Die russische Tragödie - Vladimir Esipov - E-Book

Die russische Tragödie E-Book

Vladimir Esipov

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Beschreibung

In Russland geboren und aufgewachsen, hat er die Kultur des Landes über Jahrzehnte selbst gelebt. Immer wieder stellt er sich die gleiche Frage: Wohin mit diesem neuen Russland? Was tun mit dem größten Land des Kontinents, das sich in den letzten dreißig Jahren mehr verändert hat, als manches Land in den letzten dreihundert?

Vladimir Esipov blickt auf die letzten 30 Jahre der Geschichte seiner Heimat und erklärt manche Verhaltensmuster, die das westliche Publikum ratlos machen. Mit seinem Insider-Wissen analysiert er die russische Gesellschaft in einem Versuch, dem europäischen Publikum ein Land und seine Leute doch noch zu erklären, dessen Führung einen Kreuzzug nicht gegen die Ukraine, sondern gegen den ganzen westlichen Lebensstil begann.

  • Endlich verstehen, wie Russland funktioniert
  • Der ehemalige Chefredakteur des GEO Magazins in Russland erklärt seine Heimat
  • Zur Präsidentenwahl 2024: Wie hat sich Russland in den letzten drei Jahrzehnten seit dem Fall der Sowjetunion entwickelt?

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Zum Buch:

In Russland geboren und aufgewachsen, hat er die Kultur des Landes über Jahrzehnte selbst gelebt. Trotzdem ist seine Heimat ihm jetzt, nach den Ereignissen der letzten Jahre, fremd geworden. Immer wieder stellt er sich die gleiche Frage: Wohin mit diesem neuen Russland? Was tun mit dem größten Land des Kontinents, das sich in den letzten dreißig Jahren mehr verändert hat, als manches Land in den letzten dreihundert?

Vladimir Esipov blickt auf die letzten 30 Jahre der Geschichte seiner Heimat und erklärt manche Verhaltensmuster, die das westliche Publikum ratlos machen. Mit seinem Insider-Wissen analysiert er die russische Gesellschaft in einem Versuch, dem europäischen Publikum ein Land und seine Leute doch noch zu erklären, dessen Führung einen Kreuzzug nicht gegen die Ukraine, sondern gegen den ganzen westlichen Lebensstil begann.

Zum Autor:

Vladimir Esipov, geboren 1974 in St. Petersburg, studierte dort Journalismus und absolvierte eine Ausbildung an der Hamburger Journalistenschule. Er war Chefredakteur der russischen Lizenzausgabe des GEO Magazins, bevor der deutsche Verlag wegen eines neuen russischen Gesetzes das Land verlassen musste. Heute lebt er in Berlin und arbeitet als Redakteur der Deutschen Welle.

Vladimir Esipov

Die

russische

Tragödie

Wie meine Heimat

zum Feind der

Freiheit wurde

Wilhelm Heyne Verlag

München

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Originalausgabe 03/2024

Copyright © 2024 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Claudia Haimerl

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-31712-6V001

www.heyne.de

Vorwort. Warum dieses Buch

Würde man ein Symbol für Russland im Jahr 2024 suchen, wäre der Betonklotz in der Friedrichstraße, Berlin-Mitte, vielleicht ein guter Kandidat.

Sieben Stockwerke hoch, erbaut 1984, als die sowjetischen Truppen im Osten Deutschlands standen und Instagram noch nicht erfunden war, irgendwie noch pompös und doch optisch etwas aus der Zeit gefallen. Hinter leicht verstaubten Fensterscheiben türmen sich Topfpflanzen: »Haus der russischen Kultur und Wissenschaft« braucht fast schon keine Leuchtreklame über dem Eingang, man ahnt schon, wem diese Immobilie gehört. Einem Land, das sich so ähnlich in der Welt positioniert, wie dieses Haus in Berlin: groß, auffällig, an mancher Stelle verstaubt, ab und an um guten Eindruck bemüht; zumindest war das bis 24. Februar 2022 so, danach war Reputation nicht mehr so wichtig. Um das Gebäude in der Friedrichstraße im Zentrum Berlins tobt die Globalisierung. Menschen aller Geschlechter, Nationalitäten, sexuellen Präferenzen, politischen Auffassungen und sonstigen Neigungen und Identitäten lachen, shoppen, flanieren, küssen sich. Politik, Ideologie, Religion – das alles scheint nur noch eine untergeordnete Rolle zu spielen in der bunten Welt des fröhlichen Geldausgebens. Mittendrin in diesem bunten Treiben steht das »Russische Haus«. Es ist … Es ist einfach da. Seine Türen stehen offen, alle seien willkommen, heißt es, aber kaum jemand traut sich rein.

Die Schaufenster im Erdgeschoss sind leer, die Website lässt sich nicht immer aufrufen, die Bankkonten sind angeblich gesperrt, mutmaßlich im Rahmen der EU-Sanktionen. Nachdem die russischen Truppen am frühen Morgen des 24. Februar 2022 in die Ukraine vorgerückt sind, wurde Russland zum Paria in Europa. Alles Russische ist politisch geworden, inklusive der russischen Kultur, der russischen Sprache und des Sports. Selbst die kleinen Bars in den Berliner Ausgehvierteln, die sich vorher noch als »russisch« positionierten, weil es hip war, nannten sich plötzlich »osteuropäisch«, denn sicher ist sicher. Offensichtlich nicht in der Lage, auf das Kriegsgeschehen in irgendeiner Weise Einfluss zu nehmen, entschied sich die europäische Öffentlichkeit für den Boykott des Russischen als einzigen Weg, ihren Unmut und Protest auszudrücken.

Das russische Haus steht da. Die Berliner Politik hadert mit der Frage, ob man mitten in der Stadt dieses »Bollwerk der Kreml-Propaganda«, wie es manche Medien bezeichnen, tolerieren sollte. Einige Lokalzeitungen schreiben von einem angeblichen »Spionagenest« mitten in der Hauptstadt, ukrainische Aktivisten protestieren vor dem Eingang. Ein Haus, stellvertretend für ein Land, das in Deutschland Empörung und eine diffuse Angst verbreitet. Im Fernsehen laufen Reportagen, in denen besorgte Bundestagsabgeordnete in ihren Büros auf dem Boulevard Unter den Linden berichten, dass sie befürchten, von der russischen Botschaft abgehört zu werden. »Berlin, Hauptstadt der Spione«, betitelt das Deutsche Spionage-Museum am Potsdamer Platz seine Ausstellung. Die Angst vor Russland ist zurück. Wer sich aber ins Innere des Russischen Hauses traut, findet – was sonst – ein Russland in klein. Inklusive eines Metallrahmens am Eingang, wie an einem Flughafen – für Deutschland eher ungewöhnlich, für Russland eine der harmloseren Folgen einer Terrorwelle, die das Land zu Beginn der 2000er-Jahre erschütterte. Der Rahmen blinkt und piepst, der gelangweilte Sicherheitsmann winkt durch. Alles wie immer. Drinnen herrscht eine fast schon gähnende Leere, es gibt fünf Ausstellungen auf zwei Etagen, aber kaum Besucher. Russland ist nicht mehr en vogue. Die ganze Annäherung ist passe, die unendlichen »Dialoge« und »Foren« machen keinen Sinn mehr, die »Wandel durch Handel«-Beschwörungen entpuppten sich als ein selbstbetrügerisches Feigenblatt der deutschen Wirtschaft, als ein Alibi für Milliardeninvestitionen in ein Land, das westliches Geld wollte, aber nicht die Idee der Freiheit.

