Die Sache mit Israel - Richard C. Schneider - E-Book
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Die Sache mit Israel E-Book

Richard C. Schneider

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Beschreibung

Reden wir über Israel: Der langjährige Israel-Korrespondent der ARD klärt auf über die meistgeäußerten Ressentiments

Ist Israel eine Demokratie? Ist Israel ein Apartheidstaat? Ist Kritik an Israel antisemitisch? Ist Israel ein fundamentalistischer Staat? Gehört Palästina den Palästinensern?

Richard C. Schneider, SPIEGEL-Autor und langjähriger Israel-Korrespondent der ARD, lebt seit fast 20 Jahren in Tel Aviv, kennt Alltag und Geschichte des Landes und weiß um die gängigen Vorbehalte und Vorurteile in Deutschland. Bei den Antworten auf diese fünf Fragen setzt er an, um einige grundlegende Dinge über Israel zu erklären – 75 Jahre nach der Staatsgründung Israels und in einem entscheidenden Moment für die Demokratie des Landes.

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Seitenzahl: 226

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Reden wir über Israel: Der langjährige Israel-Korrespondent der ARD klärt auf über die meistgeäußerten Ressentiments

Der ehemalige Israel-Korrespondent der ARD und heutige SPIEGEL-Autor lebt seit fast 20 Jahren in Tel Aviv und weiß als aktiver Teilnehmer an der öffentlichen Debatte um den Nahen Osten um die gängigen Vorbehalte und Vorurteile in Deutschland.

In diesem Buch werden fünf unbequeme Fragen gestellt: 1. Ist Israel eine Demokratie? 2. Ist Israel ein Apartheidstaat? 3. Ist Kritik an Israel antisemitisch? 4. Ist Israel ein fundamentalistischer Staat? 5. Gehört Palästina den Palästinensern?

Bei den Antworten auf diese fünf Fragen setzen Schneiders Erklärung und Aufklärung an.

Richard C. Schneider, geboren 1957, ist Journalist, Buch- und Fernsehautor. Er war von 2006 bis 2015 ARD-Studioleiter und Chefkorrespondent in Tel Aviv, 2016 Leiter TV und Chefkorrespondent im ARD Studio Rom, und arbeitete bis Ende 2022 als Editor-at-large und Filmemacher für die ARD. Zudem schreibt er als SPIEGEL-Autor regelmäßig über Israel und den Nahen Osten. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit dem Nahostkonflikt, der israelischen Gesellschaft und der jüdischen Geschichte. Zuletzt sind von ihm erschienen »Alltag im Ausnahmezustand. Mein Blick auf Israel« (DVA 2018), »Wie hättet ihr uns denn gerne?« (2022, zusammen mit Özlem Topçu) und die vierteilige Dokumentarserie »Die Sache mit den Juden« (2021) über unterschiedliche Formen des Antisemitismus in Deutschland. Richard C. Schneider lebt in Tel Aviv.

Besuchen Sie uns auf www.dva.de

Richard C. Schneider

Die Sache mit Israel

Fünf Fragen zu einem komplizierten Land

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Einige wenige Textpassagen dieses Buchs finden sich auch in Richard C. Schneider, Alltag im Ausnahmezustand (DVA, München 2018).

Copyright © 2023 by Deutsche Verlags-Anstalt, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München,

und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG,

Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt

unter Verwendung eines Fotos von Jonas Opperskalski

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30368-6V002

www.dva.de

Inhalt

Prolog

1 – Ist Israel eine Demokratie?

2 – Ist Israel ein Apartheidstaat?

3 – Ist Kritik an Israel antisemitisch?

4 – Ist Israel ein fundamentalistischer Staat?

5 – Gehört Palästina den Palästinensern?

Dank

Ich widme dieses Buch der Stadt und Metapher »Tel Aviv«.

Und allen meinen israelischen Freunden.

