Die Schönheit der Rosalind Bone - Alex McCarthy - E-Book

Die Schönheit der Rosalind Bone E-Book

Alex McCarthy

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Beschreibung

Von Schönheit und vom Wegsehen: Es gibt viele Gerüchte darüber, wohin Mary Bones Schwester damals verschwunden ist. Schon als Kind hat deren Schönheit den ganzen Ort in ihren Bann gezogen, war manchen ein Dorn im Auge, wirklich hinsehen wollte jedoch niemand. Auch Jahre später reden die Leute immer noch über sie, immer noch über ihre Schönheit. Aber im Dorf gibt es noch mehr Geschichten. Während Jugendliche aus Verzweiflung zu Brandstiftern werden, träumt ein dement werdender Mann von einem Mädchen, das er mal gekannt hat, und Marys Tochter, fasziniert von dem einen übriggebliebenen Foto der verschollenen Frau, möchte mehr über die Vergangenheit erfahren. Zwischen Tälern und dichten Wäldern liegt der kleine walisische Ort Cwmcysgod. Ein scheinbar ruhiges Fleckchen Erde, doch unter der Oberfläche lauern Flammen. Poetische Sprache trifft harte Realität: Die Schönheit der Rosalind Bone ist der zarte, fast märchenhafte und zugleich sprachgewaltige Debütroman von Alex McCarthy, einer neuen Stimme aus Wales, über die Verstrickungen innerhalb eines Dorfes, das Schicksal einer starken Frau und darüber, wie erdrückend ein einziges Wort sein kann. Das gleichnamige Hörbuch erscheint bei GOYALiT.

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Alex McCarthy

Die Schönheit der Rosalind Bone

Roman

Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus

Für Polly

Glossar walisischer Worte

Blodeuwedd die Frau des Lleu Llaw Gyffes aus der walisischen Mythologie. Sie wurde von den Zauberern Math und Gwydion aus Blumen erschaffen.

bach klein

cysga’n drwm So wünscht man sich eine gute Nacht: »Schlaf tief und fest!«

Butt/butty Slang für »Kumpel«. Ist kein walisisches Wort, wird aber nur in Wales benutzt.

Dadi Daddy

nos da gute Nacht

ych y fi igitt

1 Cwmcysgod, 2001

Als das Gras Feuer fing, wurde es schwarz, bevor man auch nur eine Flamme sah, seine Farbe verzehrt von der unsichtbaren Hitze, es blieb nur ein Flickenteppich aus brüchigen, verkohlten Stoppeln. Das junge Feuer schlängelte sich geduckt, schnell und gefräßig auf Knöchelhöhe durch trockenes Sommergras, loderte auf und erstarb wieder, am Boden verhaftet, angeschoben und mitgerissen vom Wind. Die Clements-Brüder saßen in der Hocke, angespannt und aufgeregt. Ihre Blicke verfolgten den Laufweg des Feuers, sahen zu, wie sich seine Spuren verflochten und in Fraktale fragiler Zerstörung aufspalteten, bis es schließlich zu seinem Höhepunkt anschwoll und viele Spuren zu einer breiten Walze rauchender, tanzender, verzückter Berghangvernichtung verschmolzen.

Aus den Ästen und Kronen entfernter Bäume erhoben sich Raben, breiteten die Flügel aus, ihre Stimmen kratzten am Himmel. Die Brüder wandten sich von dem Feuer ab und beeilten sich davonzukommen, begeistert von ihrem heimlichen Streich, ihrem Griff nach der Macht.

Sie gingen schweigend, die Berührung der Sonne Balsam auf ihrer Haut, der jeden Schmerz vertrieb.

Unter ihnen lag zu Hause. Cwmcysgod, dessen Dächer allenfalls von den längsten Strahlen der Nachmittagssonne gestreift wurden, was das Herz des Dorfes in ewigem Schatten liegen ließ.

Die Clements-Brüder nahmen den Schafspfad den Berg hinab, eine Schlammspur, die so schmal war, dass man immer einen Fuß direkt vor den anderen setzen und gut hinsehen musste, um sich nicht wegen eines Felsbrockens oder der Steine am Wegrand den Knöchel zu verknacksen. Dass sie langsamer gehen mussten, dämpfte ihre Hochstimmung, und als sie unten in Cwmcysgod ankamen, hatten sie bereits das Gefühl, nichts erreicht zu haben, als hätte die Pracht ihres Feuers niemals existiert.