Frust, Ärger, Ratlosigkeit, Verbitterung, Enttäuschung herrschen auf beiden Seiten, Grund dafür ist die russische »Militäroperation« im Nachbarland mit Abertausenden Toten. Es gibt inzwischen mehr als zehn Sanktionspakete, es gibt keine Direktflüge zwischen Berlin und Moskau, zwischen der EU und Russland, und die Ostsee-Pipeline Nord Stream, ein Milliardenprojekt, ist durch einen gezielten Anschlag zerstört. Die heile Welt der demonstrativen deutsch-russischen Zuneigung, wie wir sie bis 24. Februar 2022 kannten, gibt es nicht mehr. Doch den Anwesenden im »Russischen Haus« scheint es herzlich egal zu sein. Das Land hat sich längst von dem Bedürfnis befreit, von der Außenwelt gemocht zu werden, es hat sich emanzipiert von dem Wunsch, jemandem in Europa zu gefallen. »Wir sind so, wie wir sind«, heißt es in Moskau. Punkt. Oder, wie eine Moskauer Celebrity-Bloggerin es bissig formulierte: »Mir ist völlig egal, was ihr über mich denkt. Denn ich denke an euch gar nicht.« Noch vor fünf Jahren war alles ganz anders. Das Haus in der Friedrichstraße präsentierte Russland als Gastgeberland der Fußball-WM: weltoffen, freundlich, modern und irgendwie hip. Der Direktor hatte große Pläne. Er wollte, selbstverständlich im Auftrag der russischen Regierung, der Welt ein anderes, modernes, nicht mehr sowjetisches Russland zeigen. Ein Land, vor dem man keine Angst haben sollte. Ein Land, das nicht mehr mit Balalaika-Musik assoziiert würde, nicht mit Armee, Armut, Alkoholismus und aggressiver Außenpolitik.

Fünf Jahre später sind die Konten des Hauses angeblich gesperrt, es soll ein Ermittlungsverfahren wegen des mutmaßlichen Sanktionsbruches gegeben haben, berichtet die Berliner Presse. Später heißt es, das Verfahren sei eingestellt. Offiziell mag sich niemand dazu äußern – wozu auch. Im zweiten Jahr des Ukraine-Krieges gelten russische Musik, Filme und Literatur zunehmend nicht mehr nur als unpolitische Kunst, sondern als Instrumente der Ablenkung von dem Blutbad im Nachbarland. Man stellt die Lautstärke höher, damit die Schreie aus der Nachbarwohnung nicht gehört werden. Als aus ihrer Sicht »symmetrische« Gegenmaßnahme sperren russische Behörden im März 2023 die Konten des Goethe-Instituts und reduzieren die Zahl der Mitarbeiter der deutschen Organisationen in Russland. Berliner Vereine, die sich seit Jahrzehnten für die deutsch-russische »Völkerverständigung« einsetzen, stürzen in eine schwere Sinnkrise, ihre ganzen Alumni-Netzwerke brechen zusammen, weil man miteinander nicht mehr sprechen will.

In deutsch-russischen Beziehungen brennen die letzten Brücken. Ein Plan für die Befreiung aus der Spirale der Beleidigungen, Anschuldigungen und Beschimpfungen ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Der absurde Krieg ist eine neue Normalität geworden, man hat sich daran gewöhnt, man blendet ihn aus. In einer Welt der optischen Reizüberflutung, wo die Aufmerksamkeitsspanne bei drei Sekunden liegt, ist es auch unmöglich, von jemandem zu erwarten, dass er oder sie mehr als ein Jahr an dasselbe Ereignis denkt, egal wie schrecklich es sein mag. Man gewöhnt sich nun wirklich an alles.

Antikriegsdemos sind nicht mehr in Mode. Wer klebt sich schon gegen die Bombardements von Odessa auf die Straße? Eine wahrscheinliche »Klima-Katastrophe« in der fernen Zukunft ist ein sympathischerer Feind als ein echter Krieg in der Gegenwart. Die Russen und die Ukrainer können sich gegenseitig abschlachten, die deutsche Großstadtjugend scheint mehr Chancen zu sehen, den Klimawandel zu stoppen als einen Krieg in Europa. Die ursprüngliche Empörung hat sich schnell gelegt, sie wich der hilflosen Wut, es folgten zehn Sanktionspakete und die ernüchternde Erkenntnis der deutschen Außenministerin, dass »Logiken der Demokratien nicht in Autokratien greifen«1 und dass »mit rationalen Entscheidungen, rationalen Maßnahmen, die man zwischen zivilisierten Regierungen trifft, dieser Krieg nicht zu beenden ist«. Nun ja. Dass die deutsche Logik in Russland meistens nicht greift, das sage ich meinen lieben Freunden und Kollegen seit meinem ersten Besuch hier vor dreißig Jahren. Dass nach siebzig Jahren Selbstisolation, einer Inflation von über zweitausend Prozent und einem Kollaps der ethischen Normen die Menschen sich etwas merkwürdig benehmen, dürfte auch wenig überraschend sein. Dass man auf Dinge verzichtet, von denen man glaubt, man brauche sie nicht, ist verständlich. Tragischerweise hat Russland auf die Freiheit verzichtet, in der Überzeugung, sie würde nur Stress und keinen Wohlstand bringen. Aus Angst vor Freiheit zog man sich zurück, rief die Geister der Sowjetunion zu Hilfe, in der Hoffnung, dass die Vergangenheit in der Zukunft hilft. Wohlstand wurde wichtiger als Freiheit. Die lustigen Verwandten in dem Nachbarland, die Ukrainer, wollten aber Freiheit. In ihrer Nationalhymne heißt es sogar, sie seien bereit, dafür zu sterben. Sie haben zweimal in zehn Jahren ihre Freiheit so ausgelebt, dass erst eine Wahl wiederholt werden musste und dann ein Präsident aus dem Land flüchtete. Jetzt sterben sie aber wirklich für ihre Freiheit, und es nimmt kein Ende. Die Russen und die Ukrainer, die man kennt, rollen mit den Augen und flüstern immer wieder das Gleiche: Wann ist dieser Horror zu Ende? Egal wie. Einfach zu Ende. Man hat das Gefühl, man sitzt in einem viel zu langen Horrorfilm, möchte nur noch nach Hause und wartet ungeduldig auf das »Happy End«.

Aber: »Wir sind nicht im Kino, es ist kein Film«, kommentierte der estnische Außenminister in einem TV-Interview die unrealistischen Erwartungen der westlichen Öffentlichkeit.2 »Es ist nicht so, dass man nach zweieinhalb Stunden das Happy End erlebt und nach Hause gehen kann.«

Es ist kein Film, und so gibt es auch kein Happy End. Es ist Realität, die manchmal skurriler aussieht, als jeder Drehbuchautor sich das ausdenken könnte. Wer hätte eine solche Geschichte erfinden können, in dem ein Hauptprotagonist (nennen wir ihn mal R.) erst eine existenzielle Krise erlebt, seinen Staat und dann sein ganzes Geld verliert, dann einen Neuanfang versucht, wieder scheitert, in seiner Verzweiflung beschließt, seine Freiheit gegen ein bisschen Geld zu tauschen, wenige Jahre später plötzlich so reich wird, dass er Olympische Spiele, einen G8-Summit und eine Fußball-WM ausrichten kann. Doch am Ende verkracht er sich mit allen seinen Partnern und bricht wutentbrannt bei seinem Nachbarn und dem engsten Verwandten ein. Kein Filmstudio würde ein solches Drehbuch kaufen, es ist einfach zu unrealistisch, zu krass. Für meine Heimat ist es aber kein Film. Es ist das Leben.

Niemand mag das Wort »Krieg«, am allerwenigsten die Deutschen, und schon gar nicht in Verbindung mit Russland. Es fällt einem aber keine bessere Beschreibung dessen ein, was gerade zwischen dem flächenmäßig größten Land der Welt und der westlichen Zivilisation passiert. Ein Krieg ist die absolut falsche Zeit für Diskussionen und Reflexionen. Jeder Versuch, mit einem Buch während des Krieges ein asoziales Verhalten zu erklären, ist ein Witz. Es wird sehr, sehr viel Zeit vergehen müssen, bis die Russen und die Europäer wieder anfangen, miteinander zu reden. Doch irgendwann wird man sich die Frage stellen müssen: Wohin mit Russland? Was tun mit dem größten Land des Kontinents, das sich in den letzten dreißig Jahren in mancher Hinsicht stärker verändert hat als einige europäische Länder in den letzten zweihundert Jahren? Und in so manchen Belangen allerdings gar nicht?

