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Die einfachen Dinge des Lebens, die man nicht mit Geld bezahlen kann; eine Heimat im Herzen, suchen wir das nicht alle! Die Erzählungen handeln davon.
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2017
2019 Schemm Dieter
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie,40-44, 55359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7323-4257-0
Hardcover:
978-3.7323-4258-7
e-Book:
978-3.7323-4259 4
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Dieter Schemm
Erzählungen und Märchen
Die Schneeflocke fiel vom Himmel
Die Schneeflocke
Es begab sich zu einer Zeit, als die Schneeflocke noch so jung war wie der erste Sonnenstrahl des Morgens. Die Möglichkeit, am Ende des Jahres als weiße Pracht auf die Erde herabzufallen und alles ruhig und still zu machen, schenkte ihr die Hoffnung auf ein bisschen Frieden in der Welt. Immer wieder hörte sie von einem Leuchten in Kinderaugen; von Erwachsenen, die im Herzen jung geblieben waren und von Winterwanderern, die den Zauber ihrer Erscheinung zu schätzen wussten; doch das war es nicht allein. Tief drinnen glaubte die Schneeflocke noch an die unbezahlbaren Momente des Glücks, an die große Liebe, das Gute im Menschen und vor allem an ihren ganz persönlichen Traum!
Auch die anderen Schneeflocken, die in sich eine Bestimmung spürten, sammelten sich irgendwo am Himmel, sahen auf die Erde hinab und konnten es kaum erwarten, ihrer Berufung zu folgen. Selbst die kleine Schneeflocke gab ihren Gedanken eine Stimme und sprach:
„Was glaubt ihr, werden die Menschen uns mögen?“
Eine andere Schneeflocke, getragen von der Poesie, kam ihr ganz nahe, ließ die Berührung zu und meinte:
„Die Menschen, was man so hört hier droben im Himmel, sind verschieden! Manche sehen uns als Plage, andere mögen uns, leider können wir nicht alle zufrieden stellen. Aber wer uns mag, wer mit dem Herzen sieht, der freundet sich mit uns an, lenkt seine Gedanken nach innen, schaut uns in die Seele; selbst wir Schneeflocken haben etwas zu sagen, in unserer feinfühligen und tiefsinnigen Art. Manchmal gibt man uns gar die Hand, und wer das Staunen in sich noch nicht verloren hat, der gewinnt uns manch Gutes ab, freut sich mit uns und weiß uns zu würdigen!“ Die Schneeflocke schaute die anderen Schneeflocken an, bewegte sich wie eine Ballerina und wurde ganz still. Der Wind spielte mit ihr und blies sie wie Blütenstaub hin und her, schob sie leicht zu den anderen. Die Schneeflocke freute sich an diesem sanften Streicheln. Gekonnt wie eine Tänzerin ließ sie sich im Kreis treiben und verlor sich in Raum und Zeit.
“Wie nur werden uns die Menschen behandeln?“, fragte die Schneeflocke wenig später eine Ansammlung von fast gleichen Naturgebilden!“
Die Schneeflocken schauten sich an, sprachen miteinander und lauschten den Erfahrungen der anderen, die schon einmal eine solche Reise unternommen hatten. Eine Schneeflocke sprach von einem Jungen, der sich an ihr freute; eine andere von zwei Spuren im Schnee, die zu einer tief verschneiten Berghütte führten; eine dritte von der Möglichkeit des Wintersports; eine andere von der Sorge, dass die Menschen sie falsch verstehen könnten; und eine noch nicht zu Wort gekommene Flocke aus gefrorenem Wasser war ganz schwarz, da Benzin und Diesel ihr das Weiß nahmen. Da beschlossen die Schneeflocken, noch enger zusammenzurücken. Sie taten sich gut, in einer Zeit, wo die Hektik des Alltages und die Einsamkeit der Gefühle zum Spiegelbild der Seele werden. Dann stupste eine Schneeflocke eine andere an, berührte sie und meinte:
„Ich könnte den Menschen nur Freude bereiten, könnte ihnen nur schöne Stunden schenken. Mir wurde oft nahegelegt: Ärgere die Erdenbewohner nicht, tue ihnen nur wohl, passe dich der Gemeinschaft der braven Schneeflocken an, wir Schneeflocken sollten für den Frieden stehen!“
Eine andere Flocke des Winters aus Schnee und Eis überlegte nicht lange, lächelte, wie Schneeflocken lächeln, schmeichelte dem Wind, spielte mit diesem, drehte sich nach rechts und nach links und meinte dann:
„Armer Tropf, wer will schon so sein! Bei mir werden die Reifen der Autos durchdrehen, ich werde mich an Glasscheiben heften, Stürze heraufbeschwören, werde den Menschen die Langsamkeit und das Wesentliche nahebringen und darauf bestehen, dass sie sich mir anpassen und nicht ich mich ihnen!“ Die Schneeflocke wusste nicht so recht, wie sie damit umgehen sollte. Sie war noch so jung, hatte keinerlei Erfahrung mit der Welt da unten und bekam ein bisschen Angst. Eine andere Schneeflocke fühlte dies, eine, die von der Reise zurückgekehrt war und sich nun ausruhen konnte. Ihre Blicke trafen sich. Der Moment hatte beide zusammengeführt, und der Wissensdurst stand der noch so jungen Schneeflocke ins Gesicht geschrieben. Deshalb fragte sie einfach drauflos und lauschte den Ausführungen der anderen Schneeflocke.
