Die Rückkehr der Ungleichheit - Mike Savage - E-Book

Die Rückkehr der Ungleichheit E-Book

Mike Savage

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Beschreibung

Immer mehr Vermögen liegt in immer weniger Händen. Oder anders gesagt: Die Reichen haben sich vom Rest der Gesellschaft entfernt, und die Superreichen haben sich von den Reichen entfernt. Die enorme Vermögensungleichheit bringt uns zurück in die Vergangenheit. Sie lässt, so der renommierte Soziologe Mike Savage, Zustände aufleben, von denen wir dachten, wir hätten sie überwunden: dynastischen Elitismus, Klientelismus und vererbte Privilegien. Die ökonomische Ungleichheit verschärft so auch kulturelle, soziale und politische Konflikte. Und diese Entwicklungen untergraben letztlich die Grundlagen liberaler Demokratien: den Glauben an Fortschritt für alle und das Vertrauen in die Fürsorge der politischen Gemeinschaft für ihre Mitglieder. Die Rückkehr der Ungleichheit ist eine bahnbrechende Studie, die durch ihre theoretische Breite und ihre historische Herangehensweise einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis der Auswirkungen wachsender Ungleichheit leistet. Darüber hinaus entwickelt Mike Savage in seinem hochaktuellen Buch Vorschläge, wie wir den Herausforderungen begegnen können: analytisch streng, aber leidenschaftlich argumentierend.

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Seitenzahl: 711

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Mike Savage

Die Rückkehr der Ungleichheit

Sozialer Wandel und die Lasten der Vergangenheit

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Mit der Laudatio von Monika Krause zur Verleihung des Siegfried-Landshut-Preises

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2023 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-493-0

© der deutschen Ausgabe 2023 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-377-3

© der Originalausgabe by the President and Fellows of Harvard College, 2021 Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel The Return of Inequality. Social Change and the Weight of the Past bei Harvard University Press.

Umschlaggestaltung: Lisa Neuhalfen, Berlin

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Worin besteht die Herausforderung der Ungleichheit?

Teil IUngleichheit in Zeit und Raum

1Das Teleskop wird umgedreht

Die wirtschaftliche Analyse der Einkommensverteilung

2Die Gesellschaft als Spielfeld

Die Herausforderung von Bourdieu

3Ein erneuerter Marx

Kapitalakkumulation und das Gewicht der Geschichte

Teil IIUngleichheit, Imperium und Niedergang der Nationen

4Länderrankings

5Die Rückkehr der Imperien

Ungleichheit im globalen Maßstab

6Mitglieder und Außenseiter

race, Gender und Klasse in langfristiger Perspektive

7Viszerale Ungleichheit im 21. Jahrhundert

8Städte, Eliten und Akkumulation

9Die Kraft von Information und Technologie

Teil IIIDie Politik der Ungleichheit im 21. Jahrhundert

10Die Wiederherstellung der politischen Zeit

11Was tun?

Anmerkungen

Glossar

Abbildungen

Tabellen

Literatur

Danksagung

Monika Krause

Laudatio zur Verleihung des Siegfried-Landshut-Preises

Die Frage nach dem sozialen Wandel

Zum Autor und zur Laudatorin

Vorwort

In den vergangenen zehn Jahren haben wir uns an die Vorstellung gewöhnt, die Ungleichheit sei die prägende Herausforderung unserer Zeit. Diese Einschätzung wirkt mittlerweile fast banal. In diesem Buch untersuche ich unter soziologischen Gesichtspunkten, worin genau diese Herausforderung besteht und wie wir ihr am besten begegnen können. Dabei wähle ich einen Ansatz, der sich von den vorherrschenden sozialwissenschaftlichen Methoden unterscheidet, die gestützt auf neue Datensätze und analytische Rahmen angewandt werden, um die wirtschaftliche Ungleichheit zu messen und die verschiedenen Achsen zu betrachten, auf denen die Ungleichheit wirkt. Diese Forschung ist unverzichtbar, und in meiner Untersuchung stütze ich mich auf ihre Erkenntnisse. Doch die empirische Dokumentation an sich genügt nicht. Wir müssen die übergeordneten theoretischen und politischen Probleme, mit denen uns die Ungleichheit konfrontiert, besser verstehen. Wir sind an einem entscheidenden Punkt in der Geschichte der Menschheit angelangt, und nur wenn wir den Charakter dieses Augenblicks richtig verstehen, werden wir begreifen, dass die Ungleichheit eine noch größere Herausforderung ist als angenommen.

Meinen spezifischen Ansatzpunkt habe ich ausgehend von meinem politischen Interesse und meiner langjährigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der sozialen Klasse als wichtiger Achse der Ungleichheit gewählt. In der heroischen sozialistischen Politik und in der marxistischen Analyse wurde der sozialen Klasse eine wichtige Rolle zugestanden, und zwar nicht nur als technisches Messinstrument, sondern auch als Gestalterin der Geschichte. Ich erinnere mich noch an das berühmte Symposion »History Workshop« in Oxford, an dem ich im Jahr 1979 als Geschichtsstudent an der Universität York teilnahm. Kurz zuvor war Margaret Thatcher Premierministerin geworden. An einem nasskalten Abend wurde ich Zeuge, wie die Doyens des Marxismus – Edward Thompson, Stuart Hall, Richard Johnson und andere – erbittert über die Vorzüge der strukturalistischen Zugänge zur Klasse stritten.1 Dies war keineswegs eine esoterische Debatte, sondern diese Forschenden beschäftigten sich leidenschaftlich mit der Klasse, die in diesem historischen Augenblick – in dem der sozialdemokratische Konsens zerbrach, der Großbritannien seit 1945 geprägt hatte – in den Mittelpunkt rückte.

Die Leidenschaft, mit der die Klassenanalyse bis dahin betrieben worden war, ging nach jenem aufregenden Abend im Jahr 1979 rasch verloren. In den 1980er Jahren gelangten führende Soziologen wie Anthony Giddens (1991, 1996), Ulrich Beck (1980) und Zygmunt Bauman (2003, 2008) zu der Überzeugung, dass die Klasse irrelevant geworden war, ein Merkmal einer Industrialisierungsära, die der rasanten Globalisierung, dem technischen Wandel und dem Aufstieg der Informationsgesellschaft wich. Einige Soziologen versuchten, »die Flamme wachzuhalten«, und erwiderten, wenn die Klassenzugehörigkeit wissenschaftlich gemessen werde, stelle sich heraus, dass sie die Lebenschancen der Menschen nach wie vor grundlegend präge (Goldthorpe und Marshall 1992). Diese Verteidigung war bis zu einem gewissen Punkt wirksam, aber sie machte die Klassenanalyse zu einem spezialisierten, technisch anspruchsvollen Randgebiet, das aus dem Gesichtsfeld der Öffentlichkeit verschwand.2 Obwohl ich an dieser Forschung beteiligt war, wurde mir klar, dass die Leidenschaft für das Studium der Klasse, die mich angesichts der politischen Debatten der 1970er Jahre angelockt hatte, verloren gegangen war. Für die methodologische Vervollkommnung war ein hoher Preis gezahlt worden.

Nach der Jahrtausendwende erlebte die Klassenanalyse in Großbritannien und anderen Teilen der Welt eine Wiedergeburt. Bis 2010 war eine »kulturelle Klassenanalyse« entstanden, die sich mit der Frage beschäftigte, wie die Klassenungleichheit erlebt wurde, und die allgegenwärtige Kraft der Kultur von Stigma, Scham und Ansprüchen beschrieb (siehe Atkinson 2010). Dies war auch Teil einer umfassenderen Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Schnittstellen zwischen den Klassen analysiert werden mussten, insbesondere in Bezug auf Gender, race und Ethnizität (zum Beispiel Skeggs 1997; Devine u. a. 2005; Bennett u. a. 2009; Rollock u. a. 2014). Doch dieses wiedererwachte Interesse an der Klasse bereitete mich nicht auf das bemerkenswerte öffentliche Echo vor, dass die Great British Class Survey (GBCS) auslöste. Diese Erhebung, deren Ergebnisse in den Jahren 2013 bis 2015 veröffentlicht wurden, weckte nicht nur in Großbritannien, sondern auch im Ausland großes Interesse. Die intensive Debatte über die GBCS zeigte, dass die Klassenanalyse wieder in den Mittelpunkt nicht nur der akademischen Debatte, sondern des öffentlichen Interesses gerückt war.3 Sie zeigte, dass die Gesellschaft verstehen wollte, was Klassenungleichheit im frühen 21. Jahrhundert bedeutete.

Trotz – oder vielleicht eben wegen – dieses großen Interesses war die GBCS eine herausfordernde Erfahrung. Ich sah mich schärferer politischer und akademischer Kritik ausgesetzt als je zuvor in meiner Karriere. Die Erhebung hat in zweierlei Hinsicht einen Nerv getroffen. Erstens regte sie die Debatte über den »Stoff« der Ungleichheit an, über die Frage, woraus die Ungleichheit bestand. Was sind soziale Klassen? Wie viele gibt es? Wie misst man sie? Wie hängt die klassenabhängige Ungleichheit mit anderen Formen der Ungleichheit zusammen? Diese Fragen hatten die soziologische Debatte geprägt – und meiner früheren Forschung zur Klasse ihre Richtung gegeben. Aber ein zweites Thema ging in der akademischen Debatte weitgehend unter, während es in den Medien und in der Öffentlichkeit sehr viel präsenter war. Hier ging es um die Frage, was uns die GBCS über die »Jetztzeit« verriet. In welcher Gesellschaft lebten wir im Jahr 2013? Wie unterschied sie sich von der Gesellschaft früherer Zeiten? Welche Befürchtungen sollten wir in der gegenwärtigen Situation haben? War die gesellschaftliche Spaltung tiefer als je zuvor? Die Ergebnisse der Erhebung entsprachen einer pessimistischen und ängstlichen Geisteshaltung, die in der Öffentlichkeit weit verbreitet war.

