Die Schuldenbombe - Christian Schütte - E-Book

Die Schuldenbombe E-Book

Christian Schütte

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Beschreibung

Die westliche Welt hat gelernt, die Staatsschulden zu lieben. Im Kampf gegen die große Finanzkrise und in der Pandemie wurden riesige Haushaltsdefizite zur Normalität. Der von den USA, Europa und Japan aufgetürmte Schuldenberg ist heute in Relation zur Wirtschaftskraft so hoch wie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch die Ära, in der sich Staaten nahezu gratis verschulden konnten, ist vorüber. Die Zinsverpflichtungen steigen rasch. Viele Länder – vorneweg die USA unter Donald Trump – steuern auf eine schwere Finanzkrise zu. Es droht eine neue Zerreißprobe für den Euro und eine Erschütterung des Weltwährungssystems, das auf dem Vertrauen in den Dollar aufgebaut ist. Christian Schütte, Finanzjournalist beim manager magazin, erklärt, wie das Lob der Staatsschulden zur weltweit herrschenden Wirtschaftslehre geworden ist und warum ein Umdenken dringend nötig ist. Er zeigt, wo die kommenden Gefahren an den Kapitalmärkten liegen, welche Auswege aus der Schuldenfalle bleiben und wie sich Privatanleger für die neue Ära rüsten können.

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Seitenzahl: 301

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Christian Schütte

DIE

Schulden

bombe

Warum der Welt eine Währungskrise droht und welche Auswege noch bleiben

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

 

 

Für Fragen und [email protected]

 

 

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

 

 

Originalausgabe

1. Auflage 2025

© 2025 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 MünchenTel.: 089 651285-0 

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektro­nischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

 

 

Redaktion: Ulrich Wille

Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt

Satz: Satzwerk Huber, Germering

eBook: ePUBoo.com

 

 

ISBN druck 978-3-95972-836-2  

ISBN ebook (EPUB, Mobi) 978-3-98609-615-1

 

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

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Inhalt

Vorwort Wendezeiten

Teil 1Zahlen, Fallen, Fluchten. Was man über die Staatsschulden wissen muss

Eine Welt am Limit

Crash-Talk

Das politische Risiko

Gute Schulden – schlechte Schulden?

Dashboard der Billionen – Wie Schulden gemessen und bewertet werden

Wie der Sprengsatz tickt: Die Dynamik von Staatsschulden

Der große Joker: Inflation

Alles halb so wild?

Teil 2Schuldenrevolution. Wie die Welt lernte, in die Vollen zu gehen

Politik unter Schock: Die Weltfinanz- und die Euro-Krise (2008-2012)

Flaute ohne Ende: Ringen mit der schwachen Nachfrage (2013-2018)

Pandemie der Schulden: Nichts ist unmöglich (2019-2024)

Teil 3Katalog der Schuldenbomben

Der Name des Sprengstoffs: Schuldendienst

Fall 1: London und der Truss-Moment

Fall 2: Der japanische Patient

Fall 3: Euro-Land – abgebrannt?

Fall 4: The Big One – Amerika

Teil 4Leben mit der Schuldenbombe – Auswege und Irrwege

Eine Flucht nach vorn?

Populäre Illusionen

Schuldenabbau. The Good, the Bad and the Ugly

Teil 5Positionen für Anleger

Von jetzt an anders

Nur kurz oder indexiert: Anleihen

Follow the money: Aktien

Einbetoniert: Immobilien

Rostfrei: Gold

Jenseits der Staaten: Bitcoin

Kryptopia?

