Die Schönheit des Himmels - Sarah Biasini - E-Book

Die Schönheit des Himmels E-Book

Sarah Biasini

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Beschreibung

Romy Schneiders Tochter erzählt: poetische und intime Einblicke in ihr Leben abseits der Öffentlichkeit

Eine Frau schreibt an ihre neugeborene Tochter. Sie erzählt ihr von ihren Freuden, ihren Leiden, ihren Ängsten und von einer Abwesenden, ihrer eigenen Mutter: der großen und unvergessenen Romy Schneider. Sarah Biasini spürt in ihrem berührenden Buch der Beziehung zu ihrer Mutter nach. Ein poetischer Text, der Fragen aufwirft: Wie wächst man auf, wenn man die Mutter mit vier Jahren verliert? Wie lebt man weiter, wenn einem der Tod so früh so nahekommt? Wie trauert man um eine Mutter, die von der ganzen Welt abgöttisch verehrt wird? Die Antwort findet die Autorin bei sich, bei der Liebe ihrer Familie, ihrer Freunde, bei den Frauen, die ihr die Mutter ersetzt haben. Ein Buch über das Leben, das weitergeht, trotz allem.

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Über das Buch

Romy Schneiders Tochter erzählt: poetische und intime Einblicke in ihr Leben abseits der Öffentlichkeit Eine Frau schreibt an ihre neugeborene Tochter. Sie erzählt ihr von ihren Freuden, ihren Leiden, ihren Ängsten und von einer Abwesenden, ihrer eigenen Mutter: der großen und unvergessenen Romy Schneider. Sarah Biasini spürt in ihrem berührenden Buch der Beziehung zu ihrer Mutter nach. Ein poetischer Text, der Fragen aufwirft: Wie wächst man auf, wenn man die Mutter mit vier Jahren verliert? Wie lebt man weiter, wenn einem der Tod so früh so nahekommt? Wie trauert man um eine Mutter, die von der ganzen Welt abgöttisch verehrt wird? Die Antwort findet die Autorin bei sich, bei der Liebe ihrer Familie, ihrer Freunde, bei den Frauen, die ihr die Mutter ersetzt haben. Ein Buch über das Leben, das weitergeht, trotz allem.

Sarah Biasini

Die Schönheit des Himmels

Aus dem Französischen von Theresa Benkert

Paul Zsolnay Verlag

»Die Spuren wiederfinden, selbst die allerkleinsten, dieses wilden Teils, der sowohl das Leben als auch den Tod in sich birgt, aber vonseiten des Lebendigen, das bedeutet, angetrieben von der Bewegung der Metamorphose.«

Anne Dufourmantelle, La Sauvagerie maternelle

»Der Tod ist die Wiege des Lebens.«

Jacques Higelin

In drei Wochen wirst du auf die Welt kommen.

Der Arzt meint: Tag der Zeugung am 20. Mai 2017, Geburtstermin am 20. Februar 2018. Seine Berechnungen beruhen auf meinen eigenen, dabei darf man die zulässigen Abweichungen nicht vergessen.

Also warte ich.

Die neun Monate neigen sich dem Ende zu, und auch ich neige mich, ein paar Mal noch, über meinen runden Bauch.

Er sieht aus, als könnte er jeden Moment platzen, so sehr dehnt sich die Haut unter der Wirkung der ersten schmerzfreien Wehen, man sagt auch »Übungswehen«. Du könntest heute Nacht, morgen oder genauso gut in zehn, fünfzehn oder zwanzig Tagen kommen.

Während ich warte, schreibe ich dir.

Bei jeder Geschichte, die man erzählen möchte, gibt es einen Ausgangspunkt. Ein Ereignis, das andere Ereignisse nach sich zieht, kleine wie große. Hier sind sie also in der Reihenfolge, in der mir einige von ihnen bewusst und andere wieder bewusst geworden sind.

