Die schönste Brücke der Verständigung - Helmut Lauschke - E-Book

Die schönste Brücke der Verständigung E-Book

Helmut Lauschke

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Beschreibung

Viele von ihnen haben die Gelegenheit wahrgenommen und das abendliche Konzert mit unserer Philharmonie unter der Stabführung von Maestro Wiktor Kulczynski gehört. Ich, der ich leider am Konzertbesuch verhindert war, habe erfahren, dass es ein großartiger Abend war, an dem Herr Baródin das zweite Klavierkonzert von Brahms mit höchster Bravour spielte. Dass der Pianist des Abends aus Berlin kommt, wenn auch sein Name die russische Herkunft nicht verleugnen kann, das gibt dem Abend eine besondere menschliche Note. So trägt dieser Abend in schönster Weise zur polnisch-deutschen Verständigung und Aussöhnung der beiden Völker bei. Was Herr Baródin vielleicht nicht weiß, weil er es aufgrund seiner Jugend nicht wissen kann, ist der Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes, dessen wir Polen morgen mit dem Gefühl der Trauer gedenken, aber auch mit der Absicht zu verzeihen, und das besonders vor der jungen deutschen Generation und jenen älteren Deutschen, die da schuldlos waren und unter der Nazi-Tyrannei ebenfalls gelitten haben. Die Zeit ist reif, dass wir das Schlimme, das die Vergangenheit über uns gebracht hat, mit 'uns' meine ich die Polen wie die Deutschen, dass wir diese Vergangenheit überwinden und nun positiv aufeinander zugehen. Je jünger die Menschen sind, um so leichter können und sollen sie es tun, weil sie von dieser Vergangenheit unbelastet sind. Das ist das Besondere des heutigen Abends, dass die große Musik zu uns gesprochen hat, die keine nationalen Grenzen kennt, die versöhnen und heilen will. Gibt es doch keine Sprache, die besser zur Verständigung der Menschen geeignet, als es die Sprache der Musik ist. So wollen wir diesen Abend nicht nur als ein herausragendes, kulturelles Ereignis feiern, sondern ihn auch als Abend der Völkerversöhnung verstehen, damit mehr Licht in unsere Zukunft und die Zukunft unserer Kinder kommt. Die Menschen werden es hören, dass es die Liebe zwischen zwei Menschen ist, die die Musik so tief begreifen lässt.

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Seitenzahl: 191

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Helmut Lauschke

Die schönste Brücke der Verständigung

Das 2. Klavierkonzert von Brahms und eine deutsch-polnische Liebesgeschichte

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das 2. Klavierkonzert von Brahms und eine deutsch-polnische Liebesgeschichte

Ankunft in Warschau

Der gemeinsame Stadtbummel

Besuch bei der Dame Lydia Grosz, der Schwester des Maestro Wiktor Kulczynski

Die ersten erotischen Berührungen und der Gute-Nacht-Kuss

Aufschlagender Resonanzdeckel und die tonale Überschwemmung im mitternächtlichen Traum

Der große Blumenstrauß aus weißen Narzissen und roten Rosen

Die Liebesbrücke der Verständigung

Das Konzert in der Warschauer Philharmonie

Abendlicher Empfang im Hotel ‘Polnischer Hof’

Der Brückenschlag zur Völkerversöhnung und Verständigung

Die Fahrt zum Flughafen und der Abschied

Impressum neobooks

Das 2. Klavierkonzert von Brahms und eine deutsch-polnische Liebesgeschichte

Ankunft in Warschau

Vor dem Flughafengebäude standen die Taxis, die sich aus VW’s, Fiat und Renault in langer Folge hintereinander reihten. Die Taxis rückten nach, wenn das erste Taxi vom Gebäudeeingang abfuhr. Boris nahm das nächste nachrückende Taxi. Der Fahrer verstaute den Koffer im Kofferraum des Fiat, der seine besten Jahre abgefahren hatte. “Wohin?”, fragte er im slawisch verzogenen Dialekt, weil er Boris das Deutsche angesehen oder an ihm gerochen hatte. “Hotel Polnischer Hof”, sagte Boris, und der Fahrer startete den Motor. Da der Flughafen außerhalb der Stadt gelegen war, ging es über eine unbeleuchtete Straße in die Stadt. Das machte etwa zehn Kilometer oder zwanzig Minuten aus. Je näher es an die Stadt heranging, desto heller wurde die Straßenbeleuchtung.

Der Taxifahrer war ein stiller Mann, der offenbar das Reden im Sinne einer Unterhaltung beim Fahren nicht mochte. So wurde bis zum genannten Hotel kein Wort gesprochen, geschweige denn gewechselt. Er hielt vor dem breiten, hell erleuchteten Portal des Hotels an, stieg aus, gab dem Portier ein Hand- und Pfeifzeichen, der darauf zum Auto kam und den Koffer in die Hand nahm, den der Fahrer aus dem Kofferraum holte und ihm gab. Boris fragte, was er zu zahlen habe. Darauf sagte der Fahrer: “hundert Zloty”. Sein Gesicht klarte auf, als er im Deutsch der “drei Worte” sagte: “drei DM gut; drei DM sehr gut.” Darauf gab ihm Boris zehn DM, was für den Taxifahrer unglaublich, ja fürstlich war. Er zog die Fahrermütze vom Kopf, dankte in polnisch, gab dem Portier, der den Koffer in der Hand hielt, die nötige Anweisung, dass dieser zu Lächeln begann, als das Taxi abfuhr und Boris dem Portier zum Hoteleingang folgte.

Die junge attraktive Polin an der Rezeption sprach ein tadelloses Deutsch: “Guten Abend, Herr Baródin. Wir freuen uns, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Wir stehen ihnen zu jeder Zeit gerne zu Diensten. Ihr Zimmer hat die Nummer 7 und ist im ersten Stock. Unser Speisesaal ist bis 22 Uhr geöffnet. Ich kann ihnen die Spezialität des Tages sehr empfehlen. Benötigen Sie einen Telefonanschluss?” Boris: “Ja, ein Telefon brauche ich schon.” Die junge Polin an der Rezeption: “Das ist überhaupt kein Problem. Sie bekommen den Anschluss in den nächsten zehn Minuten. Falls Sie sonst etwas benötigen, ob es Getränke, der Friseur oder das Bügeln der Hemden und Anzüge sind, zögern Sie nicht, mir Bescheid zu sagen. Die Direktion hat Anweisung gegeben, ihnen unseren Vorzugsdienst zukommen zu lassen.” Boris: “Das ist sehr freundlich von ihnen.” Die junge, blonde Polin gab dem Portier den Schlüssel, der Boris zum Aufzug und dann zum Zimmer 7 im ersten Stock führte. Der Portier schaltete das Licht in dem großen Raum, einem Sitzraum, an, der mit zwei Sesseln, einem Klubtisch und einer Stehlampe ausgestattet war. An den Sitzraum schloss sich das Doppelbettzimmer und das Badezimmer mit Toilette an. Boris gab dem Portier zehn DM Trink-, beziehungsweise Tragegeld, was für ihn nicht nur ein Zeichen der Aufmerksamkeit vonseiten des Gastes, sondern ein königliches Trinkgeld war, für das sich der junge Portier sehr bedankte. Boris sah die innere Rührung in seinen Augen, die zu glänzen begannen, als er die bundesdeutsche Banknote in der Hand hielt, sie zusammenfaltete und glücklich in seine Brusttasche schob.

Der Portier verließ das Zimmer und legte die Tür leise ins Schloss. Boris wusch sich die Hände und das Gesicht mit lauwarmem Wasser. Er stand für einen Augenblick am Fenster und schaute über den erleuchteten Platz vor dem Hotel mit den vom Platz abgehenden Straßenzügen. Die Stadt war erleuchtet, stand aber nicht in einem Lichtermeer, wie es Berlin zum Strahlen brachte. Boris war in der polnischen Metropole, der Stadt des Warschauer Aufstandes und der vielen anderen Ereignisse von historischer Bedeutung. Er setzte sich in einen der beiden Sessel, zog die Partitur aus der Notentasche und blätterte im Selbstgespräch darin herum: “Großer Brahms, hier sollst du in zwei Tagen zu hören sein. Hoffentlich haben die Polen die offenen Ohren und das offene Gemüt, dich zu verstehen, was du im zweiten Klavier-Konzert ihnen mitzuteilen hast.

Musikalisch ist das polnische Volk und auch anspruchsvoll, das einen Frédéric Chopin und viele andere große Musiker hervorgebracht hat. Da muss ich mich anstrengen und gut spielen, um den Zuhörern das zu Gehör zu bringen, was sie von dir hören sollen.” Er legte die Partitur auf den Klubtisch, ließ sie am Anfang des zweiten Satzes, dem Allegro appassionato, aufgeschlagen und meldete ein Gespräch nach Hamburg-Blankenese an, um seiner Mutter, Anna Friederike Elbsteiner, geborene Dorfbrunner, mitzuteilen, dass er gut in Warschau angekommen sei. Die Vermittlung nahm einige Minuten in Anspruch. Dann meldete sich Frau Elbsteiner. Boris: “Mutter? Hallo Mutter! Ich bin gut in Warschau angekommen.” Mutter: “Dann bin ich beruhigt. Wie fühlst du dich?” Boris: “Wie sich ein Pianist fühlt, der ein schwieriges Konzert zu spielen hat.” Mutter: “Das wirst Du schaffen, mein Sohn. Was macht dein Husten?” Boris: “Der ist fast weg. Doch werde ich den Hustensaft weiter einnehmen, damit ich beim Spielen nicht dazwischenbelle, was der Vortrag nicht verträgt.” Mutter: “Das ist keine gute Nachricht. Ich dachte, die Medizin hätte geholfen und dich kuriert.” Boris: “Sie hat mir geholfen. Die Tonsillitis ist völlig abgeheilt.” Mutter: “Die Aufführung ist übermorgen.” Boris: “Ja, Mutter. Morgen ist die Probe.” Mutter: “Dann hast Du noch etwas Zeit, dich zu erholen. Nimm dir die Zeit, damit Du stark genug für das Konzert bist.” Boris: “Ich werde mich bemühen. Doch ein Klavier fehlt mir hier. Wenn ich nicht ständig dran sitze, packt mich die Angst, dass ich aus der Übung komme.” Mutter: “Nun rede dir nicht noch so etwas ein. Du bist ein brillanter Pianist und beherrschst das zweite Brahms-Konzert.” Boris: “Dein Wort in Gottes Ohr, Mutter. Ich muss mich anstrengen, denn die Erwartungen sind hoch. Da darf mir kein Fehler unterlaufen.” Mutter: “Sei zuversichtlich! Die Menschen werden von deinem Spiel begeistert sein, so wie sie es in Antwerpen waren, als Du vor einem Jahre dort den Brahms gespielt hast. Was mir einfällt: Frage doch bei der Rezeption nach, ob es im Hotel einen Flügel gibt, den sie dir an den beiden Tagen zur Verfügung stellen können.” Boris: “Ja, das werde ich tun. Das ist ein guter Einfall.” Mutter: “Ich wünsche dir eine gute Nacht und drücke dir die Daumen, wie ich es immer vor deinen Konzerten getan habe.” Boris: “Vielen Dank, Mutter, und auch dir eine gute Nacht.”

Boris nahm nicht den Fahrstuhl, um nach unten zum Speisesaal zu kommen, er ging die Treppe hinunter, die an der Rezeption endete. Die hübsche, junge Polin war mit einem Gast, einem russischen Herrn beschäftigt, mit dem sie in fließendem Russisch sprach. Boris wartete vor der Rezeption, frischte seine Russischkenntnisse dadurch auf, indem er das Gespräch, in dem es um das Auffinden von zwei Ministerien ging, verfolgte und im Geiste seinem Vater, Ilja Igorowitsch Tscherebilski, dankte, der ihm als kleines Kind neben den ersten Schritten auf dem Klavier auch die ersten Schritte in der russischen Sprache mit ihren sonoren Kehllauten beigebracht hatte. Das Gespräch war beendet. Der russische Gast dankte charmant mit einem Augenzwinker der attraktiven Polin und verschwand im Speiseraum.

Die junge Polin schaute ihn aus ihren wunderschönen großen, dunklen Augen an: “Herr Baródin, kann ich etwas für Sie tun?” Das fragte sie in einem fehlerfreien Deutsch und lächelte Boris fast verheißungsvoll an. Boris: “Darf ich zunächst um ihren Namen fragen, damit ich Sie korrekt ansprechen kann, wenn ich mit meinen ständigen Bitten komme.” Die Polin lachte, wobei ihr strahlend weißes Gebiss zur vollen Geltung kam: “Vera ist mein Name.” Boris: “Vielen Dank. Fräulein Vera, ich brauche ein Klavier oder einen Flügel. Haben Sie so etwas im Hotel? Ich habe zu arbeiten, das heißt zu spielen.” Vera schaute aus noch größeren Augen Boris an: “Das ist ja interessant. Das kommt im Jahr selten vor, dass ein Gast nach einem Flügel fragt.” Mit dem Lächeln der Neugier fuhr sie fort: “Nun begreife ich, Sie sind der Boris Baródin, der übermorgen ein Konzert in der Philharmonie gibt.” Boris: “Ja, dieser Boris bin ich und muss mich auf das Konzert intensiv vorbereiten.” Vera: “Seit einem Jahr steht hier ein neuer Konzertflügel im Musiksaal. Ich werde Sie zum Flügel hinführen.” Sie führte Boris den breiten Flur entlang, der sich in die entgegengesetzte Richtung vom Speisesaal erstreckte. Vera ging einige Schritte voraus und begann ein freundlich lockeres Gespräch: Da haben Sie einen großen Abend vor sich. Im Kulturteil der Zeitungen werden Sie als namhafter Pianist mit internationalem Renommee beschrieben.” Boris schwieg und folgte Vera, die sich in der Anmut ihres Ganges in den Hüften wog.

Vera: “Da sind Sie durch ihre Konzerte sicher in der Welt herumgekommen.” Boris: “Ja, das bin ich.” Vera: “Das muss doch ein aufregendes Leben sein, als Künstler gefeiert zu werden.” Boris: “Wissen Sie, Fräulein Vera, oft wünschte ich mir weniger auf dem Präsentierteller zu stehen und dafür mehr Ruhe und Beschaulichkeit zu finden.” Vera: “Das können nur Sie sagen, weil Sie ganz oben auf der Ruhmesleiter stehen. Für uns normale Menschen ist und bleibt es der große Traum.” Boris: “Aber Sie haben doch einen interessanten Beruf, der Sie mit vielen Menschen der unterschiedlichsten Herkunft und Berufe zusammenbringt. Da sind Sie mir doch voraus, denn ich habe es fast ausschließlich mit Musikern und meinem Agenten zu tun.” Vera: “Sie haben recht, Herr Baródin, in den ersten Monaten ist der Beruf einer Rezeptionistin spannend und aufregend, wenn auf einen die Menschen zukommen, um hier zu übernachten, und die anderen Menschen nach dem Frühstück das Hotel verlassen, die hier übernachtet und schließlich gezahlt haben. Aber dann wird es zur freundlichen Routine, die auch ihre schlechten Seiten hat, wenn sich ein Gast etwas herausnimmt, was er besser nicht tun sollte, weil es geschmacklos und ungezogen ist.” Boris: “Ich verstehe, was Sie sagen. Doch das sind doch die Ausnahmen.” Vera: “Das können Sie so nicht mehr sagen, denn die Respektlosigkeit dem weiblichen Geschlecht gegenüber hat in den letzten Jahren bedenkliche Ausmaße angenommen. Der Mangel an guter Erziehung zeigt nun und besonders uns gegenüber die Folgen, gegen die wir uns zu wehren haben.”

Vera öffnete die hohe Flügeltür: “Kommen Sie! Jetzt sind wir im Musiksaal.” Sie schaltete das Licht an, und zwei riesige Kronleuchter ließen den Saal erstrahlen. Vera: “Es wird gesagt, dass hier auch Chopin seine Klavierabende gegeben haben soll. Das war zu einer Zeit, als das Hotel den Namen ‘Fürstenhof’ führte. Im letzten Krieg sollen hier jüdische Künstler vor den hochrangigen Nazis aufgetreten sein, auch solche von der Berliner Philharmonie, die wenig später in Auschwitz-Birkenau ihr Leben verloren haben.” Boris schockierte dieser Satz. Er erinnerte sich an die Erzählungen seines Großvaters, als er durch die multiple Sklerose in den Beinen gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt war, wie brutal die Nazis mit den Juden und anderen Minderheiten sowie den Regimekritikern umgegangen waren. Vera führte ihn ans Ende des Saales, wo der Flügel stand: “Da ist er, den Sie suchen.” Boris setzte sich an den Flügel, der ein Steinway war, und spielte ihr zum Dank die beiden ersten ‘Préludes op.28’, das ‘Agitato’ in C-Dur und das ‘Lento’ in a-Moll von Frédéric Chopin vor. Vera stand wie gebannt am Flügel mit Tränen in ihren großen dunklen Augen. Da sie kein Tuch bei sich hatte, um ihre Tränen abzuwischen, zog Boris sein ungebrauchtes Taschentuch aus der Jackentasche und hielt es ihr mit der Frage entgegen, ob sie damit vorliebnehmen wolle. Vera nahm sein Taschentuch, das noch zusammengefaltet war, wortlos entgegen und wischte sich die Tränen vom Gesicht, während Boris die beiden nächsten ‘Préludes’, das ‘Vivace’ in G-Dur und das ‘Largo’ in e-Moll spielte. Vera: “Sie spielen wunderbar; wie ein Engel spielen Sie.” Boris: “Schön wär’s, wenn ich wie ein Engel spielen könnte.” Vera trieb die Unruhe, weil sie ihren Dienst an der Rezeption zu verrichten hatte. “Ich muss zurück zur Rezeption. Wie gerne hätte ich ihnen weiter zugehört.” Boris: “Kann ich hier bleiben und spielen, ohne dass ich jemanden störe?” Vera: “Das können sie, Boris Baródin. Sie können hier spielen, so lange Sie wollen. Aber was ist mit dem Abendessen. Wollen Sie sich nicht vorher etwas stärken?” Boris: “Vera, ich will spielen. Das ist mein Bedürfnis. Mein Appetit ist nicht so groß. Aber wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann bringen Sie mir in einer Stunde etwa ein Tablett mit Tee und etwas zu essen.” Vera: “Das bedeutet Nachtschicht für mich. Aber für Sie, den spielenden Engel auf dem Steinway tue ich das gern.”

Vera verließ den Musiksaal und schloss die hohe Flügeltür leise hinter sich. Sie stand noch einen Augenblick an der Tür und lauschte seinem Spiel des ersten Satzes aus dem zweiten Brahms-Konzert. Dass sie dabei sein Taschentuch in der Hand hielt, merkte sie erst an der Rezeption, als sie es aus der Hand legte, um ein Telefonat zu tätigen. Sein Spiel hatte sie aus der Fassung gebracht, hatte sie “umgeworfen”. Als ein Gast an der Rezeption aufgrund ihrer “Abwesenheit” fragte, ob ihr nicht wohl sei, bemerkte Vera, dass sie mit ihren Gedanken nicht bei der Sache war, sondern bei Boris Baródin war, dem jungen und schon so berühmten Pianisten aus Berlin. Er hatte sie völlig in Beschlag genommen, hatte sie erobert, ob er es wollte oder nicht.

Boris spielte Brahms und war mit seinem Spiel zufrieden. Es war Vera, die mit einem Tablett den Musiksaal betrat, um ihm den Tee und die Spezialität des Tages, eine gespickte Gänsebrust mit Bratkartoffeln und Rotkohl zu bringen. Sie stellte das volle Tablett auf einen Stuhl und goss Tee in die Tasse, als Boris beim Blick auf seine Swatch, die er ausgezogen und links neben die Tastatur gelegt hatte, erschrak, weil es kurz vor Mitternacht war und sich der Mahnung seiner Mutter erinnerte, sich aus gesundheitlichen Gründen noch zu schonen. Vera: “Sie kennen wohl gar keine Pause, Boris Baródin.” Boris schmunzelte: “Die kenne ich schon, Fräulein Vera. Aber ein Infekt mit einer Mandelentzündung hat mir lange genug eine Zwangspause auferlegt. Nun muss ich nachholen, was ich versäumt habe. Und Sie wissen es so gut wie ich, dass das Warschauer Publikum hohe Ansprüche an den Pianisten stellt.” Vera: “Aber Sie spielen einmalig schön. Was kann da noch ausgesetzt werden?” Boris, dem das “einmalig” gefiel, griff zum Wortspiel: “Wenn es beim zweiten Mal nicht so klappt, wie es gespielt sein soll oder beim ersten Mal gespielt wurde.” Vera lachte, während Boris vor dem Flügel saß und über Mendelssohn’s “Lieder ohne Worte” meditierte. Vera: “Wieviel Löffel Zucker nehmen Sie zum Tee?” Boris, ohne den Blick vom Flügel zu nehmen: “einen Teelöffel bitte.”

Vera rührte den Zucker in den Tee: “Boris Baródin, nun ist eine Pause fällig, denn das Essen ist gerichtet.” Sie schob einen zweiten Stuhl für Boris vor den Stuhl mit dem Tablett und einen dritten Stuhl dazu, auf den sie sich setzte. Vera: “Ich wünsche ihnen einen guten Appetit. Sie müssen doch Hunger haben.” Boris: “Der ist nicht so groß, denn auf dem Flug von Berlin nach Warschau gab es schon das Abendessen, eine gebackene Kalbsleber mit gekochten Kartoffeln und Gemüse.” Vera: “Das ist nun schon einige Stunden her. Jetzt nehmen Sie eben das Mitternachtessen. Sie müssen sich von dem Infekt, der ihnen die Zwangspause auferlegt hatte, erholen.” Boris aß mit Appetit die köstlich zubereitete Gänsebrust und die knackig angerichteten Bratkartoffeln. Auch schmeckte ihm der mit einem Schuss Wein versetzte Rotkohl. Während des Essens fragte er sie, ihm ein wenig aus ihrem Leben zu erzählen. Vera: “Ich bin ein Kind aus einer kinderreichen Familie. Geboren wurde ich in Wroclaw, dem einst deutschen Breslau, wo mein Vater als Gruben- und Maschineningenieur im Kohlerevier Katowicach (Kattowitz) tätig war. Ich habe noch drei Brüder und zwei Schwestern. Alle sind jünger als ich. Leider ist mein Vater, er war gerade zweiundfünfzig Jahre alt, an einem Lungenkrebs verstorben. Auch die Professoren von der Uni-Klinik konnten ihn nicht mehr retten. Meine Mutter bezog eine kleine Witwenrente, die zum Leben, ich meine zum Überleben der Familie nicht reichte. So kam es auf mich zu, eine Beschäftigung anzutreten, um Geld für die Familie zu verdienen. Gerne hätte ich studiert, denn ich hatte die Schule mit guten Noten abgeschlossen. Aber der Tod meines Vaters setzte andere Prioritäten. Und so bin ich seit über zwei Jahren an der Rezeption des Hotels “Polnischer Hof”, dem früheren “Fürstenhof” zu Zeiten des polnischen Adels und seines Großgrundbesitzes mit der Lehnsherrschaft über weite Kreise des polnischen Volkes.”

Boris: “Fräulein Vera, was hätten Sie denn studieren wollen, wenn ihr Vater gesund und noch am Leben wäre?” Vera überlegte einen kurzen Augenblick: “Theater und Ballett. Schon als Kind liebte ich das Tanzen und das Puppenspiel.” Boris: “Das hört sich interessant an, und ich glaube, dass Sie das Talent dazu hätten.” Vera: “Nur genügt das Talent alleine nicht, um es zur Durchführung zu bringen.” Boris: “Ich verstehe.” Vera: “Mein Vater sagte: mein Kind, habe Geduld; erst muss die Familie aus dem Gröbsten sein, die Geschwister müssen einen Schulabschluss haben, um mit guten Chancen ins Berufsleben zu treten. Warte bis ich fünfzig bin, dann habe ich auch das Geld, dass du deinen Traum vom Theater und Ballett verwirklichen kannst. Oft hat Vater seinen Schmerz ausgedrückt, als ihn das Krebsleiden erfasst hatte und nicht mehr losließ, stattdessen ihn verzehrte. Da sagte er, wie leid es ihm tut, dass nun das angesparte Geld für die ärztliche Behandlung und die Apotheke draufgehe und nicht, wie versprochen, für die Ausbildung in Drama und Ballett.” Boris: “Den Schmerz ihres Vaters kann ich nachempfinden. Fräulein Vera, Sie tun mir leid, dass ihre Begabung deshalb nicht weiter zur Ausbildung und zum Tragen kommen kann. Aber vielleicht ergibt sich die Möglichkeit zu einem späteren Zeitpunkt, wenn ihre Geschwister ins Berufsleben gegangen sind und Sie das Geld für das Studium angespart haben.” Vera: “Das wird noch eine Weile dauern, denn noch sind nicht alle aus der Schule heraus. Doch was rede ich, was klage ich ihnen vor? Sie geben ein Konzert, sind auf der Höhe des Ruhmes, da soll ich nicht mit meinen kleinen Dingen dazwischenkommen!

Entschuldigen Sie, das habe ich wirklich nicht so gemeint.” Boris: “So habe ich das auch nicht aufgefasst, Fräulein Vera. Ich habe doch durch meine Frage den Anlass gegeben, dass Sie mir aus ihrem Leben erzählen möchten. Und das haben Sie getan.” Vera: “Danke, dass Sie mich verstanden haben.” Boris: “Jetzt spiele ich ihnen noch etwas Chopin vor, dann muss ich aber ins Bett, um für morgen fit zu sein.” Vera räumte die Sachen auf dem Tablett zusammen und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Boris hatte sich auf die kurze Bank an den Flügel gesetzt, schaute kurz zu Vera herüber und spielte aus den ‘Préludes’, erst das ‘Allegro molto’ in D-Dur, dann das ‘Lento assai’in h-Moll und zum Abschluss das letzte, das ‘Allegro appassionato-Prélude’ in d-Moll.

Boris begleitete Vera, die das Tablett trug, aus dem Musiksaal, öffnete ihr die hohe Flügeltür, drückte auf den Lichtschalter, dass der Saal in seine ursprüngliche Dunkelheit versank, schloss die Tür und ging mit Vera den breiten Flur zur Rezeption zurück, wo ein junger Mann mit schläfrigen Augen den ruhigen Nachdienst versah. Vera: “Ich wünsche ihnen eine gute Nacht. Wollen Sie geweckt werden?” Boris: “Ja um acht, das wäre sehr freundlich. Dann sehen wir uns morgen. Gute Nacht!” Er nahm den Treppenaufgang neben der Rezeption, während Vera in Richtung Speisesaal verschwand, um das Tablett in der Hotelküche abzustellen.

Die Nacht träumte Boris eine Liebesromanze. Er hatte sich in ein Mädchen slawischer Herkunft verliebt, das außergewöhnlich schön und rassisch war. Als Liebhaber hatte er ihr Liebeslieder vorgespielt, die in ihrer Gefühlstiefe und Farbigkeit dem großen Brahms oder Liszt nicht nachstanden. Während er ihr die Liebeslieder vorspielte, wobei es zu ausladenden Arpeggien und rollenden Oktavläufen kam, saß das Mädchen neben ihm auf der Bank vor dem Flügel und schmiegte sich zärtlich an ihn. Ihre Hand fuhr sanft über seinen Kopf und streichelte das rechte Ohr. Dann küsste sie seine rechte Wange. Es war ein beglückendes Spiel im glücklichen Nebeneinander, das nach einem glücklichen Miteinander verlangte. Die Liebeslieder gab es geschrieben nicht. Sie entstanden ad hoc aus dem Augenblick des Empfindens, des Fühlens und Verlangens. Daher war es nicht verwunderlich, dass das Repertoire dieser Lieder unerschöpflich war. Es wäre so ‘ewig’ weitergegangen, war es doch die schönste der Welten, wenn nicht das Telefon geklingelt hätte, das die schönste Welt mit dem erträumten, unerschöpflichen Liebesverlangen und dem nicht weniger großen Liebesliederrepertoire im Nu zum Absturz brachte. “Guten Morgen, es ist acht Uhr”, sagte eine freundliche, junge Männerstimme. “Danke”, erwiderte Boris noch verträumt und suchte, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte nach den Traumbelegen, die ihn so weit geführt, ja fast verführt hatten.

Doch Belege und ihre “Unterlagen” waren weg. Nichts war von ihnen zurückgeblieben oder auffindbar. “Hätte statt der Männerstimme Vera das ‘Guten Morgen’ und die ‘Acht Uhr’ gesagt, dann wäre doch die wunderbare Welt der Liebe und ihrer Lieder geblieben und nicht wie ein Kartenhaus zusammengefallen, eingestürzt und wie vom Erdboden verschwunden.” Das war der Kommentar am Morgen eines wichtigen Tages, dem Tage vor der Aufführung des Brahms-Konzertes, den Boris sich beim Rasieren vor dem Spiegel ins Gesicht sagte, als er aus dem Bett gestiegen und dabei war, unter die Brause zu steigen. Dass die Schlafstunden zu kurz gekommen waren, das spürte er ebenso wie das Verlangen, Vera wiederzusehen. Da war doch etwas Neues in sein Leben getreten, dass es ihn nach einem andern Menschen verlangte, der bisher ausschließlich seine Mutter gewesen war. Er war gerade in seine Hose gestiegen und dabei, sie am Bund zu schließen, als das Telefon läutete und Vera ihm einen guten Morgen wünschte: “Ich wollte nur sichergehen, dass Sie auch geweckt wurden, denn Sie sagten, dass für neun Uhr die Probe in der Philharmonie angesetzt sei.” Boris: “Das ist sehr freundlich von ihnen. Haben Sie denn eine gute Nacht gehabt?” Vera: “Lange konnte ich nicht einschlafen. Meine Gedanken kreisten um die Musik und ihr wunderbares Klavierspiel.Dann sah ich Sie im Traum vor dem großen Himmelsflügel über den Wolken sitzen und hörte die ‘Préludes’ von Chopin. Sie spielten wie ein Engel. Töne und Klänge bildeten ein großes Gebäude der schönsten Bauweise, das von einem blühenden Frühlingsgarten umgeben war, in dem wir uns trafen und einander zulachten. Der Duft, der diesem Garten entströmte, war der Zauberduft der großen Liebe.”