Die Sanduhr - Claudia Gürtler - E-Book

Die Sanduhr E-Book

Claudia Gürtler

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Beschreibung

Steckbrief "Sanduhr" Genre: Fantastischer Krimi Schauplätze: Basel und Grönland Aktualität: der drohende Klimakollaps Es spielen mit: Zeit, Eis und Sand, die unaufhaltsam rieseln, ein vernachlässigtes Kind namens Schneewittchen, seine Mutter, die Schneekönigin, sein Vater, ein Mediziner, der kein Blut sehen kann, jedes Schachspiel verliert, Angst vor dem Tod hat und im Grönlandeis die Formel für ewiges Leben sucht, literarische Dauergäste einer reichlich seltsamen Villa an Basels Stadtrand von Hans Christian Andersen bis William Somerset Maugham, Wachtmeister Meier, der schlampig ermittelt, Meiers zynische Chefin, Polizeikommisärin Moser, die fest an Horoskope glaubt, und viele weitere. Seit der Geburt von Schneewittchen rast die Zeit und die Distanz zwischen Basel und Grönland scheint unüberwindlich. Die Schneekönigin füllt die Villa in einem Aussenquartier Basels mit arktischer Kälte, und der Doktor denkt voller Sehnsucht an das langsame Fliessen von Zeit in Polnähe. In der Dämmerung setzt sich der Tod an sein Bett, um zu schweigen und lange Fäden zu spinnen. Schneewittchen denkt an Flucht, aber die Villa hält sie mit kalten Fingern gefangen. Im Auftrag von Polizeikommissärin Moser ermittelt Wachtmeister Meier lustlos und schlampig. Geht in der Villa alles mit rechten Dingen zu? Wiederholt greift der Wachtmeister mit dem weichen Herzen Schneewittchen in Basels Strassen auf, wo sie alleine unterwegs ist. Auch sollte Meier diesen Streuner, Hans Christian, endlich einbuchten. Die Tatsache, dass Schneewittchen an ihm hängt lässt ihn zögern. Die Königin ahnt nicht, dass Hans Christian Schneewittchen mit bunten Geschichten tröstet. Die beiden träumen davon, in einem fliegenden Koffer bis ins Türkenland zu reisen. Auch William liebt das Mädchen auf seine spröde Art. Mit ihm führt Schneewittchen kluge Gespräche, sodass in der Sanduhr in ihrem Kopf der hellblaue Sand ins Rieseln gerät. Ein Stück Zeit rinnt von oben nach unten und Schneewittchen wird um weniges älter.

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Seitenzahl: 310

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Claudia Gürtler

Die Sanduhr

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreissig

Einunddreissig

Zweiunddreissig

Dreiunddreissig

Vierunddreissig

Fünfunddreissig

Sechsunddreissig

Siebenunddreissig

Achtunddreissig

Neununddreissig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Siebenundvierzig

Achtundvierzig

Neunundvierzig

Fünfzig

Einundfünfzig

Zweiundfünfzig

Dreiundfünfzig

Vierundfünfzig

Fünfundfünfzig

Sechsundfünfzig

Siebenundfünfzig

Achtundfünfzig

Neunundfünfzig

Sechzig

Einundsechzig

Zweiundsechzig

Dreiundsechzig

Vierundsechzig

Fünfundsechzig

Sechsundsechzig

Siebenundsechzig

Achtundsechzig

Neunundsechzig

Siebzig

Einundsiebzig

Zweiundsiebzig

Dreiundsiebzig

Vierundsiebzig

Fünfundsiebzig

Sechsundsiebzig

Siebenundsiebzig

Achtundsiebzig

Neunundsiebzig

Achtzig

Einundachtzig

Zweiundachtzig

Dreiundachtzig

Vierundachtzig

Fünfundachtzig

Sechsundachtzig

Siebenundachtzig

Achtundachtzig

Neunundachtzig

Neunzig

Einundneunzig

Zweiundneunzig

Dreiundneunzig

Vierundneunzig

Fünfundneunzig

Sechsundneunzig

Siebenundneunzig

Achtundneunzig

Neunundneunzig

Hundert

Hunderteins

Hundertzwei

Hundertdrei

Hundertvier

Hundertfünf

Hundertsechs

Hundertsieben

Hundertacht

Hundertneun

Hundertzehn

Hundertelf

Hundertzwölf

Hundertdreizehn

Hundertvierzehn

Hundertfünfzehn

Hundertsechzehn

Hundertsiebzehn

Hundertachtzehn

Hundertneunzehn

Hundertzwanzig

Hunderteinundzwanzig

Hundertzweiundzwanzig

Hundertdreiundzwanzig

Hundertvierundzwanzig

Hundertfünfundzwanzig

Hundertsechsundzwanzig

Hundertsiebenundzwanzig

Hundertachtundzwanzig

Hundertneunundzwanzig

Hundertdreissig

Hunderteinunddreissig

Hundertzweiunddreissig

Hundertdreiunddreissig

Hundertvierunddreissig

Hundertfünfunddreissig

Hundertsechsunddreissig

Hundertsiebenunddreissig

Hundertachtunddreissig

Hundertneununddreissig

Hundertvierzig

Hunderteinundvierzig

Hundertzweiundvierzig

Hundertdreiundvierzig

Hundertvierundvierzig

Hundertfünfundvierzig

Hundertsechsundvierzig

Impressum neobooks

Eins

Grönländer züchten kaum Pferde, denn selbst mit einem speziellen Winterbeschlag bewegen sich die Tiere unsicher auf Eis und Schnee und stehen damit den von der Natur perfekt ausgerüsteten Schlittenhunden in vielem nach. Einzig Arkni in Ittoqqortoormiit an der Ostküste Grönlands hielt neben nützlichen Hunden auch fünf Pferde aus Island, die alle trotz bester Pflege nicht richtig gedeihen wollten, und von denen ihm nur eines wirklich ans Herz gewachsen war, der mausgraue Hengst Kauri. Das Pferd war noch jung, dazu willig und klug, und Arkni glaubte fest daran, dass es sich mit seiner Deportation nach Grönland abfinden und eine wertvolle Zucht begründen werde.

Der Nebel waberte an diesem Spätherbstmorgen besonders dicht. Man sah kaum die Hand vor Augen. Schnee lag in der Luft und eine Ahnung der kommenden langen Dunkelheit, die selbst die Bewohner polarer Regionen fürchten.

