Wenn sich das Leben neu erfindet - Dieter Schemm - E-Book

Wenn sich das Leben neu erfindet E-Book

Schemm Dieter

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Beschreibung

Das Leben steckt voller Überraschungen und Ungereimtheiten. Oft läuft es nicht so, wie man es gerne hätte. Was einem passiert, ist oft nicht zu erklären und manchmal noch weniger nachzuvollziehen. Manchmal ist es ernst und dann wieder urkomisch oder romantisch. Es gibt im Leben nichts, was es eigentlich nicht gibt.

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Seitenzahl: 339

Veröffentlichungsjahr: 2021

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© 2020 Schemm Dieter

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359

Hamburg

ISBN

Paperback:           978-3-347-18428-2

Hardcover:           978-3-347-18430-9

e-Book: 978-3-347-18430-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung!

Dieter Schemm

Wie das Leben so spielt

Kurzgeschichten

Die Schlange

Die Freundin war ihm davongelaufen, den Job hatte er verloren und die Wohnung war ihm abgebrannt. Anfangs war er am Boden zerstört, doch irgendwie erholte er sich wieder. Danach hatte sein bester Freund, der für einige Wochen zu einem Abenteuertrip in das Amazonasgebiet aufbrechen würde, so lange auf ihn eingeredet, bis er irgendwann ja sagte; schließlich wurde er dafür auch fürstlich belohnt!

Und so saß er an jenem Tag im November spätabends, noch ohne Plan und Ziel, alleine im fünften Stock der Wohnung seines Freundes und schaltete sich mit der Fernbedienung durch alle Programme. Als der letzte Funke Hoffnung nach geistiger Eingebung ihn doch noch zur Programmauswahl seiner Träume brachte, beugte er sich etwas nach vorne, griff nach dem Glas Weißbier, das auf dem Tisch vor ihm stand und genoss einen ersten Schluck seiner Glückseligkeit. Anschließend machte er es sich auf dem Sofa gemütlich, ließ sich berieseln, fing an, mit der Katze seines Freundes zu schmusen und legte die Beine hoch. Zuvor schon hatte er die Wohnungstüre abgeschlossen, das Handy ausgeschaltet, die Heizung am Nachmittag bis zum Anschlag aufgedreht und Duftkerzen aufgestellt. Sichtlich entspannt stellte er dann das Glas mit dem Getränk wieder zurück auf den Tisch.

Ein paar Meter weiter stand auf einer Anrichte ein Glaskasten mit der Giftschlange. Das Reinigen der eigenen vier Wände des Kriechtieres und das Füttern der Schlange lagen noch weit weg, als er anschließend voller Glückselligkeit. und Leidenschaft nach der Wasserpfeife neben dem Sofa griff und diese in vollen Zügen genoss.

Je länger und intensiver er dieses Gemisch aus besonderen Gräsern und Kräutern inhalierte, desto freier und entspannter fühlte er sich. Der Moment wirkte demnach irgendwann nur noch beschwingt und leicht. Aufgeschreckt durch ein Geräusch auf der Straße vor dem Haus fiel sein Blick dann irgendwie auf das traute Heim der Schlange aus Panzerglas und Sicherheitsdeckel an der Sonnenseite der Wohnung. Irgendwas war da doch. Schemenhaft fiel es ihm wieder ein. Und wenn schon, welche Probleme sollte es schon bereiten, der Bitte seines Freundes nachzukommen, schließlich hatte er zuletzt als Tierpfleger im Zoo gearbeitet; denn wenn die Schlange schon zubiss, einen jeden anderen, doch nur nicht ihn; auch der Umstand, das Krankenhaus um die Ecke zu haben, verstärkte nur noch das Netz mit dem doppelten Boden. Also schaltete er die Flimmerkiste aus, legte die Wasserpfeife beiseite, stand auf und trat an die Glasscheibe heran, in dem sich die Giftschlange befand; die Katze hatte er zuvor schon in die Küche getrieben und die Türe geschlossen. Die Schlange, der nun sein Hauptaugenmerk galt, lag zusammengerollt hinter einem dicken Ast und schien zu schlafen, das kam ihm ebenso gerade recht. Also nahm er den Deckel, der mit einem Drehverschluss gesichert war, ab und legte diesen auf den Parkettboden neben sich. Warum ihn das Muster der Schlange auf einmal so magisch anzog, wusste er selbst nicht so genau, jedenfalls glaubte er daraufhin, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er ließ sich treiben und sah sich plötzlich mit der Frau seiner Träume auf einer einsamen Insel irgendwo in der Südsee eng umschlungen im Sand liegen. Dabei huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

Für sich abgehoben und angekommen unter Palmen der Zweisamkeit in einer anderen Welt entspannte er sich und schaute von oben hinein. Die Schlange schien noch immer zusammengerollt in einer Ecke des Glaskastens zu liegen und ihm daher nicht wirklich gefährlich zu werden. Deshalb nahm er das Tuch vom Bücherregal über ihm sowie das Putzmittel daneben, besprühte das Reinigungstuch damit und fing an, von innen den Glaskasten mit dem Kriechtier zu reinigen. Traumwandlerisch selig und mit sich im Reinen reinigte er die Scheibe, doch als sich eine Stubenfliege auf seine rechte Hand setzte, störte ihn das doch gewaltig. Mit einer weit ausholenden Handbewegung, ohne an die unabsehbaren Folgen zu denken, streifte er ganz leicht die immer noch in der Ecke liegende Schlange.

So kam es, sowie er nicht im Traum daran gedacht hatte, als plötzlich und unerwartet der kleine Kopf der Schlange nach vorne schnellte und den jungen Mann in den Ringfinger der Schreibhand biss. Als er den Schmerz spürte, zog der Unglückliche reflexartig die Hand mit dem blutenden Finger aus dem Glaskasten, ließ das Reinigungstuch zu Boden fallen und legte so schnell wie möglich den Deckel auf den Glaskasten zurück; erst als der Drehverschluss wieder quer eingerastet war, beruhigte er sich etwas. Dann schaute er auf den verletzten Finger, dann wieder auf die Schlange. Mit einem Blick, der wohl alles sagte, drehte er sich schließlich weg von dem Kriechtier und zog aus der Hosentasche ein Stofftaschentuch, mit dem er den lädierten Finger umwickelte. Anschließend fluchte er ein wenig und biss sich auch noch auf die Zunge. Die Angst kroch wie in einem Aufzug in ihm hoch. Was war nur passiert, wie konnte das überhaupt passieren? Die Gedanken fuhren Achterbahn und mit der Ruhe in seinen Überlegungen war es vorerst schnell vorbei. Panik brach auch rasch aus, reale Panik im Hier und Jetzt. Seine Freunde sagten immer, wenn auch nur ein Hauch davon in seinem Alltag Raum und Zeit bekommen würde, neige er zum Theatralischen, zum Schauspielerischen!