Prolog

Während ich diese Zeilen schreibe, ist noch völlig unklar, was geschehen wird, welche Folgen die aktuelle Krise in Israel haben wird. Es ist Anfang März 2023, im Mai feiert Israel seinen 75. Gründungstag. In vier Wochen soll die sogenannte Justizreform der Regierung Netanyahu in drei Lesungen verabschiedet werden und in Kraft treten. Die Eckpfeiler dieser tiefgreifenden Veränderungen des gesamten politischen Systems sind schnell erklärt:

Zukünftig soll das Oberste Gericht nur noch die Möglichkeit haben, von der Regierung verabschiedete Gesetze, die in der Beurteilung der Richter den sogenannten Basic Laws, den Grundgesetzen des Staates, widersprechen, abzuweisen, wenn dem mindestens 12 von 15 Richtern zustimmen. Allerdings: Im Falle einer Ablehnung könnte mit einer einfachen Mehrheit von 61 Stimmen in der Knesset die Entscheidung des Obersten Gerichts überstimmt werden. Die Knesset, das israelische Parlament, hat 120 Mandate, 61 Mandate sind also die knappste Mehrheit.Die Reform sieht auch vor, dass in Zukunft die Regierung neue Richter berufen kann. Das Gremium, das diese Aufgabe hat, soll so umstrukturiert werden, dass die Regierungskoalition stets die Mehrheit der Sitze hat.Ebenso sollen die Rechtsberater der Ministerien künftig nicht mehr der Generalstaatsanwaltschaft unterstehen. Auf ihre Meinung kann, muss aber nicht mehr gehört werden. Die Minister sollen die Rechtsberater zukünftig auch einfach feuern können.

So weit ein paar der entscheidenden Punkte der von der Regierung als Justizreform deklarierten Veränderungen des politischen Systems. Die Gegner der Regierung sehen darin jedoch keine Reform, sondern einen Coup, einen Umsturz. Gewiss ist, dass mit diesen Plänen die Gewaltenteilung in Israel aufgehoben wäre, dass es keine Kontrolle der Politik mehr gäbe, dass die Zivilrechte des Individuums gefährdet wären. Wenn die Reform so umgesetzt wird, wie sie im Augenblick geplant ist, dann wäre nicht einmal das Recht zur Wahl garantiert, was Simcha Rothman, der Vorsitzende des Komitees für Verfassung, Gesetz und Justiz, Ende Februar sogar zugab. Man wolle das noch korrigieren, später, hieß es.

Inzwischen wird im In- und Ausland nur noch vom Ende der Demokratie in Israel gesprochen. Und alle, alle warnen vor den Folgen: Wirtschaftswissenschaftler, Banker, Hightech-Unternehmer, Politiker, Ex-Militärs, Ex-Geheimdienstler, Ex-Richter, Rechtsanwälte, Künstler. Doch das interessiert bislang weder Rothman noch Justizminister Yariv Levin. Die beiden sind die Treiber in dem Bemühen, die Reform bis zum Ende der Wintersaison der Knesset, also bis Ende März, durchzubringen.

Die Liste derjenigen, die vor den Folgen dieser Reform warnen, die fürchten, dass Israel bald ein Staat werden könnte wie Ungarn, Polen oder die Türkei, diese Liste wird lang und länger. Hunderttausende Israelis demonstrieren seit Bekanntwerden der Pläne gegen die Regierung, und es werden immer mehr. Am 1. März kam es zu Demonstrationen im ganzen Land, Straßen, Autobahnen und Verkehrsknoten wurden blockiert. In Tel Aviv ging die Polizei massiv gegen die Protestierenden vor. Kommt es zum Bürgerkrieg, wie viele befürchten?

Seit Wochen wird auch im ganzen Land gestreikt. Der frühere Premier Ehud Barak, einer der wohl höchstdekorierten Militärs des jüdischen Staates, forderte dazu auf, den Ungehorsam à la Gandhi zu üben. Hightech-Unternehmen ziehen bereits Milliarden von israelischen Banken ab, ebenso Venture-Capital-Investoren. Einige Start-ups, darunter ein Unicorn, haben ihren Weggang aus Israel angekündigt. Allein im Januar und Februar 2023 hat der israelische Schekel gegenüber dem US-Dollar um knapp sechs Prozent nachgegeben. Jetzt, Anfang März, ist immer noch völlig unklar, wohin die Reise gehen wird. Kann noch irgendjemand den Zug aufhalten, der immer schneller in Richtung Systemveränderung rast? Können die Demonstrationen etwas bewirken oder die einsetzende Wirtschaftskrise? Braucht es Druck von außen, aus Washington? Kommt da noch mehr als nur ein paar mahnende Worte? Im Moment sieht es nicht danach aus, als könnte irgendjemand, irgendetwas die Regierung Netanyahu von ihrem Vorhaben abbringen. Möglicherweise ist Israel Anfang April ein gänzlich anderes Land als das Israel, das man seit Jahrzehnten kennt.