Arkni glaubte zunächst an eine Sinnestäuschung. Einsame Menschen in einsamen Gegenden, die es so weit haben kommen lassen, dass sie mit Tieren, Eisschollen und dem Wetter reden, sehen oft Gespenster und gewöhnen sich daran. Sie halten inne, schliessen kurz die Augen, denken an etwas Reales wie heisse Suppe, auf der das Fett von Seehunden oder Robben schwimmt, und wenn sie die Augen wieder öffnen, ist die Landschaft weit und leer und so öde und eisig und gespensterlos wie zuvor.

Zwei Mal hintereinander schloss Arkni an diesem Nebelmorgen die Augen. Er dachte zuerst an Suppe, dann an die schönen Fohlen, die Kauri zeugen würde, dann aber musste er einsehen, dass der Nebel tatsächlich eine Gestalt frei gab, die auf seinen Hof zukam.

Eine dünne Frau, der die Unregelmässigkeit des Eises einen unsicheren Schritt aufzwang, die aber dennoch zu allem entschlossen schien.

Er starrte ihr mit offenem Mund ins Gesicht, das nicht zu der zerbrechlichen Gestalt passen wollte. Es wirkte jung, ein glattes, kaum beschriebenes Blatt. Dünnes rötliches Haar stand vom Kopf ab und rahmte ihn ein wie ein verrutschter Heiligenschein.

Arkni wollte die Frau, wie er es immer mit Fremden tat, und eine Fremde war sie ohne Zweifel, barsch vom Hof weisen, als sie ihn ansprach – in seiner eigenen Sprache. Ihr Grönländisch war nicht akzentfrei, aber doch fliessend, und sie sagte klar und ohne Umschweife, was sie wollte: Kauri, sein bestes Pferd! Natürlich kannte sie den Namen des Hengstes nicht, aber ihr fordernder Zeigefinger wies unmissverständlich in seine Richtung.

Arkni glaubte an eine Rache der Götter und ging in Windeseile sein nicht unbeträchtliches Sündenregister durch.

Die Frau aber wollte weder handeln noch Auskünfte geben, und er wollte seinerseits, als er die Geldscheine, die Kauri drei Mal aufwogen, locker in ihrer Hand liegen sah, nichts über sie und ihre Beweggründe erfahren. Mit wundem Herzen streifte er Kauri einen Zaum über, und bevor er sich dazu durchringen konnte, ihr widerwillig behilflich zu sein, sass sie auf dem blossen Pferderücken.

Arkni ahnte, dass er Kauri nicht wieder sehen würde, und da der Nebel noch immer dicht über dem Land lag, verschwanden die ungewöhnliche Reiterin und das graue Pferd blitzschnell aus seinem verdutzten Blick. Er legte die linke Hand über die knisternde Stelle auf seiner Hose, und der Anflug eines Lächelns stahl sich auf sein undurchdringliches Gesicht. Was kümmerte es ihn, ob die seltsame Frau den Ritt überlebte oder nicht?

Eine Weile hörte Arkni noch das Geräusch von rutschenden Hufeisen und losgetretenen Steinen und Eisbrocken. Die Reiterin erreichte aber bald den nur teilweise gefrorenen Streifen dunkler Erde am Strand. Stille. Gespenstisches Nicht-Sein. Der Nebel hatte das graue Pferd verschluckt.

Zwei

Die Reise von Zürich über Kopenhagen nach Reykjavik hatte den Doktor regelrecht ausgelaugt, hatte seinen Körper dehydriert und Kopf und Seele stumpf und mutlos werden lassen. Und noch dazu war Reykjavik nichts weiter als eine Etappe, ein Auge im Sturm, ein bisschen trügerische Ruhe, bevor sich ein weiteres Flugzeug in den Himmel schraubte. Da der Weg zurück nach Hause inzwischen gleich weit war wie der Weg nach vorn ins unbekannte Grönland, verschwendete der Doktor nur einen kurzen Gedanken an eine Umkehr. Er war ein Gefangener seiner eigenen unerklärlichen Entschlüsse, und so stellte er sich mit munter schwatzenden Backpackern in eine Reihe. Nervös sagte er die Flugnummer her, die man ihm mitgeteilte hatte, eine monotone Litanei, die keine Beruhigung brachte. Während er in der Schlange langsam vorrückte, hoffte er noch, dass es nicht genügen würde, dem Bodenpersonal einen Namen und eine Flugnummer mitzuteilen, und dass er keine Bordkarte für den Flug nach Kulusuk an der Ostküste Grönlands erhalten würde. Doch die junge Inuit fand seinen Namen mühelos auf der Liste. Lächelnd reichte sie ihm die Bordkarte und sagte „enjoy your flight“, was ihn ironisch, ja boshaft anmutete. Der Flug war schon aufgerufen worden, ausschliesslich auf Isländisch, und er liess sich mitziehen von all den zielstrebigen Passagieren, die ihn auf keinen Fall verpassen wollten, während er sich wiederum sagte, dass es doch ein unglaublicher Zufall sei, dass er ihn nicht verpasste, sprach er doch kein Wort isländisch. Als die Propeller angeworfen wurden, erst der linke, dann der rechte, war er froh, dass er angegurtet sass, denn nun hatte er das Zittern nicht mehr unter Kontrolle. Es steigerte sich zu einem regelrechten Schüttelfrost, der zum Glück von niemandem bemerkt wurde, denn er sass alleine auf einem Doppelsitz, und auch das Flugzeug schüttelte sich, während es mit ohrenbetäubendem Krach abhob und steil nach oben stieg. Kaum lag es gerade, ebbte der Lärm ab, und der Doktor wartete mit zusammengekniffenen Augen auf den unvermeidlichen Aufprall. Aber nein, es flog, flog unbeirrt und nahm Kurs aufs offene, mit weissen und hellblauen Eisbrocken gepflasterte Meer, während eine einzige schweigsame Stewardess den kargen Bordservice erledigte, der darin bestand, ein aufgeweichtes Eiersandwich und einen Orangensaft oder ein Glas Wasser zu servieren. Der Doktor, der sonst nie trank bedauerte, dass kein Alkohol ausgeschenkt wurde. Schwermütig starrte er auf die grösser werdenden Eisberge, deren hellblaue Ränder in eine nicht fassbare Tiefe hinunterwiesen. Das Flugzeug begann seinen Sinkflug und landete zu des Doktors grossem Erstaunen wohlbehalten in Kulusuk. Es regnete. Knallrote Würste mit Senf waren die einzige Speise, die der kleine Kiosk anbot. Sie widerten den Doktor an, und er verzichtete darauf, obwohl sich der Hunger meldete, sobald er wieder festen Boden unter den Füssen hatte. Das Propellerflugzeug blieb auf der Piste stehen, und nach einigen Stunden Wartezeit bestiegen es die meisten Passagiere wieder. Während der Doktor den Muffin verzehrte, den die Stewardess servierte, rissen die Wolken auf. Weit unten strebten riesige Gletscherzungen wie eilige Autobahnen durchs Geröll der Küste zu. Die Berge standen ordentlich aufgereiht und waren mit erstaunlich regelmässigen Mustern aus Schnee bedeckt. Als das Flugzeug plötzlich abtauchte und sich dagegen wehrte, von den kräftig zupackenden Wolken nach unten gesogen zu werden, reute es den Doktor, dass er den Muffin gegessen und ein Glas Wasser getrunken hatte. Er hielt sich zurück, um nicht einzustimmen in die gequälten Geräusche, die man der kleinen Propellermaschine gar nicht zugetraut hätte; Ächzen, Stöhnen, metallenes Knirschen. Während der Boden schnell näher kam, suchte der Doktor nach einer Landepiste. Aus den Augenwinkeln sah er einen kreisrunden Helikopterlandeplatz, an welchem die Maschine vorbeipreschte, bevor sie rumpelnd aufsetzte und sich selbst in eine Wolke aus hellbraunen Erdkrümeln hüllte. Es gab keine asphaltierte Landepiste. Tiefe Reifenspuren durchzogen Erde und Schotter. Der Doktor stand mit zittrigen Knien im eisigen Wind. Er war noch einmal davongekommen. Und er war in Grönland angekommen.