Ihm war nur eines klar, die Schlange seines Freundes hatte ihn gebissen. Eine hochgiftige Schlange, wie dieser zu wissen meinte. Gift - Schlangengift in seinem Körper, dieser Gedanke weckte nun die wildesten Sorgen und Ängste in ihm, an einen guten Ausgang war für ihn in Anbetracht seiner Lage nur unter Zuhilfenahme von radikalen Mitteln zu denken. Tödliches Gift und immer wieder tödliches Gift! Dieses Wort stand plötzlich wie das Fallbeil des Todes vor ihm. Er ballte die Faust, presste die Lippen aufeinander und trat gegen die Wohnungstüre. Dann ging er ein paar Meter, zog die Gardine beiseite, riss das Fenster auf und schrie sich seinen Ärger aus der Seele. Als kurze Zeit später das Fenster der Wohnung unter ihm aufging und ein älterer Herr um Ruhe schrie, meinte er nur, er könne ihn mal. Anschließend schloss er das Fenster der Wohnung wieder und ließ sich auf den Boden der Tatsachen fallen.

Ohne einen Halt zu finden, verloren sich Anfang und Ende zwischen Traum und Wirklichkeit. Warum wurde sein “Chillen” zum Teufel gejagt, sein Himmel auf Erden unmöglich gemacht? Denn zwischen Traum und Wirklichkeit kam ihm Shakespeare in den Sinn, Sein oder nicht Sein, das war hier auch für ihn die Frage. Er war augenblicklich davon überzeugt, er komme nicht umhin, wie er sich nun einredete, sein weiteres Schicksal nicht dem Zufall zu überlassen. Das Krankenhaus - natürlich das Krankenhaus. Doch als er selbst nach intensiver Suche den Haustürschlüssel der Wohnung und sein eigenes Handy nicht fand, zerriss er das Bild des lächelnden Arnold Schwarzenegger. Als er anschließend den Weg zurück auf das Sofa im Zimmer fand, hatte er ein Buch mit dem vielsagenden Namen “Hausapotheke für jeden” in der Hand und blätterte hektisch darin. Anfangs dachte er an Abbinden, doch ein Blick auf den Ringfinger erschreckte ihn ziemlich. Dieser war inzwischen blau angelaufen und schmerzte höllisch. Auch glaubte er, ein wenig schwach auf den Füßen zu sein. Und so steigerte er sich immer mehr in das Buch mit den vielen Bildern hinein. Er war kein Arzt, aber er wusste, der Körper werde mit Blut versorgt, von der Kopfhaut bis zur Zehenspitze. Als er dann auf eine Abbildung in dem Buch stieß, die ihm erklärte, im unwahrscheinlichsten aller unwahrscheinlichen Fälle müsste nach einem Biss einer Giftschlange durch Blutvergiftung der ganze Arm amputiert werden, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Das Gift würde sich im ganzen Körper ausbreiten, sich mit dem Gemisch der Wasserpfeife vermengen und ihn innerlich überschwemmen. Sollte es wirklich der Ringfinger sein, Heiraten kam für ihn sowieso nicht in Frage und für den Genuss seiner innig geliebten Wasserpfeife gab es plötzlich keine Alternative mehr.

Der Ringfinger musste ab, notfalls könnte man ihn ja wieder annähen; schließlich können Minuten entscheiden, wenn es um das eigene Leben geht und so wurde der Notfall zum Wahnsinn. Die Küche, vielleicht gab es in der Küche das eine oder andere scharfe Messer, vielleicht sogar ein ganzes Sortiment, von Fleisch-, über Brot- und Gemüsemesser. Inzwischen fühlte er sich schon etwas schwach und ihm wurde schwindlig. Oder war es doch die Wasserpfeife, von der er wusste, dass sie ihn in eine andere Welt entführte. Doch er schaffte es noch bis in die Küche! Dort riss er die Schränke und Schubladen auf und konnte es nicht fassen. Kein Messer, wo hatte sein Freund nur die Küchenmesser? Als er auf einen Zettel stieß, wo darauf stand, “Beim Schärfdienst, bitte abholen”, wusste er auch darüber Bescheid. Eine scharfe und gute Schere, eigentlich unmöglich; aber vielleicht doch, mit roher Gewalt ging es zur Not auch, redete er sich ein. So riss er jede einzelne Schublade in der Küche auf, wo kleine Haushaltshelfer oder eine Schere lagern könnten, doch nichts dergleichen war zu finden. Er schaute auf seinen Ringfinger, dieser wurde zunehmend blauer und blauer. Aus purer Verzweiflung klammerte er sich an ein Taschenmesser. Dieses Multitalent barg ein Messer, eine Schere, eine Säge und einen Flaschenöffner in sich.

Mit dem Messer schnitt er nur in den Küchentisch, so wackelig war er inzwischen auf den Beinen; mit der Schere drückte er höchstens die Haut zusammen, so stumpf war diese und mit der Säge kam er nicht mal bis zur Sehne des Fingers. Was sollte er nur tun, er wollte sich doch nur selbst helfen, mehr auch nicht; vielleicht kam es auch deshalb zu dieser unüberlegten Handlung. Bilder von Himmel und Hölle schossen ihm wie ein Schnellzug durch den Kopf. Wie weit würde das Gift schon vorgedrungen sein, hatte es schon das Herz oder die Hauptschlagader erreicht, die Organe angegriffen oder würde es sich nur noch um wenige Minuten handeln und er eines qualvollen Todes sterben; die Schmerzen waren jetzt schon kaum mehr auszuhalten. Er schaute wahllos durch den Raum, dann fiel der Blick auf ein Hackebeil auf dem Fenstersims vor ihm. Lautlos, schnell und sauber, diese Wahnsinnstat - und sei das alles noch so verrückt - würde vielleicht sein Leben retten und das Gift könnte nicht weiter in seinen Körper gelangen.

Deshalb nahm er nun das Hackebeil, welches sein Freund dazu hernahm, wenn es Samstagabend war, so wie heute, Fleischstücke für die Schlange zu zerkleinern. Mittlerweile begann er immer mehr zu schwanken. Es kam ihm vor, die Zeit würde drängen. Also nahm er das Hackebeil in die linke Hand, trat zum Küchentisch, schob die rechte Körperhälfte nach vorne, holte mit dem linken Arm weit über den Kopf aus, beugte sich abwärts, platzierte die verletzte Hand mit dem Ringfinger auf den Tisch, drückte sich mit dem Bauch gegen den Küchentisch und schlug zu.

Doch er verfehlte den Ringfinger. Anfangs noch neugierig, war die Katze inzwischen unter der Eckbank verschwunden. Er konnte es nicht fassen. Er verfehlte den Ringfinger. In welchen verkehrten Film war er eigentlich hineingeraten? Auch beim zweiten Versuch gelang ihm sein absurdes Vorhaben nicht. Demzufolge nahm er noch einmal alle Kraft zusammen, die ihm noch blieb. Der Ringfinger war inzwischen blau und schwarz geworden. So holte er erneut aus und schlug zu, mit noch mehr Wucht und noch mehr Gewalt als vorhin. Diesmal streifte er den Daumen, der danach anfing, heftig zu bluten. Das Hackebeil steckte daraufhin so fest, dass ihm die Kraft fehlte, es wieder herauszuziehen. Was dann geschah, daran konnte er sich nicht mehr erinnern, jedenfalls wurde ihm schwarz vor den Augen und es war ihm unmöglich, sich noch länger auf den Beinen zu halten. Dass man inzwischen die Wohnungstüre aufbrach, bekam er dann gar nicht mehr mit. Schließlich kippte er zur Seite weg und fiel auf den Küchenboden, wo er endgültig das Bewusstsein verlor.

Das Licht blendete ihn, einige Leute standen um ihn herum und schienen sehr besorgt um ihn zu sein. Man meinte jedoch, er könne morgen wieder entlassen werden, da man ihn so schnell gefunden habe. Zudem war es auch keine Giftschlange gewesen, aber sie sei höchst aggressiv.

Er begann leicht zu lächeln, noch mehr, als er neben sich sah und hörte, dass der Patient ein Bett weiter den Zeigefinger verloren hatte. Er schaute auf seinen Zeigefinger. Dann drehte er sich auf die Seite und gab sich seinen Gedanken hin.

Der Duft der Kaffeebohne

Was ihm blieb, war nicht nur die Erinnerung als Bäckermeister und die Arbeit im Geschäft. Seine Frau war vor ein paar Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, aber wenn es die Zeit am frühen Morgen erlaubte, ging der Rentner in die Bäckerei gleich um die Ecke. In seinen Träumen, bei den Kleinigkeiten des Alltags und in Augenblicken der Sehnsucht, folgte alles einem Muster. Auch beim Geruch und Duft der Kaffeebohne kam es ihm dann immer vor, sie würde ihn umarmen, zärtlich durch die Haare fahren und ihm einen Kuss geben. Die Zeit schien in solchen Augenblicken still zu stehen. Ab und zu meinte eine der Verkäuferinnen, die ihn gut kannte, es sei doch jetzt schon gut. Doch mit der Zeit wurde das Schluchzen mehr und die Tränen versiegten nicht mehr. So fiel es ihm immer schwerer, unter dem brachliegenden Gefühl der Liebe eins und eins zusammenzuzählen. Alles schien ihm einfach noch zu lebendig und die Narben noch zu frisch; doch die Sehnsucht ließ ihn immer wieder nach den Sternen greifen. Einmal noch die Bäckerei aufsuchen, so als wolle er sich endgültig von ihr verabschieden. Danach sollte er lange nicht mehr in dieser gewesen sein, in der Bäckerei seiner schönsten Träume!

Doch das hatte alles ein Ende, als Nathalie dort anfing. Eigentlich wollte er an diesem Tag nur die Zeitung holen, aber es war ein Tag wie gemalt und so trafen sich die Blicke der beiden. Von diesem Zeitpunkt an ging er wieder regelmäßig in die Bäckerei, irgendwann wurde mehr daraus. Irgendwann war sie seine neue Freundin, Nathalie, eine blonde Schönheit voller Sinnlichkeit und Zärtlichkeit. Mit ihr lernte er sich und die Stadt Freiburg im Breisgau mit dem Dom, dem Wein und den verwinkelten Gassen ganz neu kennen. Wie in jeder größeren Stadt gab es dort mehrere Bäckereien, klein aber fein und voller sündiger Kalorien. Für frische Brötchen ging er eben den einen oder anderen Schritt mehr, stand auch gerne, schon als er noch arbeitete, zehn Minuten früher auf, um ja nicht den Kürzeren zu ziehen. Er liebte den Duft von frischem Kaffee, liebte die sündigen Versuchungen von A wie Apfeltasche bis Z wie Zimtstangen in all ihren Kreationen und Möglichkeiten, die es in solch einem Geschäft von Schrot und Korn gab. Er war einer von denen, die essen konnten, was sie wollten, er wurde einfach nicht dick und Rettungsringe hatten bei ihm sowieso keine Chance. Er schwamm noch immer jeden Tag seine Bahnen im städtischen Hallenbad, trank abends ein Gläschen Rotwein und füllte Kreuzworträtsel aus. Zudem war er schon immer ein Hallodri gewesen, wenn es um das Bezirzen von Frauen ging. Es war ein wechselhafter Novembermorgen, ein Montag mit leichtem Nieselregen, zudem ungewöhnlich mild für die Jahreszeit. Eine Katze schaute gedankenverloren aus dem Fenster einer Wohnung, ein alter Mann krempelte sich den Kragen der Jacke hoch und der Postbote wirkte noch verschlafen. Das Schild an der Kneipe in seiner Straße, das an der Häuserfront unterhalb des Giebels auch noch heute hängt, wurde vom Wind sanft gestreichelt, als er die Straße entlang ging. Er hatte gut geschlafen und Nathalie erwartete ihn bereits in der Bäckerei. Irgendwann war aus Freundschaft Liebe geworden, tiefe und ehrliche Liebe. Heute war auch noch ein besonderer Tag, sie hatte nämlich Geburtstag. Ein paar Schritte noch, dann war es soweit. Mit einem Blumenstrauß in der rechten Hand betrat er die Bäckerei seiner Träume und fühlte sich sofort wieder daheim. Frischer Kaffeeduft empfing ihn, ein freundliches Lächeln schmeichelte seiner Seele und angenehme Wärme ließ ihn ganz schnell die Türe hinter sich schließen. Er war angekommen, angekommen in seiner Welt aus Blätterteig, Hefe und Marzipan, Schokolade und Vanillestangen. Bei sich zuhause musste immer ein wenig Süßes sein, ohne Süßes kam er nur schwer durch den Tag. Eine der Verkäuferinnen hob den Kopf und begrüßte ihn, eine andere bediente einen Kunden. Und dann sah er auch schon Nathalie, die gerade aus der Backstube kam. Hatte sie sich extra für ihn schön gemacht? Die Haare, in denen eine Orchidee steckte, hatte sie nach hinten gebunden und der Mund glich einer Kirsche mitten im Paradies; der Blick ihrer Augen rundete ihr Strahlen ab. Armins Gesichtszüge waren entspannt und weich, die Augen glänzten. Er lächelte wie ein kleiner Junge. Wärme machte sich breit, menschliche Wärme. Das Ungemütliche dieser Jahreszeit hatte er vor der Bäckerei gelassen, die Gefühle gingen sofort auf Reisen. Dann sah auch sie ihn. Die Herzen streichelten sich auch ohne ein Wort zu verlieren. Nicht das Sinnliche für Leib und Seele schien das Grau des Alltags vergessen zu machen, sondern nur der Augenblick. Sie trat hinter der Verkaufstheke hervor und an Armin heran, der bereits in ihrer Richtung lief. Irgendwo am Rande der Zeit umarmten sie sich und gaben sich einen Kuss. Der Himmel öffnete seine Pforten und die Engel sangen insgeheim. Nach Sekunden der Ewigkeit zog er den Blumenstrauß hinter seinem Rücken hervor und meinte mit dieser Melodie in sich:

“Alles Gute zum Geburtstag!”

“Besten Dank. Wie schön, dass du das nicht vergisst!”

“Du weißt doch, dich und deinen Jubeltag vergesse ich nicht! Doch lieber wäre es mir, Hochzeit mit dir zu feiern! Du weißt, ich warte immer noch auf ein Zeichen von dir!”

Eine Träne rann ihr über die Wange. Kunden drehten sich nach den beiden um. Die Hektik der Zeit schien wegzubrechen, das Glück mit Rosen des Augenblicks zu verschmelzen. Die Momente lagen so süß und locker wie die Backwaren in der Glasvitrine in ihren Blicken:

“Wie lange hast du eigentlich noch zu arbeiten an deinem Geburtstag?“

Vor allem ihren Geburtstag betonte er, so als ging es um Leben und Tod.

“Nicht mehr lange, eine halbe Stunde! Dann habe ich für dich Zeit!“

“Wie lange?”

“So lange, wie du willst”, meinte sie mit einem spitzbübischen Lächeln zu ihm.

Armin wurde ganz warm ums Herz, ein Küsschen unter Verliebten tat sein Übriges. Denn wenn er in ihrer Nähe war, wurde aus einem Regentag einfach so ein Sonnenscheintag. Die zwei anderen Verkäuferinnen, die auch in der Bäckerei arbeiteten, hatten ihn nicht vergessen und grüßten ihn jedes Mal freudig, wenn er nun wieder die Bäckerei betrat. Nathalie hatte nicht nur bei ihm einen Fuß in der Türe, auch unter ihren Kolleginnen war sie allseits beliebt und, wie man immer wieder über sie sagte, zu einer guten Seele des Ladens geworden. Sie kannte nicht nur für ihn die besten Backrezepte und die besten Tricks, um Kuchen und Torten nach Liebe und Verführung schmecken zu lassen. Er selbst sagte seit einiger Zeit, nur sie sei schuld daran, dass bei ihm die Liebe wieder Schmetterlinge im Bauch machte. Hier kam er immer nach Feierabend her, auch und vor allem wegen Nathalie, denn hier ließ man ihn in Ruhe und wenn es sich ergab, redete er von ganz allein. Aber mit Nathalie verband ihn mehr und mit ihr redete er über Gott und die Welt. Er kannte fast immer ihre Arbeitszeiten. Dann meinte sie, nachdem sie ihm durch das Haar gefahren war:

“Setz dich einfach an deinen Platz, Kaffee und Kuchen gehen auf meine Rechnung!”

Das war Nathalie. Anschließend ging sie wieder hinter die Verkaufstheke und bediente den nächsten Kunden. Armin setzte sich dorthin, wo sie es ihm empfohlen hatte, an seinen angestammten Platz. Dieser lag etwas seitlich versetzt direkt neben der Verkaufstheke und dem Gebäck und irgendwie auch nah bei Nathalie. Dann wurde er zum Beobachter seiner Umgebung und seiner Gefühle. Kunden kamen und gingen, warteten, bestellten und tranken später oder früher in der Bäckerei, wo keiner zu stehen brauchte, wenn er nicht wollte. Manche nahmen einen Kaffee mit und andere ein Wurstbrot. Armin zählte nicht die Minuten, er zählte in dieser Zeit nur die Blicke von Nathalie, die diese immer wieder mal zu ihm auf Reisen schickte. Der Kaffeeautomat glänzte und eine Verkäuferin richtete Tassen und Untersetzer her oder füllte diese auf. Es gab Stehplätze für die ganz Eiligen sowie Sitzgruppen für die Gemütlichen.

In einem Kühlregal an der Wand neben der Eingangstüre gab es Getränke zum Mitnehmen.

Es gab belegte Brötchen und Tee. Es gab aber vor allem die süßeste Versuchung, seit es Blätterteigtaschen mit Marzipan gab. Es war eine Spezialität des Hauses. Das Geheimnis wollte man ihm einfach nicht verraten, doch irgendwann bekam er Rabatt, auch wegen ihr, wegen Nathalie. Sie bereitete gerade frischen Kaffee für einen Kunden zu. Sie sah dabei wunderschön aus. War es der Duft des Kaffees oder sie, egal, er liebte beides. Sie, die schönste Französin, wie er sie inzwischen gerne nannte, und die ursprünglich aus St. Tropez stammte, verschenkte gerne den Zauber des Augenblicks. Die Küsse passierten auf Augenhöhe, ihre Rundungen waren genau nach seinem Geschmack und die Lippen wie Schokolade, süß und sinnlich. Nathalie hatte ein Grübchen auf der linken Wange und sprach fließend Deutsch. Ihr Gesicht hatte etwas Mädchenhaftes, Verspieltes und Leichtes. Sanfte Zärtlichkeit ging von ihr aus. Zur Abwechslung beobachtete er wieder Kunden der Bäckerei. Er schaute in die Augen der Menschen. Manche überlegten lange, andere wussten genau, was sie wollten. Vielleicht hatten manche den ersten Ehestreit hinter sich, andere eine Nacht der Poesie. Bei manchen wirkte ihr Tun wie Taktik und Tragödie, andere ließen sich auf ein kurzes Gespräch ein. Nathalie verzauberte alle. Als es ein wenig ruhiger wurde, drehte sie sich zu ihm um, trat ihm entgegen und gab Armin ein Küsschen auf beide Wangen. Er tat es ihr gleich. Ihre Blicke streiften und fanden sich und sprachen von Sinnlichkeit und Zärtlichkeit.

“Gut schaust du aus!”

Die Sahnetorte wirkte blass gegen den Blick ihrer Augen, die Nussschnecke bitter gegen ihren Mund, das Brot alt gegen die Gefühle zu ihr, die ihn oft tagelang aufwühlten. Zudem gab es hier den besten Apfelstrudel der Stadt. Es gab hier jeden Tag die neue Tageszeitung und für Stammkunden Kaffee, ohne etwas sagen zu müssen.

“Und du zuerst! Sollten wir nicht doch noch die Welt auf den Kopf stellen?“

“Träumst du immer noch davon?”

“Jeden Tag!”

“Armin, sind wir dafür nicht schon zu alt?“

“Wie alt der Mensch ist, bleibt doch immer nur eine Zahl. Das Gefühl in einem ist doch viel wichtiger!“

Ihm kam vor, als wehrte sich Nathalie vor der Süße des Augenblicks. Hatte sie Angst, verbarg sie etwas vor ihm? Er wusste es nicht. Oder war es das Süße, das einen hier in der Bäckerei erfasste? Frauen machen schlank und Nussecken glücklich, so hört man immer wieder. Manchmal zischte und schäumte es, dann schenkte man Sonnenstrahlen und verpackte süße, kleine Beutel aus Teig, die goldgelb gebacken worden waren. Doch war der Kunde nicht der Nutznießer von diesem gelungenen Verkaufsschlager! Denn die Sinne schärften sich, Stille machte sich in beiden breit. Momente der Vergänglichkeit kamen zurück. Die Türe ging auf, es läutete. Er streifte ihre Hand, Nathalie wich zurück. Sie zog die Schultern nach oben, ein Kunde bezahlte gerade. Der Röstautomat ging und der Kassenzettel wurde überreicht.

“Jetzt nicht!“

Dann widmete sich Nathalie wieder ihrer Kundschaft. Manche bestellten Cappuccino mit Sahne, die anderen eine Topfentasche. Warum schlagen sich die einen die Nacht um die Ohren und warum braucht der Mensch ab und zu Süßes? Selbst Armin fand dafür nicht immer eine Erklärung. Er empfand es als eine Kunst, Geschmacksnerven bis in den Himmel zu reizen. Himbeertorte und Erdbeerschnitte, Apfeltasche und Bienenstich, die Möglichkeiten, zu sündigen, waren vielfältig in dieser Stadt. Doch auch für Armin war es nun so weit. Bester Hochlandkaffee und Blätterteigtasche mit Marzipanfüllung servierte man nur für ihn. Es war Nathalie.

“Ich habe eine Überraschung für dich!“

“Später, nicht jetzt! Noch habe ich ein bisschen zu arbeiten!“

“Eine viertel Stunde, weißt du, wie lange eine viertel Stunde sein kann?“

“Ich weiß!“

Sie beugte sich ganz nahe zu ihm und küsste ihn lang und innig. Bilder entstanden, die seiner Seele schmeichelten. So konnte es weitergehen, doch ihr blieb gar nichts anderes übrig, als wieder ihrer Arbeit nachzukommen, die Bäckerei schien zu platzen. Kundschaft um Kundschaft gab sich die Klinke in die Hand. Die Verkäuferinnen lächelten. Der Kaffee war fertig und immer wieder ein Geschmackserlebnis, das an die Kundschaft weitergegeben wurde. Schokohörnchen wechselten den Besitzer, frisches Brot wurde halbiert und duftete nach Zimt und Koriander. Auch Bio-Brot gab es hier. Die Gerüche waren so süß und Nathalie wie eine doppelte Portion Sahne, wenn sie lächelte. Da brauchte es nicht mal das Fitnessbrot ganz oben in der Theke zu sein. Die Muse küsste ihre Aura wach und irgendwie wirkte Nathalie wie die Spitze zwischen Backtriebmittel und Hefezopf, wo die Kunst der süßen Verlockung ihre Vollendung fand. Die Leute schienen heute verrückt nach Sonnenschein in der Seele zu sein. Armins Nasenflügel hatten sich in den letzten Sekunden geöffnet, der Kaffee war heiß. Er roch daran. Hochlandkaffee, er liebte Hochlandkaffee. Er konnte die Kaffeebohnen inhalieren, schmecken und fühlen. Er trank den Kaffee mit wenig Zucker und Milch. Seine Frau hatte früher immer gesagt, er sei kaffeesüchtig. Er war nie darauf eingestiegen. Er ließ sich nur immer viel Zeit beim Kaffeetrinken und seitdem er noch mehr Zeit hatte sowie in der Bäckerei wo Nathalie war noch einmal so viel. Dann betrat ein neuer Kunde, ein junger Herr mit Anzug und Krawatte, die Bäckerei, wartete bis er an der Reihe war, um dann immer noch zu überlegen. Zählte er heimlich die Kalorien, über die Nathalie und ihre Kolleginnen Stillschweigen vereinbart hatten und nur in Ausnahmefällen Fakten und Zahlen preisgeben wollten? Dann drängte sich ein Junge vor und drückte sich an die Glasscheibe. Der Herr mit Krawatte meinte zu dem Jungen mit den Sommersprossen:

“Ich habe nicht ewig Zeit. Such dir etwas aus und dann verschwinde!”

Stille machte sich breit. Zwei Frauen steckten die Köpfe zusammen. Nathalie schaute den kleinen Jungen an, lächelte und meinte:

“Was willst du denn?“

“Ein Lutschbonbon!“

Dann blickte Nathalie dem jungen Mann tief und ernst in die Augen, der sich sofort wegdrehte. Armin hatte alles gesehen und er überlegte, ob er dieser unsympathischen Person seine Meinung sagen sollte. Dies tat dann eine schwarzhaarige junge Frau jedoch klar und eindeutig. Der Blick ihres Gegenübers verfinsterte sich. Der Herr mit Krawatte wirkte verunsichert und seine Mimik sagte alles. Wie ferngesteuert ging er einen Schritt zurück, stand nun wieder an, doch als sich eine Lücke auftat, um nach vorne zu treten und seinen Wunsch auszusprechen, schien er sich wieder nicht entscheiden zu können. Konnte man da überhaupt von Spannung sprechen? Nathalie nahm nun von der Dose auf der Vitrine ein Lutschbonbon und gab dem Jungen ein Lutschbonbon in die Hand. Dieser strahlte, wie es nur Kinder können, sagte sogar leise danke, drehte sich um und verließ das Lokal. Dann verlangte der Mann mit Krawatte und Anzug erstmals koffeinfreien Kaffee. Wenigstens ließ er jetzt seine Zweifel beiseite. Die Bäckerei konnte ja nichts dafür. Doch das Bestellen des Gebäcks stellte sich für ihn als beinahe lebenswichtige Frage heraus. Anfangs wollte er Nussschnecken, dann Schokoladenhörnchen und er sagte auch bei Topfentaschen weder ja noch nein. Maria, die Kollegin Nathalies, schien bereits böse zu werden und auch Nathalie riskierte einen Blick.

Die Stimmlage erhöhte sich und selbst Armin fühlte die gereizte Stimmung, die in der Luft lag. Ein Kunde mit einem Handy am Ohr, der wenig aber genug mitbekam, meinte sogar, ob dies ein neues Spiel sei, in dem es darum ginge, eins und eins zusammenzuzählen. Nach einer unendlich langen Zeit entschied er sich für Vanillestangen. Wie er darauf kam, wusste keiner. Nathalie enttäuschte ihn und riet ihm zu Mandelsplittern. Eher missmutig nahm er an. Alles schien sich nur noch um ihn zu drehen. Maria legte gerade ein Stück Gebäck auf den Teller, als er einen lauten Schrei ausstieß.

“Jetzt weiß ich es, bitte einen Weihnachtsstollen, meine Frau wird sonst recht ungemütlich, warum ist mir das nicht gleich eingefallen!”

Plötzlich wurde es ganz still in der Bäckerei. Alle schauten ihn von der Seite an. Maria hätte sich fast auch noch den Kaffee über ihre Schürze geschüttet, Nathalie atmete tief und lang aus. Dann gab man ihm den Weihnachtsstollen, der wie ein Kloß im Hals zu wirken schien und ein Brot, das er ebenfalls noch meinte zu brauchen. Beim Herausgeben meinte er, ob das Brot wohl teurer geworden sei.

“Leider!”, meinte daraufhin Nathalie, die ihn gerade bediente. Der Kunde schien bedient und verließ überstürzt die Bäckerei. Nathalie blieb gar nicht die Zeit ihn darauf hinzuweisen, dass er noch Geld zurückbekommen würde. Hatte er genug oder war es ihm gleich, wollte der Kunde es überhaupt hören, und ihm nachzulaufen kam für Maria nicht in Frage. Armin hatte alles mitbekommen und konnte sich keinen Reim darauf machen. Vor allem nicht auf den koffeinfreien Kaffee. Lieber hätte er Leitungswasser getrunken, bevor er sich solch ein Zeug in die Kehle geschüttet hätte. Frühstück mit echtem Kaffee und Süßem, ohne diese Kombination ging Armin nie aus dem Haus, nachdem er neben Nathalie erwacht war. Mit Nathalie war es wieder schön, nachts die gemeinsamen Träume zu zählen. Morgens im Bett, wenn die Sterne über dem Schwarzwald noch leuchteten oder das Abendrot bis in den Morgen dauerte. Das Gebäck der Leidenschaft schmeckte nun schon deshalb doppelt so gut und der Kaffee weckte ihre gemeinsame Sinnlichkeit. Dann luden sie sich gegenseitig ein, ohne auf einen Grund zu bestehen. Er empfand es dann wie im Himmel und sie wie im Paradies.

