Zirkus Zauberhaft - Claudia Gürtler - E-Book

Zirkus Zauberhaft E-Book

Claudia Gürtler

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Beschreibung

Werde ich geliebt? Das ist DIE Frage in jedem Kinderleben. Werde ich aufgefangen und gehalten? Wer hilft mir, stark und mutig zu werden? Der sechsjährige Gregor träumt vom Zirkus und eckt damit bei seinen Eltern gewaltig an. Er erfährt, sein Grossvater als Zirkusdirektor von Dorf zu Dorf zieht. Nonno Louis ist das schwarze Schaf der Familie. Gregor soll keinesfalls in seine Fussstapfen treten. Aber als Gregor alt genug wird, um mit dem Zirkus zu ziehen, holt ihn Maika, die stärkste Frau der Welt, zu Hause ab. Plötzlich geht alles schnell in Gregors Leben: Er lernt Géraldine kennen und wird Vater von sechs Söhnen. Arthur, Bela, Maxim, Sereno und Vitus sind echte Zirkuskinder und furchtlose, talentierte Artisten. Ursus aber, der Jüngste, ist ängstlich und schwerfällig. Es fällt Gregor schwer, auch ihn zu lieben. Nun ist es Ursus, der gewaltig aneckt - aber das wird Gregor erst bewusst, als es fast schon zu spät ist für eine glückliche Kindheit für den Jungen. Aber Ursus wächst über sich hinaus und wird nicht nur der jüngste Zirkusdirektor aller Zeiten; nein, er zähmt auch einen Bären, den wilden Aljoscha, und er entdeckt dabei sein grösstes Talent: die Liebe!

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Seitenzahl: 225

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Claudia Gürtler

Zirkus Zauberhaft

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Ursus kann fliegen

Gregor im Jahr des ersten Geschenks

Maika und das Kästchen

Gregor und das Kästchen

Gregor liest eine Botschaft

Maika und ein Junge als Geschenk

Gregor spielt

Gregor macht eine Entdeckung

Gregor träumt

Früher konnte Ursus fliegen

Gregor und der Oktoberschnee

Ein Geschenk zum sechzehnten Geburtstag

Gregor unter dem Apfelbaum

Maika oder alles Schwere ist leicht

Hasel, Birke und das ganze Glück auf Erden

Gregor findet das Glück auf der Strasse

Gregor macht keinen Luftsprung

Gregors erster Zirkusbesuch und Notturnos grosser Auftritt

Nonno Louis und ein müder alter Zirkus

Louis, Louise und ein Geschenk aus Holz

Kurz und Hager bekommen einen Auftrag

Gregor oder das Glück ist ein Föhnsturm

Seile, Pflöcke, Ketten, Stangen und viel Tuch – Maika und Ettorino stellen ein Zelt auf

Kurz und Hager wollen grosse Ermittler werden

Willkommen Arthur! Nonno Louis verschenkt seine Handschuhe

Ein Zauberer und ein neuer Name für den Zirkus

Unverhofftes Glück für Kurz und Hager

Notturno hat Geheimnisse

Kurz und Hager erstatten zum ersten Mal Bericht

Wie die Zeit vergeht!

Géraldine hat Geheimnisse

Kurz und Hager erstatten zum zweiten Mal Bericht

Zaubermittel gegen Wutanfälle

Der Geruch nach Holz

Gregor rechnet

Verlernt Nonno Louis das Zaubern?

Kurz und Hager erstatten zum dritten Mal Bericht

Géradine träumt

Géraldine und die verlorene Leichtigkeit

Wer fliegt mit Ursus?

Pjotr und Aljoscha – ein Mann und ein Bär wollen bleiben

Tanz, Aljoscha, tanz!

Mehr Tiere für den Zirkus Zauberhaft

Sereno und die Wiesentiere

Ein riesiger Stolperstein – Wilhelm der Grosse

Géraldine und Gregor und ein schwieriges Gespräch

Pjotr und Aljoscha treten zum ersten Mal auf

Ein Montag voller Missgeschicke

Fuoco will bleiben – und Pate werden

Eine grosse Überraschung für den Zirkus Zauberhaft

Ursus, Zirkuskind

Kurz und Hager erstatten zum vierten Mal Bericht

Ursus wird verwöhnt

Kein Wort von Pjotr

Kurz und Hager erstatten zum fünften Mal Bericht

Ursus und ein Geschenk aus Holz

Fliegen macht frei

Géraldine und das Jahr, das einen Tag zu wenig hatte.