Drei

Der in Basel seltene lauwarme Föhnwind marterte den Kopf von Polizeikommissärin Moser. Schwer stützte sie ihn in die breiten, von Fettpölsterchen abgerundeten Hände. Auf ihrem Schreibtisch stapelte sich Papier in unordentlichen Haufen.

„Wo Berge sich erheben ...“, knurrte Moser schlecht gelaunt und widmete sich trotzig ihren Horoskopen, die ihr allerdings zusätzlich Kopfschmerzen bereiteten. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals auf so ungünstige Konstellationen am Himmel gestossen zu sein. Tatsächlich aber sagten die Horoskope für neun von zwölf Sternzeichen regelrechte Pechsträhnen voraus. Jungfrauen, Fische, Widder und Waagen sollten Unglücksfällen zum Opfer fallen, für Stiere und Krebse war erbitterter Streit angesagt, und auch die Wassermänner, Skorpione und Schützen erwartete alles andere als Glück und Harmonie.

Polizeikommissärin Moser warf einen Blick auf die Kopie der Bahnhofsuhr, welche über dem Schreibtisch hing und sie üblicherweise durch ihr lautes, gleichmässiges Ticken am Einschlafen im Dienst hinderte. Es war halb vier Uhr morgens. Sie stand auf und öffnete das Fenster. Die lauwarme Dunkelheit dahinter brachte keine Erleichterung.

Moser horchte den Geräuschen nach, die durch die Nacht drangen. Ihre Sinne waren angespannt durch die schlechten Voraussagen und sie deutete jedes noch so kleine Geräusch als ungewöhnlich oder gar bedrohlich.

Ein paar Häuser rheinaufwärts hustete sich ein Asthmakranker gequält durch die Nacht. Am gegenüberliegenden Rheinufer, wo eigentlich Fahrverbot herrschte, fuhr ein Auto im falschen Gang an sorglos parkierten Wagen vorbei. Endlich wurde krachend in einen höheren Gang geschaltet. Moser empfand leichte Übelkeit. Für Motoren brachte sie entschieden mehr Gefühle auf als für deren Misshandler.

Ein Wirt, der längst geschlossen haben sollte, warf mit lautem Fluchen zwei Zechpreller auf die Strasse. Sie entfernten sich torkelnd und ebenfalls fluchend. Moser lehnte sich weit aus dem Fenster. Galoppgeräusche donnerten auf dem Teerbelag der Strasse.

Die Polizeikommissärin schüttelte die leere Kaffeekanne. Sie musste total übermüdet sein.

Ein plötzlicher Windstoss riss die Horoskope an sich und wirbelte sie dem Rhein zu.

Die jungen Polizisten Graber und Linsenmann waren noch auf Streife.

Und Wachtmeister Meier sowieso.

Vier

Wachtmeister Meier redete laut mit sich selbst. Er wandte sich an die kahlen Bäume, die schaukelnden Kähne auf dem Rhein. Von Einfühlungsvermögen sprach er, von Mitleid, von Intuition gar, ohne die sein Beruf.... Ach, was soll’s. Moser ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie waren wieder einmal aneinander geraten. Und Moser war beleidigend geworden. Wie immer. Eigentlich, sagte Meier zu den Kähnen, war die Tatsache, dass sie bei jedem Zusammentreffen aneinander gerieten, eine logische Folge der völligen Verschiedenheit ihrer Charaktere. Meier spuckte verächtlich übers Geländer. Genau genommen müsste Moser von Einfühlungsvermögen sprechen, von Mitleid, denn Moser war eine Frau, auch wenn Meier sich dies immer wieder bewusst vor Augen führen musste. Angesichts fast fehlender Brüste, eines so flachen Hinterns und so männlich-breiter Schultern dachte man nicht an eine Frau. Nicht sofort jedenfalls, sagte Meier laut und stieg schwerfällig die hohen Stufen hinunter, um sich nahe ans Wasser zu setzen.

Als er den langen Menschen sah, der hastig in Schuhe und Jacke fuhr und den ausgebeulten Koffer unter den Arm klemmte, als fühlte er sich schuldig und ertappt, seufzte der Wachtmeister. Ihm war nicht danach, ein verwahrlostes Subjekt zwecks Überprüfung anzuhalten.

„Hast du schon gegessen?“ fragte Meier stattdessen, und der Lange blieb stehen, drehte sich zögernd um und kam zurück, langsam, ängstlich wie ein zu oft geprügelter Hund. Meier fummelte in seinen Taschen. Er liebte es, nach der Spätschicht am Rheinufer zu essen und mit sich selbst zu sprechen.

„Schinken“, zählte er auf, „harte Eier, Salz, getrocknete Tomaten in Olivenöl, trockene Kekse. Mit Schokolade wären sie mir auch lieber“, gestand Meier, „aber wenn die schmilzt, ist die Uniform hin. Das Attribut ‚zartschmelzend’ wird, wenn es um Schweizer Schokolade geht, sonst zwar meist positiv gewertet.“

Er grinste vielsagend.