Zehn Thesen zum Schluss

Über den Autor

Anmerkungen

VorwortWendezeiten

»Whatever it takes.«

Friedrich Merz, Kanzlerkandidat der CDU/CSU, 4. März 2025

Dass es ein teures Fest wird, wittern die Finanzmärkte Anfang Februar 1990. Ströme von Übersiedlern ziehen Tag für Tag Richtung Bundesrepublik, der DDR droht der wirtschaftliche Kollaps. Der Bundeskanzler Helmut Kohl ist bereit, Ost-Berlin finanziell zu helfen. Aber er stellt Bedingungen: Übergang zu Marktwirtschaft und die deutsche Einheit. Kohls CDU ist nervös, denn sie muss fürchten, dass sie die anstehenden ersten freien Wahlen in der DDR verlieren wird. Ein Transparent, das auf der Leipziger Montagsdemo am 12. Februar auftaucht, setzt die neue Parole: »Kommt die DM bleiben wir – kommt sie nicht geh’n wir zu ihr!« Tags darauf, beim Bonn-Besuch des DDR-Regierungschefs Hans Modrow wird die Wirtschafts- und Währungsunion angekündigt. Bei den Wahlen im März triumphiert die CDU.

Die Verzinsung der Bundesanleihen steigt in diesen Tagen so rasant wie nie zuvor und auch nie mehr danach in der Geschichte der Bonner Republik. Schon seit Monaten kriechen die Zinsen nach oben, denn die westdeutsche Wirtschaft brummt, Kapital ist also knapp und begehrt. Nach der Maueröffnung im November 1989 hat sich der Aufwärtstrend verstärkt. Anfang Februar 1990 liegt die Verzinsung der zehnjährigen Anleihe bei knapp 7,7 Prozent.

Dann verdichten sich die Gerüchte: Die Währungsunion kommt! Der Kapitalbedarf wird riesig sein, der Staat wird hohe Schulden machen müssen. Weil ausländische Anleger sich zurückziehen, stürzen die Anleihekurse ab. Fallende Preise für die Zinskupons bedeuten spiegelbildlich höhere Renditen. So schießt am Montag, dem 19. Februar, die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihe auf fast 8,9 Prozent. Dieser Tagesanstieg um rund 0,3 Prozentpunkte ist der größte, der bis dahin in der bundesdeutschen Finanzgeschichte verzeichnet ist. Wenige Wochen später wird der Zinsgipfel von etwas über 9 Prozent erreicht. Die Schockwelle am Bondmarkt geht um den Globus: Die historische Wende in Deutschland, die das Ende des Kalten Kriegs markiert, werde »die Zinssätze weltweit in die Höhe treiben«, erklärt der Direktor des Washingtoner Institute for International Economics, Fred Bergsten, der New York Times.

Eine neue Zäsur, fast genau 35 Jahre später, hat für einen erneuten historischen Zinssprung gesorgt: Anfang März 2025 stoppt US-Präsident Donald Trump Amerikas Hilfe für die Ukraine, die sich verzweifelt gegen eine russische Invasion wehrt. Indirekt stellt Trump sogar seine Beistandspflicht gegenüber NATO-Partnern infrage. Die Spitzen von Union und SPD, die gerade ihre nächste Koalition aushandeln, kontern am 4. März mit einem massiven Rüstungs- und Investitionsprogramm – zu finanzieren über neue Schulden von mehr als einer Billion Euro. »Ich will es sehr deutlich sagen. Angesichts der Bedrohungen unserer Freiheit und des Friedens auf unserem Kontinent muss jetzt auch für unsere Verteidigung gelten: Whatever it takes«, verkündet Friedrich Merz, der CDU-Kanzler in spe. Die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihe springt von 2,4 auf über 2,9 Prozent, es ist der rasanteste Anstieg seit den Turbulenzen zu Beginn der deutschen Einheit.

Die Verfassungsregeln der sogenannten Schuldenbremse, die das Verschuldungsprogramm verboten hätten, ändern die Parteien im Eilverfahren. Dieser 4. März sei »der Tag, ab dem die Schuldenbremse Geschichte ist«, twittert Lars Feld, der frühere Vorsitzende der Wirtschaftssachverständigen und Ex-Chefberater des FDP-Finanzministers Christian Lindner: »Deutschland verliert seine Funktion als sicherer Hafen für Anleihegläubiger.«

Seither sind auch die Deutschen auf den Schuldenkurs ihrer wichtigsten Wirtschaftspartner eingeschwenkt. Weltweit waren die Staatsschulden nach der großen Finanzkrise 2008/09 fast ungebremst gewachsen. Lediglich Deutschland hatte – unter dem selbst auferlegten Zwang seiner Schuldenbremse – über viele Jahre konsolidiert. Im März 2025 hat es diese Sonderrolle abrupt aufgegeben.