Ursus freut sich auf seinen sechsten Geburtstag

„Wenn du springst, fällst du …“

Ursus verlernt das Fliegen

Sie fehlt uns, sie fehlt uns

Ursus wünscht sich ein Tier

Gregor möchte die Zeit zurückdrehen

Ein Bär und ein Junge, schwer wie ein Bär

Gregor möchte Ursus umarmen

Aljoscha dreht durch

Der Bär muss weg!

Fuoco und viele kleine Flammen

Ursus, vom Wald in die Arme genommen

Ärgern und sich ärgern lassen – Pjotr wird wütend

Vitus, Aljoscha und noch mehr Ärger

Kurz und Hager erstatten zum fünften Mal Bericht

Herbst über dem Zirkus Zauberhaft

Ein Tier für Ursus

Nonna Louise und der Trost des Waldes

Pjotr und Ursus und eine kostbare Leihgabe

Sichtbare und unsichtbare Ketten

Ursus, Aljoscha und ein Hut voller Münzen

Ursus und Aljoscha – Gespräche im Wald

Ursus und Aljoscha und allerlei Ketten

Unterdessen im Zirkus Zauberhaft: auf der Suche nach Ursus

Eine Suche gestaltet sich schwierig

Ursus und der Klang einer Drehorgel

Ein Bär und ein Junge

Ursus und Marie

Fliegen und aufgefangen werden

Hände, die dich halten

Ursus und Marie und ein grosses Geheimnis

Aljoscha, Diego und Marco

Unterdessen im Zirkus Zauberhaft

Kurz und Hager erstatten zum fünften Mal Bericht

Ursus und Marie und ein langer Winter

Ein Bär im Programm des Zirkus Bellrami

Wo ist Aljoscha?

Unterdessen im Zirkus Zauberhaft: Pjotr kehrt zurück

Kurz und Hager haben nichts zu sagen

Aljoscha findet, was er sucht

Ursus träumt

… Wenn du aber Hände hast …

Ein Bär, ein Junge und ein Mädchen kommen nach Hause

Alltag im Zirkus Zauberhaft

Die Pyramide oder sechs Brüder und ein Mädchen

Ursus kann fliegen

Ein Tusch für Gregor und Ursus

Kurz und Hager und das Ende einer Mission

Geschenke aus alter Zeit

Der Zirkus Zauberhaft feiert Erfolge

Ursus erzählt noch eine Geschichte

Ein grosses Geschenk für Ursus

Impressum neobooks

Ursus kann fliegen

Wenn du springst, fällst du; wenn es aber Hände gibt, die dich auffangen, überwindest du alles, die Schwerkraft, das Böse, die Angst.

Als er ganz klein war, ja, da konnte er es! Als Ursus drei, vier und fünf Jahre alt war, konnte er fliegen. Ganz leicht ging das. An kühlen Tagen und bei blassblauem Himmel war es besonders einfach.

War es Traum? War es Wirklichkeit? Es war beides, ganz bestimmt war es beides, aber was kümmerte es ihn!

Er konnte fliegen! Das allein zählte. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl hob den Jungen hoch und trug ihn hinauf bis fast zu den Wolken. Und wenn er wieder Erde oder Gras unter den blossen Füssen spürte, hüpfte er leichtfüssig durch den Tag und strahlte übers ganze Gesicht.

Gregor im Jahr des ersten Geschenks

Murten, 3. November 1912

Auch Gregor flog im Traum, und als er sechs wurde, gab er zu, dass er vom Zirkus träumte. Er flüsterte, als er sich zum ersten Mal den Besuch einer Zirkusvorstellung wünschte. Er ahnte, dass sein Wunsch im Hause Schröder nicht gut ankommen würde. Und er hatte Recht.

Träume sind gut und schön.

„Aber sie müssen irgendwo hinführen“, sagte Herr Schröder.

„Wohin denn?“, fragte Gregor.

Er dachte daran, wie einfach es war, zu fliegen, wenn der Himmel kühl und blassblau war, aber das behielt er für sich.

„Zu etwas Sinnvollem wie Erfolg, Anerkennung und gutem Verdienst“, erklärte Herr Schröder. „Vielleicht sogar zum Nobelpreis.“

Frau Schröder strich ihrem Jungen übers dunkle Haar, aber ihre Stimme klang fest und bestimmt.