Das Brot zog er aus der Dienstmappe. Er wischte das Schweizer Taschenmesser an der Hose ab, bevor er den Laib in regelmässige Scheiben schnitt.

„Hast du Essiggurken?“ fragte er den Streuner, „auf Essiggurken hätte ich jetzt Lust.“

Der Lange antwortete nicht. Sein Blick hing so begehrlich an Meiers ausgebreiteten Vorräten, als esse er mit den Augen statt mit dem Mund. Meier belegte eine Brotscheibe mit Schinken und Tomaten und hielt sie ihm hin.

„Wie heisst du?“ fragte er.

„Hans Christian“, murmelte der Lange undeutlich. Er hatte bereits die Backen voller Brot.

„Er kaut, als hinge sein Leben davon ab“, dachte Meier.

Hans Christian rückte näher, und Meier reichte ihm mehr Brot, ein Ei und das Salzfässchen. Der Mann roch wie eine ganze Schusterwerkstatt, und Meier sah aus dem Augenwinkel eine frische Leimspur auf dem löchrigen linken Schuh und einen noch leimfeuchten, länglichen Flicken über einer sehr dünnen Stelle an der Schmalseite des Koffers.

„Schuster von Beruf, was?“ fragte Meier.

Der Lange schüttelte den Kopf. „Mein Vater“, sagte er und duckte sich, als erwarte er eine Ohrfeige. „Mein Vater ist Schuster.“

„Und du?“

„Nichts“, sagte der Lange träge und schuldbewusst.

Meier seufzte und räumte die Picknickreste in seine Dienstmappe. Nichts war wenig. Aber er hatte Feierabend.

Hans Christian, wenn er denn so hiess, stand hastig auf, wischte sich die Hände an der schmierigen Hose ab, vergass, sich fürs Essen zu bedanken und ging mit unbeholfen schlenkernden Schritten dem Rheinufer entlang davon.

„Ich erzähle Geschichten“, nuschelte er noch.

„Das ist fast so viel wie nichts“, dachte Meier verdutzt.

Nach wenigen Metern verschluckte die frühe Dunkelheit den Streuner.

Fünf

Das war es, was man Meier immer vorwarf. Er war zu weich. Deswegen war er auch immer ein einfacher Wachtmeister geblieben. Einer, dem es nicht gelingt, Fälle wie Trophäen auf eine Schnur zu fädeln und mannhaft und stolz um den Hals zu tragen, kann nicht aufsteigen.

Meier hoffte, nie wieder auf diesen Hans Christian zu treffen, machte sich aber gleichzeitig wenig Hoffnung, dass ihm der Wunsch erfüllt werden würde. Stadtstreicher scheinen multiple Persönlichkeiten zu haben. Sie sind gleichzeitig überall. Wenn Meier die Augen schloss, sah er Hans Christian am Rheinufer, wo er Schuhe und Koffer flickte, die in den Müll gehört hätten. Er sah ihn schlafend unter Brücken, in Weidlingen. Vor allem aber sah er ihn gierig essend. Er sass an Parkbäume gelehnt und kaute, als habe er Angst um seine Beute. Einen solchen Hunger hatte Meier noch nie gesehen. Eine solche Magerkeit auch nicht. Hans Christians Hunger beschäftigte ihn, sobald ihn nichts anderes beschäftigte.

An einem kalten Februarsonntag, an dem er frei hatte, wollte es ihm ganz und gar nicht gelingen, die Gedanken von diesen mahlenden Kiefern loszureissen. Er war im Kino gewesen und die Handlung des Streifens war als spannend beschrieben worden, jedenfalls, wenn man ausnahmsweise der Zeitung glauben durfte, aber nun konnte er sich nicht an sie erinnern. Er kaufte eine grosse Tüte mit heissen Maroni und schlenderte ziellos geradeaus. Die Bewegung und die Maroniwärme in der Magengegend taten gut und er ging weiter und weiter, und obwohl er immer geglaubt hatte, seine Stadt wie seine Hosentasche zu kennen, fand er einen Hügel, wo er keinen vermutet hatte, eine Villa, die gut und gerne zehn oder mehr Menschen hätte Unterkunft bieten können und einen frostverhüllten Garten hinter einem kunstvoll geschmiedeten Tor. Er zuckte zusammen, als er das Knacken und Knirschen von Gelenken hörte und riss die Augen auf vor Staunen, als er sich unvermittelt einem grossen Ren gegenüber sah. Über einem aus Zotteln und Fransen bestehenden braunen Haarkleid wucherte zusätzlich ein kürzerer weisser Winterbehang, der lediglich den Rücken bedeckte. Meier hatte Rentiere lange für phantastische Kreaturen gehalten, sogar für eine Sinnestäuschung von Menschen, die monatelange Dunkelheit und extreme Kälte nicht vertrugen.

Jetzt musterten sich Mensch und Tier durch das mit einander zugewandten Fischen verzierte Tor, und Meier sagte sich klipp und klar, dass er entweder träumte oder dabei war, verrückt zu werden. Schliesslich streckte er dem Tier seine letzte Maroni entgegen, und das Ren biss entschlossen zu. Seine Zähne gruben sich in Meiers Handrücken, er glaubte das Zerreissen von zähem Fleisch, das Mahlen von Kiefern und ein würgendes Schlucken zu hören. Meier dachte voller Verwunderung daran, dass er einen reinen Pflanzenfresser vor sich hatte. Er fühlte keinen Schmerz, nur entsetztes Erstaunen, und während er sein Taschentuch um die blutende Hand wickelte und sich eilends auf den Weg zurück in die Stadt machte fragte er sich, was er seinem Hausarzt erzählen sollte. Würde der einen Patienten, der eine wirre Geschichte von einem fleischfressenden Ren erzählte, auf das er in Basels Aussenquartieren gestossen war, nicht in die Psychiatrie einweisen?

Wenigstens waren für den Moment der klapperdürre Hans Christian und sein Hunger vergessen.

Alles, was Meier sich wünschte, während er sein nicht ganz sauberes Taschentuch auf die Wunde presste war, die Villa nie wieder zu sehen. Und wie die meisten Wünsche Meiers sollte sich auch dieser nicht erfüllen. Tief in ihm drin war schon jetzt eine Ahnung von einer lebenslangen Aufgabe.