Seit 2013 hat sich das Gefühl verstärkt, dass die Ungleichheit dringend in Angriff genommen werden muss. Wichtige Brennpunkte von Auseinandersetzungen und Widerstand sind die Kategorien Gender und race. Die Bewegung #MeToo, die ihren Ursprung in Enthüllungen über systematischen sexuellen Missbrauch durch den Filmproduzenten Harvey Weinstein hatte, mobilisierte Millionen Frauen, die entschlossen waren, gegen Sexismus und Frauenfeindlichkeit zu kämpfen. Die Bewegung Black Lives Matter lenkte die Aufmerksamkeit auf die verbreitete brutale Unterdrückung Schwarzer nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in aller Welt. Sie hat gezeigt, dass der institutionelle Rassismus weiterhin fest verankert ist und dass historische Kräfte wie die Macht der Imperien und die Sklaverei weiterhin wirksam sind. Es ist vielsagend, dass historische Figuren sogar in der viel gepriesenen technologischen und digitalen Arena des globalen Kapitalismus im 21. Jahrhundert derart große symbolische Macht ausüben. Der viktorianische Imperialist Cecil Rhodes, amerikanische Konföderiertengenerale und seit Langem tote Sklavenhändler haben große Bedeutung in der Gegenwart erlangt.

Dieses Buch ist dem Bedürfnis entsprungen, die Gründe für die scheinbar unausweichliche Zunahme des Interesses an der Ungleichheit zutage zu fördern und Klarheit darüber zu gewinnen, was wir daraus über den gesellschaftlichen Wandel lernen können. Wir müssen die Bedeutung der sozialen Klasse hintanstellen und die Wirkung verschiedener einander überschneidender Achsen der Ungleichheit – darunter insbesondere race, Ethnizität und Gender – untersuchen, um diese Faktoren in einer langfristigen Perspektive zu betrachten, in der die Wiederkehr alter historischer Kräfte erkennbar wird, die jahrzehntelang selbstgefällig als bloße Relikte der Vergangenheit betrachtet wurden. Die Covid-Pandemie im Jahr 2020 hat überdeutlich gezeigt, wie notwendig eine solche Perspektive ist. Es ist kein Zufall, dass ein klarer Zusammenhang zwischen dieser Bedrohung und der Verstetigung der Ungleichheit zutage getreten ist. Kurz nach der Ausbreitung des Virus in Europa und Nordamerika tauchten in den Medien Berichte über seine ungleichen Wirkungen auf. Wohlhabende Städter zogen sich in ihre Zweithäuser auf dem Land zurück, während sich Arme und Angehörige der Arbeiterklasse in kleinen Wohnungen drängten. Die häusliche Gewalt nahm deutlich zu. Schwarze und ethnische Minderheiten – die unverhältnismäßig oft an der »Front« standen – litten eher unter dem Virus selbst und an den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. In dieser Situation trug der Ungleichheitsdiskurs dazu bei, uns das Fremde nahezubringen. Er gewann dem Schrecken der Pandemie einen Sinn ab und verknüpfte ihn mit dem mittlerweile vertrauten Diskurs der Ungleichheit. Doch er sorgte auch dafür, dass uns das Vertraute fremd wurde, indem er zeigte, dass wir uns auf unbekanntem Terrain befanden und keine klare Vorstellung davon hatten, welchen Kurs wir einschlagen sollten.

In diesem Buch lege ich dar, was es bedeutet, die Ungleichheit als historische Kraft zu betrachten, als Wirkung auf unsere »Jetztzeit«. Ich widerspreche der herkömmlichen Vorstellung, die Kraft der Geschichte könne anhand ihres Vermächtnisses, ihrer Rückstände oder Relikte erfasst werden oder als eine Art von Hintergrund betrachtet werden. So wird die Geschichte einfach als Kontext verstanden, der sich nicht direkt auf die Gegenwart auswirkt. Ich kritisiere die in den Sozialwissenschaften verbreitete Neigung zur Fixierung auf den »Stoff« der Ungleichheit. Die Messung spezifischer Dimensionen wie Klasse, Gender, race usw. kann unser Verständnis der historischen Herausforderung der Ungleichheit beschränken, indem sie diese in separate Bereiche unterteilt. Die Untersuchung dieses »Stoffs« ist zweifellos unverzichtbar und begleitet uns im gesamten Buch. Aber die Neueinordnung dieser Untersuchung in ein historisches Register versetzt uns in die Lage, den sozialen Wandel in seiner Gesamtheit zu verstehen. Hier handelt es sich um eine Bekräftigung von Walter Benjamins eindringlichen Worten: »Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹ (Ranke). Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.« Das Gefühl, dass wir uns in einem »Augenblick der Gefahr« befinden, hat mich dazu bewegt, dieses Buch zu schreiben.4

In unserer »Jetztzeit« sehen wir überall Ungleichheit. Noch vor zwanzig Jahren galt die soziale Klasse weithin als historisches Überbleibsel. Nachdem mit der Abschaffung der rassistischen Color Line in den Vereinigten Staaten und der Apartheid in Südafrika der institutionalisierte Rassismus beseitigt worden war, kündigten einige Beobachter die Entstehung einer »post›rassischen‹ Gesellschaft« an. Die Diskriminierung aufgrund von Gender schien ebenfalls auf dem Rückzug zu sein, was den führenden Soziologen Manuel Castells (2001) dazu bewegte, in seiner Analyse der Netzwerkgesellschaft das »Ende des Patriarchalismus« zu verkünden. Ich schreibe mein Buch in dem traurigen Bewusstsein, dass der kurze Moment der Zuversicht am Ende des 20. Jahrhunderts vorüber ist. Das Echo auf meine Great British Class Survey hat das sehr deutlich gezeigt. Die Klasse ist kein Relikt der Industriegesellschaft – Ulrich Beck spricht von einer »Zombiekategorie« –, sondern sie ist sehr lebendig. Sie weckt Wut und Ressentiment und ist ein Symptom für zahlreiche dystopische Probleme. Das Wiedererwachen des Rassismus, das in der islamfeindlichen Reaktion der weißen Eliten auf den Terroranschlag auf die Vereinigten Staaten am 11. September 2001 besonders deutlich zutage trat, und die Erkenntnis, dass der Sexismus nicht nur fest verwurzelt ist, sondern neue und bösartige Formen annimmt, zeigen ebenfalls, dass dieser neue Pessimismus begründet ist.

Insofern handelt es sich hier nicht um ein weiteres Buch, in dem ein wenig beachteter Aspekt der Ungleichheit untersucht wird. Vielmehr frage ich, was uns die Ungleichheit über die Welt verrät, in der wir leben, und ich zeige, dass wir uns an einem historischen Scheideweg befinden. Wenn wir die Bedeutung der Ungleichheit wirklich verstehen wollen, müssen wir die Abkoppelung der Sozialwissenschaften von der Geschichte am Ende des 19. Jahrhunderts überwinden und eine neue Vision von einer historischen Sozialwissenschaft entwickeln. Diese radikale Neubewertung der Wissensansprüche ist ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg zum Verständnis der Herausforderung der Ungleichheit. Die Sozialwissenschaften selbst stehen auf dem Spiel.

Einleitung

Worin besteht die Herausforderung der Ungleichheit?

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts galt die Ungleichheit im Wesentlichen als Randthema, das nur Spezialistinnen beschäftigte. Das mit der Deregulierung und Vermarktlichung einhergehende Wirtschaftswachstum, der Zusammenbruch der kommunistischen Regime, die Globalisierung, der Siegeszug der digitalen Kommunikation und das Wachstum der Wissensökonomie hatten in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten große Hoffnungen auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Fortschritte geweckt. Wenn man von der drohenden Gefahr des Klimawandels absah, hatte es den Anschein, als würde das 21. Jahrhundert vielen das gute Leben bringen.

Diese Zuversicht können wir mittlerweile kaum noch nachvollziehen. Es gibt zahlreiche Gründe für den Stimmungsumschwung, von den wachsenden geopolitischen Spannungen im Gefolge des »Kriegs gegen den Terror« über die Verschlimmerung der Klimakrise bis zum (in vielen Teilen der Welt) schwindenden Vertrauen in die Stabilität der demokratischen Strukturen und der Zivilgesellschaft. Im letzten Jahrzehnt ist die Frage der Ungleichheit der wichtigste Bezugspunkt für die Sorgen geworden, die diese pessimistische Weltsicht geweckt hat. Ein Markstein war Präsident Barack Obamas Aussage im Jahr 2013, die Einkommensungleichheit sei »die größte Herausforderung unserer Zeit«. Die Frage der Ungleichheit ermöglichte es, zahlreiche gravierende Probleme unter einem Begriff zusammenzufassen, der die Folgen der Sparpolitik nach der Finanzkrise von 2008 mit dem Gefühl des Unbehagens verknüpfte, das von den tiefen und teilweise wachsenden Gegensätzen in Bereichen wie sozialer Mobilität, Gesundheit, Politik und Wohlergehen geweckt wurde.

Dieses Buch schreibe ich, weil ich den Eindruck habe, dass die Ungleichheit tatsächlich Ausdruck zahlreicher Übel unserer Zeit ist. Doch der Begriff ist überfrachtet und trägt mittlerweile mehr Gewicht, als er bewältigen kann. Wir haben möglicherweise das Ausmaß der Ungleichheit erkannt, aber wir verstehen noch nicht wirklich den Charakter der Herausforderung, mit dem sie uns konfrontiert. Als Etikett wird die Ungleichheit auf so viele Achsen und in so vielfältigen Kontexten angewandt, dass ihre Analyse zu einer unablässigen Auflistung verkommen kann. Das ist alles andere als produktiv und birgt die Gefahr eines Rückfalls in fatalistischen Pessimismus: Die Ungleichheit ist derart tief verwurzelt und allgegenwärtig, dass wir nichts dagegen tun können. In dieser und anderer Hinsicht ist die Ungleichheitsdebatte ein Widerhall der Debatte über die Klimakrise. Auf der anderen Seite kann sie den Anstoß zum übereilten Einsatz politischer Werkzeuge geben, um das Problem zu »lösen« – tatsächlich entsteht eine Ungleichheitsindustrie. Wie es Atossa Araxia Abrahammian (2018) ausdrückt: »Seit 2008 reden Theoretikerinnen, Politiker, Poeten und Bankerinnen über die Ungleichheit. Aber sind sie alle daran interessiert, die Ungleichheit zwischen uns zu verringern?« Ist die Ungleichheit einfach das neueste Thema, das Expertinnen die Möglichkeit gibt, ihre Sachkenntnis einzusetzen (und damit gute Gehälter zu verdienen und Karriere zu machen)? Und welchen Reim können wir uns darauf machen, dass die Ungleichheit zur selben Zeit ins Zentrum der öffentlichen Debatte gerückt ist, da das Wirtschaftswachstum die Armut in vielen Teilen der Welt auf das geringste Maß in der dokumentierten Menschheitsgeschichte verringert hat? Besteht die Gefahr, dass die Diskussion über die Ungleichheit auf die vielen Menschen in aller Welt, deren wirtschaftliche und soziale Situation sich tatsächlich gebessert hat (und zwar teilweise erheblich), wie abgehobene und irrelevante Nörgelei wirkt? Ist diese Debatte lediglich die jüngste Manifestation der Denkweise einer liberalen Elite, die in einer Blase lebt? Ist sie ein Symptom eben jenes Problems, auf das die Kritiker der Ungleichheit die Aufmerksamkeit lenken sollen?

Ich bin überzeugt, dass wir die Debatte über die Ungleichheit soziologisch besser einordnen müssen, um unser Verständnis des Ausmaßes der Herausforderung zu erweitern. Meine ambitionierte These lautet, dass wir Zeugen der Entstehung eines Ungleichheitsparadigmas sind, das die langfristigen Annahmen über Richtung und Beschaffenheit des gesellschaftlichen Wandels erschüttert.

Um die Herausforderung der Ungleichheit wirklich herausarbeiten zu können, müssen wir uns daher von den herkömmlichen Paradigmen lösen – der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn hat sie als »Normalwissenschaft« bezeichnet –, indem wir unsere grundlegenden Annahmen einer revolutionären Neubewertung unterziehen. So kann die Ungleichheit eine revolutionäre Phase einleiten, in der die herkömmlichen Paradigmen von »Wachstum« und »Modernisierung«, welche die Sozialwissenschaften seit dem Zweiten Weltkrieg beherrschen, über Bord geworfen werden.

Thomas Kuhn (1977: 39) unterschied zwischen Phasen der Normalwissenschaft und der Revolution:

Die Entwicklung der Wissenschaft besteht zum Teil in nicht-additiven oder revolutionären Veränderungen. Manche Revolutionen sind große, wie die mit den Namen Kopernikus, Newton und Darwin verbundenen, doch die meisten sind viel kleiner, etwa die Entdeckung des Sauerstoffs oder des Planeten Uranus. Die gewöhnliche Vorstufe zu solchen Veränderungen war nach meiner damaligen Auffassung die Wahrnehmung von Anomalien, von Vorgängen, die sich den bestehenden Weisen des Ordnens der Erscheinungen nicht fügen. Die sich daraus ergebenden Veränderungen erfordern das »Aufsetzen einer neuen Denkbrille«, die das Anomale zu etwas Gesetzmäßigem macht, dabei aber auch die manchen anderen Erscheinungen eigene Ordnung verändert, die vorher unproblematisch war.

Die Ungleichheit ist eben deshalb in den Vordergrund getreten, weil sie eine Anomalie ist, die konventionellen sozialwissenschaftlichen Modellen widerspricht. Dieses revolutionäre Moment ist nicht nur eine Offenbarung, sondern er ist auch disruptiv und provoziert kritische Reaktionen derer, die an den herkömmlichen Modellen festhalten. In dieser Einleitung untersuche ich dieses revolutionäre Moment in drei voneinander unabhängigen Bereichen: Dies sind erstens die Beziehung zwischen Reich und Arm, zweitens der Charakter der sozialwissenschaftlichen Expertise und drittens die Vision vom Fortschritt selbst. Man könnte annehmen, dass diese drei Bereiche vollkommen unterschiedliche Probleme aufwerfen. Genau darum geht es mir. Die Ungleichheit sprengt unsere Verständnisrahmen, wirft ältere Erkenntnisse über den Haufen und führt uns zu überraschenden und unerwarteten neuen Erkenntnissen. Tatsächlich sind diese drei Themen ineinander versteckte Schachtelpuppen. Uns steht eine aufregende Reise bevor.

1 Das Teleskop umdrehen: Die Reichen als gesellschaftliches Problem

Wenn wir einen Moment herauspicken sollten, der deutlich zeigt, welche Herausforderung die Ungleichheit für die herkömmlichen Paradigmen darstellt, so wäre der Mai 2011 ein guter Kandidat. In jenem Monat erschien in der Zeitschrift Vanity Fair ein Artikel des Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz, der den Titel »Von dem 1 Prozent durch das 1 Prozent für das 1 Prozent« trug. Stiglitz (2011) nahm kein Blatt vor den Mund:

Die Amerikaner verfolgen Proteste gegen Unterdrückungsregime, in denen gewaltiger Reichtum in den Händen einer kleinen Elite gebündelt wird. Doch in unserer eigenen Demokratie streicht 1 Prozent der Bürger fast ein Viertel des Einkommens der Nation ein. Diese Ungleichheit werden selbst die Vermögenden bereuen.

In seinem kurzen und effekthascherischen Artikel richtete Stiglitz seine Wut auf die Spitzenverdienenden und griff die lange und bedeutende Tradition des amerikanischen Enthüllungsjournalismus auf, der einst Räuberbarone und selbstsüchtige Plutokraten bloßgestellt hatte. Doch der Artikel widersprach auch der herkömmlichen Vorstellung von der Natur der zeitgenössischen sozialen Probleme.

In der Vergangenheit richtete sich die amerikanische Energie im Bemühen um gesellschaftliche Fortschritte auf die Verringerung der Armut. Tatsächlich schufen Diagnose und Messung der Armut spätestens seit dem 18. Jahrhundert weltweit die Grundlagen für die Sozialpolitik (siehe zum Beispiel Roy und Crane 2015). Scharen von Ökonominnen und Sozialreformern betrachteten die Armutsbekämpfung als zentrales politisches Ziel, und die Reformen der Wohlfahrtssysteme im 20. Jahrhundert dienten in erster Linie der Verringerung von Armut und Mangel. Diese Bemühungen wurden bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt. In den 1960er Jahren hatte Präsident Lyndon B. Johnson in den Vereinigten Staaten sogar einen »Krieg gegen die Armut« ausgerufen. Seit den 1980er Jahren hat sich die Aufmerksamkeit auf den Kampf gegen die »soziale Ausgrenzung« verlagert, in dem es darum geht, die Beschäftigungsfähigkeit und Vermarktbarkeit der vulnerabelsten Gruppen zu erhöhen. In aller Welt werden Zweifel an einem bedingungslosen Anspruch auf Hilfsleistungen laut, und überall werden Leistungen an Bedingungen geknüpft – ein Beispiel sind Präsident Clintons »Workfare«-Reformen in den 1990er Jahren (siehe Peck 2001).5

Aber Stiglitz lenkte die Aufmerksamkeit weg von denen am unteren Ende der wirtschaftlichen Hierarchie und richtete seinen Blick stattdessen auf die himmlischen Höhen, wo die Superreichen thronten. Anstatt zur Verbesserung des Loses derer ganz unten aufzurufen, erklärte er, das eigentliche Problem seien die Spitzenverdienenden. Für diese Neuausrichtung bediente er sich eines einfachen, aber wirksamen methodologischen Werkzeugs: Anhand der neuen ökonomischen Sprache der »Einkommensperzentile« konnte er die unverhältnismäßig hohen Einkommen des obersten 1 Prozent von denen der übrigen 99 Prozent unterscheiden. Er folgte dem Vorbild von Paul Krugman, Thomas Piketty und Emmanuel Saez, die gezeigt hatten, wie die Vermögen der Spitzenverdienenden in den Vereinigten Staaten in den vergangenen Jahrzehnten explodiert waren.6 So beschrieb er eine stilisierte Tatsache, die in der amerikanischen Gesellschaft ein starkes Echo fand: Eine kleine vermögende Elite hatte sich vollkommen vom Schicksal der Normalbürgerinnen abgekoppelt, denen es mittlerweile schwerfiel, über die Runden zu kommen.7 Als ich im Jahr 2018 Edmonton besuchte, um an einer Diskussionsrunde zur Frage der Klassengrenzen in Kanada teilzunehmen, stellte ich zu meiner Verblüffung fest, dass den Teilnehmerinnen vollkommen bewusst war, dass das »1 Prozent« in einer eigenen Welt lebte. Die Sprache der »Einkommensperzentile« war längst nicht mehr auf die Diskussionen zwischen Ökonomen beschränkt, sondern wurde von der breiten Bevölkerung gesprochen.

Einige Monate nach der Veröffentlichung des Stiglitz-Artikels trug die Protestbewegung Occupy Wall Street diese Klage über wirtschaftliche Exzesse in das wichtigste Finanzzentrum der Welt.8 Auch diese Bewegung eignete sich die Sprache der Ökonominnen an und verkündete: »Wir sind die 99 Prozent.« Es folgten parallele Proteste in führenden Finanzzentren in aller Welt. Gitlin (2013: 9) hebt die historische Bedeutung von Occupy hervor: Die Terminologie der Bewegung (»1 Prozent«, »99 Prozent«) »hielt so leicht Einzug in den normalen Sprachgebrauch, weil sie das Gefühl ausdrückte, dass die Mächtigen arrogant, selbstsüchtig, inkompetent und nicht in der Lage sind, den von ihnen angerichteten Schaden zu beheben, und dass ihre beherrschende Stellung eine moralische Krise ausgelöst hat, die nur durch ein moralisches Erwachen überwunden werden kann«. Wie es in einer Occupy-Parole hieß: »The system’s not broken, it’s fixed.«

Der Angriff auf das »1 Prozent« war wirksam, weil er die Ungleichheit konkret machte. Schuld an der Ungleichheit – und damit verantwortlich für verschiedenste gesellschaftliche »Übel« – war eine kleine, aber greifbare Gruppe Superreicher. Diese Veränderung war bedeutsam: Seit dem frühen 20. Jahrhundert verwendeten die Ökonomen den Gini-Koeffizienten als einfachen Indikator, der Aufschluss über das Maß an Ungleichheit in einem Land gab und normalerweise zwischen 0,3 und 0,6 lag.9 Aber dieser allgemeine und abstrakte Wert hatte kein konkretes Ziel. Hingegen wurde mit der Berechnung des Einkommensanteils des reichsten 1 Prozent der Bevölkerung eine bestimmte Personengruppe ins Visier genommen, vergleichbar den Armen in früheren historischen Perioden: Hier hatte man Personen, deren Verhalten und Moralität beobachtet und zu einer öffentlichen Angelegenheit erklärt werden konnten. Seit 2011 hat sich die öffentliche Anprangerung von Personen, die sehr viel Geld verdienen, in eine bewährte und wirksame Methode verwandelt. Als Lord Adonis, der für die Labour Party im britischen Oberhaus saß, im Jahr 2017 Kritik an den hohen Studiengebühren der meisten britischen Universitäten übte, stellte er fest, dass er seine Argumente am überzeugendsten vorbringen konnte, indem er die hohen Gehälter der Vizekanzler der Universitäten kritisierte. Er löste eine mediale Hetzjagd auf die am besten bezahlten Manager aus. Wie wirkungsvoll diese Methode war, zeigte sich daran, dass ein Vorschlag, die Ruhestandsvergünstigungen von Universitätsmitarbeitenden zu senken, einen erfolgreichen Streik auslöste, in dem die unverhältnismäßig hohen Einkommen der Vizekanzler als Mobilisierungswerkzeug eingesetzt wurden, um die Empörung über die Reformvorschläge zu schüren.

Der Beitrag von Stiglitz trug zu einer grundlegenden Neuausrichtung bei. Doch er war kein linker Aktivist. Stiglitz stand in einer Tradition angesehener Ökonomen, die daran gewöhnt waren, Unternehmensführungen und Regierungen ihr Expertenwissen zur Verfügung zu stellen (Fourcade 2009; LeBaron 2011; M. Reay 2012). Diese im Lauf des 20. Jahrhunderts entstandene dominante Kultur hatte beträchtlichen Einfluss auf Politik und Wirtschaft erlangt, was so weit gegangen war, dass sie sich in einen vollkommen normalen Bestandteil der Politik verwandelt hatte. An die Stelle adliger Ökonomen wie John Maynard Keynes waren Technokraten getreten, die den Monetarismus der Chicagoer Schule und ihrer Ableger verinnerlicht hatten und rund um den Erdball wichtige politische Eingriffe entwarfen.10 Stiglitz stand zweifellos in dieser Tradition: Er war Chefvolkswirt der Weltbank gewesen und hatte Präsident Clintons Rat der Wirtschaftsweisen geleitet. Seine akademischen Leistungen, die ihm den Wirtschaftsnobelpreis und einen Lehrstuhl an der Columbia University eingebracht hatten, waren herausragend. Doch indem er Vorstellungen äußerte, die sich mit dem wachsenden Misstrauen und zunehmenden Protesten der Bevölkerung deckten, untergrub er eben die Ökonomie, zu deren führenden Vertretern er zählte.

Occupy Wall Street teilte Stiglitz’ Geringschätzung für ein ökonomisches Denken, das die gewaltigen Einkommen des 1 Prozent rechtfertigte. Die Bewegung lehnte die Meinung ab, die Spitzenverdienenden sollten so betrachtet werden, wie sie sich selbst verstanden, das heißt als heroische Macher, die eine dynamische Weltwirtschaft in Gang hielten. Stattdessen sollten sie als kleine Gruppe selbstsüchtiger Personen betrachtet werden, deren Gier schädliche Auswirkungen auf das Leben aller anderen Menschen hatte. »Aber ein wichtiger Teil des Grundes für die ausufernde Ungleichheit ist, dass es das oberste 1 Prozent so will«, schrieb Stiglitz (2011) unmissverständlich. Er verwies darauf, dass die Steuerpolitik unter Präsident Ronald Reagan zum Vorteil der Superreichen geändert worden sei. Deren Eigennützigkeit, Engherzigkeit und Gier sei keine Privatangelegenheit: Sie schadeten dem Wohlergehen der Gesellschaft als ganzer. Diese Neueinordnung der Ungleichheit führte moralische Überlegungen in die öffentliche Debatte ein und untergrub die Vormachtstellung der wissenschaftlichen und technischen Sachkenntnis. In seinem für die breite Öffentlichkeit bestimmten Artikel fasste Stiglitz die Einschätzung zusammen, die vermögenden Eliten seien zutiefst dysfunktional und stellten ein gesellschaftliches Problem dar.

Mittlerweile erfreut sich die Praxis, »auf die Elite einzuprügeln«, sowohl im akademischen als auch im öffentlichen Diskurs großer Beliebtheit. Es ist eine bedeutsame Veränderung, dass das Teleskop umgedreht wurde, um statt den Armen die Reichen als größtes gesellschaftliches Problem ins Visier zu nehmen. Der Aufstieg der »Elitestudien«, den Stiglitz mit seinem Artikel auslöste, ist ein wichtiges Thema in der neueren sozialwissenschaftlichen Forschung und taucht in meinem Buch immer wieder auf. Aber dieser Ansatz stößt auch die Tür zu weiteren Fragen auf. Wir müssen die erste Schachtelpuppe öffnen, um uns anzusehen, was sich darin verbirgt.

2 Die Krise der Sozialwissenschaften

Die Sozialwissenschaften machen einen tiefgreifenden Wandel durch. Verglichen mit den Naturwissenschaften und der medizinischen Forschung sind sie lange Zeit bemerkenswert konservativ gewesen. Während es in den Naturwissenschaften üblich ist, die Kenntnisse verschiedener Disziplinen zu bündeln, um bestimmte Probleme in Angriff nehmen zu können, beschränken sich die Sozialwissenschaftlerinnen im Wesentlichen auf ihre heimische Disziplin und arbeiten als Ökonomen, Soziologinnen oder Politikwissenschaftler. Dort, wo interdisziplinäre Felder entstanden sind (etwa in den Entwicklungsstudien oder in der Forschung zu Gesundheits-, Bildungs- oder Sozialpolitik), werden diese als Gebiete der »angewandten Forschung« bezeichnet, die einen geringeren Status genießen als die sozialwissenschaftlichen »Kerndisziplinen«.

Die Geborgenheit im Kreis der Heimatdisziplin war hilfreich, als die Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert rasch wuchsen. Aber die Entwicklung von Big Data und das wachsende Interesse der Naturwissenschaft an sozialen Interventionen haben die Sozialwissenschaften einer umfassenderen externen Prüfung ausgesetzt. Die umwälzenden gesellschaftlichen und technischen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten wecken Zweifel an der Zweckmäßigkeit der intellektuellen Silos, die im 19. Jahrhundert errichtet wurden, aber weiterhin weltweit die Arbeit an den Universitäten prägen. Sollten wir in postkolonialer Zeit an der Trennung zwischen Anthropologie (die ursprünglich entstand, um die Gesellschaften in den Kolonien zu studieren) und Soziologie (die sich später entwickelte, um die entwickelten Gesellschaften der Mutterländer zu erforschen) festhalten? Wäre angesichts simultaner politischer und wirtschaftlicher Turbulenzen nicht eine engere Zusammenarbeit von Ökonomie und Politikwissenschaft wünschenswert? Sind unsere Interessen nicht im Grunde allesamt geografisch und historisch, weshalb es unsere Erkenntnisfähigkeit erheblich einschränkt, diese beiden Disziplinen weiterhin voneinander zu trennen? Warum beschäftigen sich die Sozialwissenschaftlerinnen nicht explizit mit der Klimakrise? Oder mit der Ungleichheit?

Diese Silomentalität erschütterte Thomas Piketty (2016) in Das Kapital im 21. Jahrhundert. Er bewies, dass Ökonomen die Grenzen ihrer Heimatdisziplin sprengen und eine in den vorangegangenen Jahrzehnten kaum geführte umfassende Debatte zwischen Ökonomie und Sozialwissenschaften anregen konnten. Tatsächlich haben viele Sozialwissenschaftlerinnen in der Ungleichheit ein Thema erkannt, das es ihnen ermöglicht, gemeinsame Sache zu machen. Die Ungleichheit hat mehr als jede andere sozialwissenschaftliche Frage jene Art von disziplinübergreifenden Synergien ermöglicht, die einen interdisziplinären Raum öffnen. Zu den Figuren, die die Debatte über die Ungleichheit angeregt haben, zählen Ökonomen wie Tony Atkinson, Amartya Sen, Joseph Stiglitz und Thomas Piketty, Genderforscherinnen wie Bell Hooks und Dorothy Smith, Soziologen wie John Goldthorpe, Pierre Bourdieu und Michele Lamont, Rechtswissenschaftlerinnen und Forscherinnen der kritischen Theorie von race wie Kimberlé Crenshaw und Patricia Williams, Epidemiologen wie Michael Marmot, Richard Wilkinson und Kate Pickett, Politikwissenschaftlerinnen wie Robert Putnam, Kathleen Thelen und Paul Pierson, Geografen wie Danny Dorling und Forschende auf dem Gebiet der Sozialpolitik wie John Hills. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, und ich bitte all jene um Entschuldigung, die ich nicht berücksichtigen konnte. Mir geht es lediglich darum zu zeigen, dass die Frage der Ungleichheit in kürzester Zeit Sozialwissenschaftlerinnen aus verschiedenen Disziplinen dazu bewegt hat, in zuvor ungekanntem Maß zusammenzuarbeiten.

Wir müssen die Bedeutung dieser Verschiebung im Kontext der eigentümlichen Geschichte der Sozialwissenschaften betrachten, die im Lauf des 20. Jahrhunderts einen beispiellosen Einfluss erlangten.11 Am Ende des 19. Jahrhunderts waren die wichtigsten Formen des Wissens Religion und Geisteswissenschaften auf der einen und Naturwissenschaften und Medizin auf der anderen Seite. Kaum eine Universität hatte eine sozialwissenschaftliche Abteilung, obwohl die Saat für deren Entwicklung insbesondere an den amerikanischen Universitäten bereits ausgebracht war. Viele Figuren, die später als Begründer des sozialwissenschaftlichen Denkens gefeiert wurden – Adam Smith, John Stuart Mill, Max Weber, Auguste Comte, W.E.B. Du Bois –, betrachteten sich selbst als Vertreter von Philosophie, Geschichte und Rechtswissenschaft, während sich andere, darunter Karl Marx, außerhalb der akademischen Welt bewegten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen einige einflussreiche Figuren, für eigenständige Sozialwissenschaften zu werben – eine von ihnen war Emile Durkheim, der französische Vorreiter der Soziologie –, aber die Mitglieder dieser kleinen Forschergemeinde waren weit voneinander entfernt.

Andrew Abbott (2001b) hat die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der »fraktalen Distinktion« gelenkt und erklärt, dass scheinbar neue Formen des Wissens in Wahrheit ältere axiale Trennlinien reproduzieren. Das Neue wächst aus der Saat der Vergangenheit. Als die Sozialwissenschaften ab dem frühen 20. Jahrhundert ihre organisierten disziplinären Formen annahmen, reproduzierten sie die älteren Spannungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Die beiden frühesten sozialwissenschaftlichen Disziplinen, Ökonomie und Anthropologie, übernahmen ihre intellektuellen Modelle von den Naturwissenschaften beziehungsweise von den Geisteswissenschaften. So institutionalisierten sie die Spaltung zwischen naturalistischer und hermeneutischer Perspektive. Diese beiden Disziplinen haben sich als die kohäsivsten und am vollständigsten in sich geschlossenen unter den Sozialwissenschaften erwiesen. Die Felder von Politikwissenschaft und Soziologie entwickelten sich später und wurden zu Gefangenen dieser fraktalen Gegensätze. Sie waren gekennzeichnet von erbitterten Auseinandersetzungen zwischen den Verfechtern quantitativer und qualitativer Perspektiven, was oft zu chronischen internen Konflikten und Introspektion führte.12 Dazu kam, dass die Sozialpsychologie ihren Platz in den Sozialwissenschaften aufgab und sich der Medizin und den Naturwissenschaften zuwandte, während die Wirtschaftsgeschichte im Wesentlichen in den Schoß der Geschichtsforschung zurückkehrte.