Das Telefon klingelt, es ist Sonntag, der 1. Mai 2017, ungefähr 10 Uhr. Gilles ist ins Kino im Quartier des Halles gegangen, in die Frühvorstellung, an den Film erinnere ich mich nicht mehr. Ich hatte überlegt, mitzukommen, ihn aber schließlich doch nicht begleitet.

Das Telefon klingelt weiter, ich nehme nicht ab, die Nummer, die an diesem Morgen anruft, kenne ich nicht. Der Anrufer hinterlässt eine Nachricht, aber ich erledige erst, was ich gerade mache, ich weiß nicht mehr, was es war, wahrscheinlich der Abwasch.

Ach doch, ich weiß es schon noch, ganz sicher, ich stehe in der Küche, draußen ist es schön, ich erinnere mich an die Sonnenstrahlen, die sich breit gefächert in der Wohnung verteilen.

Dann höre ich endlich den Anrufbeantworter ab.

»Guten Tag, hier ist die Gendarmerie von Mantes-la-Jolie, Polizeihauptkommissarin D. M., bitte machen Sie sich keine Sorgen (oder eine ähnlich behutsame Floskel), aber das Grab Ihrer Mutter wurde letzte Nacht geschändet.« Das Ende der Nachricht ist verschwommen in meiner Erinnerung. Vermutlich das Übliche: »Sie erreichen mich unter folgender Nummer« und so weiter.

Ich rufe zurück und habe gleich die Hauptkommissarin am Apparat, sie hat mir ihre private Handynummer gegeben, es ist ein Feiertag, eigentlich hätte sie frei.

Ihre sanfte und hohe Stimme steht im Gegensatz zu den Fakten, die sie mir darlegt.

Sie hätten mit einem Brecheisen auf den Grabstein eingeschlagen, um ihn vom Sockel zu lösen. Dann hätten die besagten Personen (in meiner Vorstellung sind es mindestens zwei, wenn man die Größe des Steins bedenkt) den Grabstein verrückt und eine schräge, etwa zwanzig Zentimeter breite Öffnung hinterlassen. Die Hauptkommissarin beruhigt mich sofort: Den Sarg hätten sie nicht erreicht, da er durch eine zusätzliche Betonplatte unter dem Grabstein geschützt sei. Sie seien nicht weiter als bis zu dieser Platte gekommen, die anscheinend unter Wasser stand wegen der Feuchtigkeit, die sich in den fünfunddreißig Jahren dort angesammelt hatte. Ich frage sie: »Wer hat die Gendarmerie benachrichtigt?« Ein Sonntagsradfahrer, der dort vorbeikam (seltsam, auf einem Friedhof Rast zu machen, aber na gut). Noch am Telefon stelle ich weitere Fragen: »In welchem Zustand hat man das Grab denn vorgefunden? Ist der Schaden groß, ist der Stein gesprungen?« Sie beruhigt mich, nein, es sei nicht viel beschädigt worden, abgesehen von ein paar verschobenen Blumentöpfen und ein oder zwei umgefallenen Vasen. Sie habe ein Foto gemacht, als sie am Tatort angekommen sei, und schlägt vor, es mir zu schicken, ich nehme ihr Angebot an. Ich sehe den aufgebrochenen Stein vor mir, den geöffneten Spalt, das Loch mit dem schwindelerregenden Schwarz. Die Lücke ist nicht groß genug, um an etwas heranzukommen oder hineinzufallen, als hätten sie nicht zu Ende gebracht, wofür sie gekommen waren, als hätten sie mittendrin aufgehört, enttäuscht, reumütig oder von einem verdächtigen Geräusch überrascht.

Schließlich frage ich sie, was ich jetzt tun soll. Sie erklärt mir, die Kollegen von der Kriminaltechnik seien im Einsatz, um Spuren zu sichern, und der Steinmetz sei da, um den Grabstein wieder am Sockel zu befestigen.