Sechs

In Grönland sind die Sommernächte gespenstisch hell und sehr still. Die Temperatur von wenigen Grad über Null empfinden Grönländer als angenehm. Hemdsärmlig und in ausgelassener Stimmung sitzen sie vor ihren bunten Häusern und der grüne Küstenstreifen im Süden und Westen, der schon Erik den Roten begeisterte, gibt ihnen offenbar genug Wärme. Rentiere und Moschusochsen tun sich an Flechten und Moosen und dem Gras gütlich, das sie nur gerade zwei Monate im Jahr verwöhnt. Es ist eine Zeit der Fülle, eine satte Zeit. Hin und wieder heben die Tiere die gewaltigen Köpfe und unterbrechen ihr Kauen, um zu lauschen. Auch für jagende Tiere ist der Sommer die Zeit der vollen Bäuche, und im Sommer sieht man alles Weisse kilometerweit. Die Winterfellreste auf den hohen Rücken der Moschusochsen. Die weissen Hälse und Bäuche der Rentiere. Erst im nächsten Winter wird das Weiss an den Körpern der Tiere wiederum verschmelzen mit dem weiten Weiss der Umgebung. Gleich hinter dem schmalen Streifen aus zögerlichem Grün beginnt die Sicherheit des kilometerdicken Festlandeises. Es gibt Dinge, die ewig sind.

Sieben

Der Doktor suchte in der Aussentasche seines Rucksacks nach dem Sandwich, welches er vor zwei Tagen eingesteckt hatte. Er hatte es noch in Zürichs Flughafenrestaurant gekauft, hatte es dann aber in der Aufregung nicht essen können. Nun war es seltsam welk wie ein zu lange aufbewahrtes Salatblatt.

Die Situation des Doktors war inzwischen absolut ausweglos. Es war unmöglich, das Richtige zu tun. Ihm war übel vor Hunger, und doch biss er reumütig und im Bewusstsein, das Falsche zu tun, in die mit Tomaten- und Käsescheiben belegten Brotschnitten. Mit vollem Magen würde er den gefürchteten Helikopterflug kaum überstehen. Sein Innerstes würde sich nach aussen kehren, und er würde seinen grönländischen Arbeitgebern vollgekleckert und übelriechend entgegentreten müssen, was alles andere als ein vielversprechender Anfang sein würde. Bekümmert würgte er die trockenen Brocken hinunter, denn mit komplett leerem Magen würde er den Flug ebenso wenig durchstehen. Sein Hunger war grenzenlos. Ganze zwei Minuten fühlte er sich besser, nachdem er gegessen hatte, dann verlangte der dänische Pilot seinen Flugschein und wies ihm einen Fensterplatz zu. Der Doktor quetschte sich traurig an die Scheibe. Wie gerne hätte er in der Mitte gesessen, eingepfercht zwischen den schützenden Leibern der anderen Passagiere. In der Mitte aber sassen eine junge Inuit mit prächtigem blauschwarzem Haar und ein dünner Engländer, der von einem blonden dänischen Hünen gegen die Frau gepresst wurde, die keine Miene verzog. Sie sprach ruhig in einem keiner anderen Sprache verwandten Inuitdialekt mit dem Piloten, bevor sich dieser einen Ohrenschutz aufsetzte und die Hand auf den Steuerknüppel legte.

„Nice place“, sagte der Engländer, und sie unterhielt sich nun in kehligem Englisch mit ihm über das Knattern des Rotors hinweg. Der Doktor hielt sich an der unerschütterlichen Ruhe in ihrem Gesicht fest, während der Helikopter abhob und mit käferigem Schweben seinen Weg zwischen zwei Bergen suchte. Der Fjord lag etwa fünfzehn Meter weiter unten, und der Doktor konnte es ertragen, hinunter zu sehen, so lange er an seinem Oberarm den Oberarm der Inuit spürte. Auf Windstösse antwortete der Helikopter mit spielerischem Hüpfen, als sei er mehr Insekt als Maschine. Und während er hüpfte und schwankte und ohrenbetäubend knatterte, sprach die Inuit weiter, lächelte den aufgeregten Engländer an, lächelte auch den halb ohnmächtigen Doktor an, und ihre unverbindliche, nur am Rande freundliche Geste holte ihn zurück ins Leben. Er klammerte sich mit den Blicken an ihr ruhiges Gesicht, empfing dankbar die Wärme des unfreiwillig gegen den seinen gepressten Körpers, erkannte ihr Nichtbegreifen seiner Panik, ihr durch nichts zu erschütterndes Vertrauen in alles, was zum Leben gehörte. Vertrauen ins Leben war dem Doktor zutiefst suspekt. Stumm, aber ungewohnt heftig und spontan ernannte er sie in Gedanken zu seinem Felsen, seiner Sicherheit. Er brauchte sie in diesem Moment mehr als die Luft zum Atmen, und aus dieser simplen Notwendigkeit heraus verliebte er sich während des nur sieben Minuten dauerndes Fluges in die Frau, von der er noch nicht wusste, dass sie seine grönländische Arbeitgeberin war. Sanft setzte der Helikopter auf dem runden Schotterplatz auf. Der Doktor schulterte seinen Rucksack und ging neben der Frau auf die bunten Häuser von Ittoqqortoormiit zu. Er blieb immer einen halben Schritt hinter ihr, um das Fliessen ihres blauschwarzen Haars betrachten zu können. In der Bucht steckten Brocken von ewigem Eis im gefrorenen Wasser fest. Es war Ende Februar und eisig kalt, und daran würde sich noch sehr lange nichts ändern. Es war erst vierzehn Uhr und bereits dämmerte es wieder. Erst Ende Juni würde die See die Brocken freigeben und sie sanft davondriften lassen. Darüber hatte der Doktor gelesen. Er wies mit der Hand auf den Fjord hinaus und liess ein erleichtertes Lachen hören. Er war angekommen. Er war in Grönland. Und Grönland sah aus wie im Bilderbuch. Die Inuit lächelte zurück und verschmolz mit des Doktors Vorstellung von Ewigkeit.

Acht

Wachtmeister Meier prallte zurück, als er den Polizeiposten betrat. Drei Wochen hatte er nicht an den Schustersohn mit dem geflickten Koffer und den durchlöcherten Schuhen gedacht. Und nun sass er zusammengesunken auf einem Stuhl, der unter seiner langen Gestalt winzig wirkte. Moser sass hinter der Schreibmaschine, trommelte gereizt mit den Fingern auf die Tischplatte und wiederholte:

„Ich frage sie nun zum letzten Mal ...“

„Hoffentlich ist er wenigstens klug genug, mich nicht zu kennen“, dachte Meier ohne positive Erwartung, und natürlich war Hans Christian nicht klug genug. Das Wünschen hätte Meier besser bleiben lassen, denn seine Wünsche verkehrten sich, ob ausgesprochen oder nicht, im Moment ihres Entstehens ins Gegenteil.