„Für Träume, die nirgendwo hinführen ist kein Platz im Hause Schröder. Das weisst du, nicht wahr, mein Junge? Also warum träumst du nicht davon, ein berühmter Physiker zu werden oder ein …“

Gregor hörte nicht länger zu. Er kämpfte gegen die dunkle Wut an, die manchmal in ihm brodelte.

Niemand, dachte er trotzig, niemand konnte ihn am Träumen hindern. Auch nicht am Fliegen!

Gregor hatte Anfang November Geburtstag, und als er neun wurde, begann die Zeit der Geschenke. Die Kälte, die durchs halb offene Fenster drang, weckte ihn früh. Auf dem Fenstersims lag im allerersten Schnee des Winters eine kleine rote Schachtel. Das Geburtstagsgeschenk, das sie enthielt, liess Gregors Herz höherschlagen. Ein strammer Turner in weisser Hose und blauem Hemd mit goldenen Sternen war’s. Er hatte die winzigen Hände fest um eine Stange gelegt, und wenn Gregor eine kleine Kurbel drehte, drehte auch er sich, erst langsam, dann immer schneller, bis das Weiss der Hose und das Blau des Hemdes zu einem hellblauen Wirbel verschmolzen.

Gregor versuchte, es dem kleinen Turner gleich zu tun. Frühmorgens übte er in seinem Zimmer Purzelbäume auf dem Teppich und Saltos von Bett und Schrank. Er benutzte die Matratze als Trampolin. Irgendwann würde er wirklich fliegen zu können, da war er sich ganz sicher. In seinen Träumen sah er sich hoch oben unter einer Zirkuskuppel. Er trug eine weisse Hose und ein blaues Hemd mit goldenen Sternen, und die Zuschauer legten die Köpfe in den Nacken und hielten den Atem an.

Als Gregor nach einem Doppelsalto rückwärts, auf den er sehr stolz war, die Matratze verfehlte, rief das Gepolter eines fallenden Stuhls die Eltern in sein Zimmer.

Stumm sassen sich die drei an diesem eiskalten Morgen seines neunten Geburtstags beim Frühstück gegenüber.

„Wir wissen, dass du inzwischen ein sehr geübter Leser bist“, sagte Herr Schröder, und seine Stimme schwankte zwischen Vorwurf und Stolz.

„Du glaubst, dass du Geheimnisse vor uns hast, aber …“ Er liess den Satz unvollendet.

„Geheimnisse sind gut und schön, aber wir möchten, dass du sinnvolle Träume träumst“, ergänzte Frau Schröder. Sie legte ein Geschenk neben Gregors Teller. Es war in blauweisses Papier eingewickelt und Gregor dachte, wie gut es doch sei, dass er den Turner ganz hinten im Kleiderschrank versteckt hatte, bevor er mit seinen Übungen begann. Er bedankte sich für das dicke Buch über die Gesetze der Schwerkraft und hoffte, dass man ihn nie fragen würde, was drinstand.

Da war sie wieder, die Wut, die ihn mit den Zähnen knirschen liess. Eine Wut auf nichts und auf alles. Eine Wut wie ein brodelnder Vulkan, der ausbrechen wollte, aber nicht ausbrechen konnte.

Maika und das Kästchen

Gruyères, 4. November 1912, spätabends

Maika kaute auf ihrer Unterlippe herum.

Nonno Louis wartete.

Immer dauerte es eine ganze Weile, bis Maika herausrückte mit den Dingen, die sie umtrieben und bedrückten.

„Denkst du nicht, dass es höchste Zeit wäre, Gregor das Kästchen zu bringen?“

Nonno Louis schaute sie lange an, schwieg aber. Bestimmt hatte Maika noch mehr auf dem Herzen, und je weniger er fragte, umso eher würde er es erfahren.

„Heute war er wieder wütend“, berichtete Maika. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, Nonno Louis, wie wütend er war!“

„Hatte er denn einen Grund, wütend zu sein?“, wollte Nonno Louis wissen.

Maika verdrehte die Augen. Warum fragte Louis noch, wenn er eh immer alles wusste, bevor man es auch nur gedacht hatte?!

„Er war wütend, weil er Geburtstag hatte“, brachte Maika schliesslich heraus.

„So?“, wunderte sich der Nonno. „Na, wenn das mal nicht ein sehr seltener Grund ist!“

„Wenn du das dicke Buch gesehen hättest mit den langen Kapiteln und den schwierigen Wörtern, das Gregor lesen muss! Wenn Du die Gesichter von seinem Papa und seiner Mama gesehen hättest! Wenn du … , ach, Nonno Louis, denkst du nicht auch, dass es Zeit wäre für das Kästchen, allerhöchste Zeit?“

„Gregors Wut kann ich mir vorstellen.“ Der Nonno nickte.