Die Berliner Sprengung der Schuldenbremse war nicht nur die spontane Reaktion auf eine plötzlich veränderte Weltlage. Die strikten Regeln der deutschen Finanzpolitik standen schon lange unter ständigem Beschuss. Deutschlands Infrastruktur verwahrloste erkennbar. Lobbygruppen, Makroökonomen, Parteistrategen und internationale Institutionen forderten immer lauter, dass der »fiskalische Spielraum« zur Überwindung der wirtschaftlichen Stagnation in Deutschland und Europa genutzt werden müsse. Angesichts der niedrigen Zinsen erschien das Risiko vernachlässigbar. Warum nicht endlich die Kreditkarte zücken?

Die These dieses Buches ist, dass die Gefahren der Merz’schen Wende und der rekordhohen internationalen Staatsverschuldung in der Öffentlichkeit weit unterschätzt werden. Keine Frage: Gute Investitionen können auf Kredit finanziert werden. Der Blick auf die Schulden ist bei vielen aber noch immer geprägt von den Erfahrungen nach der Weltfinanzkrise und während der Pandemie: Damals, in den 2010er- und den frühen 2020er-Jahren, wurden gewaltige Rettungspakete und immer neue »Wummse« und »Doppelwummse« nahezu geräuschlos und ohne spürbare Folgelasten für Politik und Bürger finanziert. Die Qualität der Ausgaben spielte kaum eine Rolle. Eine beispiellos expansive Geldpolitik machte die Kreditaufnahme leicht.

Private Haushalte und Unternehmen hatten sich nach dem großen Finanzcrash überall in einen Sparmodus zurückgezogen, Inflation war deshalb kein Thema. Willige Käufer der sicheren Staatsanleihen gab es mehr als genug. Zeitweise erwarben sogar die Notenbanken einen Großteil der Papiere, um die Wirtschaft anzukurbeln. Die Zinssätze gingen gegen null, die Last des Schuldendienstes wurde federleicht, und für dies und das war immer Geld da. Alle Mahner, die vor Inflation und Crash gewarnt hatten, standen schließlich blamiert da.

Diese historisch einzigartige Ära ist mit der Pandemie aber zu Ende gegangen. Kapital ist seither wieder knapp. Die Weltwirtschaft leidet nicht mehr an einem chronischen Nachfragemangel, den die Politik mit mutigem »Deficit Spending« ausgleichen kann. Beim großen Umbau aller Strukturen, der die neue Ökonomie prägt, hakt es vor allem auf der Angebotsseite. Es fehlt an Rohstoffen, Anlagen und qualifizierten Arbeitskräften. Wo diese realen Ressourcen nicht ausreichen, um die enorm steigenden Ausgabenwünsche zu erfüllen, kehrt am Ende die Inflation zurück. Ein Vorgefühl gab der wuchtige Teuerungsstoß, der in der Pandemie ab 2021 um die Welt ging.

Für die Notenbanken ändert sich das Umfeld drastisch. Isabel Schnabel, die deutsche Wirtschaftsprofessorin im Direktorium der EZB, hat im März 2025 eine Gezeitenwende an den internationalen Kapitalmärkten ausgemacht: Auf die globale »Sparschwemme« der vergangenen Jahrzehnte folge nun eine globale »Anleiheschwemme«. Der Finanzierungsbedarf zieht mächtig an.