Das Feuer jedoch raste unbeobachtet den Hang hinauf in die Wälder. Es kroch durch das Haselgestrüpp, um sich zwischen den illegitimen Sprösslingen lang gefällter Kiefern auszubreiten. Die Streu aus Kiefernnadeln knisterte und ging in Flammen auf, trug das Feuer weiter in Richtung Mitte des Waldes. Dort lag schlafend eine alte Frau, in ihren Ausdünstungen zusammengerollt auf einem Bett aus Milchkästen, Tränen der Vergangenheit hatten über ihre wettergegerbten Wangen Linien gezogen.

Der Wind ließ nach, und der Rauch sank hinab und hüllte das Dorf ein, folgte den Clements-Brüdern nach Hause. Er quoll über die Gartenmauern. Graue Rauchkringel tanzten zwischen den trocknenden Unterhosen und Laken an Wäscheleinen und machten die Reinigungsarbeiten derjenigen zunichte, die bemüht waren, all ihre Geheimnisse wegzuwaschen.

Im kleinsten der Reihenhäuser, zu dem der Rauch es am weitesten hatte, ging Mary Bone in Strumpfsocken geräuschlos über das Linoleum aus dem Flur in die Küche.

»Riechst du das Feuer?«

Ihre Tochter Catrin knallte die Küchenschublade zu und klemmte sich dabei ein Stück Haut am Finger ein. Vor Schmerz atmete sie scharf ein und drehte sich um, begegnete dem Blick ihrer Mutter.

»Ernsthaft, riechst du das?«, fragte diese und kniff die Augen zusammen, weil sie versuchte, die Sorge wegen des herankriechenden Rauchs und die Sorge wegen der herumschnüffelnden Tochter in eine Rangfolge zu bringen.

Das Mädchen zuckte mit den Schultern, trat durch die Hintertür und schnupperte draußen in die Luft.

»Sieh mal den Berg hoch«, sagte Mary Bone. »Die fackeln das verdammt noch mal ab – diese Mistkerle ziehen wieder ihre üblichen Tricks durch. Na ja, irgendwer wird sicher die Feuerwehr rufen.«

»Wir haben keine Milch mehr, Mam. Ich geh welche holen.«

»Bring mir auch den Argus von heute mit. Ich muss wissen, was in der Welt los ist.« Mary legte zwei Pfundmünzen in die Handfläche ihrer Tochter und kniff sie in die Wange, als wäre sie eine Vierjährige.

»Lass das«, beschwerte sich Catrin und wedelte ihre Hand weg, bedachte ihre Mutter jedoch nichtsdestotrotz mit der Andeutung eines Lächelns.

»Du bist immer noch mein Mädchen, oder nicht?«

»Ich bin sechzehn, Mam, Herrgott noch mal!«

Mary Bone nahm die Wäsche von der Leine ab, die sie zwischen zwei rostigen Pfosten aufgespannt hatte. Eine Wäscheklammer aus Plastik zerbrach ihr zwischen den Fingern, die Feder schoss durch die Luft und traf sie am Augenwinkel.

Sechzehn.

Sie warf die Laken in den Wäschekorb und setzte sich auf die Mülltonne aus Stahlblech, um den Bergen auf der anderen Seite des Cwm beim Brennen zuzusehen. Sie zündete sich eine Zigarette an und dachte an ihre Schwester. In ihrer Vorstellung hatte Rosalind ebenfalls eine Zigarette in der Hand, doch auf ihre schnellte ein Gewimmel aus Männerhänden zu, die ihr alle Feuer geben wollten. So war es immer gewesen.

Mary ließ ihre zu Ende gerauchte Zigarette fallen und sah zu, wie der letzte halbe Zentimeter bis zur Spitze verglomm. Rosalind klappte ihr silbernes Zigarettenetui zu.

 

In dem Laden an der Ecke saß die alte Mrs Williams in ihrer ganzjährig getragenen Kombination aus Strickjacke und Mantel auf einem hohen Hocker hinter der Theke. Ihr winziges Gesicht lugte aus dem Kopftuch hervor, das wie eine Schraubzwinge unter dem Kinn verknotet war. Marys Tochter Catrin ging zum Kühlschrank hinten im Laden und nahm die letzte Packung Milch heraus. Sie hatte Daniel Clements nicht bemerkt, der sich zwischen den Regalen vor ihr wegduckte.