»Soll ich vorbeikommen?«

»Wenn Sie möchten, natürlich.«

Einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, daheimzubleiben, mich nicht von der Stelle zu rühren, diesen Ort fern von meinen Sorgen, auf Distanz zu halten. Sofort reiße ich mich zusammen und bereue es schon, dass ich gezögert habe. Ich sage am Telefon, sie solle auf mich warten, in zwei Stunden werde ich da sein. Selbstverständlich wird sie so lange vor Ort bleiben. Sie bittet mich, vorsichtig zu fahren, ich weine schon seit Beginn unseres Gesprächs.

Mit den Ellbogen auf den Küchentisch gestützt sitze ich da und denke: Noch so ein scheußlicher Vorfall. Wer macht so etwas?

Ich weiß nicht, warum ich so weinen muss. Es wird mir fast zu viel, ich kann mich kaum beruhigen. Sie ist ja schon tot. Schlimmer kann es nicht werden. Aber sie sollen sie endlich ein für alle Mal in Ruhe lassen. Selbst im Tod will man sie noch ruinieren. »In Frieden ruhen«, das könnte nicht angebrachter sein.

Ich versuche, Gilles zu erreichen, aber es klingelt nicht einmal, er hat das Handy im Kino ausgeschaltet. Ich hinterlasse ihm eine Nachricht: »Ruf mich bitte zurück, wenn du fertig bist.« Danach rufe ich meine Großeltern väterlicherseits an, um ihnen Bescheid zu geben und mir ihr Auto auszuleihen. Als Gilles sich meldet, bin ich schon bei ihnen, er bittet mich, auf ihn zu warten, und besteht darauf, mich zum Friedhof zu begleiten. Ich bin nicht gerade begeistert, aber willige ein, da ich sehe, wie erleichtert Monique und Bernard darüber sind, dass ich nicht allein hinfahre. Ich würde am liebsten sofort aufbrechen. Noch scheint die Sonne.

Gilles fährt, aber als wir an einer Tankstelle halten und nach dem Weg fragen, übernehme ich selbst das Steuer, um mich abzureagieren.

Wir fahren. In meinem Kopf geht nicht viel vor sich, ich bin in einer Schockstarre, bei der jeder Gedanke gefriert. Ich konzentriere mich auf die Straße. Stille im Auto. Wir erreichen das kleine verlorene Dorf im Departement Yvelines. Boissy-sans-Avoir. Boissy-ohne-Haben.

Und auch ohne-Sein. Was für ein trauriger Name.

Ich habe Schwierigkeiten, den Friedhof zu finden, insgesamt war ich nur drei Mal in meinem Leben hier. Ich brauche diese Art von Ort nicht, um an die Toten zu denken. Zur Orientierung halte ich Ausschau nach dem Kirchturm. Als ich am Friedhofszaun vorbeifahre, sehe ich eine Menschenansammlung, hier ist es. Ich wende und suche einen Parkplatz. Ich versuche, mich in eine klägliche Parklücke zu manövrieren, fange jedoch an zu zittern. Die Arme und Beine lassen mich im Stich, erfüllen ihre Funktion nicht mehr. »Geh schon mal vor, ich parke ein«, sagt Gilles.

Ich steige aus, die Gruppe vor dem Friedhof hat meine Ankunft schon bemerkt (in diesem Dorf herrscht nicht gerade viel Verkehr), sie erkennen mich. Ich sehe, wie sie mir zuerst ihre Gesichter und dann ihre Körper zuwenden, um mich in Empfang zu nehmen. Langsam setze ich mich in Bewegung, warte darauf, dass Gilles mir folgt. Er wollte im Auto bleiben, aber ich war dagegen. Er hält trotzdem genügend Abstand, als wolle er sagen: Mach dir meinetwegen keine Sorgen, tu, was du tun musst, ich bin da, falls du mich brauchst.

Die Hauptkommissarin, in Zivil und schwanger, fällt mir jetzt wieder ein (mit ihrem zweiten, wie sie mir später erzählen wird), neben ihr ein Polizist, in Uniform.