Von einer postsowjetischen Möchtegerndemokratie über eine turbokapitalistische Autokratie zu einer zunehmend autarken Diktatur – Russlands Wandel seit dem Kollaps der UdSSR im Jahr 1991 ist atemberaubend, zum Teil tragisch und für viele auf jeden Fall enttäuschend. Doch Enttäuschungen haben etwas mit Erwartungen zu tun. So könnte man sich auch mal fragen, ob der aufgeklärte und wohlhabende Westen nicht zu viel erwartet hat von einer Gesellschaft, die innerhalb einer so kurzen Zeit eine solche gigantische Transformation durchmachen musste. Ob es von Anfang an unrealistisch war, nach so vielen Jahren der russischen Selbstisolation eine blitzschnelle Transformation zum Kapitalismus zu bewältigen und wie es sein kann, dass eine Regierung eines europäischen Landes das westliche Gesellschaftsmodell nicht als Chance, sondern als Gefahr nicht nur für die eigene Macht, sondern für die Existenz des gesamten Staates gesehen hat. Ein globaler Kreuzzug gegen die westlich-liberale Lebensweise begann. Inzwischen ist Russland zu einem globalen Anführer der Globalisierungsgegner geworden, zu einem Alternativmodell zu den USA, zu einem Vorbild für alle, die sich von Globalisierung benachteiligt und überfordert fühlen. Der gesamte Clash zwischen Russland und dem Westen dreht sich im Kern um die Frage des modernen Staatsaufbaus und darum, ob das demokratische Modell dem flächenmäßig größten Land der Welt guttun würde.

Seit dem 24. Februar 2022 wird diese Frage mit fürchterlichen Mitteln diskutiert, in einem absurden Krieg zwischen zwei Ländern, die eine jahrhundertelange Geschichte, zum Teil gemeinsame Sprache und millionenfache Verwandtschaften und Freundschaften verbindet. Oder besser gesagt verband, denn Hass scheint mittlerweile das letzte und das einzige Gefühl zu sein, das die meisten Ukrainer für Russland empfinden. Dieses Buch ist ein politisch-persönlicher Rückblick auf die letzten drei Jahrzehnte der Geschichte Russlands, aber auch ein Versuch, manche russischen Denk- und Verhaltensmuster zu erklären, die das westliche Publikum mal amüsieren, mal ratlos machen werden. Es ist ein hoffnungsloser, verzweifelter Versuch. Aber als jemand, der den größten Teil seines Berufslebens in einem schizophrenen Spagat zwischen den naiv-romantischen Erwartungen der deutschen Öffentlichkeit und den brutalen Fakten der russischen Realität verbracht hat, will ich einfach all das erzählen, was ich ohnehin schon seit Langem meinen Freunden berichtet habe. Ich weiß: Das ist ein absolut falsches Buch zu einer absolut falschen Zeit. Der Versuch, in einem Satz die Worte »Russland« und »erklären« zu gebrauchen, ist im Jahr 2024 fast kriminell. In dem gesamten Buch kommt das Wort »Dialog« kein einziges Mal vor, versprochen. Das ist ein Buch für die Zukunft. Für eine Zeit, in der sich Politiker finden, die Win-win-win-Situationen wieder möglich machen werden. In der ein Gewinn für die einen nicht automatisch ein Verlust für die anderen bedeutet. In der man sich wieder darauf besinnt, dass das menschliche Leben das höchste Gut unserer Zivilisation sein sollte.

Momentan sieht es jedoch überhaupt nicht danach aus.

Berlin, im November 2023

Eins. Die »starke Hand«

Woher der Wunsch nach einem »russischen Pinochet« kam, warum ausgerechnet ein unauffälliger Jurist aus St. Petersburg so gut als »Nachfolgediktator« taugte und welche Rolle der Massenmord und das Fernsehen spielten.

Der Schrecken zur späten Stunde

Es gab eine Zeit, da war Deutschlands Regierungssitz nicht in Berlin, sondern in einer gemütlichen Kleinstadt am Rhein. Die Stadt lag eine halbe Autostunde südlich von Köln entfernt, inmitten einer Gegend, die Ruhe und Wohlstand ausstrahlte. Im damaligen Parlamentsviertel gab es einen Ort namens »Tulpenfeld«, mit einem Hochhaus aus den 1960er-Jahren mit mehreren Anbauten mit Abgeordnetenbüros. An einem späten Abend im April 1999 saß ich in einem dieser Büros und … wartete auf einen Kurier, der aus einem Imbiss in der Nachbarschaft chinesische Nudeln liefern musste. Es war spät, ich war müde, aber der Tag war noch nicht zu Ende. Ich war selbst schuld: Niemand hat mich gezwungen, einen Aushang im Goethe-Institut in St. Petersburg zu lesen, mich für ein Praktikum im Bundestag zu bewerben und dann auch noch anzugeben, dass ich es im Büro einer ganz bestimmten Abgeordneten verbringen wolle, einer ehemaligen Ministerin der Justiz. Von deren Geschichte ich so fasziniert war. Sie trat freiwillig zurück, aus Protest gegen ein Gesetz, das den Sicherheitsdiensten mehr Möglichkeiten geben sollte, abgehörte Telefonate zu speichern.

Dieses ganze deutsche Abhördrama war für meine russische Wahrnehmung eine komplette Exotik, von A bis Z. Dass eine Ministerin freiwillig auf ihren Posten (und ihr Dienstauto) verzichtet – aus Überzeugung. Dass ein Parlament überhaupt darüber debattiert, was die Sicherheitsdienste dürfen und was nicht. Dass ich als Ausländer im Büro einer Abgeordneten mitarbeiten darf. Das alles wäre in meiner Heimat, aber auch in vielen anderen Ländern un-denk-bar. Also bewarb ich mich für das Praktikum. Russland hatte damals auch noch die höchste Quote in diesem Stipendienprogramm, ganze zehn Plätze.3 Als Zeichen dafür, wie wichtig dem Deutschen Bundestag die Demokratie in Russland war. Die Ukraine war gar nicht dabei.4

April 1999 war, ohne Übertreibung, eine historische Zeit: Eine Epoche ging in Deutschland zu Ende. Es war eine der letzten Sitzungswochen des Bundestages in der gemütlichen Stadt am Rhein. Der Umzug nach Berlin war eine Frage der nächsten Monate, in den Büros und auf den Fluren standen bereits die Umzugskartons. Aber auch geopolitisch passierte eine Menge. Am 12. März 1999 wurden Polen, Ungarn und Tschechien – als erste Länder des ehemaligen Warschauer Pakts – NATO-Mitglieder. Russland protestierte zwar dagegen, allerdings auf eine nette Art, man war ja um gute Beziehungen bemüht. Noch.

Keine zwei Wochen später, am 24. März 1999 kam es zu einem handfesten diplomatischen Eklat zwischen Moskau und Washington: Der russische Ministerpräsident Jewgenij Primakow ließ sein Regierungsflugzeug auf dem Weg in die USA umkehren, nachdem er erfahren hatte, dass die NATO mit Angriffen auf Jugoslawien begann und sich damit in den Krieg in der damaligen jugoslawischen Provinz Kosovo einmischte. Bomben auf Belgrad provozierten heftige Proteste in Moskau, wo man sich sehr stark mit dem orthodoxen Serbien verbunden fühlte. In den Wochen zuvor mehrten sich die Berichte über ethnische Säuberungen im Kosovo, die ersten Flugzeuge mit Flüchtlingen landeten in Deutschland, das Drama um den Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien steuerte auf die nächsten blutigen Kapitel zu. Die westliche Gemeinschaft wollte und konnte dem nächsten Massaker nicht tatenlos zuschauen, nachdem im Juli 1995 in der bosnischen Stadt Srebrenica rund achttausend Bosniaken von der Armee der Republika Srpska und des serbischen Paramilitärs hingerichtet worden waren. Der Schock über dieses Kriegsverbrechen saß so tief, dass die NATO sich im März 1999 zu ihrem ersten Kampfeinsatz entschied, um die Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus der serbischen Provinz Kosovo zu stoppen. Für die deutschen Truppen war das der erste Kampfeinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg5 und somit eine unglaubliche Zäsur. Russland protestierte heftigst gegen die Angriffe auf Serbien, seinen alten Verbündeten. Serbiens Vormachtstellung im ehemaligen Jugoslawien ähnelte der dominierenden Rolle Russlands in der Sowjetunion.6 Ein Zerfall eines Vielvölkerstaates, so wie der Sowjetunion oder Jugoslawiens, barg ein gigantisches Konfliktpotenzial in sich, und zwar aus dem einfachen Grund, dass zu viele mit den neuen Grenzen unglücklich und zugleich zu wenige zu irgendwelchen Kompromissen fähig waren. Die politische Kultur in den Staaten mit Einparteiensystem ließ jahrzehntelang keine abweichenden Meinungen zu; Konfliktlösung durch Verhandlung und Deeskalation war nicht sehr populär. Eine friedliche Scheidung nach dem Vorbild der Tschechoslowakei war auf dem Balkan oder im Kaukasus nicht immer möglich, Kompromisse galten als Zeichen der Schwäche. In dieser aufgeladenen Atmosphäre drohte jeder auch noch so kleine Streit zu einem großen Konflikt zu werden. Die demonstrative Umkehr des russischen Regierungschefs über dem Atlantik Ende März 1999 war ein einmaliger und unvorstellbarer Affront. Denn eigentlich war er auf dem Weg nach Washington, D.C., um mit dem Internationalen Währungsfonds über einen neuen, fünf Milliarden Dollar großen Kredit zu verhandeln.