Mrs Williams behielt Shane, den älteren Bruder, im Blick, der die Pornoheftchen befingerte, von denen sie stets eine ansehnliche Auswahl im Laden vorrätig hatte. Beobachtete, wie er sich Seite für Seite in gespreizte Beine und leichtfertige Versprechen vertiefte. Diese Teenager, die einem hier im Laden die Luft wegatmeten. Es überhaupt nicht eilig hatten. Daran waren die Mütter von heute schuld: Im ganzen Tal hatte es seit Jahren keinen versohlten Hintern mehr gegeben.

Die alte Frau brummte vor sich hin und nahm nickend zur Kenntnis, dass Catrin die Milch und die Zeitung bezahlte.

Auf dem Weg hinaus musste sich Catrin an Shane Clements vorbeizwängen. Sie machte sich ganz dünn, um ihre Existenz auf ein Minimum zu reduzieren, aber seine Augen fanden ihre Brüste trotzdem. Aus der Nähe rochen seine Klamotten nach Rauch. Catrin trat hinaus auf den rissigen, klebrigen Asphalt und atmete eine Scham aus, die nicht sie hätte empfinden sollen, dann machte sie sich auf den Heimweg den Hügel hinauf.

Dai Bevel stand dicht hinter seinem Gartentor und beobachtete, wie Catrin vorüberging, auf dieselbe Weise, wie eine Eule einer Feldmaus mit den Augen folgen würde: der Körper bewegungslos, die Krallen einsatzbereit, Kopf um die eigene Achse drehend.

»Du siehst aus wie Rosalind Bone …«, sagte er. »Ohne die Schönheit.«

Das sagte er immer, wenn er sie sah. Dai Widerling Bevel.

Um sechs Uhr tauchten von der Landstraße her Löschzüge mit eingeschalteten Sirenen auf. Die Reihe der Haustüren entlang der Hauptstraße öffnete sich. Auch in den Nebenstraßen traten die Leute auf die Türschwellen ihrer Reihenhäuser, begierig nach etwas Aufregendem. Arme verschränkten sich vor Brustkörben, Hälse wurden gereckt. Sie schüttelten die Köpfe über dieses Clements-Pack und gingen eilig wieder hinein, schlossen die Türen, um Abendbrottische zu decken, Fernseher einzuschalten oder den Trost zu schlürfen, der sich in einer Tasse Tee finden lässt. Mary Bone kam nicht auf die Straße. Sie saß auf der Mülltonne hinter dem Haus und zündete sich eine weitere Zigarette an.

Catrin stellte die Milch in den Kühlschrank und warf einen Blick auf das Foto, das in der Schublade versteckt lag.

Wie es wohl sein muss, wenn man so aussieht.

 

Das Tageslicht schwand, und Scheinwerfer pulsierten wie Glühwürmchen die Hauptstraße entlang. Erst kroch die Dämmerung, dann die Dunkelheit über Cwmcysgods Kohlemine, legte sich über die Terrassen, schwärzte den aus Backstein und Stahl bestehenden Kadaver der verfallenen Fabrik. Die Nacht verschluckte das Dorf und das Tal und zuletzt auch den Himmel darüber. Auf der Hauptstraße nahm, schwach bernsteinfarben erleuchtet, ein weiterer Samstagabend seinen Lauf. Junge und alte Füße trotteten in den Pubs aus und ein, gingen ins Mitre, um Bingo zu spielen, ins The Lamb für Karaoke. Tausend Seelen folgten ihren Fußstapfen der vorangegangenen Nächte und Wochen und Jahre. Vertieften die Spurrillen ihrer Leben in den Bordsteinen und Türschwellen.

Dai Bevel stand mit schmerzenden Hüften in seiner kleinen Küche am Gasherd und machte sich Milch warm in der allabendlichen Hoffnung, damit den Schlaf anzulocken. Cysga’n drwm, hatte seine Mutter immer gesagt, bevor sie ihn für die Nacht in seinem Zimmer eingeschlossen hatte.

Die Clements-Jungen lungerten im Dunkeln vor ihrer eigenen Hintertür herum, spähten durch den Spalt zwischen den Vorhängen und warteten darauf, dass ihre Mutter auf dem Sofa dank Fernsehen und Cider vom Schlaf übermannt wurde, sodass sie an ihr vorbeischlüpfen konnten in ihr Zimmer mit den Stockbetten, in denen sie liegen und von den Freuden der Brandstiftung träumen würden.