„Der Mensch trägt sein eigenes Glück in sich, und manche dieser Kreaturen suchen und suchen und suchen ihr Leben lang, überall und nirgends; irgendwann wissen sie nicht mal mehr, warum und wonach sie überhaupt suchen. Dabei braucht es gar nicht viel, um fündig zu werden; trotzdem schaufeln diese Menschen weiter fleißig an ihrem eigenen Grab, das ist schade, sehr schade!“
Die kleine Schneeflocke sagte kein Wort. Plötzlich sah sie, wie fast alle ihrer Artgenossen sich der Schwerkraft der Erde hingaben. Alles hielt den Atem an und die Stille legte sich wie ein weißes Tuch über das Land.
„Beeile dich, wir wollen den Menschen unsere Zeit schenken und sie auf die Gabe hinweisen, in sich hineinzuhören; nicht nur am Fest der Feste!“
Die kleine Schneeflocke war viel zu neugierig geworden, um jetzt Zeit für eine weitere Frage verschwenden zu wollen und wusste sofort, was sie zu tun hatte. Sie tat das, wovon sie schon immer geträumt hatte; die Schneeflocke fiel vom Himmel!
Das Engelchen und der Nussknacker
Die Zeit tat Not, so dass das Engelchen immer öfter auf die Erde kam, um nach dem Rechten zu sehen. Das lange, blonde Haar glänzte silbern in der Morgensonne, in seinen Augen lagen Mut und Vertrauen, und ihr Mund war jede Sünde wert. Sein Ruf eilte ihm voraus; und so verlangte man erneut, was man sich von einem Engelchen ersehnt, dass es dem Himmel auf Erden den Weg ebne. Denn irgendwo auf der großen weiten Welt gab es mal wieder eine einsame Seele, die das Fliegen verlernt hatte und die Sonne nicht mehr sah; auf der das Leben Spuren hinterlassen hatte und wo das Glück auf Reisen war.
In den besten Jahren und ohne das erste graue Haar, saß dieser Jemand einsam und alleine im eigenen Zimmer seiner Gefühle und schaute zum wiederholten Male auf Wände und Gläser, hörte viel zu oft nur Nachrichten, in denen es um Mord und Totschlag ging, oder er vergaß immer öfter das Glück des Augenblicks, den Moment, das Jetzt und das hier. Seine Blicke verloren sich in Raum und Zeit, und weder das eigene Ich noch das andere Du bekamen eine echte Chance. Dass in diesem Fall ein Mensch oder ein Engelchen mit menschlicher Wärme und freundlicher Ausstrahlung wie ein Silberstreif am Horizont sein konnte, lag auf der Hand. Ein Anruf, ein Freund oder eine Freundin, jemand der vorbeischaut, einen in den Arm nimmt, einfach nur zuhört, also die einfachen Dinge des Lebens, die nicht mit Geld zu bezahlen sind – der Nussknacker spürte nur, dass dies ein Anfang sein konnte, nicht mehr und nicht weniger. Und so schickte er jeden Abend ein Gebet in den Himmel, umarmte sich selbst und vergrub seinen Schmerz. Was blieb, war das Engelchen, das bei solchen Vorzeichen keinen Feierabend kannte. Tag und Nacht war es im Einsatz, um die verlorenen Seelen auf den Weg zu bringen; und so bekam das Engelchen den Auftrag, jenen Nussknacker von der Last des Alltags zu befreien und ihm die Hoffnung und den Glauben wiederzugeben.
Wind huschte um die Blockhütte am Fuße der Felswand, hoch über dem Tal. Die Nacht kam bereits angebrochen und der Tag neigte sich dem Ende zu. Der Nussknacker lebte dort nach seinem eigenen Wunsch zurückgezogen, fernab von Hektik und Lärm. Oft saß er stundenlang vor der Hütte, schaute einfach nur auf das ewige Eis der Gletscher und verlor sich in seinen Bildern und Träumen der Sehnsucht, die inzwischen viele Spuren und tiefe Gräben in seiner Seele hinterlassen hatten. So blieb alles nur ein Fragment aus Gedanken, Überlegungen und Erkundungen. Vielleicht deshalb blieb jede Felswand so steil wie ein unerfüllter Traum, alles unberührt und einsam, manchmal weit weg, doch oftmals auch nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt. Dabei wurden hier oben die Murmeltiere zu Entdeckern von saftigen, von Chemikalien nichts wissenden Wiesen, für Frühaufsteher, Genießer und Freunde der Berge war der Sonnenaufgang hier oben wie eine Tür ins Paradies; aber auch Stille und Einsamkeit gab es hier, die für ihn zur Gewohnheit wurden. Ein Adler auf seinem Horst, dort, wo es am steilsten war, breitete seine Flügel aus und flog, flog mit der Sehnsucht und den Träumen in den Horizont, bis in die Unendlichkeit. Gleichzeitig gaben die letzten Sonnenstrahlen des geschenkten Tages den Felswänden hinter der Hütte einen weinroten Anstrich.
Im Dorf unten im Tal gingen inzwischen die Lichter eins nach dem anderen an, auch in der Blockhütte drang Licht aus einem Fenster. Der Geruch von Kerzenwachs lag drinnen im Raum, schwerer Atem machte sich breit. Schritte waren zu hören. Eine Gestalt zeigte sich am Fenster und schaute nach draußen. Es war der Nussknacker. Doch sein Blick war leer. Nichts, mit dem er die Sehnsucht des eigenen Ichs stillen und dem anderen Du eine Einladung schicken konnte, nichts, was ihm im Moment ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte. Er drehte sich um und legte sich auf das Bett. Er starrte an die Decke seiner Holzhütte und dachte für sich:
„Die Einsamkeit der Gefühle muss wohl der schlimmste Feind, das größte Gebrechen des Menschen sein!“
Aber warum änderte er nichts an seiner Situation? Hatte er den Schlüssel verlegt; durfte er überhaupt glücklich sein? Alles in ihm zog sich zusammen. Oder war er vielleicht doch zu müde und ausgebrannt, vielleicht hatte er die kindliche Neugier verloren, wer wusste das schon außer ihm selbst und dem Engelchen? Warum nur gab es für ihn trotz all seiner Sehnsucht nach dem Leben tausend Gründe, am Leben vorbeizugehen? Vielleicht stimmte es sogar, was die Leute unten im Tal über ihn sagten; sie meinten, er habe ein gebrochenes Herz. Manchmal dachte er sogar für sich, dass er agieren müsste und das Reagieren anderen überlassen sollte, um in seinem Leben eine Veränderung herbeizuführen. Aber auch die eigene Verantwortung für das eigene Leben übersah und überhörte er immer mehr. Was blieb, war das Göttliche in ihm. Vielleicht wurde es gerade deshalb höchste Zeit, Zeit fürs Engelchen, obwohl selbst das Engelchen wusste; helfen, helfen würde er sich nur selbst können. Aber das Engelchen konnte ihn zumindest wieder auf den Weg bringen, seinen Weg; denn für den eigenen Traum war es ja niemals zu spät, wie das Engelchen immer und immer wieder erfahren durfte. Das Engelchen wusste, wie kostbar es sein konnte, an sich selbst zu arbeiten, in sich hinein zu fühlen, sich auf den Weg zu begeben, den eigenen Weg. Und es war nun mal ihre Bestimmung, dabei zu helfen.
So mühte sich das Engelchen mit den Schatten der Nacht Schritt für Schritt den Steig hinauf, der steil und anstrengend verlief, doch sein Engelsschein leuchtete ihm den Weg und so hatte das Engelchen keine Probleme, zur Hütte des Nussknackers zu finden. Der Nussknacker schien keine Ahnung zu haben, dass sich jemand auf dem Weg zu ihm befand. Als das Engelchen endlich in einiger Entfernung ein Licht sah, wusste es, dass es nicht mehr weit sein konnte. Was der Nussknacker in diesem Moment wohl spürte und fühlte?
Dann verschwand das Licht kurz, und es musste ein wenig die Hände zu Hilfe nehmen, bis der Weg wieder weniger steil wurde. Dann tauchte erneut das Licht auf und nach einigen Minuten, in denen es eben weiterging, konnte das Engelchen die Umrisse der Hütte klar vor sich erkennen. Es nahm nun seinen Engelsschein ganz zurück. Als es einige Meter vor der Hütte des Nussknackers stand, blieb es kurz stehen.
Was gab es zu tun, was gab es für sie zu tun? Sie war nur ein Engelchen mit menschlichen Zügen, nicht mehr und nicht weniger. Daraufhin trat das Engelchen auf leisen Sohlen an die Türe und klopfte dreimal kräftig mit dem Eisenring, der an dieser befestigt war. Leichter Wind und die Kühle des Abends streichelten ihren Nacken. Sie wartete, wartete und hoffte. Dann hörte sie Geräusche, die eindeutig aus dem Haus kamen. War er es? Vielleicht hatte der Nussknacker die Hoffnung doch noch nicht ganz verloren. Doch würde er öffnen? Momente verstrichen, ohne wiederzukehren. Dann ging die Türe endlich auf, ein alt wirkender Mann stand vor ihr und es bedurfte keiner Worte, um in seine Seele zu blicken. Der Blick in den Augen konnte nicht trügen; die Augen waren zu ehrlich, um zu lügen, und die Sorge zu nah, um zu verschwinden. Die Zeit schien für ihn rückwärts zu laufen und die Zukunft kannte bei ihm wohl kein Ziel.
„Ich möchte dir helfen, deinem eigenen Ich und deinem anderen Du!“
Er schaute sie etwas ungläubig an, hatte aber sofort gespürt, dass ihre Worte von Herzen kamen. Er mochte sie bereits jetzt und verschickte trotzdem keine Einladung. Er lächelte sie an und brachte es trotzdem nicht fertig, sie hereinzubitten. Sie war ihm nicht böse, daher kam sie ihm zu Hilfe:
„Willst du mich nicht hereinbitten?“
Der Nussknacker presste die Lippen aufeinander. Warum er? Und dann diese Wärme, diese Aura, dieser Zauber des Augenblicks. Er brachte noch immer kein Wort heraus, er stand nur mit offenem Mund da und blickte auf das Engelchen. „Brauchst du was, damit ich eintreten darf?“
„Zwick mich, dass ich weiß, dass du echt bist!“
Das Engelchen gab ihm einfach nur einen Kuss auf beide Wangen. Zwar hätte es das vielleicht gar nicht mehr gebraucht, aber es tat ihm trotzdem sehr gut. Dabei spürte sie seinen unregelmäßigen Herzschlag; sie öffnete für ihn den Moment des Glücks. Es kam zu einer Begegnung, einer Begegnung zwischen seinem eigenen Ich und seinem anderen Du. Als wäre er ein Staubkorn, das einen Lichtstrahl auffängt. Und so entspannten sich die Gesichtszüge des Nussknackers, so dass er schließlich sein Herz in beide Hände nahm und meinte:
„Dann tritt ein und sei mein Gast!“
Sie trat in den Raum, der nicht verlassen aber irgendwie auch nicht bewohnt wirkte und schloss die Türe hinter sich. Dann schaute sie sich um. Eine Öllampe brannte auf dem Holztisch mitten im Zimmer; ein Stuhl stand daneben; auf zwei von vier Regalen züngelten Kerzen vor sich hin.
Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche waren wohl ein einziger Raum, und ihre Blicke gingen zwischen dreckigem Geschirr, fehlenden Möbeln und kahl wirkenden Wänden hin und her. Ein wenig Glück suchte sie hier zwischen aufgegebenen Träumen und vergessener Wirklichkeit vergebens. Das Bild an der Wand hatte keine Farbe; das Matratzenlager, wo er vermutlich schlief, wenn ihm wieder einmal alles zu viel wurde, hatte kein Daunenbett; im offenen Kamin brannte kein Feuer; und selbst die Blumen in der Vase auf einer Kommode an der Wand ließen die Köpfe hängen. Schatten standen wie stumme Zeugen im Raum. Dann spürte sie den Atem des Nussknackers, der Sekundenbruchteile später neben ihr stand.
Worte hingen in der Luft wie Spinnweben in den Zimmerecken, als sich sein Brustkorb leicht hob. Er schluchzte und fing an zu weinen, ließ sich fallen, fallen in sein Gefühl. Sein Blick sagte all das, was er wie ein leises Lied in sich spürte; um Tränen zu verstehen, braucht es weder Geld noch Nachhilfe, nur Gefühl. Mit einem Schluchzen in der Stimme brachte er seine Frage heraus:
„Wer bist du wirklich? Ein Engelchen auf Erden oder mein Himmel des Lebens? Ich war heute schon den ganzen Tag ungewöhnlich unruhig, wusste aber nicht, warum. Sag, wie willst du mir helfen, wie nur, und was darf ich tun, was nur? Ich habe so viele Fragen an dich, so viele Gedanken, die ich nicht ordnen kann!“
„Immer der Reihe nach. Wir haben Zeit – Zeit, so lange du willst.“
Er zog die Mundwinkel auseinander und begann schüchtern zu lächeln. Warum gerade er! Hatten es andere nicht mehr verdient, wie nur kam sie auf ihn? Doch was wäre, wenn sie ihn nicht verstehen würde? Seine Frau war ja schon lange tot und Kinder hatten beide nicht gehabt, obwohl sie immer welche wollten. Und jetzt das! Eine Träne rann ihm über die Wange. Der Nussknacker ging zum Stuhl am Tisch, setzte sich darauf und schaute sie mit flehenden Augen an. Er saß nur da und hoffte, sie würde keine Fragen stellen. Vorerst tat sie das auch nicht; der erste Eindruck vom Zuhause des Nussknackers sagte ihr genug. Dann sprach er zu ihr:
„Setz dich, ich hoffe, ich darf du sagen; willst du Kaffee, soll ich dir einen zubereiten?“
Das Engelchen schaute ihn an. Dann sagte sie:
„Nein danke; erzähl mir von dir, damit hilfst du mir mehr!“
Der Nussknacker fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Was sollte er sagen, die Wahrheit? Die Wahrheit wäre ein erster Schritt, und kein angenehmer! Die Kälte im Raum kroch einem schon nach kurzen Aufenthalt in Mark und Glieder und sein Leben, könnte man glauben; hing an einem seidenen Faden. An der Wand hing kein Speck, in einem Regal standen Gläser mit unreifen Früchten und halbvolle Flaschen mit verdorbenen Säften.
Dann setzten sich beide auf die ungeheizte Ofenbank im hinteren Teil des Raumes, schräg gegenüber von einem der beiden Fenster, die dieser Raum besaß. Sie richtet dabei ihren Oberkörper auf, er entwickelte einen krummen Rücken und faltete die Hände. Dann meinte sie:
“Angst!”
„Ja.“
„Es ist gut, dass du ehrlich bist. Das hilft uns beiden!“
Eine erste Blume schien am Wegesrand zu erblühen, eine erste. Vielleicht würde er auf eine Wiese treffen, sie würde ihn darauf hinweisen. Der Anfang ist ein Anfang; ein erster Schritt bleibt immer ein erster Schritt, wenn nicht nachfolgende Schritte, weiteres Tun und Handeln folgen. Als dann plötzlich eine Sternschnuppe, die am Nachthimmel verglühte, durchs Fenster in sein Blickfeld geriet, zog er die Augenbrauen nach oben. Das Engelchen beobachtete ihn genau. War er jetzt bereit, wieder an sich zu glauben? Dem Nussknacker lag inzwischen viel, dem Engelchen alles daran, der Menschlichkeit einen Raum zu geben, die es möglich machen würde, den Weg zu finden.
„Wie lange bist du schon allein? Wie lange sitzt du schon hier und frisst deinen Kummer und Ärger in dich hinein?“
„Seit sehr, sehr langer Zeit!“
Dann schaute das Engelchen auf das Bild, das auf der Kommode stand.
„Deine Frau!“
Eine weitere Träne rann dem Nussknacker über die Wange und tropfte zu Boden. Das Engelchen wusste auch ohne Worte, wie es um ihn stand.
„Es tut so weh, deshalb entschuldige!“
„Schon gut. Doch gerade deshalb erzähl mir davon!“