„Er war so wütend wie ein Drache, der eine Prinzessin verschlucken wollte, aber einen Felsbrocken erwischte.“

„Mindestens“, rief Maika erleichtert, „mindestens.“

„Er ist ein Vulkan, der brodelt und kocht, aber nie ausbricht“, vermutete Nonno Louis.

„Genau, genau!“

„Dann, denke ich“, sagte Nonno Louis, „ist es Zeit für das Kästchen.“

Er holte ein hölzernes Kästchen aus seinem Wohnwagen und drückte es Maika in die Hand.

„Die Anleitung, die Anleitung“, sagte Maika ungeduldig. „Du musste eine Anleitung schreiben, Nonno Louis.“

„Aber Maika“, schalt der Nonno gutmütig. „Die ist doch längst geschrieben.“

Maika schob den Deckel etwas zur Seite und spähte in das Kästchen hinein. Richtig, da war sie, die Anleitung, aufgeschrieben in Nonno Louis‘ steiler Schrift. Das Papier steckte zwischen den hölzernen Würfeln. Alles war, wie es sein sollte, und Maika machte sich auf den Weg.

Gregor und das Kästchen

Murten, 5. November 1912, frühmorgens

Zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, war Gregor nicht rundum froh, dass sein Geburtstag vorbei und überstanden war. Er fühlte sich hin und her gerissen zwischen einer vagen Freude und der Wut, deren Wellen ihn wie ein dunkles Meer umspülten. Er war ihnen ausgeliefert.

Er wollte nicht an seinen Geburtstag denken. Nein, auf keinen Fall. Noch hatte er kein Versteck gefunden für das Buch. Er wollte es so gut verstecken, dass er es selbst nicht wiederfand. Er wollte nicht an die Gespräche von vorgestern denken. Er wollte nicht daran denken, dass seine Eltern wieder einmal vergessen hatten, einen Kuchen mit Kerzen zu besorgen.

Auf der anderen Seite wollte er an seinen Geburtstag denken. Unbedingt! Immer wieder malte er sich den Moment aus, als er das Geschenk auf dem Sims entdeckt hatte. Er hatte die Hand danach ausgestreckt, die kühle, schneeverkrustete Schlaufe berührt. Er hatte den Turner ausgewickelt. Sein Herz hatte geklopft bis zum Hals. Er hatte ein Geschenk bekommen!

Gregor wollte, dass es wieder passierte. Aber er hatte erst in einem Jahr wieder Geburtstag! Gewiss, er hatte den Turner. Vielleicht bekam er nächstes Jahr einen Jongleur mit Ringen und Tellern. Einen Dompteur mit einem Tiger oder auch zweien. Aber war es nicht schrecklich, dass ein Jahr so unendlich lang war? Bestimmt bekam er auch wieder ein Buch, das er nicht lesen wollte. War es nicht schrecklich, dass ein Jahr so kurz war?

Gregor bemerkte plötzlich, wie schwarz der Morgen war. Winternachtschwarz. So schwarz wie die Wut, die in ihm brodelte. Er hätte schreien, gegen die Wand treten mögen. Er hätte gerne etwas kaputt gemacht, irgendetwas.

Ihm war heiss vor Wut und Verzweiflung, aber er musste leise sein, ganz leise. Seine Eltern durften niemals erfahren, dass er wütend war. Vermutlich hätten sie ihn in der Bibliothek mit all den schwierigen Büchern eingesperrt. Er hätte lesen müssen, lesen, lesen, lesen, bis er sich beruhigte.

Gregor kletterte aus dem Bett und öffnete das Fenster. Die kalte Luft tat den heissen Wangen gut. Als er sich auf den Sims stützte, berührte seine linke Hand einen warmen Fleck. Lange konnte das hölzerne Kästchen da noch nicht gelegen haben. Gregor spähte in den nachtschwarzen Garten, auf die stille Strasse hinaus. Im Licht einer Strassenlaterne fiel ein dichter Vorhang aus Schnee. Es war niemand zu sehen. Gregor hob das Kästchen hoch und drückte es an sich.