Der Steinmetz ist auch da. Das Unternehmen ist in Familienhand, zusammen mit seinem Zwillingsbruder hat er das Geschäft des Vaters übernommen, den man damals, 1982, gerufen hatte, als meine Mutter starb.

Wir, die Zwillinge und ich, gehören zur nächsten Generation, wir treten das Erbe an. Auch der Bürgermeister aus dem Dorf ist da, es ist noch derselbe wie vor fünfunddreißig Jahren.

Wir stehen immer noch vor dem Friedhofszaun, Gilles ein Stück hinter mir, in respektvollem Abstand. Mit der linken Hand fummle ich ununterbrochen am Henkel meiner Tasche herum. Sofort wird es mir bewusst. Ich lenke meine Gefühle in die unruhige Hand, mit der ich mich an etwas festklammern muss, die ich anspanne, um mich vom Schmerz abzulenken.

Meine Kehle ist wie zugeschnürt, zum Glück muss ich nichts sagen, ich höre zu, wie sie mir erneut die Fakten darlegen. Konzentriere mich auf die Zärtlichkeit in jedem der auf mir liegenden Blicke, überschäumend vor Empathie und Mitgefühl. Ich muss Haltung bewahren und das Zittern meines Kinns unterdrücken. Gerade habe ich es geschafft, aus dem Auto zu steigen, jetzt stehe ich aufrecht, hefte mich an den Boden, der mich trägt.

Sie reden lange. Wir bleiben eine ganze Weile vor dem Zaun stehen, weit weg vom Ort des Verbrechens, des Einbruchs, um uns zu schützen, um mich zu schützen. Sie zögern den Moment hinaus, in dem sie mich zum Grab führen.

Endlich gehen wir durch das Gittertor. Alle senken den Kopf, ich tue es ihnen gleich.

Etwa hundert Gräber, ein kleines Dorf, ein kleiner Friedhof. Das Knirschen der Kieselsteine unter unseren Schritten. Was mache ich hier bloß?

Um diese Zeit hätte ich Gilles am Ausgang des Kinos abgeholt, wir hätten gemütlich zu Mittag gegessen, auf einer Terrasse, vielleicht in der Rue Montorgueil.

Ich hebe kurz den Blick, um die Stelle auszumachen, wo das Grab ist. Diesen Ort, der in den Augen brennt. Den ich nicht sehen will.

Sie haben alles in Ordnung gebracht, bevor ich gekommen bin, alles ist wieder an seinem Platz wie am Tag der Beerdigung (zumindest stelle ich mir es so vor, ich war nicht dabei). Ich erkenne, dass die Spurensicherung hier war, man sieht noch Reste ihres grünen fluoreszierenden Mittels auf den Rändern des Grabsteins und den Vasen. Ich habe das Gefühl, in einer schlechten Krimiserie gelandet zu sein. Die Steinmetze haben den Grabstein wieder befestigt. Die Blumen in den Vasen und Töpfen sind unversehrt.

Das Grab ist in einem tadellosen Zustand, alle haben ihre Arbeit getan, jetzt bin ich an der Reihe. Das Scheckheft steckt hinten in meiner linken Jeanstasche. Ich bin bereit zu zahlen, die Rechnungen mit der Vergangenheit zu begleichen, wie man so schön sagt. Ich erfülle meine Pflicht als Tochter. Kümmere mich um meine Mutter, verwahre ihren Tod wieder dort, wo man ihn hätte lassen sollen.

Ich sehe das Grab an, ohne es wirklich zu sehen. Es erinnert mich daran, dass sie am Leben war, es aber nicht mehr ist. Die beiden Zustände stehen sich gegenüber, und der eine verweist auf den anderen. Sie war am Leben, aber sie ist tot, aber sie war am Leben, aber sie ist tot, aber sie war …

Ich will nicht denken, dass es meine Mutter ist, die dort unter der Erde liegt, die Hälfte meines Ichs, als ich geboren wurde, ein Teil meiner Geschichte.

Auch mein Bruder liegt dort unten. Zusammen begraben.

Die Minuten vergehen. Ich stelle den Steinmetzzwillingen Fragen, tausche mich noch mit D. M. aus. Hole mein Scheckbuch heraus, drücke Hände, bedanke mich aufrichtig. Verabschiede mich, sie werden sich bei mir melden.

Es brennt immer noch in den Augen. Ich will die eingravierten Namen auf dem Stein nicht länger ansehen. Es interessiert mich nicht. Der Tod interessiert mich nicht. Ich kenne ihn, er ist mir vertraut. Auch mein Blut ist zur Hälfte kalt. Bei ihnen. Ich bin ein Roboter. Ich rede über sie wie über Fremde. Ferne, auf Distanz gehaltene Wesen.

Ich habe nichts mehr auf diesem Friedhof zu suchen. In einem Anflug von Wahnsinn könnte ich mich auf das Grab legen und den Stein streicheln, als würde ich die Haare meiner Mutter berühren. Doch das werde ich nicht tun, ich kann mich zusammennehmen. Ich will schnell weg hier. Gilles wartet auf mich, an ein Mäuerchen gelehnt. Diesmal fährt er. Ich bin zu erledigt und erschöpft davon, mich so lange beherrscht zu haben. Er ist da.

Am Telefon hatte mich D. M. vorgewarnt, dass bereits Journalisten im Rathaus von Boissy angerufen hätten.

Auf dem Friedhof kreiste ein Hubschrauber allem Anschein nach beharrlich über uns, und ich dachte sofort, man würde uns beobachten. Ich hatte nachgefragt, wie die Presse davon erfahren hat. Der Sonntagsradfahrer hatte es wohl für eine gute Idee gehalten. Letztlich gab es kein großes Aufsehen, nur eine Pressemeldung der AFP, und ein paar Radiosender berichteten darüber.

Heute liest Gilles diese Seiten. Er meint, dass ich mich täusche, ein Nachrichtensender hätte noch am selben Tag eine Meldung im Fernsehen herausgebracht. Viele unserer Freunde hätten am Abend des 1. Mai angerufen und sich nach mir erkundigt. Warum habe ich mich daran nicht mehr erinnert? Weil es nicht oder zu wichtig war?

Ich kann nicht wie andere über die eigene Mutter sprechen. Würde man das Grab von jedem x-Beliebigen schänden? Meine Mutter ist berühmt. Ich würde gerne behaupten, dass ihre Bekanntheit nichts zur Sache tut, aber das wäre gelogen. Und ich werde nicht lügen, vor allem werde ich dich nicht belügen, meine zweieinhalbjährige Tochter, der ich diese Geschichte erzähle.

Ich sage nicht gerne ihren Namen. Den Namen, auf den sie reagierte, wenn andere sie riefen. Ich bin ihre Tochter, seine Eltern nennt man nicht beim Namen. Man sagt, meine Mutter oder mein Vater. Einmal habe ich meinen Vater beim Vornamen genannt, ich muss damals sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, einfach so aus Spaß, um erwachsen zu spielen. »Daniel!« (Der Vorname gefällt mir.) Ich habe nicht gleich verstanden, warum er sich aufgeregt hat, warum es ihn zu stören schien. Der Tochter gegenüber wollte er nur eine einzige Identität haben, die des Vaters.

Wenn ich hier den Namen meiner Mutter schreiben würde, hätte ich das Gefühl, über eine andere zu sprechen, über eine Fremde. Ihr Name als Schauspielerin, ihr beruflicher Name, gehört ihr inzwischen fast nicht mehr, und ich habe das Gefühl, dass er nie zu mir gehört hat. Ihr Mädchenname wurde schon in all den Biografien geschrieben. Das ist nicht schlimm, so ist es eben, sie war schon berühmt, bevor ich überhaupt geboren wurde. Es gibt nichts Schöneres, als sie »meine Mutter« zu nennen. Niemand außer mir darf sie so nennen. Das lasse ich mir nicht nehmen.