Hinzu kommt: Seit Wochen werden die Spannungen im Westjordanland immer größer. Die israelische Armee geht so gut wie jeden Tag gegen Terroristen vor, die Aktionen werden immer blutiger, wie kürzlich in Nablus, wo das Militär bei einer Operation elf Palästinenser tötete und über hundert verletzte. Auch von palästinensischer Seite nehmen die Attentate und Angriffe zu, auch sie werden immer brutaler und aggressiver. Bei einem Attentat vor einer Synagoge in Jerusalem wurden sieben Israelis getötet und mehrere verletzt; bei einem anderen Attentat, bei dem ein Palästinenser in Jerusalem mit seinem Auto in eine Menschenmenge raste, starben zwei Israelis. Nachdem vor einigen Tagen bei einem Anschlag im Westjordanland zwei junge Israelis ermordet wurden, drehten radikale jüdische Siedler durch. Hunderte stürmten das palästinensische Städtchen Huwara mit seinen 7000 Einwohnern, zündeten Autos und Häuser an, wüteten dort mehrere Stunden. Dabei starb ein Palästinenser, Dutzende wurden verletzt. Die Armee und die Polizei brauchten endlos viel Zeit, um dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten, sie konnten der Lage kaum Herr werden, was schlimm genug war.

Noch schlimmer aber war so manche Äußerung aus den Reihen der Regierungsparteien, wie etwa die von Zvika Fogel von der rechtsextremen Partei Otzma Yehudit des Nationalen Sicherheitsministers Itamar Ben Gvir. Er freute sich, eine brennende palästinensische Stadt zu sehen, und hoffte auf mehr: »Ich bin sogar sehr zufrieden, weil sie in Huwara verstanden haben, dass es ein Gleichgewicht des Terrors gibt, das die israelischen Streitkräfte im Moment nicht erreichen.« Auch wenn einige Politiker erklärten, dass es nicht angehe, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen, so ließen Tonfall und Wortwahl dennoch keinen Zweifel, dass Teile der neuen Regierung das »Pogrom«, wie die linksliberale Tageszeitung Haaretz und sogar der Kommandeur der israelischen Truppen im Westjordanland das Wüten in Huwara nannten, zumindest »nachvollziehen« konnten.

Die Aufregung in den israelischen Medien und der breiten Öffentlichkeit über die Raserei der Siedler ist ehrenvoll, aber nicht ehrlich. Selbst wenn ein Abgeordneter der oppositionellen Arbeitspartei einen hohen Betrag einsammelte, um den Palästinensern in Huwara, die mit der Ermordung der beiden israelischen Jungs unmittelbar zuvor nichts zu tun hatten, eine Art Kompensation zu übergeben, so hat die israelische Gesellschaft doch über Jahre und Jahrzehnte ausgeblendet, was in den besetzten Gebieten geschieht. Dass radikale Siedler immer wieder das Gesetz selbst in die Hand nehmen, wusste jede Regierung, wusste auch die Armee seit Langem. Abgefackelte Olivenhaine waren dabei noch das geringste Übel. Gewiss, nachdem nun in der aktuellen Regierung mit Otzma Yehudit und Religiöser Zionismus zwei Parteien an der Macht sind, die ideologisch aus der Siedlerbewegung stammen oder ihr sehr nahestehen, fühlten sich die Siedler, die Huwara verwüsteten, von ganz oben sozusagen gedeckt. Und nicht nur das, immer häufiger greifen Siedler auch die eigene Armee an, die ihre Ausschreitungen gegen Palästinenser zu stoppen versucht. So wollte ein Siedler bei den Unruhen in Huwara einen israelischen Offizier mit seinem Auto überfahren, andere bewarfen die eigenen Soldaten mit Steinen. Kein Einzelfall, solche Situationen häufen sich in jüngster Zeit.

Als am 1. November in Israel das fünfte Mal innerhalb von drei Jahren gewählt wurde, ahnte zunächst niemand, was da auf die israelische Gesellschaft zukommen würde. Nachdem Benjamin Netanyahu zwölf Jahre ununterbrochen Regierungschef war, gelang es 2021 acht Parteien, eine Koalition zu schmieden, die es in sich hatte. Sie alle einte der Wunsch, Netanyahu von der Macht fernzuhalten. Viele, die nun »Bibis« Gegner geworden waren, hatten einst eng mit ihm zusammengearbeitet. Sie misstrauten ihm zutiefst, sie hielten ihn für einen Lügner und Opportunisten, für einen Politiker, der vor allem an sich selbst dachte, nachdem er wegen mutmaßlicher Korruption in drei Fällen angeklagt worden war. Alle waren sie überzeugt, dass Netanyahu nur noch eines im Sinne hatte: seinen Prozess auf irgendeine Weise zu beenden und einer drohenden Gefängnisstrafe zu entgehen, koste es, was es wolle. Das Wohl des Staates schien ihm nicht mehr wichtig.