Der Deckel liess sich leicht zur Seite schieben. Ein tröstlicher Geruch nach frischem Holz entströmte dem Kästchen. Gregor strich den Zettel glatt, der zwischen Würfeln lag. „Zähl, Gregor, zähl!“, stand da geschrieben. Nichts weiter, nur „Zähl, Gregor, zähl!“

Gregor legte die hölzernen Würfel, von denen keiner gleich war wie der andere, nebeneinander auf den Fenstersims. Und er zählte:

„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.“

Er stutzte. Es gab noch einen Würfel. Allerdings sah er so aus, als sei er in der Mitte durchgeschnitten worden. Oder hatte das Holz einfach nicht mehr gereicht?

„Dreiundzwanzig ein halb“, sagte Gregor laut.

In ihm drin verebbte die Wut. Das Brodeln und Kochen wurde weniger, dann wurde er ruhig, ganz ruhig.

„Dreiundzwanzig ein halb“, wiederholte der Junge. Plötzlich war er unendlich müde. Er kroch zurück ins Bett und legte das Kästchen unters Kissen. Als es endlich zögerlich novemberhell wurde, schlief er noch immer tief und fest.

Gregor liest eine Botschaft

Murten, Weihnachten 1917

Der prächtige Weihnachtsbaum mit der rotgoldenen Spitze reichte bis knapp unter die Decke. Stille füllte das Zimmer.

Diese Stille sollte der vierzehnjährige Gregor nie wieder vergessen. Sie ging dem hässlichen Geräusch voraus, mit dem sein Vater das grosse bunte Zirkusbild, an dem er Stunde um Stunde gemalt hatte, mitten durchriss. Er riss auch gleich Gregors Freude an Weihnachten entzwei, teilte sie in immer kleinere Schnipsel. Am Ende waren sie so winzig und eisig wie die nadelspitzen Schneeflocken im Dunkel der Nacht vor den Fensterscheiben.

„Wir möchten dich heute nicht mehr sehen“, sagte Gregors Mutter mit einer Stimme, die genauso eisig und nadelscharf war wie die Schneeflocken, „du kannst deine Geschenke morgen auspacken.“

Gregor stieg leise die Treppe hinauf und schloss die Tür seines Zimmers. Er zählte langsam und nun schon geübt bis dreiundzwanzig ein halb, bevor er das Fenster öffnete und den kalten Schnee auf die heissen Wangen fallen liess. „Ich weiss nicht, was an einem gemalten Zirkus so schrecklich ist!“, sagte er in die Dunkelheit hinaus.

Falls diese Bemerkung eine Frage war, erhielt er darauf keine Antwort, aber er entdeckte, als er das Fenster schon schliessen wollte, eine Dose auf dem Sims. Sie war mit einer roten Schlaufe dekoriert, die ihrerseits mit einem gefrorenen Saum aus Schneekristallen verziert war.

Nanu, er hatte doch nicht Geburtstag. Vor knapp zwei Monaten, an seinem vierzehnten Geburtstag, hatte er bereits ein Geschenk erhalten, nach dem Turner, dem Trompeter, dem kleinen rotweissen Zirkuszelt, der doppelt geknoteten Schlange und dem winzigen schwarzen Zauberzylinder war dieses aus der Reihe tanzende Geschenk das sechste, das siebente, wenn man das Kästchen mitzählte.

Er zögerte das Öffnen der Dose noch etwas hinaus. Dabei fiel sein Blick auf eine angeheftete Karte.

„Es ist einfacher, durchs Leben zu hüpfen, als durchs Leben zu kriechen“, las Gregor. Die im Schnee zerfliessende Schrift kam ihm vage bekannt vor, aber er hielt sich nicht länger damit auf. Er öffnete die Dose, die ein winziges Trampolin und einen Trampolinspringer im Clownskostüm enthielt. Der Springer war aus Hartgummi, und wenn man ihn auf das Trampolin fallen liess, hüpfte er hoch und machte einen Salto.

Gregor verbarg das Trampolin bei den übrigen Geschenken ganz hinten in seinem Schrank. Die Karte las er wieder und wieder. „Es ist einfacher, durchs Leben zu hüpfen, als durchs Leben zu kriechen“. Den Springer steckte er als Glücksbringer in die Hosentasche. Er behielt ihn fest in der Hand, als er die Treppe hinunterging, um seine Eltern zu fragen, was an einem gemalten Zirkus Schlimmes dran sei.

Er hörte ihre aufgebrachten Stimmen durch die geschlossene Tür. Auf halbem Weg blieb er stehen und horchte. Er drehte den Trampolinspringer um und um.

„Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, dreiundzwanzig ein halb“, murmelte er vor sich hin.

Dennoch verliess ihn der Mut und er ging die Treppe wieder hinauf. Er vermied die eine knarrende Stufe und schloss ganz leise die Tür.

Maika und ein Junge als Geschenk

Gruyères, Sylvester 1917/18

Viel Zeit war vergangen, und immer Anfang November hatte Gregor zum Geburtstag ein Geschenk erhalten. Nun war er schon fünfzehn, und auf dem zerknitterten Zettel, der um das linke Vorderbein eines schwarzen Pferchens gewickelt war stand „Wer den Mut hat zu galoppieren muss nicht auf der Stelle treten.“

Gregor hatte sich nie gefragt, wer die Geschenke brachte und sie im Schneetreiben auf den Fenstersims legte. So lange er zurückdenken konnte, hatte es an seinem Geburtstag geschneit und die kleinen Zirkusgaben trugen eine hübsche, kalte Verzierung aus Schneekristallen.

„Er hat sich nie gefragt“, sagte Maika. „Er hat sich nie gefragt, wer es ist, der ihm Geschenke bringt.“ Sie lächelte und dachte voller Zärtlichkeit an den Jungen, dem sie Jahr für Jahr ein paar Glücksmomente bescherte.

„Er hat sich nie gefragt“, bestätigte Nonno Louis, „und das ist gut so, meinst du nicht?“

Maika wiegte nachdenklich den Kopf.

„Lange war es gut so“, sagte sie, „aber ich frage mich, ob es auch heute noch gut ist. Nun ist er schon fünfzehn! Sollte er nicht langsam erfahren, dass ….“

„Nächstes Jahr“, sagte Louis schnell. „Nächstes Jahr werde ich mich alt genug fühlen, um mir einen Nachfolger zu wünschen. Und Gregor wird im nächsten Jahr das genau richtige Alter haben. Mit sechzehn ist man alt genug.“

„Alt genug, um …“, begann Maika, aber Louis legte ihr rasch und bestimmt die Hand auf den Mund.

„Alles passt zusammen wie eine Nussschalenhälfte auf die andere.“

Er zog eine Walnuss aus der Tasche und rüttelte an den beiden Hälften, bis sie sich voneinander lösten. Maika sah lächelnd zu. So war er, der Nonno, sanft, aber bestimmt, und was immer er wollte, erreichte er.

Sachte bewegte er nun auch die frische Nuss hin und her, auf und ab, bis sie sich aus der Schale löste. Er brach sie in zwei Hälften, entfernte die hölzerne Trennhaut und reichte Maika die eine Hälfte, während er sich die andere in die Backe schob.

„Nächstes Jahr“, versprach er kauend, „nächstes Jahr ganz bestimmt.“

Er warf Maika einen verschwörerischen Blick zu und sie freute sich still. Wie gut, dass sie sich einig waren. Nächstes Jahr also, nächstes Jahr ganz bestimmt.

Gregor spielt

Obwohl er dafür nun wirklich schon zu gross war, spielte Gregor, wann immer er alleine war, spielte mit der Versunkenheit eines Kindes, das man nie hatte spielen lassen.

Zum fünfzehnten Geburtstag hatte er ein Pferd mit zwei Reiterinnen bekommen. Das Pferd war nachtschwarz und die Reiterinnen sassen dicht hintereinander auf seinem breiten Rücken.

Gregor holte alle geschenkten Figuren hervor, dazu seine Bauklötze, die mit „Buche“, „Eiche“, „Esche“ und „Nussbaum“ angeschrieben waren. Wenn Kinder schon spielten, mussten die Spiele lehrreich sein. Allerdings hätten die Eltern wenig Freude an den Spielen ihres fünfzehnjährigen Sohnes gehabt, hätten sie davon gewusst. Gregor grinste vor sich hin. Es machte Spass, ihnen eins auszuwischen.

Der Junge baute seinen Zirkus auf. Der Trompeter blies einen Marsch, als Gregor einen Knopf an seinem Hinterkopf drückte. Genau so, dachte Gregor, beginnt im Zirkus jeweils das Abendprogramm!

„Es ist einfacher, durchs Leben zu hüpfen, als durchs Leben zu kriechen“, murmelte er vor sich hin. „Es ist einfacher, durchs Leben zu fliegen, als am Boden zu kleben; es ist einfacher, zu singen und Musik zu machen, als traurig zu sein. – Es ist einfacher laut zu werden, als seinen Kummer für sich zu behalten!»