„Er hat mir Brot gegeben“, bekannte Hans Christian, und in seiner weinerlichen Stimme schwangen Ungläubigkeit und Begeisterung mit. Er streckte den langen, knochigen Zeigefinger aus und wies auf Meier. „Brot mit Schinken und Tomate“, fügte er schwärmerisch an.

Moser schwieg, doch ihr Blick sprach Bände. Auch Meier schwieg. Es hatte keinen Zweck zu leugnen.

Anders als andere Stadtstreicher lockte Hans Christian die Aussicht auf ein Bett im Trockenen und eine warme Mahlzeit aus der Gefängnisküche offenbar nicht. Er beteuerte, dringend gehen zu müssen. Er dürfe keinesfalls die Ankunft des Kindes verpassen, sagte er. Er legte seine langen Hände aneinander und streckte sie Meier flehend entgegen, als bete er um Verständnis. Moser verdrehte die Augen, bis man nur noch das Weiss der Augäpfel sah, und Meier wandte sich angewidert ab.

„Steht vielleicht auch noch ein Stern am Himmel, der den Weg weist?“ spottete die Polizeikommissärin jetzt. „Sind die Hirten und die Schafe schon unterwegs?“

„Nur das Kind“, beteuerte Hans Christian. „Nur das Kind ist unterwegs.“

„Himmelherrgott“, dachte Meier, „merkt er denn nicht, dass ihre Lefzen vor Sarkasmus triefen, und dass er sich immer tiefer hineinreitet?“

Aber Hans Christian wiederholte nur unentwegt seine Bitte, ihn doch gehen zu lassen, da er noch einen Besuch zu machen habe, der sich nicht aufschieben lasse.

Meier holte Kaffee, für Moser, für Hans Christian und für sich selbst. Hans Christian leerte seinen Becher, als sei er mit kaltem Wasser gefüllt, Meier nippte in dem Bewusstsein, eine lange Nacht vor sich zu haben, und Moser stiess ihren Becher aus Versehen um, bevor sie einen Schluck getrunken hatte. Meier wischte dienstbeflissen auf, holte aber, da er nicht dazu aufgefordert wurde, keinen neuen Kaffee, und dann sassen die drei schweigend und steif auf ihren Stühlen und warteten auf Befehl von Moser auf die Wahrheit aus Hans Christians Mund.

Die Wahrheit war, nach den Horoskopen, Mosers zweite Leidenschaft. Auf die Wahrheit wartete sie gerne und falls erforderlich auch lange.

Morgens um vier legte die Polizeikommissärin den schweren Kopf auf die Schreibmaschine und begann zu schnarchen, und Meier öffnete leise die Tür und schubste Hans Christian in die stille Gasse hinaus. Er bemühte sich, dabei an irgendetwas zu denken, nur nicht daran, dass Hans Christian nicht nach dem Warum fragen sollte, und da es ihm gelang, verschwand der Lange so geräuschlos in der Morgendämmerung, dass Moser ruhig und regelmässig weiterschnarchte. Meier setzte sich wiederum auf seinen Stuhl, dachte an dichte Wälder, an Geräuschlosigkeit und wohltuenden Dämmer. Bald schlief auch er, und als ihn Mosers Stimme zwei Stunden später in die Bürowirklichkeit riss, blickte er verdutzt auf. Er verzichtete darauf Moser, die bellte wie ein Pekinese, dem man auf den Schwanz getreten ist, darauf aufmerksam zu machen, dass sie vor ihm eingeschlafen war.

Neun

Seit dem 17. Januar schon schaffte es die Sonne über den Horizont. Im März stand sie drei Stunden täglich am Himmel, aber die Temperaturen verharrten bei minus 30 Grad. Der Doktor, der zu Beginn unsäglich unter der Kälte gelitten hatte, genoss diese nun. Er fühlte sich wohl und irgendwie konserviert, was er als tröstlich empfand. Im April störte ihn die zunehmende Helligkeit, und im Mai bedrohte sie ihn. Grönland erwachte. Das Leben spulte sich von Tag zu Tag schneller ab. Dicke Fliegen surrten an den Fensterscheiben des Container-Guest-Houses, wo die Forscher ihre kargen quadratischen Zimmerchen mit persönlichen Noten versehen hatten, weil sie länger zu bleiben gedachten. Alle hatten sie sich ein behelfsmässiges Labor eingerichtet, zwei besassen teure Mikroskope, einer versuchte über allerlei geheimnisvolle Drähte europäische Radioprogramme zu empfangen, vier hatten ihre Zimmerchen mit Nachschlagewerken vollgestopft, nur dem Doktor genügten Papier und spitze Bleistifte.

Im Juni kamen unzählige junge Tiere zur Welt. Walrosse und Seehunde guckten neugierig aus den Löchern im aufbrechenden Eis. Lärmige Zugvögel kehrten aus dem Süden zurück in ihre nicht mehr so kalte und lebensfeindliche Heimat, und auch sie wurden in aller Eile – ein arktischer Sommer ist kurz – Eltern von unzähligen lauten Jungen. Der Doktor dachte vor allem beim Anblick von Insekten unweigerlich an Fortpflanzung, und der Gedanke widerte ihn an.

Ende Juni war der Fjord soweit vom Eis befreit, dass er mit Schiffen befahren werden konnte. Im Dorf gab das Eis eine schmutzverkrustete Geröllhalde frei, und die strahlenden Farben der bunten Häuschen wirkten wie eine fade Entschuldigung für so viel Unrat und üble Gerüche.

Wo das Leben schnell abläuft, kommt der Tod schnell und unaufhaltsam näher. Kälte konserviert Leben, während Sonnenwärme seinen Zerfall beschleunigt, und den Doktor schmerzte alles Heiter-Sommerliche; flatternde Wäsche, spielende Kinder, lachende und feiernde Menschen, üppige Sommermahlzeiten, tollpatschige junge Tiere und vor allem Sonne im Übermass. Ihre Strahlen waren tatsächlich warm und so grell, dass das Tragen von dunklen Brillen zur Pflicht wurde.