Acht Parteien schlossen also eine Koalition. Es waren linke, zentristische und rechte Parteien, die sich darauf einigten, miteinander eine Alternative zu Netanyahu anzubieten. Dabei entschieden sie, das heikelste Thema nicht anzutasten: die Frage, was mit den Palästinensern und den besetzten Gebieten geschehen soll. Sie wussten, dass die ideologischen Gräben zu tief waren, um dieses heiße Eisen anzufassen. Die eigentliche Sensation aber war, dass die sieben jüdischen Parteien zum ersten Mal in der Geschichte Israels eine arabische Partei aufnahmen. Ja, sie brauchten sie, um eine Mehrheit zu haben, aber es war zugleich – so schien es zumindest – ein Aufbruch zu etwas ganz Neuem.

Rund zwei Millionen Palästinenser sind israelische Staatsbürger, das sind etwa zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung Israels. Und nun saß eine ihrer Parteien in einer zionistischen Regierung. Möglich geworden war das, weil zuvor Netanyahu eben diese Partei, die UAL (United Arab List) des Mansour Abbas, in die Regierung holen wollte. Netanyahu hatte bei der vierten Wahl innerhalb von zwei Jahren Anfang 2021 erneut keine eindeutige Mehrheit bekommen. Für den Machterhalt wollte er die bittere Pille schlucken und Araber in seine rechte Regierung eingliedern. Er scheiterte. Abbas entschied sich für Yair Lapid und Naftali Bennett, die beiden führenden Figuren der neuen Koalition, die ihn nur deshalb aufnehmen konnten, da Netanyahu es zuvor versucht hatte. Die Rechte konnte sie nun schlecht als Verräter an der zionistischen Sache beschimpfen.

All das scheint jetzt, Anfang März, Ewigkeiten her. Was seit dem 1. November geschehen ist, fühlt sich für viele in Israel wie ein Tsunami an. Netanyahu hat Tabus gebrochen, die unantastbar schienen. Er holte Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich in die Regierung, zwei Rechtsextreme, die Araber hassen. Ben Gvir wurde mehrfach wegen Verhetzung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Er wurde deswegen nie in die Armee aufgenommen, er galt als zu extremistisch. Und Bezalel Smotrich, der sich selbst als faschistischen Homophoben bezeichnet und gegen den 2005 eine Untersuchung wegen eines geplanten Anschlags lief, ist ein radikaler Siedler, der einen halachischen Staat fordert, also einen Staat, der nach dem jüdischen Religionsgesetz geführt wird. Vor Kurzem waren solche Extremisten noch Randfiguren. Wie in jeder Gesellschaft, so gibt es natürlich auch in Israel einen gewissen Prozentsatz an Extremisten. Doch man machte sich mit ihnen nicht gemein, man holte sie nicht in die Regierung, selbst wenn die israelische Gesellschaft insgesamt immer weiter nach rechts gerückt ist und viele politische Ideen und Gedanken, die vor Jahren noch als Extrempositionen galten, inzwischen Mainstream geworden sind.

Wenn die Justizreform durchgesetzt wird, dann hätte das nicht nur ungeahnte Konsequenzen für Israel und seine Bürger. Es hätte wohl noch schlimmere Folgen für die Palästinenser in den besetzten Gebieten. Was Ben Gvir und Smotrich wollen – und nicht nur sie allein in dieser Regierung – ist, einen »endgültigen« Zustand herbeizuführen, mit anderen Worten: eine Annexion. Sie sagen es, sie meinen es. Ob es gelingt, ist die Frage. Das Militär, vor allem die Geheimdienste würden das so nicht mittragen wollen, da sie genau wissen, welche Implikationen das mit sich brächte. Aber die Extremisten in der Regierung werden es versuchen. Und damit würde voraussichtlich nicht nur noch mehr Gewalt die Region erschüttern, die Besatzung bekäme schlagartig einen völlig anderen Charakter, sie würde sich qualitativ verändern und weltweit neue, gänzlich andere Diskussionen auslösen, die Israel in einer Form brandmarken würden, die kaum noch rückgängig gemacht werden könnte.