Es war mehr als nur ein Skandal. Zum ersten Mal seit dem Zerfall der Sowjetunion demonstrierte ein so hochrangiger russischer Regierungsvertreter der ganzen Welt, dass Russland eigene außenpolitische Akzente setzen und die Regierung bereit sein würde, sogar die Beziehungen zu den großen internationalen Geldgebern zu riskieren. Es herrschte ein völlig neuer Ton, selbstbewusst und konfrontativ. Das kam für viele überraschend: Bis dahin agierte die Regierung in Moskau meist aus purer wirtschaftlicher Notwendigkeit und Geldnot. Dass plötzlich ein russischer Ministerpräsident sich bewusst für eine solche demonstrative Aktion entschied, war ein starkes Zeichen – auch dafür, dass Jewgenij Primakow durchaus eigene politische Ambitionen haben könnte. Denn für das Jahr 2000 war die Präsidentschaftswahl angesetzt, und der konservative Primakow galt als Favorit – im Frühling 1999 führte er in Meinungsumfragen als der populärste der möglichen Kandidaten für das Amt des nächsten russischen Präsidenten.7 Die skandalöse Wende über dem Atlantik war für die einen ein starkes Zeichen des neuen russischen Selbstbewusstseins und für die anderen ein Alarmsignal für das Erstarken der antiwestlichen, nationalistischen Kräfte. Präsident Jelzin entließ den populären Ministerpräsidenten Primakow sechs Wochen später, am 12. Mai 1999.

Auch sechzehn Jahre später, nach seinem Tod, werden noch viele in Russland und außerhalb an seinen damaligen Demarche erinnern, der ein neue Ära in der russischen Außenpolitik einläutete.8 Und bereits Primakow rekrutierte seine Mitarbeiter aus den russischen Geheimdiensten, und bereits er wurde populär durch seine Begeisterung für Ordnung und Disziplin. Und auch er hat als Wissenschaftler für KGB gearbeitet.9 Das Wohl des Landes hing damals an den Krediten, über die man in Washington, D.C., verhandeln musste. Es war nach 21.00 Uhr, als die Nudeln geliefert wurden und wir zu viert am Tisch saßen: die Abgeordnete, ihre Büroleiterin, ein anderer Praktikant und ich. Da im Bundestag jeder Small Talk politisch ist, fragte mich die Abgeordnete, wie es meiner Meinung nach in Russland »weitergeht«. Diese Frage haben sich viele gestellt, die Zeitungen waren voll mit Berichten über den schwächelnden Präsidenten Boris Jelzin, über seine angeblichen gesundheitlichen Probleme und mit Spekulationen über seinen möglichen Nachfolger. Meine Antwort hat alle drei Anwesenden unangenehm überrascht. Ich glaube, sagte ich, dass in Russland demnächst jemand an die Macht kommen könnte, der eher ein Diktator sein werde als ein Demokrat. Das wäre, aus meiner Sicht, die einzige logische Folge des Finanzkollaps im Jahr 1998, der das Vertrauen der Menschen in ihren Staat, ihre Regierung und ihre Nationalwährung aufs Neue erschüttert hat. Diese – aus deutscher Sicht – düstere Prognose war weder mein Wunsch noch mein Traum. Aber es war auch keine Kaffeesatzleserei, und ich habe es auch nicht erfunden: Der Name des chilenischen Diktators Pinochet geisterte immer wieder und immer öfter durch die russischen Medien und Politik.

Es spiegelte die Stimmung im Land – unter meinen Freunden, Bekannten, Verwandten, Kollegen. Die Menschen seien überfordert, und das von allem. Von der Kriminalität, von steigenden Preisen, von dem Gefühl, in einem Land zu leben, dessen Präsident sein Alkoholproblem nicht im Griff zu haben scheint und dessen Regierung keinen Wohlstand schaffe, erzählte ich. Kaum hatten wir uns nach der »Schocktherapie« des Jahres 1992 und der vierstelligen Hyperinflation erholt, traf uns die Krise von 1998 mit voller Wucht. Im August 1998 verlor ich durch die Abwertung des Rubel etwa siebentausend Dollar –mein gesamtes damaliges Vermögen. Niemand verstand, warum es uns widerfuhr. Wir haben 1996 den »richtigen« Präsidenten gewählt, den Demokraten Boris Jelzin und nicht den Kommunisten Gennadi Zjuganow. Wir hatten die Entbehrungen der frühen 1990er-Jahre gemeistert. Es sah so aus, als hätte die Wirtschaft sich stabilisiert, als könnte man ein bisschen Geld zur Seite legen und als könnte man sich zum ersten Mal im Leben eine Woche am Mittelmeer leisten – Flug und Halbpension im Dreisternehotel. Der Bankenkollaps 1998 zerstörte erneut all diese bescheidenen Träume. Dazu noch der kranke Präsident, dem auch noch ein Alkoholproblem nachgesagt wurde.10 Zwar werden nach seinem Tod seine Vertrauten abstreiten, dass er Alkoholiker war. Doch in die Geschichte eingehen werden seltsame Vorfälle wie der im September 1994 auf dem Flughafen Shannon in Irland. Da sollte Boris Jelzin eigentlich auf dem Rückweg aus den USA bei einer Zwischenlandung den irischen Regierungschef treffen. Der wartete aber vergebens auf dem Rollfeld: Statt Jelzin kam ein Vizechef der russischen Regierung aus dem Flieger und sagte das geplante Treffen kurzerhand ab.11 Das Gerücht, der Präsident sei zu betrunken gewesen, wird sich hartnäckig halten. Einen Monat zuvor, am 31. August 1994, trank der russische Präsident anscheinend zu viel Rotwein in Berlin bei der Feier anlässlich des Abzugs der russischen Truppen aus Deutschland.12 Wie sich sein damaliger Chefleibwächter später erinnerte, hatte sein Chef eine solchen Durst, dass die Bedienung mit Nachschenken nicht nachkam. Und das bei der Sommerhitze. Der betrunkene Präsident entriss im Lauf des Abends dem Dirigenten eines Berliner Polizeiorchesters den Dirigentenstab und dirigierte, zur allgemeinen Begeisterung, das Orchester selbst. Der erste demokratisch gewählte Präsident Russlands benahm sich überaus seltsam in der Öffentlichkeit, doch das war nur das kleinere Problem.

Das größere lag darin, dass die Menschen in Russland eine zynische Distanz zu dieser sogenannten »Demokratie« entwickelten. Und das nicht, weil sie grundsätzlich nicht an deren Vorteile glaubten, sondern weil die Realität immer wieder zeigte, dass in der Politik der Volkswillen nur bedingt zählt und in der Wirtschaft sowieso immer wieder Krise herrscht. Egal ob und, wenn ja, welche Partei man gewählt hat, am Ende kam immer das Gleiche heraus: Die Politik bestimmte der Kreml, die Debatten im Parlament waren zwar ab und zu unterhaltsam, hatten aber relativ wenig praktische Bedeutung. Die Menschen hatten nicht das Gefühl, dass sie irgendwas entscheiden können. Das politische System des neuen, postsowjetischen Russlands war eine Verfassung eines demokratischen Staates, der die Würde und Rechte des Menschen zu seiner obersten Priorität erklärt. Doch der gesamte Staatsapparat war in seinem Kern auf einen einzigen Menschen zugeschnitten, der nicht mehr Zar oder Generalsekretär hieß, sondern neumodisch »Präsident«. Es gab kaum »Checks and Balances«; der demokratisch gesinnte Präsident musste das Land in die Marktwirtschaft führen und basta. Was passieren würde, falls Demokraten die Wahl verlören und ein Nichtdemokrat gewählt würde, wollte sich niemand vorstellen. Diese Konzentration der Staatsmacht bei einem einzigen Menschen lag in der besten russischen Tradition, sie ergab sich aus der Geschichte, Geografie und gesellschaftlichen Ordnung, und ich glaube beim besten Willen nicht, dass man sie in ein, zwei Jahren abschaffen oder ändern könnte. Die russische Gesellschaft hat nie richtig gelernt, verantwortungsvoll mit ihrer Freiheit umzugehen; dass Freiheit des Handels auch eine persönliche Verantwortung mit sich bringt, war den meisten gar nicht bewusst. Russland wurde jahrhundertelang zentralistisch und von Moskau aus regiert. Es ist sicher nicht ganz unrealistisch, ein Land mit 143 Millionen Einwohnern und elf Zeitzonen zu einer Demokratie »umzuerziehen«. Aber ein staatlicher Kollaps mit einer anschließenden Inflation von ca. 2600 Prozent fördert die Begeisterung für die neuen Regierungsformen nicht unbedingt. Salopp formuliert: Wer zwei Kinder hat, sich aber von seinem Monatsgehalt lediglich drei Kilo Zwiebeln leisten kann, wird wahrscheinlich ganz andere Sorgen haben als die nächste Parlamentswahl. Also lag auch im neuen demokratischen Russland die ganze Macht beim Präsidenten, und er setzte sich durch, zur Not mit Gewalt. So wie im Herbst 1993, als er nach einem langen Streit über die Verfassungs- und Wirtschaftsreformen das Parlament einfach auflöste. Das Verfassungsgericht stellte sich dagegen, aber welchen Einfluss hat schon ein Verfassungsgericht in einer nur zwei Jahre alten Präsidentenrepublik? Die Abgeordneten verschanzten sich im Parlamentsgebäude, ihre aufgebrachten und bewaffneten Anhänger des Parlaments haben sogar versucht, das TV-Zentrum in Moskau zu stürmen. Dabei starben Dutzende Menschen.

Zwei Jahre nach dem gescheiterten Putsch gegen Gorbatschow vom August 1991 war Russland plötzlich wieder mit einem Versuch konfrontiert, die Machtfrage mit Waffengewalt zu klären. Nur dieses Mal waren »die Guten« (also westlich orientierten, die Demokraten) bereits an der Macht und »die Bösen« (rückwärtsgewandten Konservativen und Kommunisten) auf der Straße. Für eine »demokratische« Lösung durch Verhandlungen, runde Tische und Kompromisse hatten die beiden Seiten weder Zeit noch Lust: Die Wirtschaft war ruiniert, die Regierung musste schnell handeln, um die Verfassungskrise zu lösen. Das Volk durfte dann zuschauen, vor Ort im Zentrum von Moskau und live auf CNN, wie am 4. Oktober 1993 die Verfassungskrise mit Methoden beendet wurde, die in der Verfassung keineswegs vorgesehen waren. Ein Panzer schoss so lange auf das Parlamentsgebäude, bis die Aufständischen sich ergaben. Ironie der Geschichte: Im exakt selben Haus befand sich nur zwei Jahre vorher das Herz des demokratischen Widerstandes gegen den reaktionären Putsch gegen Gorbatschow. Das »weiße Haus« war 1991 ein Symbol des demokratischen Aufbruches, angeführt von Boris Jelzin. Zwei Jahre später wurde dieses »weiße Haus«, auf Befehl von Boris Jelzin, erst aus Panzern beschossen, danach in Brand gesetzt und brannte zum Teil aus. Der Präsident gewann den Machtkampf mit brutaler Entschlossenheit, der Glaube an demokratische Prozesse, Kompromisse oder irgendeine Art von Rücksichtnahme auf politische Gegenspieler ist aber dadurch nicht stärker geworden. Im Gegenteil: Das Volk flüchtete sich in Zynismus und Gleichgültigkeit. »Demokratie« schien eine Attrappe für westliche Kreditoren zu sein, hinter der die Kämpfe um Macht und Besitz mit unverminderter Brutalität tobten. Und entscheidend war, wie immer, die Stärke.

Die Freiheit, die in Russland Einzug hielt, war nicht die Freiheit eines Silicon Valley, wo es klare Gesetze und Regeln gibt, deren Einhaltung die Polizei und Justiz überwachen und wo sich jeder kreativ entfalten kann, weil jeder eine Vision der besseren Zukunft hat.

Die russische Freiheit war die Freiheit einer Savanne, in der jeder völlig frei war, das zu jagen, was ihm gefiel. Es war eine Freiheit ohne jegliche Verantwortung, ein Lebenskonzept von »alles können und nichts müssen«. Es war nicht die Freiheit eines Rechtsstaates, in dem die individuelle Freiheit des Einzelnen durch Gesetze und gesellschaftliche Normen reguliert wird. Es war eine rücksichtslose, anarchistische Freiheit in einem Staat, der sich gerade neu erfinden musste. Und das mitten in einer Wirtschaftskrise. Und ohne jegliche moralische Orientierung.

Jeder Vergleich hinkt, aber wir können es zumindest versuchen. Schließen Sie die Augen und versuchen Sie sich Folgendes vorzustellen. Eines Tages wachen Sie auf, schalten den Fernseher ein und erfahren, dass Ihr Land in 15 einzelne Staaten zerfallen ist. Niemand hätte das für möglich gehalten, aber es ist passiert. Die einen wollten schon immer Unabhängigkeit, die anderen haben bis zu den letzten Minuten gezögert, bevor sie sich ebenfalls zu unabhängigen Staaten erklärten. Innerhalb der nächsten zwölf Monate steigen die Preise um das 26-Fache, ein Liter Milch kostet dreißig Euro. Die Kirche schließt ihre Pforten, Weihnachten ist abgeschafft. Reicht das, um sich das Ausmaß der gesellschaftlichen Verwirrung vorzustellen? Es war nicht die Armut, die so erdrückend war; ein Bürger der Sowjetunion kannte sich mit Überleben ohne Geld bestens aus. Es war das Gefühl der moralischen Desorientierung, das Verschwinden der Begriffe »Gut« und »Schlecht«. Zwei kultige Spielfilme aus der Zeit (»Brat«, 1997 und »Brat-2«) des Regisseurs Alexej Balabanov prägen unsere Wahrnehmung dieser Zeit. Im Mittelpunkt steht ein Veteran des Ersten Tschetschenienkrieges, der in Selbstjustiz um Gerechtigkeit in Kreisen der organisierten Kriminalität kämpft. Auf den Staat war ja kein Verlass. Die marktwirtschaftliche Realität entwickelte sich schneller als ein Strafgesetzbuch, es galt der Grundsatz »alles ist erlaubt, was nicht verboten ist«. Deswegen war auch mein Job eines Kriminal- und Polizeireporters in St. Petersburg in den 1990er-Jahren so spannend: Es gab immer etwas zu berichten – über Auftragsmorde, Entführungen, Erpressungen. Es gab immer genug davon. Zynismus machte sich breit. Im Dezember 1993, bei der Wahl des neuen Parlaments, waren die Ergebnisse ein tiefer Schock für alle, die sich eingebildet hatten, die Russen hätten nur darauf gewartet, von ihrer kommunistischen Diktatur befreit zu werden, um sich dann mit voller Kraft auf den Aufbau eines demokratischen Staates zu stürzen.

Tatsächlich war alles viel komplizierter. Auf Platz eins landete mit großem Abstand die sogenannte »liberal-demokratische« Partei Russlands, angeführt von der schrillen TV-Persönlichkeit Wladimir Schirinowski. Der mittlerweile verstorbene Politiker wurde in ausländischen Medien meistens als »Ultranationalist« bezeichnet, was nur zum Teil stimmt. Seine merkwürdige Partei entstand bereits 1989, noch zwei Jahre vor dem Kollaps der Sowjetunion, noch in einem Einparteienstaat. Das sowjetische Justizministerium registrierte sie offiziell im April 1991, sie positionierte sich als »oppositionelle« Partei in einem Land, wo der Staat alles kontrollierte. Dass eine neue Partei mit einem extrem auffälligen Vorsitzenden keine echte Opposition ist, sondern eine Attrappe unter staatlicher Kontrolle, klang zumindest plausibel.13 Der Verdacht, dass die liberal-demokratische Partei ein Projekt der Geheimdienste war, steht nach wie vor im Raum.14 Die Partei hieß nur »liberal-demokratische«. Tatsächlich war sie weder liberal noch demokratisch. Aber das vulgäre Auftreten ihres Vorsitzenden war eine perfekte Methode, den Begriff »liberale Demokratie« zu kompromittieren. Er war, was sein Charisma anging, der russische Vorgänger von Donald Trump – telegen, auffällig und extrem rechts. Sehr einfach in der Sprache, sehr primitiv in der Botschaft. Und sehr erfolgreich. Viele »klassische« Politiker nahmen ihn anfangs nicht ernst, viele enttäuschte Wähler stimmten für ihn als Gag – und plötzlich hatte ausgerechnet er die größte Fraktion in der Duma.

Zwei Jahre später, bei der Parlamentswahl 1995, waren ganze 43 Parteien und Wählervereinigungen zugelassen. Nur vier davon haben den Sprung ins Parlament über die Fünf-Prozent-Hürde geschafft. Ganze 49 Prozent der Zweitstimmen fielen auf die Parteien und Blocks, die nicht im Parlament vertreten waren. Man könnte sagen: Jeder zweite Wähler und jede zweite Wählerin waren im Parlament nicht vertreten. Auch bei dieser Wahl gewannen nicht die Demokraten westlicher Prägung die Mehrheit der Sitze, sondern die Kommunisten auf Platz eins und auf Platz zwei die reaktionär-populistischen »liberalen Demokraten« von der Schirinowski-Partei, sie bekamen zusammen rund ein Drittel der Stimmen. Die zwei liberalen, marktwirtschaftlich orientierten Parteien kamen zusammen auf lediglich neun Prozent, ins Parlament schaffte es nur eine von diesen zwei Parteien. Russische Wähler hatten zwar ein demokratisches Mittel einer Wahl in der Hand, dennoch brachte die Wahl paradoxe Ergebnisse: Ein Großteil der russischen Bürger wählte konservativ bis reaktionär. Man kann lange über historische, wirtschaftliche, soziale, demografische und sonstige Ursachen dieses Abstimmungsverhaltes reflektieren, Fakt war: Das russische Volk schien von liberalen Ideen westlicher Prägung nicht vollends begeistert zu sein. Nun wurde es ernst.

Im Sommer 1996 stand die dritte große Wahl in der Geschichte des neuen Russlands an – die Präsidentschaftswahl. Sie war viel wichtiger als beide Duma-Wahlen zusammengenommen, da im russischen Machtsystem ein Präsident über mehr Entscheidungsbefugnis verfügt als ein ganzes Parlament. Es war die erste Präsidentschaftswahl seit dem Kollaps der Sowjetunion und dem Beginn der Wirtschaftsreformen, und der damalige Amtsinhaber Boris Jelzin war unglaublich unpopulär. Als Favorit galt der Kommunisten-Chef Gennadi Zjuganow, dessen Partei ein halbes Jahr zuvor mit großer Mehrheit die Parlamentswahl gewann. Boris Jelzin dagegen lag in Umfragen weit abgeschlagen, mit Werten im mittleren einstelligen Bereich. Es war nicht ohne Komik: Ausgerechnet die Kommunisten standen vor einem Comeback, und das in einem Land, das sich als erstes in Europa mit Begeisterung auf das kommunistische Experiment stürzte und 1991 frustriert und enttäuscht den Gedanken der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit aufgab. Ein Sieg des Kommunisten bei der Präsidentschaftswahl 1996 würde nicht einfach ein neues Gesicht an der Staatsspitze bedeuten, sondern höchstwahrscheinlich (tatsächlich erfahren werden wir das sicher niemals) einen Rückbau der marktwirtschaftlichen Reformen. Schließlich jedoch gelang der damaligen Elite ein Wunder der politischen Kommunikation (man könnte es auch »Manipulierung der öffentlichen Meinung« nennen). Mit finanzieller Unterstützung von sieben Wirtschaftsmagnaten, der sogenannten »Oligarchen«, und der geballten Macht des Staatsfernsehens, gelang es dem Kreml, die Stimmung im Land komplett zu drehen. Das Hauptmotiv in Jelzins Wahlkampf war … Angst. Angst vor der Rückkehr der Kommunisten, vor dem erneuten Lebensmitteldefizit und gar vor einem Bürgerkrieg, der ausbrechen könnte (so wurde es jedenfalls suggeriert), falls die Kommunisten ihr Versprechen einlösen und eine Revision der Privatisierung anfangen würden – in den Jahren zuvor wechselten viele Filetstücke der sowjetischen Industrie in Privatbesitz.

Im ersten Wahlgang bekam Boris Jelzin 35 Prozent der Stimmen und der Kommunist Gennadi Zjuganow 32. Nur drei Prozent Differenz zwischen dem Amtsinhaber und seinem Herausforderer sind ein Zeichen des echten Wettbewerbs, würde man in einer Demokratie interpretieren. Unmittelbar nach dem ersten Wahlgang ernannte Jelzin den drittplatzierten General Alexander Lebed zum Chef des nationalen Sicherheitsrates, sicherte sich dadurch seine Unterstützung und gewann deutlich in der Stichwahl, der ersten und der letzten in der neuesten russischen Geschichte. Auch diese Wahl stärkte die demokratische Begeisterung nur bedingt; sie war ein Paradebeispiel der staatlichen Allmacht, auch über die öffentliche Meinung. Im Jahr danach brach in Asien eine Finanzkrise aus, und die kriselnde russische Wirtschaft geriet ins Schleudern. Die Regierung hatte zunehmend Probleme, das Haushaltsdefizit durch kurzfristige Kredite zu finanzieren.

Spätestens 1998 begann Russlands Abschied von jeglicher Berechenbarkeit. Im März feuerte Präsident Jelzin den damaligen Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin und schockte das Land mit der Kandidatur seines Nachfolgers, des 35-jährigen Energieministers namens Sergej Kirienko. Weder das Parlament noch das Volk konnten den viel zu jungen Mann ernst nehmen. Die Duma lehnte ihn zweimal als Ministerpräsidenten ab, die Bevölkerung spottete über eine »Kinderüberraschung«. Dann reichte der Kreml seine Kandidatur zum dritten Mal ein und drohte im Falle der erneuten Ablehnung mit der Auflösung des Parlaments – die Abgeordneten gaben nach, der junge und scheinbar unerfahrene Regierungschef schien statt einer spontanen Neuwahl doch das kleinere Übel zu sein. Doch auch der als »das Wunderkind« verspottete Ministerpräsident konnte die sich anbahnende Katastrophe nicht abwenden. Dem Land ging das Geld aus.

Am 17. August 1998 erklärte die russische Regierung ihre Zahlungsunfähigkeit und gab den Rubelkurs frei. Das Finanzsystem kollabierte. Banken implodierten. Der Rubel verlor am Wert. In wenigen Tagen stieg der Dollarkurs um das Dreifache. Geschäfte mussten schließen. Dann brach die Panik aus. Die Menschen hamsterten Lebensmittel. Vor den geschlossenen Wechselstuben bildete sich der überholt geglaubte Schwarzmarkt: Dubiose Gestalten verkauften US-Dollar und D-Mark, und das zu horrenden Preisen. Wer zu lange gezögert hatte und nicht zu seiner Bank gerannt war, um sämtliche Ersparnisse in bar abzuheben, verlor unter Umständen alles. Die Inflation war zurück, die Preise explodierten, die Regale in Lebensmittelgeschäften waren leergefegt. Es war der zweite Wirtschaftskollaps in weniger als zehn Jahren: Der erste markierte das Ende des Kommunismus und der Sowjetunion, als nach der Aufhebung der staatlichen Preisregulierung im Januar 1992 die Inflation innerhalb eines Jahres auf 2600 (zweitausendsechshundert) Prozent stieg.15

Nur sechs Tage nach dem Staatsbankrott, am 23. August 1998, feuerte Jelzin die Regierung des 35-jährigen Kirienko. Und stürzte mit seinem nächsten Vorschlag das Land in eine noch tiefere Krise. Als neuen Ministerpräsidenten wollte er den alten Viktor Tschernomyrdin, den er erst fünf Monate zuvor selbst entlassen hatte. Spätestens jetzt wurde es endgültig absurd. Im Land machten sich Gerüchte über seine Zurechnungsfähigkeit breit, die Duma schäumte vor Wut und ließ Tschernomyrdin bei der Abstimmung zweimal nacheinander durchfallen. Der Präsident und das Parlament steuerten erneut auf einen Clash zu: Es galt als sicher, dass der Kandidat des Kremls auch im dritten Anlauf keine Mehrheit bekommen würde. Damit wäre der Weg frei für die Auflösung des Parlaments, zum zweiten Mal in weniger als einem Jahrzehnt. Dann fand sich in der letzten Minute eine Kompromissfigur – der 69-jährige damalige Außenminister Jewgenij Primakow, der als pragmatisch, wenig radikal und mäßig konservativ galt. Kurz nach seiner Ernennung mehrten sich die Berichte vom Chaos im Kreml, Jelzins schwerer Krankheit und Intrigen in seiner Umgebung.16Die Rufe nach dem vorzeitigen Rücktritt des Präsidenten wurden immer lauter, die Sehnsucht nach irgendeiner Art Ordnung (und auch stabilen Lebensmittelpreisen) wurde immer stärker. Freie Wahlen und freie Medien waren wunderbar, gar keine Frage. Wenn aber in der ganzen Stadt das Sonnenblumenöl erst aus dem Handel komplett verschwindet und wenige Tage später plötzlich dreimal so viel wie vorher kostet, wenn die Menschen ihre eigene Regierung nicht mehr ernst nehmen, sondern sie nur noch verspotten und den Begriff »Demokratie« nicht mit Wohlstand, sondern mit Existenzsorgen verbinden, dann dauert es nicht lange, bis die Rufe nach irgendeiner Stabilität laut werden. Und nach jemandem, der für diese Stabilität sorgt. Denn es fühlt sich nicht gut an, wenn man alles verliert. Also sagte ich an dem denkwürdigen Abend im Büro der Bundestagsabgeordneten, es würde mich nicht wundern, wenn statt Jelzin jemand an die Macht käme, der für irgendeine Art von Stabilität sorgen würde.

Meine Nudeln waren inzwischen kalt, die ehemalige Ministerin war komplett irritiert. »Sie schockieren uns«, sagte sie. Mir war es unangenehm: Meine bescheidene politische Analyse passte nicht zu dem, was in der damaligen deutschen Noch-Hauptstadt erhofft und erwartet wurde. Die Sehnsucht nach einer »starken Hand« sei sehr groß, sagte ich. Es war keinesfalls meine Sehnsucht. Aber ich würde erwarten, sagte ich, dass ein jüngerer und sportlicher Nachfolger, ein Nichtraucher und Nichttrinker den Präsidenten Jelzin ersetzen werde. Ob er ein Demokrat, ein Diktator oder irgendwas dazwischen sein würde, war unter diesen Umständen zweitrangig. Niemals zuvor hatte ich mit einem Monolog über mein Land so die Stimmung am Tisch verdorben wie an diesem Abend im April 1999.

Der Nachfolger

Wenige Wochen nach diesem Abendessen, am 12. Mai 1999, entließ Boris Jelzin den 69-jährigen populären Ministerpräsidenten Jewgenij Primakow tatsächlich. Der neue Kabinettschef wurde der damalige Innenminister, der 47-jährige General Sergej Stepaschin, Nichttrinker. Das Rätsel um die Kandidatur des Nachfolgers im Kreml schien gelöst zu sein.

In seiner Antrittsrede vor dem Parlament sprach der frisch ernannte Ministerpräsident diese Erwartungen direkt an. »Manche sagen, ein General kommt an die Macht, eine starke Hand, Russland steht an der Schwelle zur Diktatur. Manche vergleichen mich mit Pinochet. Ich bin aber kein Pinochet, mein Name ist Stepaschin.«17 Er signalisierte Entschlossenheit, strahlte Selbstbewusstsein aus. In seiner Rede sprach er den Krieg in Jugoslawien an. Er sagte, die NATO-Angriffe auf Jugoslawien zielten auch gegen Russland. Er sagte der organisierten Kriminalität den Kampf an und versprach Investitionen in die Rüstungsindustrie – all das, was konservative Hardliner hören wollten. Sergej Stepaschin musste nur noch die Präsidentschaftswahl gewinnen, die für den Sommer 2000 geplant war. Er hatte aber ein ganzes Jahr Zeit und die geballte Macht des Staatsapparats hinter sich.

Und davor, im Herbst 1999, stand eine Parlamentswahl an, und es hat – wie auch 1996 – schon wieder denkbar schlecht für den Kreml ausgesehen. Wie damals führten in Umfragen wieder die Kommunisten. Doch noch gefährlicher für den Kreml war der neue Block des frisch entlassenen und sehr populären Ministerpräsidenten Jewgeni Primakow und des Oberbürgermeisters von Moskau Juri Luschkow. Sie positionierten sich mit ihrer mäßig konservativen Agenda zwischen den reaktionären Kommunisten auf der einen Seite und dem Kreml auf der anderen. Jewgenij Primakow war im Frühjahr 1999 der populärste Politiker Russlands. In einer Umfrage sagten 81 Prozent der Befragten, sie seien mit seiner Entlassung nicht einverstanden.18 Primakow schloss sich dem Wahlblock »Vaterland« an, unter der Führung des Moskauer Oberbürgermeisters Luschkow, und nahm Kurs auf die Parlamentswahl im Dezember. Der neue Regierungschef Sergej Stepaschin positionierte sich inzwischen als zukünftiger Präsident. Bei dem G7-Summit in Köln im Juni 1999 wurde er tatsächlich wie ein Präsident empfangen, was niemanden wundern sollte, weil er als Ministerpräsident statt Präsident Jelzin Russland vertrat. Es fehlte nur eine Kleinigkeit: Er musste noch die Wahl gewinnen. Doch irgendwie schien der General doch nicht der ideale Kandidat zu sein. Anscheinend war er zu soft, sondern auch zu unentschlossen in Sachen Tschetschenien.19 Der Monat August gilt in der neuesten russischen Geschichte als Katastrophenmonat schlechthin. Im August 1991 putschte die Spitze der KPdSU und des KGB gegen Gorbatschow. Im August 1994 brach die gigantische Finanzpyramide MMM zusammen. Im August 1996 stürzte ein russisches Passagierflugzeug auf dem norwegischen Archipel Spitzbergen ab, 141 Menschen starben. Im August 1998 brach das russische Finanzsystem zusammen.

Am 9. August 1999 sprach Präsident Jelzin zu seinem Volk im Fernsehen. Er feuerte Ministerpräsident Stepaschin.20