Der Doktor suchte seine Schneekönigin jeden Tag unzählige Male mit dem Blick und holte sich Sicherheit und Trost in ihrer stoischen Ruhe. Ihre schwarzen Augen verlangten nicht nach schützenden Brillen, und ihre braune Haut veränderte sich nicht, während der Doktor und seine Kollegen längst unter schmerzhaften Sonnenbränden litten. Sie lachte selten, sie freute sich nicht am Sommer, sie liess sich nicht ablenken und führte ihre Studien mit jener Langsamkeit durch, die die Zeit stillstehen liess. Dass die Zeit still stehen möge, wünschte sich der Doktor mehr als alles andere auf der Welt.

Zehn

Die Stadt schlief und nur in der Villa auf dem Hügel brannte noch Licht.

„Konzentrier dich!“ befahl Williams schneidende Stimme. Mit einer raschen Bewegung liess er das schwarze Pferd vorpreschen und wischte den Läufer des Doktors vom Brett. Der Doktor seufzte schwermütig. Er suchte vergebens im braungebrannten, von unglaublich vielen Furchen und Fältchen durchzogenen Gesicht des alten Arztes nach einem Funken von Erbarmen. Und wieder steigerte sich die Stimme der Frau hinter der geschlossenen Tür zu schrillem, verzweifeltem Kreischen.

William sah sein Gegenüber strafend an. Spöttisch zog er eine fragende Augenbraue hoch.

„Nun gib ihr endlich etwas!“ verlangte der Doktor matt. „Hörst du nicht, wie sie sich quält?“

Doch William winkte ab, mit einer jener grossspurigen Gesten, die zu seinem beeindruckenden Äusseren passte.

„Theater“, sagte er, „ihr Schreien ist nichts als Theater. Das Kind, das sie erwartet, ist winzig. Es kann ihr keine grossen Schmerzen bereiten. Sobald sie bereit ist, es in die Welt zu setzen, wird es mühelos aus ihr herausflutschen.“

„Sicher täuschst du dich, und es ist grösser als du denkst. Vielleicht liegt es auch quer und kann gar nicht auf natürlichem Wege geboren werden“, sorgte sich der werdende Vater.

„Ich täusche mich nicht“, brauste William unwillig auf. „Damals, als ich auf meine Approbation hinarbeitete ...“

„Achtzehnhundertsechsundneunzig, ich weiss“, ergänzte der Doktor.

„... habe ich in zwei Monaten im Londoner East End zweihundertsiebenundachtzig Frauen entbunden. Dreissig Geburten wären vorgeschrieben gewesen. Aber die Sterne standen günstig für Geburten. Oder es hatte neun Monate vorher Stein und Bein gefroren sodass, wer nach dem wärmsten Zeitvertreib suchte, nicht lange überlegen musste. Ich habe geackert wie ein Gaul. Ich war mehr Stunden am Tag blutverkrustet und mit seltsam riechenden Flüssigkeiten parfümiert, als ich sauber war. Also erzähl du mir nicht, wie man die kleinen Racker auf die Welt holt.“

Der Doktor nickte unentwegt mit dem Kopf wie einer, der eine abgedroschene Geschichte zum tausendsten Mal hört. Noch dazu widerte ihn die Geschichte an, und er hätte viel darum gegeben, sie nicht wieder hören zu müssen. Gedankenverloren rückte er seinen Turm in eine höchst ungünstige Position.

„Wenn ich gewinne, gibst du ihr etwas“, wagte sich der Doktor in plötzlicher Eingebung vor.

William schlug sich amüsiert auf die Schenkel.

„Du hast noch nie gewonnen, mein Lieber!“

Er griff nach dem Turm und sagte beiläufig: „Schach!“

„Ich gebe auf“, sagte der Doktor. „Siehst du nun nach ihr?“

„Warum siehst du nicht nach ihr?“ fragte William, nachdem das Schreien der Frau wieder abgeklungen war. „Schliesslich bist du Arzt, und ein Arzt ist so schlecht wie der andere.“

„Ich kann kein Blut sehen“, gestand der Doktor bedrückt, und bei dem Wort ‚Blut’ verfärbte sich seine Nasenspitze ins Grünliche und er wurde noch blasser, als er schon war.

William zog erstaunt beide Augenbrauen bis an den schütteren Haaransatz hinauf. Er tat, als sei ihm diese Tatsache neu.

„Nun gut“, lenkte er ein, „wenn dir so viel daran liegt, sehe ich nach ihr. Weißt du, damals, im East End wurde ich einmal morgens um zwei Uhr zu einer Frau gerufen, die ...“

Beide standen auf, William mit energischem Ruck, der Doktor schwankend wie eine hohe Tanne im Wind. Der Doktor krallte sich an Williams Arm.

„Ich kenne die Geschichte. Bitte erspar mir die Details!“

William liess mit Knurren und leisem Bedauern die Erinnerung an den grauenhaftesten Fall seiner Laufbahn als Gynäkologe fallen. Er stand auf und streckte sich genüsslich. Nun konnte er bequem auf den um einen halben Kopf kleineren Doktor hinuntersehen, der mit seinen hundertachtzig Zentimetern selbst kein Zwerg war.

„Ich gebe ihr etwas“, versprach William listig, „- wenn du mitkommst. Sie ist schliesslich deine Frau, unsere Schneekönigin. Und sie bekommt dein Kind.“

Er öffnete schwungvoll die Tür. Der Doktor hielt sich am Türrahmen fest.

„Ich bin ...“

„... Forscher“, ergänzte William, „kein Praktiker. Das Leben interessiert dich nur theoretisch, und die Wirklichkeit ist dir zu blutig, zu klebrig, zu unappetitlich, zu bedrohlich, zu theatralisch und auch zu schnell vorbei. Aber an den Theorien, mein Lieber, hat die Menschheit weder gegessen noch ausgelitten.“

Er träufelte eine farblose Flüssigkeit auf eine Gazemaske und stülpte sie der Patientin übers Gesicht. Der Doktor schnüffelte prüfend in die Luft.

„Chloroform?“ fragte er fassungslos. „Bist du nicht etwas altmodisch?“

„Ich bin alt, nicht altmodisch“, belehrte ihn William. „Ich bin sogar sehr alt; sozusagen fossil. Ausserdem praktiziere ich ebenso wenig wie du. Ich habe meinen Beruf an den Nagel gehängt ...“

„Als du als Schriftsteller erfolgreich wurdest. – Und das war ein paar Wochen, nachdem du dein Diplom erhalten hattest“, ergänzte der Doktor mechanisch.