Während ich diese Zeilen schreibe, kommt die Meldung, dass 22 israelische Experten für Internationales Recht einen Brief an die Generalstaatsanwaltschaft geschickt haben, sie solle sofort Untersuchungen gegen Bezalel Smotrich und andere Regierungsmitglieder wegen Anstiftung zu Kriegsverbrechen aufnehmen. Smotrich habe beispielsweise einen Tweet von Davidi Ben Zion, dem stellvertretenden Leiter des regionalen Rats von Samaria, »geliked« in dem Ben Zion geschrieben hatte: »Das Dorf Huwara sollte heute ausgelöscht werden.« Was wird die Generalstaatsanwaltschaft nun tun? Die Lage ist verzwickt. Die Armee konnte die bedrängten Palästinenser nicht schützen, ein Teil der israelischen Regierung bejubelt oder »versteht« die Ausschreitungen der Siedler. Sollte der Staat keine Untersuchung einleiten, so könnte das der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag nach der vierten Genfer Konvention tun. Schon seit Längerem gibt es von Seiten der Staatsanwaltschaft des ICC eine Untersuchung, ob Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der »situation in Palestine« begangen werden.

Die Frage, die sich jetzt stellt, ist, ob diese rechteste und extremste Regierung in der Geschichte Israels eine Untersuchung mittragen würde. Wenn nicht, dann haben nicht nur die Siedler, die in Huwara gewütet haben, ein Problem, sondern vor allem diejenigen, die die Randalierer angestiftet haben oder ihre Taten verbal unterstützten. Denn im internationalen Recht, wie David Kretzmer, ein emeritierter Professor für Verfassungs- und Internationales Recht in Israel, darlegt, hat sich eine Auffassung durchgesetzt, die R2P genannt wird, »responsibility to protect«, die Verantwortung zu schützen. Kann ein Staat diejenigen, die er per Gesetz in einer Besatzungssituation zu schützen hat, nicht schützen, dann hat die internationale Staatengemeinschaft die Pflicht, dies zu tun. Könnte Huwara der Auslöser dafür sein, diese Doktrin auf das Westjordanland anzuwenden? Es wird sehr darauf ankommen, wie der Staat nun reagieren wird. (Nur einen Tag, nachdem ich dies geschrieben habe, hat die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara eine Untersuchung gegen Zvika Fogel wegen »Anstiftung zum Terrorismus« eingeleitet.)

Doch unabhängig von der weiteren Entwicklung, allein die Tatsache, dass solche Fragen gestellt werden müssen, zeigt, wie sich das politische Klima in Israel in nur wenigen Wochen radikal verändert hat. Ein großer Teil der aktuellen Regierung hält nicht viel von der Formel, dass Israel ein demokratischer und jüdischer Staat ist. Für sie ist nur entscheidend, dass Israel jüdisch ist, mit »demokratisch« können und wollen sie nichts anfangen. Minderheiten, egal ob Palästinenser, LGBTQ+ oder andere, sind ihnen nicht wichtig, auch Frauen nicht. Der Schutz der Minderheiten, ein demokratisches Grundprinzip, könnte in Zukunft keine Rolle mehr spielen.

Die geplante Justizreform, die möglicherweise das Ende der Demokratie in Israel einleitet, wie man sie bislang kannte, hat die Gesellschaft noch tiefer gespalten, als sie es schon seit Jahrzehnten ist. Es war insbesondere Benjamin Netanyahu, der in den vergangenen Jahren diesen Riss in der Gesellschaft mit seinem Populismus schürte. Politische Gegner wurden zu Feinden deklariert. Sogar der Staat selbst, der es wagte, ihn, den rechtmäßig gewählten Premier, wegen möglicher Korruption anzuklagen, wurde zum Feind erklärt. Netanyahu begann, ähnlich wie Erdoğan in der Türkei, vom »tiefen Staat« zu sprechen, von einer Verschwörung der Polizei, der Justiz und der Medien gegen ihn. Es wirkte, als hätte der Premier mit der offiziellen Anklage im November 2019 wegen »Untreue, Annahme von Bestechungsgeldern und Betrug« alle Bedenken und Hemmungen fallen lassen. Mit dem Wahlsieg 2022 schien sich dies auch in der Auswahl seiner Koalitionspartner auszudrücken.