Das Paradox dieser disziplinären Formation bestand darin, dass das soziale Leben im Allgemeinen als Verkörperung von Austausch, Interaktion, Reflexivität und offenen Systemen betrachtet wurde, während die sozialwissenschaftlichen Disziplinen außerstande waren, diese Prinzipien untereinander (und manchmal auch intern) zu artikulieren. Jede Disziplin hatte ihre eigenen kanonischen Vordenker und ihre eigene Methodologie und arbeitete weitgehend unabhängig von den anderen. Jede unterteilte die soziale Welt nach ihrem eigenen Bild: Die Ökonomen definierten, maßen und analysierten die Wirtschaft unabhängig von anderen Prozessen des sozialen Lebens; die Politikwissenschaftlerinnen untersuchten die Dynamik der politischen Institutionen; die Soziologen legten in Konkurrenz zu den Anthropologinnen diffusere Analysen der sozialen und kulturellen Beziehungen vor.13

Dieser intellektuelle Raum war auch hierarchisch. Im Lauf des 20. Jahrhunderts erlangte die Ökonomie eine beherrschende Stellung (sie war die »Königin der Sozialwissenschaften«, wie es Paul Samuelson ausdrückte) und nahm beträchtlichen Einfluss auf die Führung von Staaten, Unternehmen und Organisationen aller Art. Andere sozialwissenschaftliche Disziplinen versuchten diese Vormachtstellung zu untergraben und kritisierten das beschränkte Konzept des »Homo oeconomicus«, das diese Disziplin anscheinend verfocht. Doch ihre Versuche, die Hegemonie der Ökonomie zu brechen, blieben weitgehend erfolglos.

Ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurde diese Spannung von einer weiteren Differenzierung zwischen »reinen« und »angewandten« Sozialwissenschaften überlagert. Als Staaten, Unternehmen und unterschiedlichste Organisationen zunehmend komplex wurden, kurbelte ihr Bedarf an Expertise das Wachstum von Sozialpolitik, Management, Gesundheit und Entwicklung an. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden auf diesen Feldern oft mehr Personal und Ressourcen eingesetzt als in den reinen Sozialwissenschaften, was ihre Bedeutung für den Aufstieg der Wissensökonomie belegt – Nigel Thrift (2003) spricht vom »wissenden Kapitalismus«.14 So entstand eine intellektuelle Pipeline, in der die angewandten Sozialwissenschaften die in den reinen Sozialwissenschaften entwickelten Kenntnisse, Konzepte und Methoden anwandten.

Diese sozialwissenschaftliche Konstruktion war im 20. Jahrhundert und insbesondere in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts bemerkenswert erfolgreich, aber zu Beginn des 21. Jahrhunderts sollte sie unvermittelt unter gewaltigen Druck geraten. Infolge der dramatischen digitalen Fortschritte wirkten die bevorzugten methodologischen Werkzeuge der Sozialwissenschaften – Stichprobenerhebung, Ethnografie und qualitatives Interview – plötzlich veraltet und undurchschaubar (siehe Savage und Burrows 2007; Halford und Savage 2017). Lautstarke und gut finanzierte Befürworter von Big Data erklärten, die sozialwissenschaftliche Forschung könne unter Einsatz der in Verwaltungs- und Handelsaufzeichnungen gespeicherten digitalen Daten sehr viel schneller und effektiver durchgeführt werden. Warum sollte man sich die Mühe machen, eine Stichprobenerhebung durchzuführen, wenn man seine eigenen Transaktionsdaten auswerten und rasch herausfinden konnte, was genau geschah? Der Aufstieg von Big Data weckte wachsende Sorgen über den Status des sozialwissenschaftlichen Wissens; erschwerend hinzu kamen vielbeachtete Beispiele dafür, dass die Natur- und Informationswissenschaften zu dem Schluss gelangt waren, gestützt auf ihre Informatikkenntnisse selbst Sozialwissenschaft betreiben zu können, ohne auf Eingriffe von Expertinnen angewiesen zu sein.

Im Kontext dieses Angriffs auf ihre intellektuelle Autorität gab das Thema der Ungleichheit den Sozialwissenschaftlern die Möglichkeit, zu einem brillanten Gegenangriff überzugehen. Indem sie kühne neue Thesen veröffentlichten, für die sie neue Formen der quantitativen Datenanalyse in großem Maßstab mit qualitativen theoretischen Erkenntnissen verbanden, und moralische Sorgen über die Ungerechtigkeit der Ungleichheit weckten, konnten sich die Sozialwissenschaftlerinnen eine Geschichte aneignen, die den Big-Data-Evangelisten fast vollkommen entgangen war. Die neue Sozialwissenschaft der Ungleichheit verbreitete eine kühne, große und überzeugende Vision. Hingegen blieb die von den Verfechterinnen von Big Data versprochene Wissensrevolution aus, weil ihre technisch hochwertigen Erkenntnisse trivial waren und weil ihren oft verblüffenden visuellen Darstellungen ein definierendes Narrativ fehlte.15

Die von den Ungleichheitsforschenden entwickelte neue Sozialwissenschaft des Gesamtbildes traf auf die Nachfrage eines großen Publikums, das versuchte, sich einen Reim auf die Veränderungen in der Welt zu machen. Die Ungleichheit stellte jene Art von übergeordnetem Narrativ dar, das Wirtschaftsblüte und -krise, Globalisierung, Stillstand und Dysfunktionalität der Politik sowie ein verbreitetes Gefühl des Unwohlseins miteinander verknüpfen konnte. Das Resultat ist ein bemerkenswertes Wachstum des öffentlichen Interesses an den Sozialwissenschaften. In Großbritannien ist das bekannteste Beispiel das Buch The Spirit Level (Gleichheit ist Glück, 2009) von Richard Wilkinson und Kate Pickett, das ein Bestseller wurde und mit seiner zentralen Botschaft, ungleiche Gesellschaften litten unter größeren sozialen Problemen, eine intensive gelehrte und politische Debatte auslöste. Obwohl einige Sozialwissenschaftler der Autorin und dem Autoren übermäßige Vereinfachungen vorwarfen, zeigte das Buch, dass die Ungleichheit wichtig ist.

Das zeigte sich noch deutlicher, als im Jahr 2014 Thomas Pikettys Le Capital au XXIe siècle (deutsch als: Das Kapital im 21. Jahrhundert) erschien. Dieses mit Daten vollgepackte Buch, in dem die langfristigen Trends der Einkommens- und Vermögensungleichheit in vielen Ländern nachgezeichnet werden, war kein naheliegender Kandidat für eine Auflage von zwei Millionen Exemplaren. Doch das Buch regte die Fantasie der Öffentlichkeit an und machte Piketty zu einem Superstar. Sozialwissenschaftlerinnen sind nicht an einen solchen Status gewöhnt, und auch die Vertreter von Big Data finden nie derart große Aufmerksamkeit.

Der Erfolg dieser beiden Bücher gibt Aufschluss über die Beseitigung der fraktalen Distinktion, in der die Sozialwissenschaften seit ihrer Entstehung gefangen sind. Diese Arbeiten beruhten auf einer anspruchsvollen Datenauswertung, die beträchtliches technisches Können erforderte. Aber sie hatten eine klare moralische Botschaft und breit gefächerte theoretische, historische und interpretative Bezugspunkte. Sie waren zugleich quantitativ, qualitativ, historisch, komparativ, theoretisch, politisch und moralisch. Sie waren Teil einer umwälzenden Neuordnung der sozialwissenschaftlichen Expertise und einer neuen Dringlichkeit des Bemühens, die Sozialwissenschaften in die öffentliche Debatte und die Politik einzubinden.

Diese Bücher sind die Spitze des Eisbergs. Um einen Eindruck von der Größe der Eismasse unter der Wasseroberfläche zu gewinnen, müssen wir uns nur ansehen, wie häufig die Ungleichheitsterminologie in wissenschaftlichen Zeitschriften erwähnt wird. Gestützt auf die Daten im Web of Science zeigt Tabelle 1.1, wie viele wissenschaftliche Artikel sich in den letzten fünf Jahrzehnten mit bestimmten wichtigen Themen beschäftigt haben. Zu jedem Thema habe ich die Disziplin aufgelistet, in der dieses Thema am häufigsten behandelt wird, und angegeben, wie groß der Vorsprung dieser Disziplin vor ihrem nächsten Rivalen ist.

Tabelle 1.1 zeigt die Fortdauer der fraktalen Spaltung, mit der ich mich zuvor beschäftigt habe: Einige Begriffe – »Wirtschaftswachstum«, »wirtschaftliche Entwicklung« und »Globalisierung« – werden von der Ökonomie dominiert, während die konkurrierenden Begriffe »Moderne« und »Neoliberalismus« von Geschichtsforschung, Soziologie, Politikwissenschaft und Erziehungswissenschaft beherrscht werden. Die »wirtschaftliche Ungleichheit« ist ein Sonderfall, denn sie existierte bis 2000 praktisch nicht als Themenfeld, und die ersten Forschenden, die sich damit beschäftigten, waren in den Geisteswissenschaften und in der Soziologie tätig.16 Doch ab Beginn des 21. Jahrhunderts beschäftigten sich vor allem Ökonominnen mit diesem Thema. Obwohl sie sich an die Spitze der Diskussion über die Ungleichheit setzten, wurde ihre Position in der Verwendung dieses Begriffs nie so dominant wie beim Konzept des »Wirtschaftswachstums«. Tabelle 1.1 zeigt auch, dass sich bei jedem für die Untersuchung gewählten Begriff die Dominanz der führenden Disziplin zwischen 2000 und 2017 verringerte. Das gilt auch für jene Begriffe, die Bestandteile des ökonomischen Kanons waren, darunter »wirtschaftliche Entwicklung« und »Wirtschaftswachstum«. Die Ungleichheit scheint ein trojanisches Pferd zu sein, das einen umfassenden Zusammenbruch der disziplinären Spezialisierung in den Sozialwissenschaften auslöst.