„Um aufs Chloroform zurückzukommen“, sagte William jetzt, „so hat es Vorteile. Es betäubt nicht nur den Schmerz. Es entkrampft auch die Muskeln. Und es lähmt den Willen.“

Der Doktor machte eine abwehrende Handbewegung. Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf, aber bevor er noch entschieden hatte, welche von ihnen er William zuerst stellen wollte, wandte ihm der Freund und Hausarzt den stechenden Blick zu.

„Sie will kein Kind. Ich nehme an, dass dir diese Tatsache bekannt ist. Sie will nicht, dass ihr ein Kind zwanzig Jahre lang das Leben schwer macht. Sie ist Forscherin – wie du. Sie ist beschäftigt, auch ohne Kind.“

Der Doktor sah stumm auf seine Schuhe hinunter.

Das Chloroform tat seine Wirkung. Die Atemzüge der Frau wurden ruhig, die Muskeln erschlafften, und ihr Körper gab das Baby mühelos frei. William wickelte das Kind, das leise gurgelte wie ein ertrinkendes Kätzchen, in ein Tuch. Er wischte ihm mit einer Zärtlichkeit, die den Doktor erstaunte, das Gesichtchen sauber und legte das Bündel dem frischgebackenen Vater in die unbeholfenen Arme. Der Doktor hatte eine Tochter, und sie war genau so winzig, wie William es vorausgesagt hatte.

Elf

Die Arbeitstage des Doktors waren angefüllt mit allem, was er hasste, mit Zerfall und tödlichem Schrecken und Angst vor Krankheit und Schmerzen und Tod. Seine Patienten kamen zu ihm, wenn sie sich fürchteten vor diesem Leben, das nicht ewig währte, und sie brachten immer neue Beweise für unaufhaltsamen Zerfall mit.

Der Doktor hielt sich aus der Sache heraus, so gut es ging. Er hörte weg, wenn seine Patienten jammerten, und er freute sich, wenn sie sich schon vor ihrem Besuch eine Meinung gebildet und einen Lösungsweg ersonnen hatten. Dienstbeflissen verschrieb er ihnen die Medikamente, von denen sie sich Hilfe versprachen, und sein Ruf als guter und williger Arzt machte die Runde. Manche Tage waren sogar regelrechte Glückstage. Seine Patienten liessen ihre Termine platzen und er sah sie auf der anderen Strassenseite gesund und munter vorbei gehen. Ihre robusten Naturen hatten sie zurückgeschubst auf den Weg des Lebens, und das Schicksal hatte ihnen Aufschub gewährt.

Das persönliche Unbehagen des Doktors aber wuchs von Woche zu Woche, und eines Tages, als er in der Mittagszeit in seinem Wartezimmer sass und ins mitgebrachte Brot beissen wollte, glaubte er säuerlichen Gärungsgeruch wahrzunehmen. Die beiden Brotscheiben, der sorgfältig eingeklemmte Käse und die zwei Salatblätter hatten offenbar begonnen, sich zu zersetzen, noch bevor sie mit seinen Verdauungssäften in Berührung gekommen waren. Als des Doktors Gedanken an diesem Punkt angelangt waren, wurde ihm bewusst, dass sein eigenes Inneres darauf angelegt war, Dinge zerfallen und verschwinden zu lassen. Dinge sterben zu lassen.

Er beschloss, fortan zu lesen, während er ass, um seinen Gedanken Fesseln anzulegen. Sie sollten ihn nicht in Gefilde entführen, die er lieber mied. Er griff nach einer medizinischen Zeitschrift, freute sich eine Sekunde lang an seinem eigenen Pflichtbewusstsein, blätterte dann, ohne etwas aufzunehmen, durch teure Glanzpapierseiten mit ekligen Bildern, bis er auf eine Ausschreibung stiess, welche ihn fesselte, obwohl ihn das Forschungsthema – Vitaminversorgung in Gebieten der Arktis – kaum interessierte. Vielmehr war es das kurze und hübsche Wort Arktis, welches ihm zusagte, und er bewarb sich in blumigem Stil um die Stelle, ohne damit zu rechnen, angenommen zu werden.

Als er zwei Wochen später eine Zusage aus dem Briefkasten fischte, war er schockiert. Allerdings gab es kein Zurück mehr, denn die Flugtickets lagen ebenso bei wie ein Reiseplan und eine lange Liste mit Dingen, die er mitzubringen hatte. Selbst die Daten und Uhrzeiten der ersten Teamsitzungen standen schon fest. Und so packte der Doktor, der in seiner übergrossen Ängstlichkeit noch nie auch nur einen Zug bestiegen hatte, seinen Koffer, um um die halbe Welt zu reisen.

Zwölf

Wachtmeister Meier sah ganz entgegen seiner Gewohnheit zum hundertsten Mal nach der Uhr. Ein unglaublicher, überdeutlicher Traum, den er in der vergangenen Nacht geträumt hatte, liess ihn einfach nicht los. Von Weihnachten hatte er geträumt, von lautlosem Schneetreiben in tiefer Dunkelheit. Er hatte Hans Christian glücklich auf ein Neugeborenes hinunterlächeln sehen, und er hatte geblendet und blinzelnd den hellen Stern wahrgenommen, der über der Villa stand.

Verrückt, was man so alles zusammenträumt! Wie konnte einer mitten im Sommer so real von Schneetreiben träumen, dass er frierend erwachte und nach der verrutschten Decke suchte?

Meier dachte auch nach dem fünften Espresso im Büro noch an seinen Traum. Er hätte Bewegung gebraucht, Luft. Die Uniform klebte am Gesäss, das Hemd am Rücken. Seine Gedanken begannen um die Villa zu kreisen. Dort oben wehte bestimmt auch an drückenden Tagen ein schwaches, wohltuendes Lüftchen, und genau danach sehnte er sich in diesem Moment unendlich.

Das düstere, beschwörende Horoskopgebrabbel von Kommissärin Moser ging Meier auf die Nerven, aber er wagte es nicht zu belächeln. Niemand auf der Polizeistation hätte das gewagt.

Meier sass und wartete und liess dumpf brütend die Zeit vorüberticken, und obwohl er inständig hoffte, dass es nicht kommen würde, wie es kommen musste, tat Moser genau das, was sie immer tat, wenn ungünstige Sternenkonstellationen sie beunruhigten; sie versuchte, ihren Dienst abzutauschen. Genau genommen drückte sie sich „in gefährlichen Nächten“ davor.