Das hatte zwei Gründe. Der eine war klar: Außer den Orthodoxen und den Extremisten wollte niemand mit Netanyahu koalieren. Der andere war ebenso offensichtlich: Netanyahu wusste, dass er eine Justizreform, die ihm bei seinem eigenen Gerichtsverfahren helfen würde, mit niemandem aus der Opposition durchziehen könnte. Ihm blieben nur die orthodoxen und rechtsextremen Parteien, die liberale Prinzipien verachten und seit jeher mit Füßen treten. Aber stimmt das wirklich? Geht es Netanyahu nur um seinen Prozess?

Es ist allgemeiner Konsens unter den Beobachtern in Israel, dass das, was sich gerade zusammenbraut, einzig und allein mit Netanyahus Angst zu tun hat, am Ende seiner Karriere möglicherweise im Gefängnis zu landen. Mag sein, dass er dachte, er könne Smotrich und Ben Gvir schon irgendwie in die Schranken weisen. Mag sein, dass er wie ein Magier plötzlich noch ein Karnickel aus seinem Hut zaubert, und alles wird gut. Doch in der realen Welt ist das wenig wahrscheinlich. Möglich allerdings ist, dass Netanyahu übersah, dass Ben Gvir und Smotrich mit insgesamt 14 Mandaten im Gegensatz zur letzten Wahl nicht nur viel mehr Stimmen hinzugewonnen hatten und damit in einer Koalition ganz anders auftreten konnten, sondern auch, dass beide »ihren« Bibi kannten. Netanyahu war schließlich berühmt dafür, dass er bislang noch alle seine Koalitionspartner ausgespielt und ausgetrickst hatte, je nachdem, wie es seinen Plänen gerade entgegenkam.

Smotrich und Ben Gvir bestanden daher auf weitgehende schriftliche Zusagen und stellten ungeheuerliche Forderungen, die selbst Netanyahu überrumpelten und ihnen eine enorme Machtfülle innerhalb des Kabinetts garantierten. An irgendeinem Punkt der Koalitionsverhandlungen erklärte Netanyahu sogar, dass es ja nicht so sei, als ob er und seine Likud-Partei sich Ben Gvir und Smotrich anschlössen, sondern dass es genau umgekehrt sei. Sprach’s und jedem war klar: Netanyahu hatte ein massives Problem. Denn die beiden Ultras wussten ganz genau, dass der Premier in spe sie braucht, dass seine persönliche Zukunft von ihnen abhängt. Dass er ohne sie nicht regieren kann. Also forderten sie. Und erhielten. Viel. Sehr viel.

Ben Gvir ist nicht mehr nur wie seine Vorgänger Sicherheitsminister, sondern sogar Nationaler Sicherheitsminister. Er hat eine 2000 Mann starke Polizei-Einheit des Grenzschutzes in den besetzten Gebieten in sein Ministerium transferieren lassen, mit der er jetzt, wie manche sorgenvoll sagen, über eine kleine »Privatarmee« im Westjordanland verfügt. Diese Einheit unterstand bisher der Armee. Und er hat sich die Befugnisse geben lassen, selbst das planerische Vorgehen der Polizei bei ihren Einsätzen festzulegen, was früher ausschließlich in den Händen des Polizeipräsidenten lag. Doch Ben Gvir stieß bei Letzterem, zumindest bislang, auf Widerstand. Polizeipräsident Kobi Shabtai und viele seiner Offiziere widersprechen Ben Gvir, dem es an jeglicher praktischer Erfahrung fehlt und der obendrein seine Entscheidungen über die Medien verkündet und nicht mit seinem Polizeiteam bespricht. Doch inzwischen scheint Shabtai Ben Gvir »gefallen« zu wollen. Er hat die Forderungen seines Chefs nach mehr Härte inzwischen bei einigen Demonstrationen umgesetzt. Die Polizei ging gegen linke Demonstranten teilweise sogar mit Blendgranaten vor, auch Wasserwerfer und Tränengas wurden eingesetzt.