Damit ist auch die Zeit, in der sich die Staaten nahezu gratis und in beliebiger Höhe verschulden konnten, endgültig vorüber. Vom »Ende des magischen Schuldendenkens« spricht der ehemalige IWF-Chefvolkswirt Kenneth Rogoff: »Die Idee, dass jedes wirtschaftliche Problem durch Staatsschulden gelöst werden kann, ist unhaltbar geworden.«1

Für alle Staaten steigen die Risiken der Verschuldung erheblich. Das Merz’sche Schuldenpaket ist nicht mehr vergleichbar mit den »Bazookas« gegen ausfallende Nachfrage in der Finanzkrise oder wegen der Corona-Folgen. Es ähnelt eher dem fiskalischen Kraftakt für die deutsche Einheit: Niemand bestreitet, dass historische Aufgaben finanziert werden müssen; die dafür benötigten Mittel lassen sich aber nur zulasten anderer Projekte mobilisieren. Mit höheren Abgaben, Zinsen und Preisen ist deshalb zu rechnen.

Die Kosten der Wiedervereinigung in den 1990er-Jahren werden im Rückblick auf jährlich 3 bis 5 Prozent des westdeutschen BIP geschätzt. Der Schub der Kreditfinanzierung trieb die deutsche Staatsschuldenquote in dieser Zeit von unter 40 auf zuvor nie gesehene 60 Prozent des BIP. Die eskalierenden Zinslasten schnürten den Spielraum der Politik schmerzhaft ein. Bereits der Start in den Euro kurz vor der Jahrtausendwende war von Verschuldungsproblemen überschattet: Auch der vermeintliche Musterschüler Deutschland, der die Stabilitätsregeln für die Währungsunion erdacht hatte, konnte sie kaum noch einhalten.

Die langfristigen Wachstumsaussichten waren damals immerhin gut. Heute bremst eine ganze Reihe von Faktoren die Dynamik – angefangen bei der demografischen Überalterung, die viele Arbeitsmärkte schon trifft. Hinzu kommt, dass die internationale Schuldenwelt so fragil ist wie seit Generationen nicht. Deutschland selbst kann sich die neue Kredit-Billion noch leisten,nach den Jahren der einsamen Konsolidierungspolitik ist seine Top-Bonität erst einmal ungefährdet.An den Kapitalmärkten tritt es allerdings nun in Konkurrenz zu seinen fiskalisch angeschlagenen Nachbarn. Die Staatsverschuldung der großen Industriestaaten hat teilweise Größenordnungen erreicht, die auf Dauer kaum noch tragfähig sind.

Frankreich, neben Deutschland die wichtigste Volkswirtschaft der Euro-Zone, ist finanzpolitisch ins Wanken geraten und wird an den Märkten mit großem Misstrauen beobachtet. Großbritannien fiel für einen Moment im Herbst 2022 sogar schon mal vom Seil. Die langjährigen Rekordschuldner Italien und Japan sind ohnehin chronisch gefährdet.

Die USA haben nicht nur eine Staatsverschuldung aufgetürmt, die auf längere Sicht untragbar ist. Sie bewegen sich unter dem Präsidenten Donald Trump auch noch mutwillig in ein Minenfeld. Der von Trump ausgerufene Zollkrieg gegen alle und jeden warf nicht nur den Welthandel und die internationale Arbeitsteilung durcheinander. Er hat auch die Rolle des Dollar und der US-Staatsanleihen als »sicherer Hafen« der Weltwirtschaft infrage gestellt. Trump hat die Machtprobe mit China begonnen, aber zugleich die USA finanziell geschwächt.

Die Volksrepublik steht fiskalisch bisher noch vergleichsweise robust da. Sie kämpft aber gegen einen gewaltigen Immobiliencrash und die Folgen der Konfrontation mit den USA. Chinas Staatsschuldenquote steigt deshalb so rasant wie die keiner anderen großen Volkswirtschaft. Rechnet man auf beiden Seiten die Kredite des Staates und des Privatsektors zusammen, dann ist China heute bereits höher verschuldet als die USA.