Alle können den Namen meiner Mutter sagen. Alle kennen sie oder haben von ihr gehört. Besonders diejenigen, die heute zwischen vierzig und achtzig Jahre alt sind. Die unter Zwanzigjährigen können mit ihrem Namen nichts anfangen, außer sie sind damit aufgewachsen, in den Weihnachtsferien die Sissi-Filme zu sehen, oder ihre Eltern sind Kinofans, verliebt in die Filme von Claude Sautet.

Meine Mutter ist unvergessen. Wegen ihrer Arbeit als Schauspielerin, wegen der Männer, die sie geliebt hat, wegen des tragischen Tods ihres ersten Kindes, ihr Sohn David, mein Halbbruder, mein Bruder, das genügt. Nicht einmal ein Jahr vor ihrem eigenen Tod.

Niemand will meine Mutter vergessen, nur ich. Alle möchten daran denken, nur ich nicht. Niemand wird so sehr weinen wie ich, wenn ich daran denke.

Wenn die Leute mit mir über sie reden, sagen sie ihren Namen anstatt »deine Mutter«, »Ihre Mutter«. Als würde ich nicht direkt vor ihnen stehen. Ich verstehe nicht, was sie sagen. Ich höre ihnen schon gar nicht mehr zu. Über wen sprechen sie? Ihr Name interessiert mich nicht, mich interessiert nur meine Mutter.

Wie viele Male habe ich »nein« gesagt, wenn mich auf der Straße fremde Leute gefragt haben, ob ich ihre Tochter sei. Ich wollte meinen Frieden. Die Fragen vermeiden, die Befangenheit, die eindringlichen, unangemessenen, zu nahen Blicke. Ich kann mit solchen Situationen nicht umgehen. Der Schamlosigkeit von Unbekannten setze ich Kälte entgegen. Ich unterbreche sie abrupt, nein, das bin ich nicht. Was soll ich auch antworten auf Sätze wie »Ich habe sie so geliebt«? Ich kann ihre Liebe für sie, ihren Verlust nicht teilen. Meine Liebe und meine Leere erscheinen mir tausendmal größer. Ich bin nicht die richtige Ansprechperson für sie. Tut mir leid.

Manchmal antworte ich mit »ja«. Dann bin ich in besserer Stimmung, höre Wohlwollen heraus, größeren Respekt. Ich spüre, selbst wenn ich rede, wird Stille folgen.

Alles ist immer eine Frage der Begegnungen. Und der Distanz.

Ich komme noch einmal auf den 1. Mai zurück.

Wer würde ein Grab schänden? Antisemiten? Schatzsucher? Durchgeknallte Verehrer? Die Polizeihauptkommissarin gibt mir zu verstehen, dass es schwierig sein wird, die Verantwortlichen ausfindig zu machen. Sie werden im Dorfcafé die Einwohner dazu befragen, aber sie macht sich keine großen Hoffnungen. Sie hat recht. Es bleibt ein Rätsel. Der Rest meiner Familie hakt diesen folgenlosen Vorfall schnell ab, der von einem oder mehreren psychisch Gestörten verursacht wurde. Sie haben ja recht, verglichen mit dem, was wir schon erlebt haben, ist es nur eine Randerscheinung. Das Schlimmste haben wir schon hinter uns.