Am Dorfrand standen die Tanksäulen still da, abgeschlossen und unbeleuchtet. In der Wohnung über der Werkstatt fuhr Paul Rhys mit den Fingern über die Wange seiner Ehefrau, die er liebte. Sie lagen nackt nebeneinander, seine von Selbstbräuner getönte Haut spannte sich glänzend über dem akribisch trainierten Körper. Seine Frau Karen war zurechtgemacht und parfümiert, hatte jedes Molekül der Arbeit des Tages tief in den Abfluss hinuntergespült, damit sie ihm wie jeden Abend vollkommen reingewaschen im Bett begegnen konnte. Beide spürten das pulsierende Leben des anderen. In ihrem Schlafzimmerspiegel hing die omnipräsente Reflexion des neonfarbenen Esso-Schriftzugs und blinkte werbend allen zu, die vorüberkamen. Karen Rhys ließ ihre schlanken Finger durch das dicke, benzingeschwängerte Haar im Nacken ihres Mannes gleiten, zog es fest zu sich heran und raunte ihm Liebesworte zu.

Spätestens um drei Uhr morgens legte man alle Füße hoch, alle Köpfe nieder, und die Gedanken hatten wie unbeaufsichtigte Kinder freien Lauf durch die schlafenden Hirne von Cwmcysgod. Doch am Rand des Waldes über dem Dorf war die alte Frau nun erwacht, ihre Lunge brannte vom Rauch. In ihrer Hast, dem Feuer zu entkommen, stolperte sie über eine Baumwurzel. Sie lag verletzt und mit gebrochenen Knochen da und zwang sich zum nächsten Atemzug.

Ein, tief und aus.

Ein, tief und aus.

Ein Käfer krabbelte über ihre Wange. Sie erwog, eine Hand zu heben und ihn auf das Laub hinabzuwischen, aber es kostete zu viel Mühe. Sie öffnete und schloss die Augen, sah flüchtige Lichtpunkte, die unten im Dorf nutzlos schimmerten.

Ein, tief und aus.

Ein, tief und aus.

 

Sharon, die Mutter der Clements-Jungen, erwachte in ihrem Sofakokon aus Kissen und Decke. Sie griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Frieden. Auf gewisse Weise. Sie zerdrückte ihre leere Dose Cider und sehnte sich nach den Zigaretten, die zu rauchen sie aufgegeben hatte, um ihren Söhnen ein gutes Vorbild zu sein. Sie schlich sich nach oben in deren Zimmer. Ihre Jungen, die den ganzen Tag lang die Welt in Brand gesetzt hatten, ließen im Schlaf ihre wahren Seelen erkennen. Gesichter so glatt wie Kieselsteine, alle Sünden fortgewaschen von den Gezeiten der Nacht. So gehörten sie noch immer ihr.

Mary Bone zog sich die Bettdecke über die Schultern und drehte sich in ihrem Einzelbett auf die andere Seite. Sie träumte, dass es brannte. Sie und ihre Tochter standen am Rand des Gartens und sahen, wie das Feuer das Tal herunter auf sie zuraste. Mary hob heruntergefallene Backsteine auf und versuchte, die Gartenmauer damit höher und dicker zu machen. Catrin stand wie erstarrt da und beobachtete, wie die Flammen auf sie zukamen. Als das Feuer an der Mauer leckte, nach zu verbrennendem Bone-Fleisch brüllte, fiel Mary auf die Knie und betete wie der Teufel zu John Thomas, dem Dorfapotheker, um die Erlösung ihrer aller Seelen. Catrin lockerte einen Backstein, zog ihn aus der Mauer und tauchte ihre Hand ins Feuer.

2 Mary Bone

Die Füllertinte war leer, sodass ihre Tochter damit nur noch ein halbes Wort auf das Notizpapier kratzen konnte. Catrin kramte in ihrer Schultasche nach einem Bleistift, während Mary ihrer Tochter an die Spüle gelehnt und mit verschränkten Armen zusah. Der Traum der letzten Nacht ging ihr durch den Kopf, sie betend auf den Knien, während ihre Tochter mit dem Feuer spielte. Ihr eigenes Kind. Mary knirschte mit den Zähnen. Traum hin oder her, das war verdächtig.

»Was willst du sonst noch, Mam?«, fragte Catrin. »Ich habe Wäscheklammern, Brot, Bohnen, eine Zeitung, Hühnerflügel und Badreiniger. Und Bleistifte.«

»Das ist alles«, sagte Mary. Ihr Kiefer verhärtete sich wie von einer Ratsche angezogen. »Außer unter den reduzierten Artikeln ist irgendwas fürs Abendessen dabei. Bring mir das Wechselgeld zurück. Und kauf die Wäscheklammern nur, wenn sie aus Holz sind.« Sie sah ihrer Tochter in die Augen, um sich zu vergewissern, dass Catrin ihre Anweisungen aufgenommen hatte.