Gregor seufzte. War es das? War es einfach, zu sagen, was man dachte, wenn ein schönes Zirkusbild zerrissen wurde?

In Gedanken versunken baute Gregor das rotweisse Zirkuszelt auf, legte die zweifach geknotete Schlange als Wächter vor den Eingang, damit das Publikum nicht zu früh die Ränge stürmte und nahm endlich den schwarzen Zauberzylinder in die Hand. Wenn man mit dem Finger rund um die Krempe strich, lugten zwei weisse Kaninchen daraus hervor. „Es ist einfacher, Kaninchen aus einem Hut zu zaubern als daran zu glauben, dass das Leben schön sein kann wie ein Zirkus!“, seufzte Gregor. Und wieder stellte er die bange Frage: „Ist es das?“

„Es ist einfacher, sich mit Lügen zufrieden zu geben, als Antworten zu fordern“, sagte er laut und stand auf.

„Ist es das? Ist es das? Ist es das?“, fragte er und gab sich selbst die Antwort: „Ja, das ist es! Antworten zu verlangen ist schwierig, sehr schwierig.“

Aber der Tag war gekommen. Fragen mussten gestellt werden. Antworten mussten her. Heute. Jetzt!

Wie vor langer Zeit steckte er den Trampolinspringer als Glücksbringer in die Tasche, auch das Pferd mit den Reiterinnen und die geknotete Riesenschlange. Ohne zu zögern ging er dieses Mal die ganze Treppe hinunter, klopfte höflich an die Stubentür und wartete auf das energische „Herein“ seines Vaters.

Gregor macht eine Entdeckung

Murten, 4. November 1918

Gregor sah erst seinem Vater, dann seiner Mutter fest in die Augen und fragte, was an einem gemalten Zirkus so schlimm sei. Ein Weihnachtsgeschenk sei das Bild gewesen, ein Geschenk, mit dem er sich viel Mühe gegeben habe. Ein Weihnachtsgeschenk, mit dem er seine Eltern habe erfreuen wollen.

„Uns macht ein Zirkus keine Freude“, sagte Frau Schröder spitz.

„Warum nicht?“, fragte Gregor.

Er wollte nun keineswegs aufgeben, bevor er Antworten erhalten hatte. Und sie kamen schneller als erwartet, die Antworten.

„Seinetwegen“, sagte sein Vater.

„Seinetwegen“, bestätigte die Mutter. „Dein Nonno Louis passt nicht ins Familienbild. Wir wollen keinen Zirkusdirektor in der Familie. Was sollen die Leute denken!“

„Nun ja“, gab Herr Schröder zögernd zu, „er ist mein Vater. Er ist dein Grossvater.“

„Was nicht bedeutet, dass er tun und lassen kann, was er will“, rief Frau Schröder. Ihre aufgebrachte Stimme schnitt in die Stille des Morgens.

„Wir könnten ihn einladen“, schlug Gregor vor.

„Auf keinen Fall!“, rief sein Vater sofort.

„Das hätte gerade noch gefehlt“, ergänzte seine Mutter.

„Wir sollten eine Vorstellung besuchen!“

Gregor strahlte.

„Ich wünsche mir zu Weihnachten, dass wir eine Zirkusvorstellung besuchen.“

„Geh auf dein Zimmer“, verlangte seine Mutter, „wir wollen dich heute nicht mehr sehen.“

„Na“, meinte Gregor, „so weit waren wir doch schon mal.“ Er hüpfte leichtfüssig die Treppe hoch.

„Ich gehe in den Zirkus, das lasse ich mir nicht nehmen!“, rief er, bevor er die Tür zuknallte. Herr und Frau Schröder sahen sich an. Es war das erste Mal, dass Gregor eine Tür zuknallte.

Gregor träumt

Gregors Bitten, den Grossvater einzuladen oder zu besuchen, verhallten ungehört und unerfüllt, aber der Junge erwähnte ihn, den er nun Nonno Louis nannte, wieder und wieder. Trotzig und so oft wie möglich erwähnte er ihn, und die empörten Gesichter der Eltern amüsierten ihn inzwischen mehr, als dass er sich vor ihnen fürchtete.

Er hatte einen Grossvater, der Zirkusdirektor war! Er war ein sehr trauriger Junge, aber ohne Zweifel auch ein sehr glücklicher.