Der unerwartete Krieg

In einer kurzen TV-Ansprache sagte Jelzin: »Ich habe beschlossen, heute den Menschen zu benennen, der fähig ist, die Gesellschaft zu konsolidieren. […] Er wird diejenigen vereinen können, die im 21. Jahrhundert das große Russland erneuern werden.«21 Dieser Mensch hieß Wladimir Putin, der damalige Sekretär des Sicherheitsrates Russlands und Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB. Das Ausmaß der gesellschaftlichen Konsolidierung, die auf Russland zukommen würde, konnte sich an diesem Tag im August 1999 kaum jemand vorstellen. Kommunistenchef Zjuganow sprach von „Agonie“ des Jelzin-Regimes, der liberale Ex-Vize-Regierungschef Nemzow gebrauchte das Wort „verrückt“, und ein Oberst der russischen Armee a.D. sagte zu „Moscow Times“, wir wollten schon immer einen Pinochet, aber das ist keiner.22  Niemand ahnte, wie sehr sich das Land unter dem neuen Regierungschef ändern würde. Der damals 47-jährige Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB (früher: KGB) Wladimir Putin studierte Jura in seiner Heimatstadt St. Petersburg, war für den KGB unter anderem in der damaligen DDR im Einsatz und leitete seit 1991 die Abteilung für außenwirtschaftliche Beziehungen der Stadtverwaltung St. Petersburg. Er galt als rechte Hand des sehr beliebten Bürgermeisters Anatolij Sobtschak, eines eloquenten Jura-Professors, der den demokratischen Aufbruch verkörperte und der Arbeitsgruppe angehörte, die die neue russische Verfassung schrieb. Nachdem Sobtschak 1996 überraschend die Wiederwahl zum Oberbürgermeister verlor, zog Putin nach Moskau. Im Juli 1998 wurde er zum Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB ernannt. Doch als Jelzin ihn am 9. August 1999 zum neuen Regierungschef machte und zu seinem Nachfolger erklärte, haben die wenigsten daran geglaubt, dass Wladimir Putin eine Wahl gewinnen kann. Im Gegenteil: Der neue russische Regierungschef war so unbekannt, dass er als unwählbar galt. »Public Sees Madness in the Kremlin« (zu Deutsch: Öffentlichkeit sieht Zeichen des Irrsinns im Kreml), titelte die englischsprachige Zeitung »The Moscow Times« und zitierte mehrere Moskauer Politiker, die Jelzins Entscheidung schlicht als »verrückt« bezeichneten.23 Der Name Pinochet ließ auch im Zusammenhang mit Wladimir Putin nicht lange auf sich warten. Nur zwei Tage nach seiner Ernennung schrieb die Zeitung »Kommersant« über den neuen Ministerpräsidenten: »Zwischen Andropow und Pinochet«24, in Anspielung auf den chilenischen Diktator und den langjährigen KGB-Chef, der 1982 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei und damit zum Staatschef der Sowjetunion wurde. »Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Stepaschin würde Putin ein Vergleich mit Pinochet gefallen«, hieß es in dem Bericht über den ersten Arbeitstag des neuen Ministerpräsidenten. Der Autor schrieb über den Hang des Regierungschefs zu »Disziplin und Ordnung«. Weder die Massenmedien noch die Mehrzahl der Abgeordneten nahmen den neuen Regierungschef ernst. Sie, naive Skeptiker, glaubten, das politische Leben in Russland folge irgendwelchen Regeln, Gesetzen, Logik, reiner Vernunft oder dem gesunden Menschenverstand. Was aber folgte, war eine Turbokampagne, an deren Ende ein anfangs weitgehend unbekannter Mann doch noch alle seine Ziele beziehungsweise Ämter erreichen konnte.

Es half, wie bereits im Sommer 1996, die Angst. Aber auch die gesellschaftliche Konsolidierung. Im Sommer 1996 war es die Angst vor der Rückkehr der Kommunisten, die den Wahlkampf von Jelzin dominierte. Eine reale oder eingebildete Angst vor Umverteilung des Eigentums, Angst vor Lebensmittelmangel, Defizit, Hunger. Angst vor dem Rückfall in die alten Zeiten.

Drei Jahre später war da wieder die Angst. Diesmal eine andere. Todesangst. Eine beispiellose Serie von Anschlägen erschütterte ab August 1999 Russland. Allein in Moskau starben Anfang September bei zwei aufeinanderfolgenden Explosionen über zweihundert Menschen (die Sprengsätze detonierten am frühen Morgen in mehrstöckigen Apartmentblocks und brachten sie zum Einsturz). Plötzlich war der Terror in der Hauptstadt angekommen, in der Mitte der Gesellschaft, im Herzen eines Landes, das bis dahin in der Überzeugung lebte, Terror sei ein regionales Problem, das sich auf den Kaukasus beschränken würde. Plötzlich war das Gefühl der Sicherheit weg. Die Angst, die in Moskau nach der zweiten Explosion um sich griff, grenzte an Panik. Vergeltung wurde zu dem beherrschenden Thema in der Öffentlichkeit, alles andere, seien es Wirtschaftsprobleme oder anstehende Wahlen, rückte in den Hintergrund. Der im Vergleich zu Jelzin junge und sehr aufgeschlossene Ministerpräsident Putin sparte nicht an medienwirksamen Auftritten und markigen Sprüchen. Die Regierung machte Rebellen im Nordkaukasus für die Anschläge verantwortlich. Die Zustimmungsraten von Wladimir Putin explodierten.

Der neue Krieg im Nordkaukasus wurde von einer spekulativen Theorie der Zeitungskommentatoren zu einem einzig möglichen Szenario – Russland wollte die abtrünnige Republik Tschetschenien wieder unter seine Kontrolle bringen. Seit dem ersten Krieg in Tschetschenien (1994–1996) war die Republik de facto unabhängig und verwandelte sich in einen rechtsfreien Raum, von wo aus die Rebellen im Nordkaukasus agierten. Tschetschenien war ein großes russisches Trauma: Die moslemische Republik hatte sich nach dem Zerfall der Sowjetunion von Russland im November 1991 losgesagt, hatte aber als »Startkapital« lediglich Waffen aus den Beständen der sowjetischen Armee, davon aber eine Menge. Die russische Armee marschierte Ende 1994 in Tschetschenien ein und konnte im Frühjahr 1995 die inzwischen weitgehend zerstörte tschetschenische Hauptstadt Grosny einnehmen. Doch die separatistischen Rebellen leisteten einen erbitterten Widerstand. Eine besonders traumatische Episode und ein Wendepunkt im Krieg war die Geiselnahme in der südrussischen Stadt Budjonnowsk. Im Sommer 1995 nahmen tschetschenische Rebellen in dem lokalen Krankenhaus über eintausend Geiseln. Bei der gewaltsamen Befreiung starben 120 Menschen und rund vierhundert wurden verletzt. Russland ging auf die Forderungen der Geiselnehmer ein und versprach das Ende der Kampfhandlungen und den Beginn der Friedensverhandlungen. Die vereinbarte Waffenruhe hielt jedoch nicht lange. Erst im August 1996 konnte sich Russland mit Separatisten auf einen Waffenstillstand einigen; kurz danach eroberten die Rebellen die Hauptstadt Grosny zurück.

Die russische Armee zog sich 1997 aus der Republik zurück, der damalige Rebellenführer ließ sich zum Präsidenten von Tschetschenien wählen. Für die russische Armee und für das Land bedeutete das eine Niederlage, die nach einer Revanche rief.

Im Sommer 1999 spitzte sich die Lage im Kaukasus wieder zu, tschetschenische Rebellen fielen in die Nachbarrepublik Dagestan ein. Die Anschläge in Moskau mit über zweihundert Toten räumten die letzten Zweifel über die Notwendigkeit einer militärischen Operation aus. Am 1. Oktober 1999 überquerten die russischen Truppen die administrative Grenze zu Tschetschenien, der zweite Krieg in der abtrünnigen Republik begann. Wenige Tage später wurde in Moskau ein neuer Wahlblock gegründet, unter dem Namen »Einheit« und unter dem Vorsitz des 44-jährigen Ministers für Katastrophenschutz (und des zukünftigen Verteidigungsministers) Sergej Schoigu. Es war die neue russische Regierungspartei, mit einem kleinen Unterschied: In einer parlamentarischen Demokratie muss eine Partei erst die Wahl gewinnen, um dann ihre Minister in die Regierung entsenden zu können. Anders in Russland: Der Ministerpräsident Putin war schon im Amt, hatte aber keine Partei, und brauchte eine möglichst große Fraktion im Parlament. Also wurde eine Partei gegründet, die dank der Popularität des neuen Regierungschefs die Wahl gewinnen sollte. Kurzum: Nicht das Parlament ernennt und kontrolliert die Regierung, sondern umgekehrt. Die Bombenanschläge und die militärische Vergeltung dominierten inzwischen die Nachrichten. Der neue Regierungschef wirkte aufgeschlossen, konzentriert und erfrischend jung im Vergleich zu dem populären, aber deutlich älteren 70-jährigen Primakow und dem 63-jährigen Luschkow. Mit ihrer sozialen und regierungskritischen Agenda hatten sie kaum Chancen gegen den sportlichen Juristen aus St. Petersburg, der die Sicherheit der Bürger zu seiner obersten Priorität machte. Das nüchterne, aufgeschlossene und zum Teil brutale Handeln des neuen Ministerpräsidenten katapultierte die neu geschaffene Regierungspartei schnell an die Spitze in Umfragen. Mit sagenhaften 23 Prozent der Stimmen landete die »Einheit« aus dem Stand überraschend auf Platz zwei bei der Parlamentswahl am 19. Dezember 1999, nur knapp hinter den damals noch sehr populären Kommunisten. Eine nicht unwesentliche Rolle dabei spielte Boris Berezovsky, ein Geschäftsmann mit den besten Verbindungen in den Kreml. Ihm gehörten, unter anderem, 49 Prozent der Aktien des Ersten Russischen Fernsehens sowie die Tageszeitung »Kommersant«, eines der wichtigsten Printmedien des Landes.25 Doch der ultimative Coup kam zwölf Tage später.