Mich beschäftigt etwas anderes. Ich weiß nicht, ob ich weinen oder mich über diesen Tag freuen soll. Oder beides gleichzeitig. Als ich wieder zu Hause bin, frage ich mich, was ich mit diesem Ereignis anfangen soll. Ein Teil von mir versteht nur zu gut, welche Rolle der Zufall dabei gespielt hat. Der andere will dem Ganzen einen Sinn geben. Noch völlig benommen frage ich Gilles immer wieder: »Was will man mir damit sagen? Was hat das alles bloß zu bedeuten? Warum ist das passiert? Ich muss doch irgendetwas daraus machen. Das alles ist ein Vorwand für, ja … wofür denn? Das ist doch völlig irre?!«

Ich muss mit einer anderen Person darüber sprechen, die mich schon länger kennt, die auch den Tod aus eigener Erfahrung kennt und genug Gelassenheit mitbringt, um mit den Gefühlen der Freundin umzugehen, ihr aufmerksam zuzuhören. Caroline hat im Radio von der Schändung erfahren und den ganzen Tag über schon mehrmals mit mir telefoniert.

Bei ihr spreche ich am selben Abend diese Fragen laut aus, und wir sind uns einig, dass mir all das helfen soll, meine Trauer noch besser zu verarbeiten.

Was bedeutet dieser schwer greifbare und lächerliche, da unmögliche, Ausdruck? Laut dem Wörterbucheintrag in meinem Petit Robert 2008 stammt deuil, das französische Wort für Trauer, aus dem Lateinischen, von dolus, douleur. Dolere, schmerzen. Soll man darunter verstehen: seinen Schmerz verarbeiten? Ihn zu Ende denken? Bis er sich in etwas anderes verwandelt? Und in was? In etwas Erträgliches?

»Trauerarbeit bezeichnet den psychischen Prozess, durch den es einer Person gelingt, sich von der verstorbenen Person zu lösen, diesem Verlust einen Sinn zu geben.« Anschließend folgt ein Zitat von Noëlle Châtelet: »Trauerarbeit … eine Abfolge von Handlungen, die darin besteht, Dinge aus der Versenkung hervorzuholen, auszugraben, um sie noch ein letztes Mal wiederzusehen und die Vergangenheit, den im Leben zurückgelegten Weg zu betrachten.«

Da haben wir’s. In der Theorie, schön und gut, in der Praxis ist das etwas anderes.

Im Moment scheint es mir unvorstellbar, etwas Derartiges zu erleben. Ich begrabe meine Mutter erneut, ich zahle für ihr Begräbnis, und all das spielt sich diesmal im engsten Kreis ab. Verglichen mit dem Tamtam damals nehmen meine neuen Freunde, Polizisten, Amtsträger und Steinmetze, nicht die Rolle der ungebetenen Gäste ein. Im Gegenteil, sie begleiten mich, reichen mir die Hand. Das ist nicht jedem vergönnt. Danke, meine lieben Schänder, für diese kleine Zeremonie ganz für mich allein. Damals war ich aus gutem Grund nicht bei der offiziellen Beerdigung mit all den anderen. Mit dem Rest der Welt. Kinder nimmt man bei so etwas nicht mit. Ein Friedhof ist schließlich keine Grünanlage für Spielhosen, es gibt keine Schaukel, keinen Sandkasten, keine Rutsche. Was wäre das für ein Chaos.

An den darauffolgenden Tagen bebt mein ganzer Körper, ich bin immer noch völlig durcheinander.

Abgesehen von meinen Großeltern habe ich in dieser Woche niemanden getroffen.

Ich spreche nicht mehr darüber, aber ich würde diesen Tag am liebsten noch einmal erleben. Diesen Tag, der wie kein anderer war. Meine Mutter und ich zusammen wie vor so langer Zeit.

Ich sehe mich wieder in der Buslinie 32 sitzen und an der Kirche Saint-Augustin vorbeifahren. Ich spüre meine erhöhte Temperatur, kein Fieber, aber Hitze macht sich in meinem Körper breit.

Ich bin in und neben der Spur, ich weiß nicht mehr, wo ich bin. In mir braut sich etwas zusammen. Mein Schwerpunkt wird völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich bin durchdrungen, wovon, von wem?

September 2008

Ich bin in Marseille und spiele in dem Stück No One Sees the Video