Die Zersplitterung der fraktalen Distinktion in den Sozialwissenschaften geht über die Auseinandersetzung mit der Frage der Ungleichheit hinaus. Zentrale kategorische Trennlinien – insbesondere in Bezug auf race, Gender und Klasse –, Kategorien, die zuvor hauptsächlich von qualitativen Disziplinen (Soziologie, Anthropologe, Geschichte, Geografie und Politikwissenschaft) aufgegriffen wurden und in einem Spannungsverhältnis zur Ökonomie standen, werden ebenfalls immer häufiger in allen Sozialwissenschaften verwendet.17

Wir dürfen die Bedeutung dieser Entwicklung jedoch nicht überschätzen. Die disziplinäre Abgrenzung innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung ist weiterhin ausgeprägt: Das sehen wir an der wachsenden Zahl von Nennungen von Begriffen wie »Wirtschaftswachstum« im Web of Science. Aber es ist klar, in welche Richtung die Entwicklung geht. Im zweiten Teil meiner Einleitung werde ich erklären, dass der Erfolg des Themas der Ungleichheit die disziplinäre Spezialisierung der sozialwissenschaftlichen Expertise untergräbt.

Tabelle E.1 Sozialwissenschaftliche Schlüsselbegriffe in verschiedenen Disziplinen, 1980–2017

Hinweis: Prozentzahlen in Klammern geben Aufschluss über den prozentualen Abstand zwischen der dominanten Disziplin und der nächsten Rivalin. Die Tabelle enthält die Zahl der Artikel mit den genannten Schlüsselbegriffen, gefolgt vom Namen der Disziplin mit dem höchsten Anteil von Nennungen.Quelle: Web of Science

Wir müssen noch einen Schritt weitergehen. Die Ungleichheit ist eine Anomalie, die den zentralen Werten der Projekte von Modernisierung, Wachstum und Entwicklung in den letzten Jahrzehnten widerspricht. Als solche weckt sie Zweifel an den Visionen von Fortschritt und Wachstum, die in den Jahrzehnten seit dem Triumph der zentralen Werte der liberalen Moderne sowohl das Denken der Expertinnen als auch die Einstellung der breiten Öffentlichkeit geprägt haben. Das zeigt, wie viel wirklich auf dem Spiel steht. Packen wir die dritte Matroschka aus.

3 Gleichheit als transzendentales Ideal

Eine Vexierfrage: Warum hat die Ungleichheit die Aufmerksamkeit der mächtigen und reichen Eliten geweckt und nicht die der Gruppen, die tatsächlich unter ihr leiden und von Mangel, Marginalisierung und wirtschaftlicher Not betroffen sind? Denn es sind die »Großen und Guten« – oder zumindest einige von ihnen –, die in der Frage der Ungleichheit besonders deutlich Farbe bekannt haben.

Vor einigen Jahren wurde ich eingeladen, auf einer Konferenz von Bankern und Fondsmanagerinnen einen Vortrag zu halten. Im Flugzeug dachte ich darüber nach, wie sonderbar es war, dass ich bis zu meiner Ernennung zum Leiter des International Inequalities Institute an der London School of Economics nie zu solchen Veranstaltungen eingeladen worden war – und ich war sicher, dass ich keine Einladungen mehr erhalten würde, wenn meine Tätigkeit dort endete. Als ich in einer der glamourösesten historischen Metropolen Europas in meinem Hotel eintraf, wurde ich in ein luxuriöses Zimmer geführt, dessen Fenster auf einen verblüffenden barocken Platz gingen. Der Workshop am nächsten Tag begann planlos. Gegen Mittag war ich zu der Überzeugung gelangt, dass diese Veranstaltung eher als erholsamer Tag für hart arbeitende Finanzexperten gedacht war, die in einem eleganten Fünf-Sterne-Hotel neue Kontakte knüpfen konnten. All das natürlich auf Kosten der Firma. Doch als ich am Nachmittag über Ungleichheit sprach, schlug die Stimmung um. Der Grund war nicht, dass ich etwas Verblüffendes oder Tiefschürfendes von mir gegeben hatte. (Ich erinnere mich peinlich berührt daran, dass ich die abgedroschene Metapher verwendete, bei der Ungleichheit gehe es um die Frage, ob jemand ein größeres oder kleineres Stück des Kuchens bekam.) Das Thema berührte die Teilnehmerinnen. Wohlhabende Mitglieder der Finanzelite sprachen sowohl im Workshop als auch danach, als sie mir von ihrem eigenen Leben und ihren Erfahrungen erzählten, mit Leidenschaft über die Ungleichheit. Sie überzeugten mich davon, dass ihnen dieses Thema wirklich am Herzen lag. Nicht zum ersten Mal rätselte ich darüber, dass Angehörige der Elite, das heißt Nutznießer der Ungleichheit, das Problem so ernstnahmen, denn man hätte annehmen sollen, dass sie es lieber unter den Teppich gekehrt hätten.

Auf dem Heimweg wurde mir klar, welches die Antwort auf diese Frage war: Die Ungleichheit war diesem privilegierten Publikum wichtig, weil sie das Kennzeichen einer Welt war, die diese Leute nicht mehr vorhersehen oder kontrollieren konnten. Sie wussten nicht mehr, was die Zukunft für ihre Familien bereithielt, welche Welt ihre Kinder erben würden, ob sich ihre Hoffnungen erfüllen würden. Die Spielregeln, die auf einer marktorientierten Wirtschaftslogik beruhten (und die Welt seit den 1980er Jahren geprägt hatten), konnten nicht länger als selbstverständlich betrachtet werden. Die vertraute Welt dieser Elite löste sich auf.

Diese Episode veranschaulicht, warum die Wirtschaftseliten der Ungleichheit so große Bedeutung beimessen. Man nehme nur das alljährliche Weltwirtschaftsforum in Davos, das mittlerweile wichtigste globale Gipfeltreffen der Wirtschaftsführer der Welt. Bis 2011 ging es im »Globalen Risikobericht« des Forums im Wesentlichen um systematische Probleme: Epidemien, Klimawandel, wirtschaftliche Schocks. Dies sind keine Risiken, für die diese Führungskräfte direkt verantwortlich gemacht werden können. Doch im Jahr 2012 rückten gesellschaftliche Risiken in den Vordergrund: Die »gravierende Einkommensungleichheit« wurde in den Jahren 2012 bis 2014 als größtes Risiko eingestuft; von da an beschäftigten sich die Berichte mit düsteren Erwartungen von Staatsversagen und Terrorismus sowie mit der Migration. Im Jahr 2017 wurden die Prognosen noch bedrückender. Die Ungleichheit nahm jetzt einen noch zentraleren Platz ein, und die Sprache wurde dystopisch: Es war von wachsender Polarisierung, tiefer gesellschaftlicher Instabilität und nicht weniger als vier Arten von Staatsversagen die Rede.18 In der Zusammenfassung hieß es: »Die diesjährigen Erkenntnisse betreffen fünf wesentliche Herausforderungen, mit denen die Welt mittlerweile konfrontiert ist. Die ersten beiden betreffen die wirtschaftliche Kategorie, denn die zunehmende Einkommens- und Vermögensungleichheit wird als bedeutsamster Trend in den globalen Entwicklungen in den nächsten 10 Jahren betrachtet« (WEF 2017: 11). Im Bericht wimmelt es von düsteren Hinweisen:

Trotz eines beispiellosen Maßes an Frieden und globalem Wohlstand trägt ein Gefühl der wirtschaftlichen Malaise in vielen Ländern zu einer gegen das Establishment gerichteten populistischen Politik und einer Abwehrreaktion auf die Globalisierung bei. Die schwache wirtschaftliche Erholung nach der globalen Finanzkrise ist ein Teil dieser Geschichte, aber wachstumsfördernde Maßnahmen allein werden nicht genügen, um die tieferen Risse in unserer politischen Ökonomie zu kitten. Möglicherweise sind grundlegendere Reformen am Marktkapitalismus nötig, um insbesondere einen offenkundigen Mangel an Solidarität zwischen denen an der Spitze der nationalen Einkommens- und Vermögensverteilungen und denen weiter unten zu beheben.

Das Weltwirtschaftsforum hat sich die Sprache der wirtschaftlichen Ungleichheit angeeignet, die Ökonomen wie Stiglitz populär gemacht haben, dabei jedoch ihren Anwendungsbereich erweitert: Die »tiefe gesellschaftliche Instabilität« nimmt mittlerweile einen zentralen Platz auf der Karte der globalen Risiken ein. Und wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass dies die Einschätzung der Wirtschaftseliten der Welt ist. Aber die Ungleichheit kann auch unterschiedlichste Akteure in Zivilgesellschaft, Philanthropie und Kampagnenorganisation über verschiedene Kontexte hinweg mobilisieren. Im Oxfam-Bericht von 2017, dessen Veröffentlichungstermin so angesetzt wurde, dass die Publikation das Weltwirtschaftsforum in Davos in jenem Jahr beeinflussen konnte, hieß es, wenn die zunehmende Ungleichheit nicht unter Kontrolle gebracht werde, drohe sie »unsere Gesellschaften zu zerreißen. Sie fördert Kriminalität und Unsicherheit und untergräbt den Kampf gegen die Armut. Sie hat zur Folge, dass mehr Menschen in Furcht und weniger mit Hoffnung leben« (Hardoon 2017: 1).

Die Ironie der Geschichte ist, dass sich die breite Bevölkerung bei oberflächlicher Betrachtung anscheinend weniger Gedanken über die Ungleichheit macht als die Eliten. Populistische Politiker kritisieren nicht direkt die wirtschaftliche Ungleichheit an sich. Ihr Zorn richtet sich vor allem gegen Einwanderung und Bedrohungen der nationalen Souveränität. Und obwohl in der populistischen Politik ein gegen die Eliten gerichteter Diskurs verbreitet ist, richtet er sich im Wesentlichen gegen das politische Establishment, was zur Folge hat, dass Vertreter reicher Wirtschaftseliten – Donald Trump in den Vereinigten Staaten, Jair Bolsonaro in Brasilien und Cyril Ramaphosa in Südafrika – auf der Welle beträchtlicher Popularität segeln.