Und Smotrich? Der hat sich als Finanzminister eine dicke Scheibe aus dem Laib des Verteidigungsministeriums herausgeschnitten, indem er jetzt für die zivilen Angelegenheiten in den besetzten Gebieten zuständig ist. Er wurde zum Herrn über den Siedlungsbau, darüber, wo, wann, wie viel gebaut werden soll. Er will natürlich mehr und noch mehr bauen – und den Palästinensern alle Bautätigkeiten untersagen. Die Armee und der Verteidigungsminister sind in Sorge, denn es geht ja immer auch um die Sicherheitsfrage. Bislang waren all diese Aufgaben in den Händen des Verteidigungsministers, jetzt hat sie der Zivilist Smotrich übernommen. Und seine Entscheidungen könnten für die Ruhe und Sicherheit in diesen Gebieten höchst problematisch werden. Theoretisch haben Verteidigungsminister Yoav Gallant und die Armee das letzte Wort, sie könnten die Pläne Smotrichs durchkreuzen, aus »Sicherheitsgründen«. Nur, wird sich Smotrich daran gebunden fühlen? Wird ihn das aufhalten? Dazu kommt ein weiteres Problem. Rechtsgelehrte weisen darauf hin, dass die Übergabe der zivilen Verwaltung in die Hände des Nicht-Militärs Smotrich einer Annexion gleichkäme. Zumindest könnte man das juristisch so auslegen, da ja nicht mehr das Militär für diese Fragen zuständig wäre. Auch hier könnte auf die neue Regierung ein großes Rechtsproblem zukommen.

Die Schwierigkeiten dürften noch größer werden, wenn die Justizreform durchkommt. Dann würde die Justiz in Israel nicht mehr als unabhängig angesehen. Bisher bewahrte die Unabhängigkeit des Obersten Gerichts Soldaten, Offiziere und Politiker davor, vor dem ICC wegen möglicher Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt zu werden. Die Unabhängigkeit des Bagatz, wie das Oberste Gericht in seiner hebräischen Abkürzung genannt wird, war Grund genug, dass das ICC sich zurückhielt beziehungsweise entsprechende Vorstöße abgewehrt werden konnten. Das aber wäre nicht mehr möglich, wenn die Politik sich einen Freifahrtschein ausstellt und die Justiz lahmlegt.

Wie sehr die Gesellschaft in nur wenigen Wochen aus den Fugen geraten ist, lässt sich am deutlichsten in der Verweigerung der Israelis ablesen, ihren Dienst in der Armee zu versehen. Es gibt nur wenige Israelis, die den Militärdienst verweigern. Die große Mehrheit steht zur Armee, jeder weiß, dass sie der Garant für die eigene Sicherheit ist, jeder weiß, dass es auf jeden Einzelnen ankommt, ob Israel auch in Zukunft frei und unabhängig existieren kann. Dazu kommt die kollektive Erinnerung an die Shoah, an die Zeit, als sich die Juden »wie Schafe zur Schlachtbank« haben führen lassen, wie es in Israel früher hieß. Das Ethos der Nation, dieses ernstgemeinte »Nie wieder!« – ein ganz anderes »Nie wieder«, als es in Deutschland so oft von Politikern dahergesagt wird, wenn man wieder einmal entsetzt ist über antisemitische Vorfälle –, diese Überzeugung, dass »Massada nie mehr fallen« darf, womit die Festung am Toten Meer gemeint ist, ist existentieller Bestandteil der israelischen Identität. Auf Massada begingen nach drei Jahren Belagerung durch die Römer die letzten jüdischen Widerständler kollektiven Selbstmord, um nicht in der römischen Sklaverei zu enden. Damit war der Untergang des jüdischen Staates 73 n. Chr. besiegelt.

Und nun? Immer mehr Elitereservisten schreiben offene Briefe an die Regierung, dass sie nicht mehr bereit sind, zum Dienst anzutreten, falls sie gerufen werden. Sie seien nicht bereit einem Staat zu dienen, der keine Demokratie mehr ist. Piloten, Panzersoldaten, U-Boot-Offiziere und Spezialeinheiten wollen nicht mehr dienen, sogar 250 Offiziere eines Spezialkommandos, das die allergeheimsten Operationen mit dem Mossad und dem Shin Bet ausführt, wollen den Dienst verweigern, falls die Justizreform durchgeht.