Sie lagen sich danach oft noch lange in den Armen, jedoch nicht, als er den ersten Schluck Kaffee trank, den ihm Nathalie gebracht hatte. Die Geschmacksnerven stimmten ein Halleluja auf die Kaffeebohne und Nathalies Lächeln an, als sie sich wieder hinter die Theke der Bäckerei begab. Er träumte sich in eine Welt mit Nathalie. Dabei war sie so nah und doch nicht wirklich greifbar, und es schien ihm unendlich lang, dass seine Gedanken weder Raum noch Zeit fanden. Doch der Spagat gelang. Sekundenlang schloss er die Augen, Sekunden wurden zur Ewigkeit. Eingeholt vom Jetzt öffnete er wieder die Augen. Suchend ging der Blick wieder zu ihr. Nathalie lächelte ihn inmitten von wartenden Menschen an. Glück ging, Glück kam, Glück füllte jede Sekunde aus. Und ein kleiner Junge, der jenem von vorhin täuschend ähnlich sah, verließ glücklich das Lokal, ehe eine Blätterteigtasche mit Marzipanfüllung die Sonne erreichte und den ganzen Schwarzwald in gleißendes Licht tauchte. Armin war einfach nur zufrieden. Er hatte so viel Süßes um sich, was für einen Sinn sollte es da ergeben, noch eine Zugabe zu verlangen. Er genoss den Kaffee, und noch mehr das Süße. Armin aß langsam, Biss für Biss. Wie eine süße Brandung, wie eine süße Frucht, der Genuss reichte von flüssigem Verwöhnaroma bis hin zum göttlichen Himmelsgras. Die Kombination aus Kaffee und Süßem. Manche Frau in der Bäckerei wirkte wie ein Engel, der sich in der Hausnummer geirrt hatte. Doch die Sünde der Versuchung blieb, die kam dann in Form von Nathalie auf ihn zu.

“Die Zeit ist so gut wie um, stimmt’s?”

“Ja, die Zeit ist fast um! Dann bin ich ganz allein für dich da!” Das war das Mindeste, was er schon so lange wollte. Doch gut Ding braucht Weile, wie er sich dachte.

Armin schaute Nathalie lange an. Sie wirkte erschöpft und müde.

“Dieser Kunde von vorhin, war der schon öfter da?”

“Ja! Und jedes Mal ist es das gleiche Spiel. Ich frage mich, ob er das absichtlich macht!”

“Ich glaube, dir täte das Verwöhnaroma auch sehr gut!“

Nathalie lachte. Sie fuhr sich durch das Haar, küsste ihn. Als eine der Verkäuferinnen beide mit ihren Blicken überraschte, meinte sie nur, sie sollten sich nicht stören lassen. Dann waren sie wieder alleine in ihrer eigenen Welt.

“An was hast du gedacht?“

“An Pralinen in Schokoladenfüllung, an Blätterteig in Himbeergeist, an dich!“

Nathalie wurde ein bisschen rot, das wurde sie immer, wenn Armin ihr ein Kompliment nach dem anderen machte.

“Ich muss noch ein bisschen aufräumen und sauber machen. Trink inzwischen noch einen Kaffee und iss was Süßes, geht auf meine Rechnung!“

“Gut, dann gib mir Blätterteigtaschen mit Marzipan und den besten Kaffee, den du hast!”

“Du weißt doch, wir haben immer den besten Kaffee!“

Armin lächelte. Das Rezept seiner Frau hatte er der Bäckerei geschenkt, die inzwischen dafür bekannt war. Allein schon deshalb fand er immer wieder den Weg zwischen Puderzucker und Plätzchen in der Weihnachtszeit zu Nathalie - nicht zu vergessen – zurück in die Bäckerei. Für eine Brezel und eine Nussschnecke ging man schon immer gern um die Ecke; für Salzstangen nicht mal aus dem Haus. Die Füllung lag ihm besonders am Herzen, nicht nur bei Nathalie. In Nathalies Nähe fand Armin die Nuancen und Aromen, die jede Bäckerei der Liebe so unverwechselbar machten. Das Rezept war ein Teil der Süße, die die Bäckerei bekannt machte. Er schaute ihr nun zu, wie sie den Kaffee zubereitete, wie sie das Gebäck seiner Wahl auf den Teller legte. Sie übte sich auch heute darin, ihm mit Zärtlichkeit den Tag zu versüßen. Für ihn zauberte sie auch noch eine extra Portion Sahne darauf. Armin wurde verwöhnt. Sie verwöhnte ihn, irgendwann war auch er an der Reihe, sie zu verwöhnen. Armin verbrannte und sündigte im Paradies mit ihr bis in die Randbezirke der Liebe in seiner unnachahmlichen Art, vielleicht deshalb war ihre Anmut und Grazie auch so zauberhaft, ohne dick zu machen. Als sie den Kaffee und die Blätterteigtaschen mit Marzipanfüllung brachte, lächelte er. Der Geschmack verwöhnte die Zunge und den Gaumen, das Gebäck lenkte seine Aufmerksamkeit auf Nathalie. Es war keine verbotene Liebe, es war der Backofen des Glücks. Der Duft stieg ihnen in die Nase. Sie kannten einige Cafés in der Stadt, aber in dieser Bäckerei erlebten sie einen ihrer glücklichsten Momente. Dann meinte sie auf einmal:

“Vielleicht tue ich es doch! Mit dir durchbrennen! Und sei es nur für diesen einen Tag!“

Armin lächelte, das Herz raste ihm plötzlich. Hatte er richtig gehört? Dann hatte sich sein Warten doch noch gelohnt.

“Ich habe Tickets zum Ende der Welt!“

Nathalie schaute ihn an. Sie hauchte ein zärtliches Ja, ein Ja, das ihn erwärmte. Als er mit ihr einige Zeit später die Bäckerei verließ, dachte er an die Hoffnung, die in ihrem Tun und Handeln lag. Doch es wurde mehr daraus. Mitte der Woche war es soweit und ein paar Tage ging es gemeinsam zum Rande der Zeit, zu jenem Ort, den nur Verliebte finden, mitten ins Feuerland der Gefühle.

Kaffee und ein bisschen mehr

Nicht jeder mag entkoffeinierten Kaffee, selbst Biokaffee ist bei manchen nicht das Maß aller Dinge, bei manchen muss es halt ein richtig starker und nichts als Kaffee sein, der wie kleine Kobolde auf den Magen schlägt. Vielleicht hatte er Streit mit seiner Frau, vielleicht Ärger mit seinem Chef, jedenfalls schaute der Arbeiter dem jungen Mädchen mit den rehbraunen Augen und schwarzen Haaren tief in die Augen, fuhr sich mit der linken Hand über das Kinn, musterte sie und meinte nur: “Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?“

Das junge Mädchen wirkte erschrocken, ein anderer Kunde, der gerade die Bäckerei betrat, hatte andere Sorgen. Dabei meinte sie es doch nur gut, vermutlich zu gut. Geld gegen Kaffee, böse würde ihr deswegen nicht einmal ihre Chefin sein, eben halt nur der Arbeiter in der Latzhose. Irgendetwas Nettes und Gutes musste sie nun wohl darauf sagen, sollte dieser Kunde weiterhin König bleiben. Ihre Kollegin lächelte ihr zu, konnte ihr aber auch nicht helfen, der andere Kunde äußerte bereits seinen Wunsch. Dann meinte das junge Mädchen mit den rehbraunen Augen:

“Ich kann auch koffeinhaltigen Kaffee machen! Dauert auch nicht lange, erfordert nicht viel mehr Zeit. Ich hoffe, Sie können diesen dann so richtig genießen, unser Kaffee ist sowieso der beste!“

“Das sagen sie doch alle!“

Anscheinend schien dieser Kunde heute wirklich mit dem verkehrten Bein aufgestanden zu sein, deshalb kommentierte sie seine Anmerkung nicht, noch nicht. War er auf Streit aus, hatte er einen Gerichtstermin oder war er Fließbandarbeiter, der mit seinen Arbeitsbedingungen nicht zufrieden war? Egal, es war ja nicht ihr Problem.

“Wenn Sie wollen, können Sie ein süßes Frühstück und darin inbegriffen noch eine zweite Tasse Kaffee bekommen!”

Sie lächelte ihn erneut an und er schien noch immer nicht so recht in Schwung zu kommen. Beide warteten, ohne zu handeln. Nach ewig langen Sekunden meinte er nur: “Das hört sich doch schon viel besser an!“

Endlich schien sich sein Gesichtsausdruck zu entspannen. Doch nervte er grundsätzlich oder aus Prinzip. Die Verkäuferin drehte sich um und bereitete den Kaffee zu. Währenddessen hoffte er, das Warten würde sich auf ein Mindestmaß beschränken und musterte den Raum. Der Kaffeeautomat war schwarzweiß, das Regal, in der das frisch gebackene Brot lagerte, braun und die Kasse grün-rot, warum auch immer. In der Glasvitrine lag ein Teiggebäck neben dem anderen, mit und ohne Füllung, platt wie eine Flunder oder breit wie ein Buch. Ja, ja die Füllung. Seine geliebte Frau machte den besten Apfelstrudel in der ganzen Stadt, wie er ihr immer sagte, wenn er mit ihr die Zeit vergaß. Er war ganz heiß nach ihren Rezepten, egal, ob es sich um Kuchen, Plätzchen oder Gebäck handelte. Manchmal glaubte er ihre Handschrift zu erkennen, doch nachdem er den ersten Bissen getan hatte, in welcher Bäckerei auch immer, merkte er, dem Rezept fehlte das gewisse Extra. Er hoffte jeden Tag, jeden Morgen, ihre Aromen und Nuancen in den Leckereien zu finden. Seine Frau hatte einfach ein Händchen für jene Sünden, die auf Kalorien ausgerichtet waren. Hell war es im Raum und die Dekoration im Schaufenster zur Straße war ansprechend gestaltet, einzig und allein der Kühlschrank, der neben der Eingangstüre stand, verunsicherte ihn etwas. Inzwischen war der “richtige” Kaffee fertig und die Verkäuferin, unverbrauchte 17 Jahre und mit einem Grübchen auf der linken Wange und kurz geschnittenen Haaren, lachte und wollte wissen, ob es auch etwas zum Essen sein dürfe. Sie wusste ja nicht, wie es schmecken musste, um das Bild seiner Frau zum Leben zu erwecken. Backen überließ sie ja normalerweise keinem anderen. Er fuhr sich durchs Haar, lächelte, fasste sich ans Kinn und bewegte die Zunge im Mund. Der Geschmack ließ sich nicht kopieren, vervielfältigen; sie kannte das Geheimnis, das ihn so glücklich machte. Um Zeit zu gewinnen, sagte er: “Ich überlege noch!”

Die junge Verkäuferin nickte nur und wartete. Er ging unbewusst einen Schritt zurück und hoffte wohl auf einen Wink des Schicksals. Doch auf den leeren Tischen hinter ihm mit vollen Faltblättern von Rezepten gab es diesen hier genauso wenig wie Gebäck umsonst zu bekommen. Demnach half es wohl nichts, Probieren ging in diesem Moment über Studieren. Dass er sich in einem Stehkaffee befand, störte ihn jetzt auch nicht mehr, das Geheimnis des Rezeptes seiner Frau war gefragt. So lehnte er die Krücken, die ihm das Laufen sichtlich erleichterten, neben den Tisch an die Wand.

Die Verkäuferin hatte noch immer keine Antwort bekommen und wollte nicht mehr warten, sodass sie den nächsten Kunden bediente. Der Mann sah die Person am Tisch gegenüber an. Vielleicht gleiches Baujahr. Jung, sportlich und gut gekleidet, mitten im Leben, wie es ihm schien und gerade einmal 28 Jahre alt. Brauchte auch er das Koffein des Kaffees oder stand er auf Apfelsaft? Vielleicht stand er mitten im Leben und verdiente gut. Hatte er eine Frau, konnte sie gut kochen? Wie seine Frau, die nun nicht mehr lebte. Doch die Erinnerung an ihren Apfelstrudel blieb. Hätte es hier einen solchen gegeben, hätte er auch mehr bezahlt. Doch den gab es hier nicht, genauso wenig wie seine Frau. Er konnte sie einfach nicht vergessen. Erneut schaute die Verkäuferin ihn an. Dann gab er sich einen Ruck und meinte:

“Ich hätte gern ein Butterhörnchen! Und nochmals danke für den Kaffee!“

Die Verkäuferin schien alles verstanden zu haben und lächelte ihn an. Umgehend ging sie seiner Bitte nach. Das Mädel hinter der Glasvitrine beugte sich nach vorne, hob die Hand, verlagerte das Gewicht auf den Vorderfuß und griff nach dem Butterhörnchen. Dabei

fiel ihm auf, wie gepflegt ihre Hände doch waren und dass sie einen Ring trug, der sicher kein Ehering war. Sie nahm das Gebäck heraus und legte es auf einen Teller am Tisch, der neben der Kaffeemaschine stand. Zucker für die Seele und Milch für das Gemüt; doch jeder hatte seine Vorlieben und klärte sie auf, Kaffee generell nur schwarz zu trinken.