»Nimm eine Jacke mit, nur für den Fall.«

»Mir geht’s gut, hör auf mich zu bemuttern.«

Sechzehnjährige denken immer, sie wüssten alles besser.

Mary gab ihrer Tochter einen Zwanzig-Pfund-Schein und sah zu, wie Catrin ihn sich tief in die Tasche schob. Das war das letzte Geld von der Stütze, bis sie nächste Woche neues bekämen. Wenn Tŵm Fags und seine Schwarzmarktgeschäfte nicht wären, hätte Mary nicht einmal mehr den Trost von Zigaretten.

Auf der Mülltonne im Hinterhof sitzend zündete sie sich die erste Zigarette des Tages an und zupfte an dem Wäscheklammerwundschorf, der sich auf ihrem Augenlid bildete. Über die spärlichen Überreste des Berggrases schlenderten Männer in gelben Westen und begutachteten die Brandschäden von gestern. Neonfarbene Nissen, die auf dem Hang sorgfältig ihre Schritte setzten. In den letzten beiden Jahren waren der Ausblick auf den Berg und die Seiten des Argus alles, was Mary von der Außenwelt gesehen hatte.

Angefangen hatte es vor ein paar Jahren mit etwas, das Dai Bevel gesagt hatte. Eine Zufallsbegegnung auf der schmalen Gehwegplatte vor The Lamb. Mary war auf dem Weg zum Pound Emporium, um Lebensmittel einzukaufen, und er kam ihr mit einer leeren Einkaufstasche entgegen, die so groß war, dass sie auf dem Boden schleifte. Sie nickte ihm zum Gruß zu. Als er ihre Höhe erreichte, wandte er sich zu ihr und winkte.

»Die Schöne kehrt zum Biest zurück.«

Mary hielt keine Sekunde inne. Der Mann hatte schließlich Alzheimer. Sie stieg weiter bergan in Richtung Pound Emporium, ihre Beine wurden allein vom Muskelgedächtnis bewegt wie bei einem geköpften Huhn.

Am Eingang des Ladens sah Mary ihre Hand nach einem Drahtkorb greifen, als wäre sie keine Gliedmaße mehr, die ihr selbst gehörte. Sie stand neben den Bananen und starrte auf ein Stück Papier, von dem sie wusste, dass es ihr Einkaufszettel war, ohne die Worte entziffern zu können. Als sie ihren Verstand aufforderte, Informationen in Handlungen umzusetzen, kam keine Antwort. Ihr Gehirn war gerade in der Mittagspause, beim Angeln, hatte bis auf Weiteres geschlossen.

Leer.

Ein paar Sekunden später wurde ihr bewusst, dass sie nicht auf dem Bauch im Gemüsegang liegen sollte, auf Augenhöhe mit dem Schmutz unter den Regalen. Sie hatte sich instinktiv fallen lassen, als wollte sie sich vor einem Angriff schützen. Mary starrte auf die hart gewordenen Dreckklumpen auf dem Betonboden.

Sie sollte etwas unternehmen, um die Kontrolle wiederzuerlangen, die Situation in etwas nicht allzu Ungewöhnliches umzuwandeln. Das Gesicht zu wahren. Nichts geschah. Sie konnte sich zu keiner Bewegung zwingen. Von den pickligen, gaffenden Kassiererinnen wurde sie auf die Füße gezogen, sie wollten sie auf einen braunen Plastikstuhl setzen. Mary entwand sich ihrem Griff und flüchtete aus dem Laden. Sie war das panische Pferd, das sie einmal auf der Fernstraße gesehen hatte, eingekeilt von Verkehr, sich mit aufgerissenen Augen um die eigene Achse drehend. Sie schaffte es nach Hause, kurz bevor die Welle von Scham hinter ihr brach und gegen die Haustür brandete. Eine riesige, wogende Welle. Vielleicht hatte sie sich schon viele Jahre aufgetürmt, war langsam angewachsen, Stunde für Stunde, bis sie die nötige Wucht besaß, sie tief in die vier Wände ihres Zuhauses hineinzudrücken und dort festzusetzen, da Mary andernfalls fürchten musste, sie würde sie sonst gänzlich vernichten. Und das Festsetzen gelang. Denn Mary wurde bewusst, dass sie das Haus nicht verlassen konnte. Da doch die Welle vor der Tür nur darauf wartete, über ihr zusammenzuschlagen.