Und nun haben sich auch die Elitesoldaten der Einheit 8200 gemeldet. Die Soldaten der 8200 betreiben nicht nur geheimdienstliche Aufklärung und leiten große militärische Aktionen, sie sind die mit am besten ausgebildeten Tech-Spezialisten der Welt. Rund siebzig Prozent aller israelischen Start-ups wurden von einstigen 8200-Soldaten gegründet. Nun haben sich Reservisten dieser Einheit in einem offenen Brief zu Wort gemeldet. Darin sagt die Gruppe, dass sie aufgrund ihrer Geheimdiensterfahrung »eine beunruhigende Häufung verräterischer Anzeichen erkennt, die auf eine echte Sorge um die Integrität und Sicherheit des Staates Israel, wie wir ihn kennen, hinauslaufen«, darunter der Zusammenbruch des sozialen Zusammenhalts, der Schaden für die Wirtschaft und der Ruf Israels in der Welt. »Ein Teil des Schadens könnte bald dauerhaft sein, während unsere Feinde sich vor Freude die Hände reiben«, heißt es in dem Brief weiter. »Es ist unsere Pflicht, Alarm zu schlagen und vor einem ›Yom Kippur‹ für die israelische Gesellschaft zu warnen«, eine Anspielung auf den Yom-Kippur-Krieg 1973, in dem ein völlig unvorbereitetes Israel schwerste Verluste erlitt. Auch die 8200er drohen, nicht mehr zu dienen, wenn die Regierung ihre Pläne wahr macht.

Und 37 von 40 Piloten des 69. Geschwaders haben sich entschieden, dem Training aus Protest fernzubleiben. Das 69. Geschwader mit seinen F-16I-Jets hat beispielsweise 2007 den syrischen Nuklearreaktor zerstört, fliegt regelmäßig Angriffe auf iranische Ziele in Syrien und wäre bei einem möglichen Angriff auf den Iran und dessen Nuklearanlage von entscheidender Bedeutung.

In nur zwei Monaten ist es Netanyahu und seinen Partnern gelungen, Israel komplett aus den Angeln zu heben und das Militär in einer Art und Weise zu schwächen, die Israel schon sehr bald teuer zu stehen kommen könnte. Eine dritte Intifada steht möglicherweise kurz vor dem Ausbruch, der Iran kurz vor dem Durchbruch zur Nuklearbombe. Ohne eine in sich gefestigte Armee ist Israel ernsthaft in Gefahr. Dabei geht es nicht um Waffen und Technologie. Die hat die Armee ja nach wie vor. Aber wenn Soldaten und Offiziere sich nicht mehr mit dem Staat identifizieren können, den sie verteidigen sollen, wenn der Riss innerhalb der Gesellschaft sich auch in der Armee zeigt, dann hätte die aktuelle Koalition sozusagen ganze Arbeit geleistet. Denn das war immer der Stolz des Landes: die Armee als Schmelztiegel der unterschiedlichsten Gruppierungen der israelischen Gesellschaft. Hier war man eine Einheit, jeder stand für den anderen ein, Politik wurde außen vor gelassen, ob misrachisch oder aschkenasisch, ob religiös oder säkular, ob links oder rechts, es spielte keine Rolle. Oder sollte zumindest keine Rolle spielen.

Und nun?

Es ist schwer, zum jetzigen Zeitpunkt Mutmaßungen anzustellen. Wird Israel eine Demokratie bleiben, so wie man das Land bisher kennt? Palästinensische Israelis würden möglicherweise sagen, dass für sie Israel schon lange keine Demokratie mehr ist oder noch nie eine war. Wie richtig oder falsch diese Ansicht ist, wird in diesem Buch an anderer Stelle diskutiert. Keine Frage, Israels Demokratie war und ist nicht perfekt. Immerhin kann man darauf verweisen, welches Wunder es in Wirklichkeit ist, dass Israel bislang überhaupt eine Demokratie ist. Ein Land im Dauerkriegszustand, ein Land mit einer Bevölkerung, die aus aller Herren Länder mit unterschiedlichsten Kulturen und politischen Prägungen eingewandert ist, ein Land, das gerade einmal 75 Jahre jung und im Grunde immer noch ein Staat im Werden ist. Doch das ändert natürlich nichts an den Problemen und Schwächen des demokratischen Systems, das der Reformen bedarf, darüber sind sich alle im Prinzip einig. Aber keine Reformen, wie sie die aktuelle Regierung anstrebt, die das Land womöglich in ein System überführt, das der sogenannten illiberalen Demokratie, wie Viktor Orbán seine Staatsform in Ungarn nennt, ähneln könnte.

Doch Israel ist nicht Ungarn, es gibt entscheidende Unterschiede zwischen beiden Ländern, wie der berühmte Historiker Yuval Noah Harari, dessen Bücher Eine kurze Geschichte der Menschheit und Homo Deus internationale Bestseller wurden, in einem Meinungsartikel in der Washington Post erläuterte. Er nannte darin vier Punkte, die Israel von Ungarn unterscheiden: Erstens sei Ungarn Teil der EU