Er träumte nun immer öfter vom Zirkus. Zuschauer war er, Eisverkäufer, Jongleur, Dompteur, Direktor oder Turner am Trapez. Ja, das vor allem! Gregor sah sich durch die Luft wirbeln, stolz, kühn, vom Publikum beklatscht und bewundert.

Wie einfach war es doch, vom Fliegen zu träumen, wenn der Tag kühl und der Himmel blassblau war!

„Herrrrrrrreinspaziert, meine Damen und Herren“, rief Gregor und wedelte im Traum mit den Glacéhandschuhen.

Wenn er morgens erwachte, fühlte er sich federleicht, so leicht wie ein Trapezkünstler, der durch die Zirkuskuppel fliegt.

„Ihr, die ihr auf euren Sesseln klebt“, jauchzte Gregor, noch ganz erfüllt vom Traumglück, „schaut her, ich kann es, ich kann fliegen!“

An manchen Abenden aber fühlte er sich schwer wie ein alter Tanzbär, der vom immer gleichen Programm genug hat und schwer am Leben und an sich selber trägt.

Früher konnte Ursus fliegen

1938 und später

Als er ganz klein war, ja, da konnte er es! Als Ursus drei, vier und fünf Jahre alt war, konnte er fliegen. Ganz leicht ging das. An kühlen Tagen und bei blassblauem Himmel war es besonders einfach.

War es Traum? War es Wirklichkeit? Es war beides, ganz bestimmt war es beides, aber was kümmerte es ihn!

Er konnte fliegen! Das allein zählte. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl hob den Jungen hoch und trug ihn hinauf bis fast zu den Wolken. Und wenn er wieder Erde oder Gras unter den blossen Füssen spürte, hüpfte er leichtfüssig durch den Tag und strahlte übers ganze Gesicht.

So lange er zurückdenken konnte, hatte Ursus fliegen können.

An seinem sechsten Geburtstag aber konnte er es plötzlich nicht mehr. Schwer drückte ihn das eigene Gewicht zu Boden. Er starrte auf seine Fussabdrücke und erschrak. Sie waren tiefer geworden. So war das also: Er wurde trauriger und schwerer, und seine Fussabdrücke wurden tiefer mit jedem Tag.

Gregor und der Oktoberschnee

Im Jahr, in dem Gregor sechzehn werden sollte, schneite es nicht erst Anfang November, sondern schon Mitte Oktober. Gregor rutschte in Pantoffeln die Auffahrt hinunter, um die Post zu holen, die Post für seine Eltern. Er hatte noch nie Post bekommen, aber er konnte nicht aufhören, darauf zu hoffen und zu warten. Und endlich war es so weit: Gregor zog einen sonnenblumenfarbenen Umschlag aus dem Kasten, auf dem sein Name stand. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, denn er kannte die Schrift.

„Es ist einfacher, durchs Leben zu hüpfen als durchs Leben zu kriechen“, flüsterte er, während er den Umschlag öffnete, der nur an einer Stelle nachlässig zugeklebt war.

„Es ist einfacher, mit dem Zirkus zu ziehen als an einem Ort zu bleiben, den man hasst“, las Gregor in der steilen Schrift seines Grossvaters.

„Ich weiss es, Nonno Louis“, sagte Gregor leise, „ja, ich weiss es, selbst im Schneetreiben ist es einfacher, mit dem Zirkus zu ziehen, als im viel zu warmen Zimmer zu sitzen und darauf zu warten, dass die Zeit vergeht.“

Er steckte den Umschlag in die Hosentasche, ohne ihn zu falten.

Am selben Abend machte Frau Schröder Ordnung im Kleiderschrank ihres Sohnes. Dabei stiess sie auf Gregors sorgsam gehütete Schätze, den Turner, den Trompeter, das rotweisse Zirkuszelt, die doppelt geknotete Riesenschlange, den Zauberzylinder, den Trampolinspringer und das nachtschwarze Pferd. Sie fegte die Geschenke von Nonno Louis in ihre Schürze. Gregor sah ihr voller Verzweiflung zu. Er würde die Kostbarkeiten wohl nie wiedersehen, aber wenigstens steckte das Kästchen mit den dreiundzwanzig und einem halben Würfel sicher unter seiner Matratze.

Der Junge ging früh zu Bett. Den sonnenblumengelben Umschlag mit der Botschaft seines Grossvaters legte er unters Kopfkissen. Er schlief sofort ein und träumte: