialen Menschen. Und wer sind sie? Menschen auf dem Weg zum Wahnsinn, unvollständige Verrückte.

***

Genie, Wahnsinn und Degeneration

[Vom Genie]

Wie viele von uns, die sich mit dem Studium der Psychologie beschäftigen, haben tatsächlich eine Idee von dem, was die Psychologie augenscheinlich ist; oder vielmehr sollte ich anfügen, wie viele, die über sie oder von ihr schreiben, haben auch eine wirkliche Wahrnehmung vom Objekt ihrer Abhandlung? Wenn wir in Betracht ziehen, daß nur wenige, nur sehr wenige Leute eine Idee von der Wirklichkeit vergangener Perioden in der Geschichte haben, eigentlich nur so wenige Leute, daß ich schon geneigt bin, eine solche Wahrnehmung als ein festes Anzeichen für Talent oder gar für Genie zu betrachten; wenn wir dies in Betracht ziehen, können wir uns schwerlich wundern (…).

***

Es war eine Art Krankheit – das andauernde Schmachten nach etwas, ich fühlte es, Unerreichbarem; das Sehnen nach etwas so Ungewissem, so unbeschreiblich Schönem, das die Welt nicht enthalten kann. Zärtlichkeiten, Liebe, sexuelle Beziehungen – all das scheint mir so kalt, völlig kalt. Genie ist eine Krankheit, sicher eine prächtige Krankheit, aber eine gewaltige.

***

Der Künstler mag wohl vom alltäglichen Menschen etwas Abstand haben; das Genie kann es nicht. Es sollte auch nicht. Des Künstlers oberstes Ziel ist die Erschaffung des Schönen, des Genies oberstes Ziel ist es, dem Guten weiter zu verhelfen, eine zivilisierte Lebenswelt gegenüber dem Übel zu schaffen.

Es gibt drei Formen des Übels: die Ignoranz, die Ungeschliffenheit, die Böswilligkeit.

Gegen das eine setzt die Wissenschaft das Wahre,

gegen das andere setzt die Kunst das Schöne,

gegen das letzte setzt die Religion das Gute, aber all die Dinge, die zum Wahren, zum Schönen, zum Guten tendieren, tendieren auch zum Fortschritt und zur Entwicklung.

***

Genie

Der große, überlegene Mensch – der Übermensch – ist derjenige, in dem folgende Dinge in einem höheren Stadium gegenwärtig sind: Reflexion, Gewissen und Tatkraft, die drei Zustände des höheren Bewußtseins, beinahe ausschließlich menschlich. Jedoch sollte man sagen, auch wenn diese Dinge (…) vorhanden sind, sind sie unterschiedlich; der überlegene Mensch denkt genauer, er fühlt tiefer, er will sofort, (…). Er ist nicht kalt, hart, im Gegenteil, er ist ein Denker, ohne rein ein Denker zu sein, er ist gefühlvoll, ohne rein gefühlvoll zu sein, er ist ein Mann der Aktion, ohne dabei jedoch einer Maschine zu gleichen. Er ist nicht degeneriert wie Napoleon, der eine reiche Reflexion (im Gefühl), einen großen Willen hatte, dem aber völlig das moralische Gefühl abhanden kam, der ein Krimineller (ein Epileptiker) war und der eigentlich hätte im Asyl (…) bleiben sollen. Napoleon war eine Gefahr für die Gesellschaft. Er war jedoch nicht so entartet wie der tief gefühlvolle, aber asexuelle J. Christus, der zu einer gesunden Reflexion nicht fähig war, sondern der wie alle Mystiker und die meisten Metaphysiker krankhaft und obskur dachte. Nein, der überlegene Mensch ist mehr als dies. Er ist nicht asexuell wie Christus. Er ist sexuell, allerdings nicht erregbar oder übererregbar.

Die Stärke des Übermenschen begründet sich in seiner Macht, ungeordnete Instinkte und Impulse zu kontrollieren. Sein Gewissen erkennt sie als schlecht, seine Reflexion betrachtet sie und überlegt die beste Methode, sie auszugleichen, und sein Wille führt dieses Unternehmen dann aus.

Die Hemmungszentren in seinem Gehirn sind (…).

Auch wenn er begeistert und enthusiastisch ist (da er gesund ist), verfällt er nicht dem Rausch, dem Zorn, dem Laster. Er unterwirft sich keinen Meinungen und attackiert sie auch nicht. Er erschafft Meinungen. Sein hauptsächlicher Wunsch ist das Verstehen. Aber weder wünscht er die Schöpfung oder die Ewigkeit zu verstehen, noch will er unendliche Dinge verstehen, Dinge sub specie aeternitatis et necessitatis.

Er ist phantasievoll. Er ist inständig schöpferisch, zutiefst originell. Was er sieht, was er liest, das läßt in seinem Gehirn keine einfache und mechanische Ideenassoziation entstehen. Er denkt darüber nach, kritisiert es, in zauberhaften und wunderlichen Kombinationen läßt er daraus neue Gedanken, neue Ideen, neue Dinge entstehen.

Er ist mitfühlend, leidenschaftlich in seiner Liebe zur Menschheit. Aber er beschäftigt sich nicht mit ihr anhand von Theorien zum Guten und Bösen im Menschen, sondern durch ein Studium der bestehenden Bedingungen – ein sorgfältiges, vorurteilloses, vernünftiges Studium.

In all diesen Dingen ist er durch seine Liebe zur Humanität beflügelt. Und diese Liebe zur Humanität, die nichts mit Wahnsinn (wie ich von ihm rede) zu tun hat, die kein Instinkt oder Impuls ist, ist (…) bezüglich dieser Worte die höchste Form der Aktivität des moralischen Sinnes.

Er erfreut sich an reinen Dingen. Er sagt nicht wie Proudhon »le vrai amour n’a pas d’orgueils«. Würde er dies sagen, wäre er verrückt.

Reinheit, Menschenfreundlichkeit, all diese Dinge sind Träume – vielmehr der traurige Reigen von Onanisten, impotenten Leuten, Wahnsinnigen und degenerierten Pessimisten (…).

Ihn verbindet eine warme Freundschaft zu seiner Liebe zur Menschheit. Im Gegenteil ist jeder Liebhaber der Menschheit ein Misanthrop. Diese Liebe zum Menschen entstammt dem Anarchismus, und Anarchismus ist das mentale Stigma der Degeneration.

***

These – Zur Natur des Genies

 

Genie ist eine Umwandlung, eine Form der Psychopathie des Zweifels.

Was sind die allgemeinen Charakteristiken eines genialen Menschen?

Tiefgründiges Denken: Eine Form der Psychopathie des Zweifels.

 

Worin unterscheidet sich die Psychopathie vom Genie? (In der Qualität des Gehirns.)

 

Mystizismus ist die Verwirrung von überlegenen Gehirnen, so wie Dummheit die Verwirrung von geläufigen Gehirnen ist und Idiotie die Verwirrung von minderwertigen Gehirnen.

Des genialen Menschen ewige Unruhe bezüglich der Gründe und Ursprünge der Dinge.

 

Die Arten des Genies: Dichter, Philosoph, Wissenschaftler (…).

 

Was das dichterische Denken ausmacht: Liebe zur Schönheit.

 

Die pathologische Basis des Rhythmus und des Reims (Dies ist musikalisch). Ist Musik in ihrem Ursprung selbst psychopatisch?

Philosophen: Die psychopathische Basis der Metaphysik.

Künstler:

 

Die Dichter, selbst die einfachsten, müssen selbstverständlich über eine Hypererregbarkeit des Nervensystems verfügen. Nun ist aber ein hypererregbares Gehirn ein anormales Gehirn.

(Physiologie der Inspiration.)

 

Metaphysiker sind angetan von der Manie des Zweifels.

Was sind die mentalen Krankheiten, gefunden in jedem:

Maler – Bildhauer – Architekt. Die am wenigsten nervösen unter den Künstlern.

Musiker. Nervöser; zumindest sehr nervös.

Dichter. Wenn weniger nervös, dann weil der Intellekt gemeinsam mit der Imagination existiert.

Was verstand man unter dem Genie?

Schöpferisches Genie. Wissenschaftliches Talent; innerhalb der Normalität.

Dann: Wie viele Arten des Genies gibt es?

Das Genie des Denkens: (Philosophen; Denker; (…))

Das Genie des Gefühls: (Dichter; (…))

Das Genie des Willens: (Christus?; Napoleon; (…))

***

Der gesunde Mensch fühlt die Notwendigkeit, jedem Ding eine Bedeutung beizumessen. Der ungesunde Denker strebt eher danach, die Bedeutung eines Dinges vage zu machen, »tiefgründig«.

***

Die Beziehung zwischen dem Genie und der Manie des Zweifels.

 

Die Manie des Zweifels ist übrigens die »halluzinatorische Intensität der intellektuellen Wahrnehmung« (Alexander Search[1]). (Während logisches Denken eventuell wirklich höhere Wahrnehmung besagt.)

 

Wenn Lord Byron sagt: »Ich habe gedacht etc.« Wenn Keats von einem »tiefen oder gehobenen Denken« spricht. Wenn Dichter zu Dichtern sprechen von einem nachdenklichen (…), was meinen sie dann damit?

Sicher meinen sie damit kein logisches Denken. Das ist erst einmal klar. Sie meinen damit eins von zwei Dingen: daß diese Dichter über Dinge nachdenken, über die ein normalerer Geist nicht nachdenken würde, oder daß sie über Dinge nachdenken, über die zwar ein gewöhnlicher Mensch auch nachdenkt, sie jedoch in einer tiefsinnigeren Art und Weise. Oder sie machen dieses zur selben Zeit. Auf der einen Seite gibt es eine Ausdehnung (Quantität), auf der anderen Seite gibt es eine Tiefgründigkeit (Qualität) der Überlegung.

Wir sollten den inneren Charakter von dieser Überlegung für später belassen, wir sollten jedoch den äußeren Sinn davon untersuchen. Was ist also die Bedeutung davon: daß der geniale Mensch mehr und tiefgründiger denkt als der gewöhnliche Mensch? Das bedeutet nur, daß der geniale Mensch (…) und intensiver an die Dinge denkt als der alltägliche Mensch.

 

All die Dinge, die nicht nach der Bewahrung des Lebens streben, werden als ungesund und anormal betrachtet, als unnatürlich in der Art, wie sie sich nicht dem Lebenskampf anpassen.

Dies kann man daran sehen, daß alle unpersönlichen Fähigkeiten unnatürlich sind (ausgenommen wenn sie Wissenschaft erzeugen, wenn sie sich um das Gute in der menschlichen Rasse bemühen). (Das Gute einer Rasse hat aus einer persönlichen Aufopferung zu entstehen. Nun ist das soziale Gute zwar normal, die persönliche Aufopferung aber anormal. Daher muß also das Normale durch das Anormale erreicht werden. Das Gute durch das Schlechte. Das ist alles schlecht, da überall, wo das ultimative Ende unerreichbar ist, die Bedeutung ewig wird. So ist das Schlechte also niemals das Gute.)

***

Das Nachdenken über die besondere Schönheit einer speziellen Sache, das Auffinden einer geheimen Liebenswürdigkeit in den nahestehenden Objekten sind definitive Symptome der Manie des Zweifels.

Schließlich ist die Betrachtung des Schönen in speziellen Sachen immer nur ein Teil ihres Mysteriums.

Die Wahrnehmung der Schönheit in den Dingen ist nur eine Seite in der Wahrnehmung ihres Mysteriums. Bedeutet nun die eindringliche Versenkung in das Mysterium der Dinge Wahnsinn, dann ist die anhaltende Obsession bezüglich der Schönheit auch Wahnsinn.

***

Die Beziehung zwischen der Manie des Zweifels, Symbolismus, Mystizismus etc.

 

Was sind die hauptsächlichen Charakteristiken der Manie des Zweifels? Mysterium? Das Unbekannte?

***

Die Manie des Zweifels

Was ist das?

»Die halluzinatorische Intensität der intellektuellen Wahrnehmung«. Cf. Poe: »Berenice«. Egaeus’[2] Aufmerksamkeit im Hinblick auf die kleinen Dinge ist in der Tat der Tod einer normalen Aufmerksamkeit. Es ist also entweder eine wirkliche Aufmerksamkeit oder keine. Ist es keine, dann ist es nichts anderes als ein Umherstreifen des Geistes, während das Auge auf ein äußeres Objekt fixiert ist. Wenn sie wirklich ist, bedeutet sie eine mentale Krankheit. Für die Aufmerksamkeit gibt es entweder eine Ausrichtung oder keine. Wenn sie eine Ausrichtung hat, betrifft sie entweder das innere oder äußere Verständnis des Objekts. Wenn äußerlich, dann zur Handlung, wenn innerlich, dann zum eigenen Verständnis.

Wenn es keine Ausrichtung gibt, ist sie auch keine wirkliche Aufmerksamkeit, und sie ist damit tatsächlich nur jenes geistige Umherstreifen, von dem ich eben sprach.

 

Scheint der Geist von einem äußeren Objekt verschlungen zu sein, dann zeigt dies genau, wie er tatsächlich völlig von sich selbst vereinnahmt ist; daß (dies bemerke man wohl) je wirklicher solche Aufmerksamkeit ist, um so unwirklicher ist sie als Aufmerksamkeit, um so weniger Aufmerksamkeit ist sie.

 

Hier besteht die äußere Tendenz darin, mehr Objekte zu sehen, als ein normaler Mensch wahrnimmt. Beschreibt nun Shelley, wie er Grashalme etc. mit nahezu übermenschlicher Klarheit sieht, dann haben wir die äußere Tendenz, in den Objekten mehr zu sehen als bei einem normalen Blick. (Entspricht dies mentalen, als Zweifel angenommenen moralischen und physischen Gefühlen?)

 

(Der Blick und das Denken. Manch einer mag glauben, das Zentrum des Hinterkopfs habe etwas mit dem Denken zu tun. Das konvergente Schielen bei großen Denkern.)

Selbstverständlich (weiter mit dem Blick) verstören solche Arten des Sehens unsere Tendenz, die Objekte zu verstehen, und hauptsächlich ihre Beziehungen zueinander. Ein normales Sehen begreift diese Beziehungen richtig. Keine dieser Abnormitäten nimmt sie richtig wahr. (Warum? Wie?)

Es scheint, die Psychologie des Zweifels wäre eine Veränderung des psychologischen Gefühls für Beziehungen, eine individualistische Konzentration der Vernunft, die, anstelle Beziehungen anzustreben, wie es ihre Funktion sein sollte, (…) anstrebt. Die, anstatt ein Verständnis durch Beziehungen anzustreben, ein Verständnis (durch innere Beziehungen?) anstrebt.

(Wie? Warum?) bemüht man sich um Vernunft und Zweck (ohne Vernunft und Zweck als Verhältnis zu betrachten)?

 

Ist die Manie des Zweifels die grundlegende Psychose, die »Halluzination der Wahrnehmung«?

 

So wie es in den Sinnen Perversionen, Unvollkommenheiten und Halluzinationen gibt, so gibt es auch im Denken Perversionen, Unvollkommenheiten und Halluzinationen.

Ist die Manie des Zweifels eine Perversion, und keine Halluzination?

***

Ähnliche Punkte zwischen dem Genie und der Manie des Zweifels:

Die Manie des Zweifels erzeugt, involviert zumindest eine gewisse Amnesie.

Die Amnesie haben alle genialen Menschen gemeinsam.

Die Manie des Zweifels ist begleitet von Zerrüttungen des Willens, von Zaudern, von Unentschiedenheit. Viele geniale Menschen sind zaudernd und unentschlossen.

Die fundamentale Charakteristik der Manie des Zweifels ist selbstverständlich der Zweifel, das Anhäufen vieler Fragen und die Sorge, auf diese Fragen auch Antworten zu finden. Das Genie hat diese Charakteristik ebenfalls.

Das Genie und die Manie des Zweifels sind beide zutiefst degenerativ. Fälle der Nervosität und der Krankheit sind in diesen beiden Arten gefunden worden.

Im Genie und in der Manie des Zweifels gibt es einen intellektuellen Egoismus, einen Egozentrismus (?). Dies ist das Ergebnis des Mißbrauchs von Kräften der Vernunft.

(UNÄHNLICHKEIT: Die Manie des Zweifels versucht nicht, die Probleme zu lösen; der geniale Mensch versucht es.)

 

Geniale Menschen, die auf klare Weise an der Manie des Zweifels leiden:

Schopenhauer. (Heraklit.)

Carlyle.

Maine de Biran[3].

Amiel[4].

***

Beobachtungen zum Genie.

Der geniale Mensch sieht klarer und träumt mehr als der gewöhnliche Mensch.

Ist die Übersensibilität gegenüber Geräuschen eine Charakteristik von Leuten, die Angst empfinden?

***

Die größten Genies sind die Schöpfer eines Milieus.

Richet[5] liegt richtig, wenn er behauptet, daß das, was den großen Menschen auszeichnet, genau jenes ist, was ihn von seinem Milieu unterscheidet. Einige sind einfach nur zur Anpassung unfähig. Einige passen sich an, indem sie das Milieu erobern, indem sie es zu ihrem eigenen machen. Baudelaire und Poe sind Beispiele für die erste These. Napoleon und Christus sind Beispiele für die zweite These.

 

Der geniale Mensch muß gleichzeitig mehr träumen und wacher sein als der gewöhnliche Mensch. Die höhere Aktivität seines Denkzentrums bringt ihn dazu, ein größeres Bewußtsein vom Leben zu haben, eine größere Sehnsucht nach Verständnis, eine größere Klarheit der Sicht (was ihm hilft bei der Eliminierung von absurden Konzepten, die zwangsläufig in seinem Gehirn erscheinen). Die größere Aktivität von diesen gefährdeten Zentren, die (…) Aktivität der Nerven und die (…) schneiden ihn aber in einer gewissen Weise von der Welt ab, machen aus ihm einen Egoisten und einen Träumer. Daher ist das Phänomen der Amnesie (…) gewöhnlich bei Menschen mit Genie und Talent. (Der Unterschied zwischen diesen beiden besteht in der größeren Imagination des Genies, in der größeren Originalität, allgemein in der größeren Genialität.)

***

Die synthetische Aktivität ist verbunden mit einer mentalen Erregung, ebenso wie die Analyse an eine Depression gebunden ist.

Sowohl eine hohe synthetische Aktivität wie auch eine hohe analytische Aktivität sind Symptome eines psychopathischen Zustands.

Zuweilen trifft man in ein und derselben Figur diese beiden Aktivitäten gemeinsam an – dies ist selten, aber es ist möglich; dieses Individuum wird nicht ausgeglichener sein, sondern höchstens nur unausgeglichen ausgeglichen, denn letztlich bewegt es sich außerhalb der gewöhnlichen Naturproportionen.

Die Selbstanalyse ist ein morbides Phänomen.

Das ist offensichtlich. Da die Intelligenz essentiell objektiv ist, jedoch ist die analytische Intelligenz eine subjektive Intelligenz, also eine nichtnatürliche, eine morbide Intelligenz.

Ist die analytische Aktivität nun genau dies, oder ist sie eine Übertreibung des Selbstbewußtseins? Oder vielmehr: Was bedeutet das Selbstbewußtsein?

 

Der Grund, warum ein Dichter nicht über das Naturell eines Mathematikers verfügt – die Dichtung ist das Erzeugnis einer synthetischen Aktivität, die Mathematik das Erzeugnis einer analytischen Aktivität. Dies ist der wahre Grund, der fundamentale Grund, den alle kennen.

 

Ein Fall einer großen synthetischen Aktivität, verbunden mit einer völligen Unfähigkeit zur analytischen Aktivität: Victor Hugo.

Ein Fall der Koexistenz beider Aktivitäten, Edgar Allan Poe (denke an seine Erfolge in der Mathematik). Ein sich selbst und seiner Dichtung gegenüber tief kritischer Dichter. Der Alkoholismus übersteigerte seine synthetische, vereinfachende Aktivität.

 

Goethe: ein Fall der Koexistenz, ohne daß sich dabei die beiden Aktivitäten gegenseitig beeinflußt hätten.

***

Metaphysiker werden von normalen Menschen in der Regel nur schlecht oder oberflächlich verstanden. Mehr noch, es gibt vielerlei Leute, die glauben, ein metaphysisches System zu verstehen, wobei sie nur die Worte begreifen – was an sich schon ganz gut ist –, in denen es dargestellt wurde. Liest man einem normalen Menschen Spinozas Definition der Substanz vor, so wird dieser, wenn er sich schon nicht unhöflich gegenüber Spinoza äußert, zumindest doch sagen: »Mit solchen Dingen hat er seine Zeit vergeudet!«

Betrachtet man die Fakten, die Dinge mit einem nach Wahrheit strebenden Auge, so wird niemand leugnen, daß die metaphysische Spekulation nicht direkt auf das hauptsächliche Streben der natürlichen Dinge gerichtet ist, also auf die Erhaltung der Art, auf die Anpassung an den Lebenskampf.

Man würde auf ähnliche Weise die Wahrheit ignorieren, wenn man ebenfalls die andere Tatsache leugnete, nach der auch die Spekulation die Welt formt.

(Fouillée[6]: Philosophiegeschichte, Einleitung)

Zumindest der anormale Metaphysiker ist genaugenommen etwas neurasthenisch, verstrickt in der Manie des Zweifels. Desgleichen der normale Mensch, wie groß seine Klugheit als normaler Mensch auch sein mag (die normale Klugheit zeigt sich auf zwei Arten, in der Intuition des Charakters und in der Kraft der Überlegung). Auf einer höheren Stufe haben wir den manischen Zweifler, der sich mit aller Ernsthaftigkeit höheren Problemen aussetzt als der normale Mensch, der sich jedoch verwirrt, da er hierin nicht mit klarem Blick sieht. Auf der höchsten Stufe haben wir dann den genialen Menschen, der diese Probleme klar sieht, aus ihnen heraus Systeme erstellt, auf ihnen Gedankengebäude errichtet. Allerdings sollte dabei nie vergessen werden, daß seine Klarheit von Finsternis umgeben ist, so wie Katzenaugen im Dunkeln sehen können. Das ist selbstverständlich kein sehr nobler Vergleich, jedoch ausreichend für die Beschreibung.

Der nicht gesunde Mensch ist ein Metaphysiker. In diesem (…) Sinne hatte Rousseau recht, als er sagte: »L’homme qui pense est un animal dépravé.«[7]

Wir müssen die Natur des Genies auf verschiedene Weise verstehen; es gibt eine große Macht in der Wachheit; im gewissen Sinne eine hohe Quantität von schlechten Qualitäten. Wie wir sehen, ist die Basis anormal. An der Basis steht der Wahnsinn; Wahnsinn, Ungesundheit sind das Fundament, auf dem er sein Gebäude errichtet.

Dies erklärt viel, zum Beispiel, daß sich im Genie gleichzeitig gegenteilige Dinge ereignen wie ein höheres Bewußtsein und Unbewußtsein oder Schlafwandlertum. Ohne daß es wie ein Paradox klingen soll, könnten wir vielleicht sogar behaupten – je höher das Bewußtsein, um so geringer das Bewußtsein. Das bedeutet einfach nur – je ausgeprägter die frohlockende Erregung, um so größer die Depression.

Ein ähnlicher Fall ist der von Laster und Verbrechen.

***

Die Bedingung für jede Erregung ist die Depression; auch die begleitende Depression; die Erregung von einem Gefühl bedrückt andere (?). (Wird Depression hier nicht doppeldeutig benutzt?) Besteht die Erregung ein Leben lang, gehört sie dem Charakter an, wie beim Genie, dann wird auch die Depression ein Leben lang bestehen, dem Charakter angehören. Man sollte daher behaupten, daß im Genie Erregung und Depression immer nebeneinander zu bestehen haben. Das ist ein Gesetz der Natur; also unabwendbar.

Das Genie ist keine Neurose; es ist aber von einer begleitet. Nervöse équisements, in anderen Worten Depressionen.

(Warum sind Männer der Tat in den meisten Fällen Epileptiker – Caesar, Napoleon? Sind andere Genies in den meisten Fällen neurasthenisch und neurotisch und hysterisch?) (Besteht die Depression in derselben Art wie die Erregung? – Kriminelle sind öfter Epileptiker.) (Dies scheint zu bedeuten, die Epilepsie wäre die Depression (Neurose) eines Handlungsmenschen.) (Größtes Genie, größtes Unbewußtsein. (Denken – Depression) Shakespeare.)

***

Es gibt mindere und höhere Schwachköpfe. Ein Schwachkopf ist ein Mensch, der sich nicht an die Art des Denkens anpassen kann, wie es bei einem seiner Umwelt entsprechenden Menschen geschieht.

Ein minderer Schwachkopf kann nicht die Dinge erlernen, die sein Mitmensch erlernt, er kann nicht (…).

Ein höherer Schwachkopf kann (beständig?) das erlernen, was ein anderer Mensch auch kann, um es allgemein zu sagen, aber er hat keinen Zugang zu einer höherstehenden intellektuellen Umwelt. Er kann keine Neigung zur Wissenschaft zeigen; er kann keine experimentelle Erkenntnis hochschätzen (…). Keats, Baudelaire, Verlaine, Ibsen (…) etc. waren höhere Schwachköpfe.

Das wahre Genie, der wahrhaft große Mensch, der Progenerierte (progénéré bei M. Richet)[8] liebt die Wissenschaften, er denkt über sie nach. Er erstellt mit ihrer Hilfe vielleicht metaphysische Systeme, aber er verachtet sie nicht, er verehrt sie als die höchste Errungenschaft. Und je mehr er sie verehrt, um so besser. Vielleicht fühlt er in der Tat manchmal seine Unfähigkeit im Hinblick auf eine bestimmte Wissenschaft; er ist möglicherweise gegenüber einigen tendenziell abgeneigt – als ein normaler Mensch zum Beispiel gegenüber der Mathematik; was allerdings einfach nur eine Frage der intellektuellen Begabung ist. Aber dennoch neigt er nicht dazu, sie zu verachten; eventuell liebt er sie sogar, was auch natürlich ist, solange seine Liebe zur Wissenschaft nichts anderes ist als die Liebe zur Wahrheit, zur Klarheit, zum Verständnis.

Um auf den höheren Schwachkopf zurückzukommen. Er hat die Fähigkeit, aber nicht die (…).

Bezüglich der Quantität der Gehirnkraft ist er ein Denker. Durch das Fehlen an Qualität ist er ein Schwachkopf. Das Gehirn des Schwachkopfs ist (um es so zu sagen) quantitativ ausreichend, qualitativ mangelhaft. Das des Idioten ist quantitativ und qualitativ mangelhaft – mangelhaft in jeder Beziehung.

Was das Denken betrifft, so müssen vielleicht zwei Dinge unterschieden werden: das Begriffsvermögen – die Tiefe und die Genauigkeit (?) des Begriffsvermögens.

Diese beiden Dinge fehlen beim Idioten. Eins von beiden fehlt beim Schwachkopf. Der normale Mensch hat beide. (Eins nennt er Verständnis, das andere gesunden Menschenverstand???) Das Genie hat entweder beide, oder nur eins, aber dann muß er etwas anstreben. Wenn dies keine Idee ist oder ein Glaubensbekenntnis, dann muß es eine Ambition sein, ein Streben.

 

Er beharrt prinzipiell auf der Tatsache, daß er nie stiehlt, daß er immer ehrlich ist. Dies bringt er in Geltung gegenüber jedermanns Gesicht. Er spielt Argwohn gegenüber jedermanns Körper vor.

 

Woraus ergibt sich, daß seine Aktivität für ihn sehr aktiv ist? Ist er ehrlich in der Sache seines Landes?

***

Der höhere Schwachkopf

Der Wille ist die primäre Form und die Bewegung (als die räumliche Entsprechung) die primäre Manifestation des Psychismus. Daher ist auf konsequente Weise das erste Anzeichen eines höheren Psychismus ein höherer Wille. Was sind die Charakteristiken eines höheren Willens? Die Kraft der Hemmung, volonté.

Was ist über einen Mann zu sagen, der, wie João Franco[9], zwar alle mentalen Charakteristiken eines Schwachkopfs repräsentiert, jedoch die Kraft zum Aufstieg besitzt, da er eben in eine solche Position aufsteigen konnte?

Er ist nicht intellektuell. In keiner seiner Reden ist eine einzige Idee zu finden.

Er ist nicht aufmerksam, wofür seine peinlichen Verunglimpfungen und Verleumdungen sprechen.

Sein Wille ist nicht hemmend; er ist ein starrsinniger Despot.

In der Konfrontation ist er hinterlistig; seine Schlauheit ist reine Hinterlist – darin ähnelt er Schwachköpfen und Kriminellen.

 

Ein starker Widerspruch zwischen seiner Stärke des Willens und seinen Gegensätzlichkeiten im Intellekt.

Ein sich selbst widersprechender Mensch tut dies in den folgenden Arten:

Durch den Willen, und er ist somit ein gewiefter Schurke.

Wenn er wirklich beide Seiten ernsthaft durchdenkt, womit er mental unausgeglichen ist.

Durch seine Unfähigkeit zum Denken, und dann ist er ein Schwachkopf.

Auf João Franco trifft nicht (1) zu, da der Mensch, der zum willentlichen Selbstwiderspruch schlau genug ist, auch ausreichend schlau ist, um nicht sein Ehrenwort zu geben.

Auf ihn trifft auch nicht (2) zu, da er (…).

Auf ihn trifft (3) zu. Er sagt in jedem Moment genau das, was der Moment erfordert. Dies wird von zwei Dinge verraten: Er hat keinen Sinn für Ehre (…).

Ist er aber in sich selbst widersprüchlich, dann folgt er weder einer Idee noch einer moralischen Absicht.

***

Genie.

Es gibt zwei Arten des Genies.

Das absolute Genie.

Das relative Genie.

Zunächst kann diese Feststellung sehr befremdlich wirken. Wie kann es – so wird vielleicht die Frage lauten – ein absolutes und ein relatives Genie geben? Es gibt nur – so wird man sagen – das Genie als Genie, und was kein Genie ist, das ist eben keins.

Nun ist diese Unterscheidung nicht nur völlig wahr, nicht nur absolut notwendig, sondern auch extrem einfach zu verstehen.

Wir nennen ein »absolutes Genie« den höheren Menschen, den völlig höheren Menschen, der jederzeit und unabhängig von seinem Einfluß auf die Menschheit überragend ist.

Wir bezeichnen den Menschen als »relatives Genie«, der, auch wenn wir ihn nicht unbedingt als ein höheres Wesen betrachten, durch bestimmte Umweltbedingungen berühmt wurde, zu einem großen Einfluß in seinem Land und bei seinen Anhängern gekommen ist. Solch ein Mensch war beispielsweise der portugiesische Diktator João Franco, der, ausgenommen seiner Ambitionen, über keinerlei Talent oder Qualitäten verfügte, die man als genial hätte bezeichnen können, dessen Name aber als unvergänglich, wenn auch in einer unerfreulichen Form, in die Geschichte des Landes einging.

Es gibt jedoch noch mehr Fälle. Worin bestand beispielsweise der wahre Genius von Mohammed? In seinem Vorsatz (…)? Dies ist allerdings krankhaft und nicht genial.

Und worin zeigte sich der absolute Genius, der wahre Genius von Christus?

Hier mag man fragen: Warum bezeichnen wir Christus, Mohammed und Franco als Genies, wenn sie nicht mehr als relative sind?

Da sie in den Definitionsbereich des Genies fallen.

Warum nennen wir Franco, Christus und Mohammed relative Genies? Da keiner von ihnen irgend etwas Neues, etwas wahrhaft Neues hervorgebracht hat.

Warum nennen wir sie dann überhaupt Genies? Da sie in der Tat Schöpfer waren, zwar nicht von neuen Dingen, jedoch von neuen Situationen, was eine andere Sache ist, völlig anders.

Es mag entgegengehalten werden: Sie waren Menschen der Aktion, und daher lag es nicht im Bereich ihres Genies, irgend etwas anderes zu schaffen als neue Situationen, also Zustände, die ein Mensch der Aktion erschaffen kann. Darüber hinaus ist nicht jegliche Hervorbringung auch eine Hervorbringung von Situationen (…).

***

Genies und Kriminelle sind sich in einigen Dingen ähnlich. Das ist sicher nicht das Mördermotiv, in dem sie sich ähnlich sind: Beide sind antisozial.

Politische Kriminelle (beispielsweise Königsmörder etc.) unterscheiden sich zweifelsohne vom normalen Menschen, aber auch (und wir sprechen von einem »Typus«) vom wahrhaften Kriminellen. Sie zeigen oft unterschiedliche Charaktere.

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Der Kriminelle, der Idiot, der Wahnsinnige sind atavistisch: Sie ähneln oder erinnern in einem Teil ihres Charakters an die Vorfahren. Der geniale Mensch ist antiatavistisch. Er ähnelt oder entspricht den Nachkommen; er ist dem aktuellen Stadium der Evolution voraus. Die anderen stehen hinter ihm.

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Wenn der geniale Mensch der Zukunft entspricht, dann können wir an ihm vielleicht erkennen, wohin uns die Evolution führt.

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Anmerkung zum Genie.

Zur Tatsache, daß höhere Genies normaler als geringere sind, wie beispielsweise Shakespeare, V. Hugo etc.

Dies überwirft eindeutig und völlig die Theorie, nach der das Genie eine Antizipation ist, wenn zumindest der vorwegnehmende Intellekt die degenerativen Stigma verursacht – je weiter (und daher um so größer) sich der Intellekt in der Zukunft befindet, um so größer sollte die Anormalität sein.

Nun ergibt sich aber genau das Gegenteil.

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Talent und Genie.

Das Talent, das Genie und der Wahnsinn.

In den primitiven Gesellschaften gibt es weder Genie noch Talent: Es gibt nur den Wahnsinn. Das Talent: Die sozialisierte Intelligenz wird zum Ausdruck der Gesellschaftsfähigkeit.

In der ersten Kindheit der Gesellschaften gibt es Genies, jedoch keine Talente. Es kann Intelligenz geben, allerdings keine Talente im eigentlichen Sinne.

 

Es gibt Intelligenzen: das Publikum der großen Autoren und der Talente, diejenigen, welche die Genies in jenem verstehen, was ihnen wesentlich ist.

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Das Genie ist eine repräsentative Anormalität der sozialen Strömungen – insbesondere eine solche Anormalität, die das Individuum dazu führt, in sich Charakteristiken von bestimmten sozialen Strömungen zu intensivieren, sie nachzuleben. Wie die sozialen Strömungen Handlungen sind, so ist das Genie eine Handlung. (Daher gibt es in einem soziologischen Sinne keine »ignorierten« Genies, also im Sinne von nicht realisierten.) Was das Genie ist, das ist Denken, Bewußtsein. Die Genies sind das soziale Bewußtsein, das soziale Gehirn.

Von den Politikern zu den Dichtern – Repräsentativität.

Das Genie ist ein Schöpfer, also fixierend, Übermittler von (…).

Die wichtigste Sache im Leben einer Gesellschaft ist die Erzeugung von genialen Menschen, von Schöpfern.

Der geniale Mensch ist ein anormales, morbides Erzeugnis.

Daher ist die Eugenik eine abwegige »Wissenschaft«. Indem sie versucht, gesunde Menschen zu erschaffen, handelt sie gegen die Gesellschaft, da sie die Wurzeln der Genies angreift, die also ihre eigentlichen schöpferischen, zivilisierten Wurzeln sind.

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Es ist durch die zentrale, antreibende und bahnbrechende Handlung der Genies, durch die kompetente Menschen ihren Platz einnehmen. Es gibt keinen anderen Weg. (…)

Wie erscheinen die genialen Menschen?

 

Die Handlung des Staates ist nicht schöpferisch wie in der deutschen Strömung, noch einfach (…) wie in der englischen, sondern freilegend.

 

Wir können keinen genialen Menschen erschaffen. Da ein genialer Mensch ein menschliches Wesen ist, ist der Wahnsinn nur irgendeine soziale Umformung, die biologische Auswirkungen bekommt.

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Wenn der geniale Mensch der Definition und der Natur gemäß eine Abweichung von der Norm ist, warum sollte er dann jenes manifestieren, was man die »Eigenschaften der Rasse« nennt, oder des Volkes, dem er angehört? »Ein genialer Mensch«, sagte Goethe, »gehört seiner Zeit nur durch seine Mängel an.« Seiner Zeit: warum nicht auch seines Landes? Oder nur seines Landes in jener Zeit?

 

Die Hypothese, nach der es verschiedene Fälle mit verschiedenen Typen des genialen Menschen gibt.

(1) Die Höheren stellen sich dem Typus der inferioren Rasse entgegen; (2) die Mittelmäßigen entsprechen ihm; (3) die Niederen entfernen sich, ohne sich entgegenzustellen.

(1) Hugo, (2) Molière, (3) Verlaine.

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Was ist ein genialer Mensch? Er ist ein dem Milieu Unangepaßter. Jedoch ist er ein Unangepaßter, der erschafft, das bedeutet, er bringt das Milieu dazu, sich ihm anzupassen. Nun kann niemand das Milieu dazu zwingen, sich ihm schnell anzupassen, es sei denn, es handele sich um einen Handlungsmenschen. Der Mensch des Denkens kann an sich selbst nur ein zukünftiges Milieu anpassen. – Allerdings hat, wenn wir den Handlungsmenschen ausschließen, der geniale Mensch nie etwas ernsthaft zu verlieren.

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Die einzige Moral ist die des Soldaten: blind einem Prinzip folgen, das man ohne Überprüfung als höher anerkennt.

Die höheren moralischen Manifestationen sind ignorant in ihrem Ursprung. Die brennende Suche des Genies nach der Unsterblichkeit ist keine Suche mit dem tiefen und beständigen Glauben, man müsse unsterblich sein. Seine Handlung ist absurd, aber sie dient.

Die Moral ist eine Disziplin, die wie alle Disziplinen nicht nach ihrem Ursprung fragt.

Die Schöpfer sozialer Antriebe sind Schöpfer der Unvernunft.

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Das Diktum Popes »Geringe Kenntnis ist ein gefährlich Ding«[10] hat keine bessere Anwendung als auf geniale Menschen, es ist das Bewußtsein, das sie von ihrem Genie haben. Es ist gut – auch wenn es selten oder unmöglich ist –, wenn ein genialer Mensch kein Bewußtsein von seinem Genie hat; wenn er es denn aber hat, sollte er es auch vollständig haben, er sollte wissen, wo dieses Genie endet, welches seine Grenzen sind – dies ist vielleicht schon seltener.

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Was für ein genialer Mensch ist jemand, auf dem nicht das Bewußtsein einer Mission lastet?

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Mein Gefühl sagt mir, daß Entschiedenheit (im Fall des genialen Menschen) tiefer in der Natur steht als Denken.

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Die Natur des Genies.

Verwechslung des Genies mit dem Ästheten, Psychopathologie.

Erschaffung (Hervorbringung).

In einem großen Genie bestehen auf einer hohen Stufe drei Qualitäten.

Erschaffung

– absolut

– relativ (Umwandlung)

Der erschaffende Teil im Genie ist der Teil des Wahnsinns (Carlyle, Blake).

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Das Genie und das Talent innerhalb einer Gesellschaft.

Die Genies (in hoher Anzahl) werden allgemein in den Perioden sozialer Unruhe und Umgestaltung geboren. Man könnte behaupten, jene Unruhe habe auf die Eltern einen Effekt, der eine Abweichung in der Vererbung hervorruft, wie eben jenes undefinierbar krankhafte Element, ohne das ein Genie nicht existieren kann.

Die Auswirkung der sozialen Stimulierung auf das Talent (gut) und auf das Genie (gewöhnlich nichtig, manchmal gut, manchmal schlecht – Hugo, Goethe, Wells).

Als talentiert bezeichne ich einen Menschen von höherer Intelligenz, der ein eigenständiges Werk hervorbringen kann. Mit diesem letzten Satz unterscheide ich ihn von einem einfach nur intelligenten Menschen, jedoch nur für die Absichten des Verstehens, der Meditation oder der Unterhaltung.

Genie und Talent, wie ich sie hier verstehe, sind keine ungleichen Abstufungen nur einer Sache – der Intelligenz –, sondern qualitativ unterschiedliche Dinge. Ein talentierter Mensch kann intellektuell wertvoller sein als ein genialer Mensch.

In der Literatur: Genie – Poesie; Talent – Prosa.

Das Genie ist nicht zu unterdrücken, obwohl die Umstände ihm das Werk einschränken oder begrenzen können; und so hat der Dichter, der hätte ein ganzes Epos schreiben können, nur einige Oden und einige Sonette geschrieben, oder ein unvollständiges Epos, und wahrscheinlich bewundernswert in seinen disjecta membra.

Das Talent bemüht sich gewöhnlich um das, was man allgemein ein »engagiertes Werk« nennt. Und daraus, wie es nicht zu unterdrücken ist, folgt, daß sich das Talent selbst bei ungünstigen Umständen nicht einschränkt; man enthält sich, wenn man sich nicht vermindert oder abschwächt.

Genie – Inspiration; Talent – Meditation.

Im Genie haben die sozialen Stimulierungen nur in wenigen Fällen eine Auswirkung, wesentlich mehr Auswirkungen haben die zufälligen Stimulierungen, was von einer unerwiderten Liebe bis zum einfachen Sachverhalt des Betrunkenseins reichen kann.

Im Fall des literarischen Genies neigt die Umgebung dazu, es eher zur Publikation als zur Produktion zu stimulieren.

Ein ausgedehntes Gedicht, wenn es denn etwas taugt, ist ein Werk gleichzeitig der Inspiration und der Meditation, des Genies und des Talents.

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Genie und Talent

Es gibt im Genie ein Element des Gleichgewichts und ein Element des Ungleichgewichts, eins der Normalität (was von normalen Menschen verstanden werden kann oder könnte) und eins der Anormalität (da normale Menschen nicht das vollbringen können, was vom Genie vollbracht wird).

Eine Befruchtung in Perioden, in denen sich beide Elternteile (oder nur eins von beiden) in einer beständig nervösen Anspannung befinden, tendiert dazu, dem Produkt, dem Kind ein Element der Anormalität beizufügen, selbst wenn beide Eltern an sich normal sind – und wenn sie es tatsächlich sind, wird das Produkt dazu tendieren, eine merkwürdige Mischung aus Normal und Anormal zu sein, ein normaler Mensch, der zu Anormalität abgedrängt wurde.

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Das Genie ist anormal, daher also krankhaft (biologisch gesehen). Anormalität als perfekte Gesundheit? Nein; da der historische Mittelwert sich um die perfekte Gesundheit bewegt, und er bewegt sich nicht ums Genie.

Das Genie erzeugt sozial annehmbare Resultate. Daher: Das Genie ist eine mentale Anormalität, welches sozial gesunde Resultate erschafft.

Wenn es sozial gesunde Resultate erschafft, dann nur, da es nicht anormal ist, es muß auch normal sein. (Anormal im Ausdruck?)

Das Genie ist eine psychisch anormale Konstitution, ausgeglichen durch eine große Entwicklung, jedoch normal in den intellektuellen und darstellerischen Fähigkeiten.

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Soziologie

Der ökonomische Fortschritt ist nicht förderlich im künstlerischen Schaffen, sondern nur im Schaffen auf einem niederen Niveau, also beim Talent und nicht beim Genie. Man kann dahin gehend argumentieren, daß dieser Fortschritt ein Kulturelement begründet, an dem sich zukünftige Genies bedienen werden. Aber dies kommt auf dasselbe heraus. Denn entweder ist diese Kultur originell, also daher genial, und das Problem bleibt das gleiche; oder sie ist es nicht, und das zukünftige Genie wird ein wahrhaft geniales Werk vollbringen müssen, um ihr Originalität zu entlocken.

Das Erscheinen von genialen Menschen in den Künsten, in den Wissenschaften und in der Literatur gehorcht den komplexesten und tiefsten Gesetzen.

Es ist möglich, daß ökonomische Phänomene die Erschaffung von Genies beeinflussen können, jedoch dies in einem anderen Sinn. Es werden solche psychischen Veränderungen in den Gesellschaften – durch Gesetze, die wir hier ergründen wollen – hervorgerufen, daß aus ihnen heraus Genies geboren werden. Aber hier ist der ökonomische Fortschritt schon eigentlich nicht mehr ökonomisch, sondern psychologisch (oder Erzeugnis des psychologischen Fortschritts) (und daher vielleicht in seinem wahrhaft psychologischen Wesen).

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Soziologie, Literatur.

Die klassisch genannte französische Literatur hat als ästhetisches Kriterium das Kriterium der Gesellschaft angenommen. Was nicht in einem Saal gesagt werden kann oder gesagt werden sollte, das kann und sollte auch nicht in einem Theater gesagt werden. (Erinnerung an den Einfluß der Affektiertheit der Sprache in den Sälen der Zeit.)

 

Das Genie erscheint in der Reaktion gegen das Milieu. Jedoch wird das Genie aus diesem Milieu heraus geboren. Daher agiert es auf fatale Weise bezüglich einiger Teile dieses Milieus – jene, aus denen es hervorgegangen ist, die es erschaffen haben. Diese, da sie demselben Milieu angehören, agieren bezüglich anderer, und so dringt der sogenannte geniale Mensch in seine Gesellschaft ein.

Es ist auch eine Reaktion gegen das Milieu, da das Genie ausgesprochen individuell ist; da eben originell sein bedeutet, »bereits« ein Erzeugnis zu sein, also dem entgegengestellt, was bereits erschaffen ist.

Das Genie ist innovativ; um jedoch innovativ sein zu können, darf es nur einen Schritt dem voraus sein, was vom Milieu bereits hervorgebracht wurde. Für größere Dinge würde ihm jene unbewußte Hilfe der Umwelt fehlen, welche den Ausdruck möglich macht. (Seiner Epoche voraus kann nur das geisteskranke Genie sein. Charles Stuart[11])

Das Genie ist um so größer, je sicherer es zwei Faktoren ausgleicht: Repräsentativität und Originalität. (Was auch immer von ihm vollbracht werden sollte, es besteht immer die Möglichkeit – das sollte hier angemerkt sein –, daß es keine große Auswirkung auf das Milieu hat. Allein die Tatsache einer hohen Repräsentativität muß nicht unbedingt dazu führen, daß sich die Handlung im Milieu zwischen anderen gleichwertig repräsentativen Dingen abhebt; und in diesem Falle kann eine hohe Originalität entweder nicht richtig verstanden werden, oder sie geht unter, da man zu stark auf die Repräsentativität des Genies achtet. Dies ist der Fall bei Shakespeare, wer auch immer er gewesen sein mag.)

Und Fälle wie der Shelleys? Vergleicht man ihn mit dem Byrons, so war Shelley zu weit voraus. Er war weniger ausgeglichen als Byron; das ist die Wahrheit. Wie verhält es sich jedoch mit dem Fall Keats, der ausgeglichener war als jene beiden?

Genies

Das Genie der künstlerischen oder philosophischen Handlung – Umgestaltung des Psychismus der Aristokraten.

Genies der politischen oder religiösen Handlung – Umgestaltung des Psychismus der mittleren Klasse.

Genies der militärischen (religiösen?) Handlung – Umgestaltung des Psychismus der unteren Klassen.

Die persönliche Absicht im Werk eines genialen Menschen – der Ruhm im Werk des Künstlers, die Herrschaft und das Prestige im Werk des Politikers.

 

Wie ergibt sich das Eindringen künstlerischer und philosophischer Ideen in eine Gesellschaft? Zuerst wirken sie auf Eliten. Aus diesen Eliten stammen Politiker, die das Volk beherrschen und es auf die eine oder andere Weise mit diesen Ideen beeinflussen.

Der Fall der Republikaner in Portugal und der Fall der Staatsverfassung in Deutschland sind dafür hervorragende Beispiele.

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Komplexität? Jedermann ist komplex. Der geniale Mensch ist weit davon entfernt, hyperkomplex zu sein, er ist nur jemand, der seiner Komplexität Einfachheit aufsetzt, der innerhalb seiner Komplexität klar sieht, der innerhalb ihrer nicht zerrinnt. Deutlich formuliert, ist eine nicht geniale Kreatur eigentlich komplexer als ein genialer Mensch; sie ist derartig komplex, daß sie auf ihre Komplexität komplex sieht, daß sie innerhalb ihrer selbst nichts sieht; so komplex ist sie!

Der Verrückte ist weit davon entfernt, dem genialen Menschen ähnlich zu sein, der Verrückte ist dem vernünftigen Menschen ähnlich. Der Verrückte ist hyperkomplex – er ist ein vernünftiger Mensch, ein bis zum Maximum genommener normaler Mensch. Daher steht es in der Möglichkeit einer jeden normalen Kreatur, verrückt zu werden – je nach dem Niveau der Ängste und Schmerzen, die es auszuhalten gilt; es steht jedoch nicht in der Möglichkeit eines normalen Menschen, genial zu werden. Dafür gibt es keine Aussicht. Es gibt keine Art und Weise, die dies erlauben würde.

Das Werk eines Genies ist ein einfaches Werk, immer; je höhere Komplexität es in dieser Einfachheit gibt, desto besser. Damit es einfach bleibt, ist es die Vereinfachung, die größer sein muß. Demgemäß kann es scheinen, daß sich das Genie sowohl in der Einfachheit als auch in der Komplexität befinden kann. Das extrem Einfache kann zwar genial werden; das extrem Komplexe jedoch nicht. Die einfachste Sache, die es gibt, ist die Einheit – und dies ist die erste Anforderung an ein Werk.

Der geniale Mensch ist einfach nur der Schöpfer einer neuen Einfachheit. Man mag es annehmen: Es ist so. Das Erschaffen von Komplexitäten steht in der mentalen Kraft von irgendeinem Individuum (ausgestattet mit einem Stückchen Gehirn). Jedoch ist die Hervorbringung von Einfachheiten kompliziert. Jeder von uns kann mit einer kleinen Kraftanstrengung eine Reihe komplexer Sätze hervorbringen, durch unsinnige, durch dunkle, durch (…) – originelle Sätze. Man mag allerdings sehen, ob irgendein Individuum zwei oder drei einfache Sätze zustande bringt, die auch originell sind, also nicht unbedingt nur ein Guten Tag, was schon eine abgelebte Sache ist. Die geringste Kraftanstrengung jenseits des Normalen ergibt sofort eine Albernheit – also die Komplexität, da es absurd ist.

Der geniale Mensch ist eine einfache, kindliche Kreatur. Er ist es auf drei Arten. Er ist ein Individuum, das die Dinge in ihrer absoluten Einfachheit sieht. Er sitzt in seinem Zimmer und sieht beispielsweise auf die Türklinke. Wo andere Leute nur eine Türklinke sehen, sieht er ein Mysterium. Schließlich ist es tatsächlich auch etwas befremdlich, daß Türklinken existieren, da es allgemein absonderlich ist, daß überhaupt Dinge existieren, daß das Universum mit all diesen Dingen existiert. Die Klinke an einer Tür ist eine entsetzliche Sache, wenn wir sie genau betrachten, wenn wir sie mit aller Einfachheit, mit der Arglosigkeit der Seele ins Auge fassen.

Komplex ist ein Mensch, der die Türklinke einfach nur als Türklinke versteht. Ein Mensch, der über die Befremdlichkeit nachdenkt, daß es da jemanden gegeben hat, der darauf kam, eine Tür und eine Klinke hervorzubringen, dieser Mensch befindet sich schon auf einem guten Weg – er hat dieses Erstaunen angesichts der einfachen Dinge, welches bereits die Basis für das Genie ist. Er bemerkt, daß die Türklinke ein Ding ist, ein abstraktes und weißes Wesen, eine Sache, die mit dem Mysterium des Raumes angefüllt ist, mit dem Mysterium der Zeit, mit dem Mysterium des Gewichts, mit dem Mysterium (…).

Eine Türklinke ist so mysteriös wie das Vorhandensein von Menschen – Seelen –, von sprechenden Stimmen und Zivilisationen, die geboren werden, die erblühen und die untergehen. Die Klinke einer Tür ist Gott von allen Seiten in seinem Hier-Sein. Sie ist eine Offenbarung. Dies gilt aber sicher nur für den, der auf die Dinge in einer einfachen Art sieht. Und dieser einfache Blick auf die Dinge ist – ich sagte es bereits – das erste Charakteristikum des Genies. Wie ich nun dieses Beispiel ausführlich dargelegt habe, könnte mich der Glaube überkommen, ich sei ein Genie. Ich finde mich damit ohne größeren Einwand ab!

Die Türklinke starrt auf mich mit dem Blick eines Mysteriums, das sie nicht hat.

Die zweite Charakteristik des genialen Menschen ist auch eine Einfachheit. Die erste Charakteristik war der einfache Blick auf die Dinge; die zweite besteht darin, die Dinge einfach auszudrücken. Dies scheint eine Verteidigung der Einfachheit und der Klarheit des Stiles zu sein. Selbstverständlich ist es aber das genaue Gegenteil. Wenn das, was man sagen will, sehr komplex ist, dann ist der komplexe Ausdruck der einfache Ausdruck. Wenn mein Seelenzustand komplex und konfus ist, und wenn ich ihn dann aber so darstelle, daß die anderen denken, er wäre einfach – dann bin ich komplex, da ich somit im Ausdruck nicht nur falsch liege (was eine Komplexität ist), sondern auch absurd (was eine Kunst ist) und konfus klinge, schließlich sage ich nicht das, was ich sagen sollte (was auch eine Kunst ist).

 

Die dritte Charakteristik eines genialen Menschen ist es, die Dinge einfach zu erschaffen. Hieraus entstammt die fundamentale Qualität eines wahrhaften Kunstwerks – die Einheit. Die Ilias ist großartig, da sie außergewöhnlich einheitlich ist, das bedeutet also einfach.

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Geniale Einfachheit.

Napoleon – in Europa klar zu sehen – alles, wie es war.

Ein großer Staatsmann ist jener, der die Nation als Einheit sieht, was sie auch wirklich ist (und nicht als die Ansammlung vieler Menschen).

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Das Genie fühlt noch vor den anderen Menschen die Ausrichtung einer Gesellschaft. Es ist somit das erste Anzeichen der Entwicklung in dieser Richtung, und es richtet als erstes seine Aufmerksamkeit in diese Richtung. Aber was bedeutet dies bezüglich eines Bacon mit seinen reaktionären politischen Theorien? Welche Beziehung kann man hierin zu dem Aufkommen Cromwells knüpfen? Dieser Punkt ist nicht der geniale Punkt im Werk Bacons. Diese Theorien hatten auch schon andere. Das Genie steckt in seiner Philosophie als solcher, und dort (in den politischen Theorien) nur in der kritischen Haltung.

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Genie

Das Genie ist eine Sensibilität, die noch vor anderen die Ausrichtung einer sozialen Entwicklung fühlt. Seine Manifestationen zeigen der Gesellschaft deutlich den Weg an, dem sie zu folgen hat. Die obskuren sozialen Instinkte werden deutlich, wenn man auf diese Manifestationen achtet.

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Genie

Ein großes Werk ist ein Werk, in dem viel enthalten ist, das zur selben Zeit auf hohem Niveau künstlerisch ist, auf hohem Niveau menschlich, auf hohem Niveau symbolisch.

Hier kommt noch das Problem des Bewußtseins hinzu, das der Künstler von dem hat, was er vollbringt. Hatte zum Beispiel Cervantes das Bewußtsein des Symbols – Don Quixote?

Das ist nicht wichtig. Von Bedeutung ist die Konzipierung des Werkes auf eine Art, die das Symbolische schon eingeschlossen hat. Es gab den bewußt-künstlerischen Willen des Werkes, und wie der bewußt-künstlerische Wille das Symbol schon enthält, wurde es symbolisch, ob es der Künstler nun so wollte oder nicht.

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Vor der romantischen Bewegung hatten die literarischen Genies die relative Genugtuung, kein genaues Bewußtsein von ihrer sozialen Bedeutung haben zu müssen, was sie also ebenso direkt wie genetisch innerhalb der Gesellschaft repräsentierten. Die romantische Bewegung, das romantische Elend, ist nicht mehr als das Bewußtsein des imaginativen Menschen der sozialen Nichtanpassung, und nicht nur des imaginativen Menschen, sondern auch aller anderen Menschen, bei denen die innersozialen Aktivitäten nicht die typischen oder charakteristischen sind. Die Romantik wurde innerhalb einer Periode geboren, in der sich die auf nutzlose Weise charakteristischsten Aktivitäten des sozialen Lebens bis zu einem Punkt entwickelt hatten, an dem sie fast alle anderen aufsaugten, wenn sie diese nicht sogar schon gänzlich aufgesaugt hatten. In einer Periode wie dieser konnte ein an die sozialen Dinge Unangepaßter leichter das Bewußtsein seiner Unangepaßtheit gewinnen. Der für immer typische Fall Rousseaus bringt die absolute Wahrheit dieser Beobachtung ans Licht.

Der schöpferische Geist, von welcher Art er auch sein mag, fühlt sich in den sozialen Dingen fremd oder nicht heimisch – und hauptsächlich in der großen Anzahl von ihnen, die außerhalb seiner Kompetenz liegen. Eine kurze psychologische Analyse des Falls erklärt ausreichend, warum das so ist.

Die schöpferischen Fähigkeiten – sei die Schöpfung nun eine literarische oder eine andere – beanspruchen für sich den gesamten Geist. Hält man sich an den üblichen Prozeß, nach dem die Spezialisierung in einer Sache den Spezialisierten unfähig in allen anderen Dingen macht, so beinhaltet die eigentliche Tatsache, vom Temperament her ein konstruktiver Schöpfer zu sein, bereits eine Nichtanpassung. Sie beinhaltet sogar eine mehrfache Nichtanpassung. Da sich der geniale Mensch in mehr als einem Sinn spezialisiert. Zunächst spezialisiert er sich aus der ursprünglichen Tatsache der schöpferischen Hervorbringung heraus; das bedeutet, in der Aufteilung der sozialen Arbeit seiner Klasse gehört er zu den Schöpfern der Zivilisation. Danach spezialisiert er sich in der speziellen Kategorie, der er sich durch sein Temperament hingibt – das politische oder künstlerische Leben (oder ein anderes), und innerhalb von diesem das literarische. Schließlich spezialisiert er sich insofern, wie sich seine Handlung wesentlich von der gewöhnlichen sozialen Handlung irgendeines anderen Menschen unterscheidet; wenn er also ein soziales (politisches, militärisches, industrielles) Genie ist, so ist seine Aktivität die Synthese von allen anderen; (…)

Es ist selbstverständlich, daß in dem letzten Fall der Künstler am weitesten von der Realität absteht, dessen Tätigkeit im technischen Sinne extrasozial ist, da sie keine direkte Handlung in bezug auf andere beinhaltet.

Wie wir bereits erwähnt haben, beinhaltet diese dreifache Spezialisierung eine dreifache Unfähigkeit hinsichtlich aller anderen Gebiete. Der geniale Mensch ist, in dem Verhältnis, wie er wirksam ein Schöpfer ist, unfähig zu irgendeiner anderen sozialen Tätigkeit, die keine Schöpfung beinhaltet. So sollte es sein, zumindest um zu beweisen, daß er ein kompetenter Schöpfer ist.

Der geniale Mensch, in dem Verhältnis, wie er kompetent innerhalb seines eigenen Gebietes ist, ist auf allen anderen Gebieten inkompetent. Er ist es auf einem höheren Niveau als alle anderen Menschen, da er Sklave seiner eigenen Tätigkeit bis an einen Punkt ist, an den kein einfacher Arbeiter gelangt. Es wäre viel mehr als nur verblüffend, und auch bedauerlich, wenn der Dichter zeichnen und der Tischler Blumen pflegen könnte. Diese letzte Spezialisierung umfaßt nichts anderes als die Fähigkeiten, die auch irgendeine andere berufliche Ausrichtung erfordert; die andere umfaßt Qualitäten des Gefühls, der Emotion, der Meditation, die in anderen beruflichen Aktivitäten nicht vorkommen und die auch nicht vorkommen dürfen, damit die vollkommene Ausführung nicht gefährdet wird.

 

In dem Verhältnis, wie der geniale Mensch kompetent geboren wird für seinen schöpferischen Auftrag, ist er auch unangepaßt hinsichtlich einer großen Anzahl von Dingen im sozialen Leben.

Beispiele:

Nehmen wir bestimmte Fälle, die diesen Sachverhalt darstellen. Einer dieser Fälle ist Oscar Wilde. Zur selben Zeit, da er Literat war, widmete sich dieser Mann der Konversationskultur und all den komplexen Nichtigkeiten, die ein einfaches Zusammenleben einschließt. In dem Verhältnis, wie er diese letzte Übung der Intelligenz vervollständigte, verlor er auf fatale Weise seine Kompetenzen in der anderen Übung. So geschah es – und wenn es von Anfang an in seinem literarischen Leben geschah, dann deswegen, weil bei ihm die Zweiseitigkeit von Anfang an gegeben war, weil sie schon zum eigentlichen Temperament gehörte. Was war das Ergebnis? Es bestand darin, daß sich sein Werk durch die außergewöhnliche Mangelhaftigkeit jener Qualitäten hervorhebt, die eine professionelle Konzentration verlangen – Qualitäten der Konstruktion, der Meditation, der Entwicklung. Kohärent, wenn sie in einem Zug niedergeschrieben wurden, nicht kohärent, wenn sie es nicht wurden, sie leiden insgesamt an einer offenkundig strukturellen Mangelhaftigkeit. Und wenn es nicht noch schlimmer ist, dann nur durch die klassische Bildung des Autoren, die es verhinderte, daß die Zerstörung noch weiter vorangetrieben wurde.