Nicht aus dem Haus zu gehen hatte eine Weile funktioniert. Das und die Tabletten, die ihr der Arzt verschrieb. Solange Mary einen Boden hatte, den sie scheuern, oder einen Schulrock, den sie nähen konnte. Eine Schrankecke, die sie ausräumen und putzen konnte. Aber wenn sie alles abgekratzt und geschrubbt und aufgeräumt hatte, lag trotzdem noch immer das Foto in der Küchenschublade und wartete auf sie.

 

Mary neigte den Kopf, um der langen Flamme des Feuerzeugs auszuweichen. Genau wie schon tags zuvor sah sie ihre jüngere Schwester Rosalind an einem fernen Ort ebenfalls eine Zigarette rauchen, wenngleich es in ihrem Fall eine dieser Cocktailzigaretten mit pastellfarbener Spitze war. Nobel. Mary rauchte, was immer am billigsten war: Die erste Zigarette des Tages schmeckte stets nach Benzin. Mary sah, wie Rosalind sich eine dunkle Haarsträhne um den manikürten Finger wickelte und sie hinters Ohr strich. Teurer Zigarettenrauch verhüllte die strahlende Haut ihrer Schwester, ein blaugrauer Schleier legte sich über den anderen, bis sie gänzlich verschwand.

Rosalind war schön und Mary nicht. Diese einfache Wahrheit hatte Marys Leben geprägt. Männern blieb der Mund offen stehen, wenn ihre Schwester vorüberging. Erst als Rosalind aus Cwmcysgod fortgezogen war, wurde Mary überhaupt bemerkt. Mary führte ein kleines und billiges Leben, aber wenigstens keines mehr in Rosalinds Schatten. Catrin war der Beweis dafür.

Ihre Tochter wurde aus dem Durcheinander von neunzehnhundertfünfundachtzig geboren, als die Bergleute streikten und von überallher in Bussen Streikposten ins Tal gekarrt wurden. Mark Gower lautete der Name ihres Vaters. Er war kein Bergmann, aber ein Unterstützer der Bergleute. Die Minenarbeiterfürsorge bot Marys Mutter Eira ein kleines Entgelt dafür an, dass sie ihn verpflegte und auf ihrem Sofabett im Wohnzimmer beherbergte, von wo aus Mark Gower täglich zur Minenarbeiterfürsorge ging, um nach Dienstplan beim Streik zu helfen. Er tat nichts Entscheidendes, war aus dem Nichts aufgetaucht, hätte auch gut ein Spitzel sein können, und Außenstehenden traute man ohnehin kaum. Mary war fünfundzwanzig und lebte wie die meisten Unverheirateten im Tal noch immer zu Hause. Sie mochte ihn augenblicklich, seine Fremdartigkeit. Den schlaffen Pony, der ihm über die braunen Augen hing. Ihr kam er vor wie ein einmaliges Sonderangebot in einem Laden, der für sie sonst zu teuer war. Eine Ware, die außerhalb ihrer üblichen Preisklasse lag.

Im Haus waren sie niemals zusammen. Mark sagte, das wäre ihrer Mutter gegenüber respektlos.

Mark Gowers ganzer Stolz war sein MG Maestro. Er war weiß, hatte schwarze Sitze, einen roten Zierstreifen und einen Bordcomputer. »Bitte anschnallen«, forderte der einen auf, sobald man den Zündschlüssel drehte. Oder er sagte, was Mary am meisten belustigte, wenn sie den rechten Knopf drückte: »momentaner Kraftstoffverbrauch«. Die Stimme klang genau wie die von Moira Stuart bei den BBC News. Sie schnallten sich an und fuhren aus dem Tal, um auf einem abgelegenen Rastplatz leidenschaftlichen, linkischen Sex zu haben. Es hielt zwei Monate lang, dann setzte sich Mark Gower zu Eira und Mary an den Küchentisch und erklärte, er habe ein Jobangebot in Basingstoke. Sobald Mary Bescheid wusste, schrieb sie ihm an seine neue Bude und informierte ihn über ihren anschwellenden Bauch voller Arme und Beine. Er antwortete und versprach, bald zurückzukommen, aber Mary hörte nie wieder von Mark Gower. Er verschwand von seiner Nachsendeadresse, sein Ausflug in die Arbeiterklasse war eindeutig beendet.