Welchen Reim können wir uns auf das Paradox machen, dass der politische Protest gegen die Ungleichheit zur selben Zeit zu verstummen scheint, da die Eliten die Ungleichheit als tief verwurzeltes gesellschaftliches Problem erkennen? Die wachsende Sorge über die wirtschaftliche Ungleichheit ist Ausdruck des schwindenden Vertrauens in die Aussicht auf einen fortschreitenden sozialen Wandel, und dieses Bewusstsein ist insbesondere unter Eliten verbreitet, die in der Vergangenheit eine progressive Vorstellung von den Aussichten auf wirtschaftliche und soziale Veränderungen hatten. Die Sorge über die Ungleichheit ist also Teil einer umfassenderen Enttäuschung über die übergeordneten Prinzipien von Modernisierung und Wachstum, an denen die gesellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ausgerichtet war.19 Die progressiven, evolutionären Darstellungen weichen einer dystopischen Vision von Rückschritt und Wiederkehr historischer Kräfte, die zuvor als überwunden betrachtet wurden.

Es ist aufschlussreich, dass nicht die Gleichheit, sondern die Ungleichheit im Mittelpunkt des Interesses steht. Die Gleichheit zählt zu den wichtigsten modernen transzendenten Werten und ist ein fester Bestandteil der progressiven Modernisierungsvision. Der Historiker Jürgen Osterhammel erklärt mit Blick auf die Bedeutung der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789: »Fast überall (vielleicht mit der Ausnahme Japans) hat man sich in allen folgenden Epochen auf Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung, Menschen- und Bürgerrechte berufen« (Osterhammel 2009: 761). Mit der Verschiebung der Debatte von der »Gleichheit« zur »Ungleichheit« wird jedoch die Hoffnung auf Gleichheit aufgegeben; an ihre Stelle tritt das Bemühen, die durch übermäßige Ungleichheit verursachten Schäden zu begrenzen.

Die Umlenkung der Aufmerksamkeit von der Gleichheit zur Ungleichheit ist sehr wirkungsvoll gewesen, denn an der Debatte über die Ungleichheit nehmen verschiedenste Interessengruppen teil. In einer Ära, in der transzendentale Werte jeder Art an Einfluss verlieren, rückt sie die egalitären Ideale in ein anderes Licht. Amartya Sens (2010) brillante Auseinandersetzung mit den Konzepten der Gerechtigkeit gibt Aufschluss über diese Strömung. Sen erklärt, Gerechtigkeit solle nicht an übergeordneten Prinzipien (wie auch immer diese definiert sein mögen), sondern anhand einer vergleichenden Betrachtung definiert werden, welche die Unterschiede zwischen Menschen in verschiedenen Situationen berücksichtigt. Er kritisiert die Theorien der Gerechtigkeit, insbesondere die des bedeutenden liberalen politischen Theoretikers John Rawls, der Gerechtigkeit als »Fairness« definiert und eine Theorie des transzendentalen Gesellschaftsvertrags entwickelt, die dem liberalen Denken seit Thomas Hobbes und John Locke zugrunde liegt. Rawls beschreibt ein Gedankenexperiment, in dem die Menschen in einem idealen vorsozialen Zustand darüber nachdenken müssen, welche Art von Gesellschaft sie unterstützen würden, wenn sie nicht im Voraus wüssten, welche Position sie darin einnehmen werden. Rawls erklärt, die Menschen würden in dieser Situation eine Gesellschaft wählen, die nicht nur frei wäre, sondern in der auch die Ungleichheit nicht zugeschrieben wäre, denn sie wären sich der Möglichkeit bewusst, dass sie sich anfangs am unteren Ende der sozialen Leiter befinden könnten. Daher würden sie ein liberales Modell bevorzugen, in dem es meritokratische Möglichkeiten für soziale Aufwärtsmobilität gibt.

Sen erklärt, dieser Zugang zur Gerechtigkeit führe zu einer Fixierung auf die Frage, inwieweit wirksame Verfahren in Kraft sind, um dafür zu sorgen, dass diese transzendentalen Prinzipien angewandt werden können. Das Resultat ist, dass die tatsächlichen Ergebnisse und Praktiken in bestimmten Gesellschaften aus den Augen verloren werden. Man könnte behaupten, dass genau das in den letzten Jahrzehnten geschehen ist: Mittlerweile sind formale Verfahren für den Umgang mit verschiedenen Aspekten der Diskriminierung rechtlich verankert, aber die tatsächlichen gesellschaftlichen Ergebnisse finden kaum Beachtung. Sen (2010: 15) zieht die indischen Rechtskonzepte von niti und nyaya heran:

Niti bezeichnet die Korrektheit von Institutionen und Verhalten, während nyaya erfasst, was entsteht und wie es entsteht, und besonders darauf achtet, welches Leben Menschen tatsächlich führen können.

In seiner Auseinandersetzung mit nyaya lenkt Sen die Aufmerksamkeit weg von abstrakten Prinzipien der Gerechtigkeit (wie den von Rawls vertretenen) und versucht stattdessen, bessere und schlechtere tatsächliche Ergebnisse in zahlreichen Fällen zu identifizieren.20 Sens Argumentation ist scharfsinnig, denn genau in diesem Geist des Vergleichs hat sich das Ungleichheitsparadigma durchgesetzt. Es ermöglicht die Dokumentation der wachsenden Belege dafür, wie das tatsächliche Leben von Menschen durch Kräfte beeinträchtigt wird, die Ungleichheit erzeugen. Indem es transzendentale (und folglich abstrakte und prozedurale) Diskussionen darüber vermeidet, wie die Gleichheit an sich hergestellt werden sollte, lenkt es unsere Aufmerksamkeit auf konkrete und spezifische Situationen – auf tatsächlich gelebte Leben. Beispielsweise hat es das Konzept des »1 Prozent« ermöglicht, die Ungleichheit konkret zu machen und die Aufmerksamkeit auf tatsächliche, spezifische Fragen statt auf allgemeine Prinzipien zu lenken.

Der Reiz dieser Argumentation besteht also darin, dass sie die Gesellschaftskritik auf eine nichttranszendentale Basis stellt und dem übergeordneten Paradigma widerspricht, das sich auf die Werte von Modernisierung und Wachstum stützt. Anstatt die Geschichte als Kulisse zu betrachten, die wir hinter uns gelassen haben, können wir sie als Teil dessen erkennen, was wir als Gesellschaft sind und sein werden. Diese Denkweise ist das soziale Pendant zur Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Klimawandels auf die langfristige Nachhaltigkeit. Tatsächlich führt uns diese Betonung der Ungleichheit vor allem zu der Erkenntnis, dass die langfristige soziale Nachhaltigkeit unverzichtbar ist. Die intergenerationelle Gerechtigkeit sowie unsere Verpflichtung gegenüber den kommenden Generationen werden zu übergeordneten politischen Zielen.

4 Was im Ungleichheitsparadigma auf dem Spiel steht

Ich habe betont, dass das Ungleichheitsparadigma wichtiger ist als auf den ersten Blick erkennbar. Tatsächlich geht die Bedeutung des Ungleichheitsparadigmas über die Ungleichheit hinaus. Das haben zwei bahnbrechende Bücher gezeigt, die einem breiten Publikum die Augen für die Tragweite der Ungleichheit geöffnet haben. Wilkinson und Pickett (2009) sowie Piketty (2016) erklären, warum die Ungleichheit wichtig ist, indem sie zeigen, dass der soziale Fortschritt nicht das Ergebnis fortgesetzten Wirtschaftswachstums ist. Wilkinson und Pickett verweisen darauf, dass die wirtschaftlich am höchsten entwickelten Länder der Welt nicht zwangsläufig weniger soziale Probleme haben: Vielmehr nehmen ärmere, aber egalitärere Länder gemessen an Gesundheit und Wohlergehen höhere Ränge ein. Hier haben wir es mit dem intensiv diskutierten »Glücksparadox« zu tun, das der Ökonom Richard Layard berühmt gemacht hat: Wachsender Wohlstand erhöht das Glück nicht mehr, sobald eine bestimmte Schwelle der wirtschaftlichen Entwicklung überschritten wird. Piketty hat seine These in der berühmten Formel r > g ausgedrückt, die besagt, dass die Kapitalrendite stets das Wirtschaftswachstum übersteigen wird – was bedeutet, dass ein höheres Wirtschaftswachstum lediglich die relativen Erträge derer erhöhen wird, die am meisten Kapital besitzen, was in einem sich selbst verstärkenden Teufelskreis zu größerer Ungleichheit führen wird. Je höher das Wachstum, desto größer werden die Wohlstandszugewinne derer sein, die bereits wirtschaftlich privilegiert sind.

Wir gewinnen einen Eindruck davon, was in diesem neuen Rahmen auf dem Spiel steht, wenn wir uns ansehen, wie beliebt der Begriff der Ungleichheit gemessen an anderen sozialwissenschaftlichen Begriffen ist. Die Beliebtheit des Themas Ungleichheit ist umgekehrt proportional zum Vertrauen in Modernität, Fortschritt und Wachstum. Der Ngram Viewer von Google zeigt, wie oft die Begriffe »inequality«, »racism«, »sexism«, »climate change« und »economic growth« in den vergangenen Jahrzehnten in englischsprachigen Texten verwendet worden sind. Die Trends sind aufschlussreich (siehe Abb. E.1).

Abb. E.1 Häufigkeit der Begriffe »inequality«, »racism«, »sexism«, »climate change« und »economic growth« in englischsprachigen Texten, 1940–2019

Quelle: Google Ngram

Abbildung E.1 zeigt, dass die Auseinandersetzung mit der Ungleichheit nicht neu ist. Zwischen den 1940er Jahren und dem Jahr 1960 wurde der Begriff der Ungleichheit häufiger als die anderen verwendet, die allesamt kein großes Interesse weckten. Um das Jahr 1960 änderte sich das. In jener Zeit wurden »Modernisierung« und »Entwicklung« unter der Führung der Vereinigten Staaten und der aufstrebenden internationalen Entwicklungsorganisationen (darunter die Weltbank und der Internationale Währungsfonds) als Allheilmittel für alle möglichen Übel beworben. Zur selben Zeit wurde die sozialwissenschaftliche Forschung auf Themen ausgerichtet, die dem Wachstum dienten (siehe zum Beispiel Wallerstein 2000). Dementsprechend drängte das »Wirtschaftswachstum« die »Ungleichheit« in Texten in den Hintergrund.