Analoge Fälle, auch wenn sie sich in einigen Dingen etwas anders verhalten, sind jene von Männern wie Goethe oder Bacon, die neben der literarischen Aktivität noch irgendeine andere Aktivität im praktischen Leben ausführten. Derselbe Effekt einer fehlenden Begrenzung und der Zerstreuung zerrüttet das Werk. (…)

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Der geniale Mensch ist ein auf der linken Hand Initiierter. Shakespeare. Er ist ein Initiierter, der seine Initiation zwar fühlt, von ihr aber nichts weiß.

Die Initiation ist die Erlaubnis zur Konversation mit den Engeln. Manche hören, andere sehen und hören. Die ersten stehen auf der linken Seite, die anderen auf der rechten.

 

Das Wesen der okkulten Doktrin besteht darin, daß es keine Kommunikation mit Gott gibt. (Pasqually zu St. Martin)[12] Das Wesen des Mystizismus besteht darin, nach dieser Kommunikation zu streben, die Anbindung an die Vielfalt zu brechen.

 

(1) Das Wissen vom und die Konversation mit dem Schutzengel,

(2) das Wissen von anderen Engeln, (3) der Weg zu Gott.

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Der Kontakt mit dem Okkulten kann ebenso verdunkeln, wie er erhellen kann.

(Das Genie und der Verrückte.) (Der Optimismus, den die Okkulten nicht anraten.)

Das materielle Kriterium der Initiation. Man kann von Geburt an initiiert sein, oder man wird initiiert. Das Genie – das große und wahrhafte Genie – ist eine organische und transzendente Initiation.

(Die Ideenassoziation und die analoge Intelligenz.)

Er hat Gott nicht für die Welt geschaffen, sondern es ist nur für die Welt, daß er geschaffen hat.

 

Der Schritt des Evangeliums über jene, die Eunuchen (Initiierte) seit dem Mutterleibe sind, bestätigt, daß es die Initiation des Schicksals geben kann, daß man initiiert geboren werden kann und unbewußt, oder zumindest fast, eine okkulte Bestimmung erfüllt.

Das Genie – oder gewisses Genie – ebenso wie die Initiation.

(Die Vorbereitung im Leben auf ein anderes.)

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Gemäß der Vorschrift des höchsten Götterrates geben die Götter, wir ergreifen es jedoch nicht. Das Genie ist eine Heiligkeit. Die Wahrheit ist, daß wir das sein werden, zu dem wir geboren wurden; es ist eine Lüge, daß wir zu dem gelangen, was wir nicht sind. Der Mensch kann ein Gott sein, es ist ihm jedoch nur auf völlig menschliche Weise möglich. Shakespeare steht über allen Heiligen.

Nimm die Welt an, wie sie dir gegeben ist – das ist die Vorschrift des höchsten Götterrates, also die des Olymps. Und die Vorschrift der Brüderlichkeit vervollständigt sie: Sei, was du mit dir allein bist. Strebe nichts an, beziehe dich auf nichts: Sei!

Eine lebendigere Imagination als die aller anderen Menschen, ein strengerer Geist als der aller anderen Menschen, eine höhere Poesie, ein stärkerer Wille – darin besteht die wahrhafte Erfüllung. Wozu die Götter anrufen, wenn wir uns nicht in uns selbst vollenden können? »Was nützt es einem Menschen, die ganze Welt – auch wenn es die Welt der Abgründe sei – für sich zu gewinnen, wenn er dabei seine Seele verliert?«, das bedeutet also die Entfaltung seiner eigenen menschlichen Persönlichkeit.

Der Mystizismus, das Jenseitstum, dies alles kann nur den Sinn haben, den tieferen Sinn, künstlerisch und vorübergehend genutzt zu werden. Selbst die uns lenkenden Götter verleugnen wir, da wir nicht sie sind. Und indem wir sie verleugnen, indem wir vollständig wir selbst werden, gleichen wir uns den Göttern an, denn jeder einzelne von ihnen ist vollständig er selbst.

Die Vorschrift der Brüderlichkeit ist diese: Jeder Mensch ist nur er allein; welchem Weg er auch folgen mag, er hat ihn in sich selbst zu suchen. Er kann keinem Orden angehören, noch irgend etwas anderem, von welcher Art auch immer. Die Vorschrift der Rosenkreuzer ist diese: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Aber es verhält sich nicht so, wie es von den Mystikern oder Nicht-Mystikern angenommen wird, die etwas annehmen, ohne es zu verstehen. Freiheit bedeutet, sich nichts und niemandem unterzuordnen, nicht dem eigenen Ideal, nicht der eigenen Persönlichkeit, nicht dem Gesetz Thelema[13], das uns unsere Freiheit ebenso wie unsere Einschränkung gibt. Gleichheit bedeutet, daß jeder, wenn er diese Freiheit denn besitzt, dem anderen gleich ist, solange dieser er selbst ist. Brüderlichkeit folgt daraus: Niemand kann sich einem anderen entgegensetzen, solange dieser ist, was er ist, denn man ist Bruder von jemandem, der nur das ist, was er selbst ist.

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Es drängt, eine organisierte Anormalität im sozialen Körper zu begründen, damit ein Fortschritt hervortritt, das bedeutet, geniale Menschen – und geniale Menschen sind organisierte Anormalitäten.

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Ich bin immer mehr von der Mittelmäßigkeit und Provinzialität der Seele unserer genialen Menschen überzeugt. So gewaltig sie auch sein mögen, betrachtet man sie auf ihre eigenen Füße gestellt, dann sind sie minderwertig, dümmlich, von einer kleinlichen und weibischen Niedertracht gezeichnet, dann haben sie eine Seele, die ihre Ideen vergiftet, auch wenn sie noch so reich oder klar gezeichnet sein mögen.

Sie tragen ihr Genie herum wie eine Last, für die sie nicht geschaffen sind. Sie vermitteln den schmerzhaften Eindruck, sie seien die Dienstjungen ihres eigenen Talents.

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Der starke Künstler tötet in sich selbst nicht nur Liebe und Mitleid ab, sondern auch den Keim des Mitleids und der Liebe. Seine große Liebe zur Menschheit übersteigend, wird er inhuman – die Liebe, die ihn zur Erschaffung von Kunst beflügelt.

Genie ist der größte Fluch, mit dem Gott einen Menschen segnen kann. Diesem muß er sich unterwerfen ohne geringstes Stöhnen und Winseln, mit dem größtmöglichen Bewußtsein seiner göttlichen Traurigkeit.

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Nur die großen Genies haben künstlerische Verpflichtungen.

Da die großen Genies auf höchster Stufe individuell sind, sind sie in einem notwendigen und organischen Ausgleich auch menschlich, also universalistisch. Wie sie jedoch auf höchster Stufe individuell und universalistisch sind, also in doppelter Weise dem nationalen Milieu entgegengesetzt, müssen sie auch – sie fühlen es fest entschlossen und instinktiv (so meine ich zumindest) – auf höchster Stufe national sein.

Daher sind die großen Genies von der Veranlagung her antinational und von der Überzeugung her patriotisch. Diese Tatsache erkennen wir deutlich an den Beispielen, gleichzeitig ähnlich und entgegengesetzt, von Shakespeare und Milton in England. Als Männer entgegengesetzt – Shakespeare ist vehement feminin und unbeständig; Milton ist auf elegante Weise maskulin und ernsthaft –, sind sie beide auch dem normalen englischen Typus entgegengesetzt, der beispielsweise hervorragend von Ben Jonson[14] repräsentiert wird, einem Mann mit einem recht geringfügigen Genie, das in seiner Sensibilität weder feminin oder unbeständig ist, noch über Ernsthaftigkeit verfügt.

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Unauffällig zu leben, wenn man ohne Zwang nicht auf nützliche Weise leben kann, das ist etwas für beengte Charaktere. Der einfach nur werktätige Arbeiter lebt auf nützliche Weise, er lebt jedoch eingeschränkt. Die ihre Kinder erziehende und wegweisende Mutter lebt auf nützliche Weise, sie lebt jedoch eingeschränkt. Der Verschwender, der das väterliche Geld vergeudet, lebt auf nützliche Weise, da sein Nutzen in den sozialen Resultaten und nicht in den individuellen Prozessen besteht, er lebt aber auch eingeschränkt. Der Schriftsteller, der zur Unterhaltung anderer kleine und geistlose Geschichten schreibt; der Dichter, der zur Verzückung anderer belanglose Gedichte fabriziert; der einfach nur malende Zeichner; der anspruchslose Komponist, der Musik zusammenbastelt – sie alle leben im gewissen Sinne in einer nutzvollen Weise, sie leben jedoch alle eingeschränkt.