In den letzten Jahren hat sich das erneut geändert. Die Verwendung des Begriffs »Wirtschaftswachstum« erreichte in den 1980er Jahren ihren Höhepunkt, doch von da an verlor er an Bedeutung. Ab den 1970er Jahren traten auch »Sexismus« und insbesondere »Rassismus« in den Vordergrund, ein Begriff, der Ende der 1990er Jahre häufiger genannt wurde als »Ungleichheit« und »Wirtschaftswachstum«. Ab Mitte der 1980er Jahre begann auch der stetige Aufstieg des Begriffs »Klimawandel«. In den letzten Jahren hat die »Ungleichheit« wieder an Bedeutung gewonnen, wobei ihr Anteil im Verhältnis zu den anderen Begriffen heute deutlich höher ist als vor 50 Jahren. Der Begriff der Ungleichheit ist zur selben Zeit in den Vordergrund getreten, da Rassismus, Klimawandel und (in geringerem Maß) Sexismus ebenfalls eine wachsende Rolle in der öffentlichen Debatte spielen. Eine Reihe von düsteren, ja beängstigenden Begriffen ist in den Vordergrund gerückt, während das Thema des Wirtschaftswachstums an Relevanz verloren hat.

Allerdings ist die Situation in verschiedenen Weltregionen unterschiedlich. Im Chinesischen, das von mehr Menschen gesprochen wird als jede andere Sprache, bietet sich ein anderes Bild. Nach einer kurzen Phase Ende der 1960er Jahre, als die Ungleichheit intensiv diskutiert wurde, nahm das Interesse daran deutlich ab, und das Wirtschaftswachstum wurde zum beherrschenden Thema. Rassismus und Sexismus kommen im chinesischsprachigen Diskurs kaum vor. Selbst der Klimawandel spielt dort nur eine marginale Rolle. Hier haben wir es offenkundig mit einem sehr viel zuversichtlicheren Weltbild zu tun, in dem der Wert des Wirtschaftswachstums – das in den letzten Jahrzehnten ein wesentliches Merkmal der chinesischen Erfahrung gewesen ist – außer Zweifel steht.

Ungleichheit und Wirtschaftswachstum halten einander den Spiegel vor: Wo das eine Thema eine wichtige Rolle spielt, tritt das andere in den Hintergrund. Die chinesische Konzentration auf das Wirtschaftswachstum geht zulasten der Auseinandersetzung mit der Ungleichheit, die in englischsprachigen Quellen intensiv diskutiert wird. Wenn wir uns die Situation im Spanischen ansehen, das von der zweitgrößten Zahl von Menschen gesprochen wird, stellen wir fest, dass es sich auf halbem Weg zwischen der englischen und chinesischen Situation befindet. Bis in die 1970er Jahre war die Ungleichheit in der spanischsprachigen Welt überhaupt kein Thema, aber seit damals hat sie deutlich an Bedeutung gewonnen (lediglich Anfang der 1980er Jahre schwand das Interesse daran). Der Frage der Ungleichheit wird offenkundig ähnlich große Bedeutung beigemessen wie in der englischsprachigen Welt. Doch das Wirtschaftswachstum ist ebenfalls ein ständiges Thema, das ab den 1960er Jahren erheblich an Bedeutung gewann, und seit der Jahrtausendwende spielt es eine ebenso wichtige Rolle wie die Frage der Ungleichheit. Rassismus und Sexismus stehen im Spanischen ebenfalls sehr viel weniger im Vordergrund als im Englischen, was ihre besondere Bedeutung in der anglophonen Welt belegt.

Diese einfachen Vergleiche zeigen, dass die Ungleichheit auch ein geopolitisches Thema ist, das rund um den Erdball unterschiedliche Relevanz hat. Besonders intensiv wird die Ungleichheit in den Vereinigten Staaten und in Europa diskutiert, nicht jedoch in den Weltregionen, in denen das Wirtschaftswachstum in den letzten Jahrzehnten besonders stark gewesen ist. Daher ist diese Diskussion in mancher Hinsicht sehr auf die westliche Welt fixiert, obwohl die Entwicklung in vielen westlichen Ländern kritisch betrachtet wird. Mit diesem Paradox werde ich mich im weiteren Verlauf meiner Darstellung eingehender auseinandersetzen.

Ich möchte diese Stränge miteinander verknüpfen. Das Ungleichheitsparadigma ist nicht nur deshalb ins Rampenlicht gerückt, weil sich die Ungleichheit unausweichlich verschlimmert oder weil ein spezialisiertes Forschungsfeld entstanden ist. Die Erklärung ist vielmehr, dass dieses Thema die sozialwissenschaftliche Forschung in eine einflussreichere und überzeugendere Position bringt. Das Problem der Ungleichheit ermöglicht es, spezifische identifizierbare Themen (wie die beherrschende Position der Superreichen) in einer interdisziplinären Sozialwissenschaft zu verknüpfen, die aus den disziplinären Silos ausbricht und die fortschrittliche Modernisierungsagenda infrage stellt, die seit 1950 die akademische und politische Diskussion beherrscht. Diese Herausforderung des futuristischen Fortschrittsglaubens ist besonders bedeutsam. Seit dem 18. Jahrhundert ist der Traum von einer glänzenden Zukunft verbreitet, die verwirklicht werden kann, wenn wir die Probleme der Vergangenheit hinter uns lassen. Diese Denkweise hängt mit der grundlegenden Ordnung der modernen Vorstellungen von der Zeit zusammen, in denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ontologisch verschieden sind, was bedeutet, dass es unmöglich ist, gestützt auf die vergangene Erfahrung vorauszusehen, was die Zukunft bringen wird. Diese Annahme teilen so unterschiedliche Gruppen wie kommunistische Revolutionärinnen, neoliberale Anhänger des freien Marktes, antikolonialistische Bewegungen, religiöse Fundamentalisten und technokratische Reformerinnen. Im Alltag kommt sie darin zum Ausdruck, dass therapeutische und Selbsthilfeanleitungen unser Denken beherrschen, da wir unentwegt bemüht sind, uns in »bessere« Menschen zu verwandeln. Um die übergeordnete Bedeutung der Ungleichheit zu verstehen, müssen wir uns von einem solchen profanen akzelerationistischen Denken lösen und die Entstehung und Verstärkung der historischen Ungleichheit als Rückkehr älterer Formationen ins aktive gegenwärtige Leben betrachten. Je mehr sich Gesellschaften zu modernisieren scheinen, desto mehr werden sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Die Ungleichheit ist wichtig, weil sie das Gewicht der Geschichte in sich trägt. Dies ist das übergeordnete Thema meines Buchs.

Es könnte der Eindruck entstehen, dass meine Argumentation einem ausgetretenen Pfad folgt und den Verlust von Hoffnung und Gewissheit beklagt. Tatsächlich beschreite ich einen ganz anderen Weg. In den letzten Jahrzehnten waren zahlreiche Ankündigungen von Postindustrialismus, Globalisierung, Risikogesellschaft und dergleichen zu hören, die allesamt mit der Botschaft verknüpft waren, unser gesellschaftliches Leben beschleunige sich, was eine neue und ungewisse Welt hervorbringe, die mit der Vergangenheit breche und immer instabiler werde.21 Diese epochalistischen Darstellungen sind nicht hilfreich. Wir bewegen uns nicht auf eine schöne neue postindustrielle und wohlhabende Welt zu, sondern die Vergangenheit holt uns ein. Der kühne Traum von der Möglichkeit, die Fesseln der Vergangenheit abzuschütteln und vollkommen von vorne zu beginnen – der Traum, der seit dem 18. Jahrhundert große Teile der Welt beherrscht –, verliert seinen Reiz. Wir stehen vor einer Welt, die vom akkumulierten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Schutt der Jahrhunderte übersät ist, vor einer Welt, in der die Trümmerhaufen und Wracks der Vergangenheit wachsende Macht über Gegenwart und Zukunft haben. In dieser Hinsicht ist die Analogie zwischen Ungleichheit und Klimakrise vollkommen angebracht. So wie unsere Zukunftsaussichten vom Gewicht der Vorräte an fossilen Energieträgern und des damit verbundenen Umweltschutts abhängen, zwingt uns das Bewusstsein der Ungleichheit zu dem Eingeständnis, dass das Gewicht der historischen sozialen und wirtschaftlichen Kräfte unsere Zukunft einschränkt. So rückt die grundlegende Frage der Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt.

In diesem Geist werde ich zeigen, was in dem Bemühen auf dem Spiel steht, die Ungleichheit zu untersuchen, um ein umfassenderes soziologisches Verständnis des Verlaufs des gegenwärtigen sozialen Wandels zu entwickeln. Das Ungleichheitsparadigma öffnet ein Fenster, durch das wir einen Blick auf die düsteren Aussichten des sozialen Wandels haben. Das Bild, das sich uns bietet, mag trostlos scheinen: Es trübt die liberale progressive Hoffnung, Modernisierung und Entwicklung könnten die Übel der Welt beheben. Doch wir sehen auch, dass Hoffnung auf Rettung besteht, denn dieses Fenster öffnet auch neue Perspektiven: Der Blick auf den von der Ungleichheit angerichteten Schaden zeigt, dass wir eine Politik der sozialen Nachhaltigkeit brauchen.

5 Aufbau des Buchs

Ich habe versucht, ein zugängliches Buch zu schreiben, das auch jene lesen können, die keine Kenntnisse über die spezifischen Forschungsgebiete besitzen. Gleichzeitig möchte ich den vielen und verschiedenartigen Herausforderungen gerecht werden. Mittlerweile ist klar, dass ich die Vorstellung ablehne, die Ungleichheit sei ein isoliertes Problem, das für sich genommen betrachtet werden könne. Tatsächlich geht es hier auch darum, wie wir die soziale Welt untersuchen; es geht um unsere Methoden und Konzepte und darum, wie wir die Geschichte und den gesellschaftlichen Wandel im Allgemeinen betrachten. Um verstehen zu können, warum die Ungleichheit ein so drängendes Thema geworden ist, müssen wir viele Forschungsfelder synthetisieren und dürfen nicht wieder darauf verfallen, begrenzte Deutungsrahmen, Messwerkzeuge oder Perspektiven anzuwenden.

Dementsprechend behandle ich in jedem Kapitel ein eigenständiges Thema und versuche, einer breiten Leserschaft die wesentlichen Erkenntnisse der neueren Forschung nahezubringen. In keinem dieser Kapitel kann ich alle wichtigen Beiträge zu den einzelnen Themen berücksichtigen, aber ich hoffe, eine nützliche Einführung anbieten zu können. Originell an meinem Buch ist jedoch die Art und Weise, wie ich diese Themen miteinander verknüpfe. Um meine Argumentation in ihrer Gesamtheit betrachten zu können, sollte also das ganze Buch gelesen werden. Ich möchte die Leserinnen darauf hinweisen, dass die Gegenüberstellung von Themen, die nur selten gemeinsam untersucht werden, das wichtigste Merkmal meines Buchs ist.