Was früher nach Angsthasen-Ökonomik klang, ist heute reale Gefahr: Staatsschulden, die sich nicht durch Erträge selbst finanzieren, säen langfristig bittere Konflikte zwischen den Schuldnern und den Gläubigern, zwischen Regierungen, ihren Wählern und ihren Notenbanken. Spitzen sich diese Konflikte einmal abrupt zu, dann werden sie die Finanzmärkte und die Währungen erschüttern. Die politisch einfachste und damit auch sehr wahrscheinliche Lösung ist die Flucht in eine inflationäre Geldschöpfung. Die Europäische Währungsunion, in der Deutschland bisher den Stabilitätsanker bildet, steuert so auf neue Zerreißproben zu. International wackelt die Rolle des US-Dollar als unangefochtene Weltwährung. Die wachsenden Zweifel am Status des Dollar als allzeit sicherer Zufluchtsort beschäftigten im Frühjahr 2025 bereits die führenden Köpfe der amerikanischen Finanzwirtschaft und der US-Notenbank.2

»Die Staatsschulden von heute sind die Steuern von morgen«, lautet die alte Mahnung konservativer Haushaltspolitiker. Der Satz bleibt richtig, aber er verfehlt mittlerweile den Punkt. Eine noch viel wichtigere Erkenntnis lautet: »Die Schulden von heute können die Finanzkrise von morgen sein.«

Es ist wichtig, dass diese Erkenntnis nichts mit Moral, links und rechts oder auch Kulturkampf zu tun hat. Sie ergibt sich aus der fiskalischen Lage. Der Streit um die Schulden gerät zwar gerade in Deutschland immer wieder zur Gesinnungsfrage. Das rein wirtschaftliche Für und Wider ist aber meist gar nicht strittig: Unter bestimmten Voraussetzungen können Staatsschulden produktiv sein. Zu prüfen ist, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Wenn der Kredit günstig ist und das Einkommenswachstum hoch, dann sind Schuldenlasten leicht tragbar. Verschlechtern sich diese Bedingungen, wird es für einen hoch verschuldeten Staat schon rechnerisch prekär.

Kontrovers bleibt die politische Ökonomie. Wenn der Staat sich über Kredite finanziert, schafft er Gewinner und Verlierer. Einige profitieren von den frischen Mitteln, andere werden am Kapitalmarkt verdrängt oder müssen mit künftigen Lasten rechnen. Zugleich stellt sich die Frage, wie Regierungen und Notenbanker auf politische Anreize reagieren. Handeln die Schuldenmacher und -manager als verantwortungsvolle Technokraten und Treuhänder? Oder entscheiden sie – zumindest teilweise – opportunistisch, zum eigenen Vorteil?

Der wirtschaftspolitische Streit um die Staatsverschuldung verläuft im Kern immer wieder entlang dieser Front: Die eine Seite beruft sich auf rationale, ökonomisch seriöse Gründe für die Kredite und fordert möglichst große Ermessensspielräume für die Entscheider. Die andere Seite verweist auf die historisch vielfach belegten Risiken des Missbrauchs der Schulden durch die Politik. Sie beharrt deshalb auf strikten Regeln und ordnungsökonomisch fundierten Anreizsystemen.

Ludger Schuknecht, der Chefökonom des Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble, hat den Unterschied zwischen den beiden Sichtweisen so formuliert: Die Idealisten glaubten, dass die Regierungen künftig klüger handeln würden als in der Vergangenheit – »mit anderen Worten: Dieses Mal ist alles anders.« Skeptiker wie er selbst sähen die Rekordstände bei Schulden und Ausgaben als ein Symptom schlechter Anreize. Das Problem sei nicht, dass es am Geld fehle: »Die Priorität muss sein, durch bessere Institutionen die Qualität der Ausgaben zu steigern.«3

Das größte Problem bei der Erörterung der Finanzpolitik sei »die weitverbreitete und fast schon religiöse Überzeugung, dass Staatsverschuldung sehr schlecht ist«, schreibt der frühere IWF-Chefökonom Olivier Blanchard, der langfristig eher niedrige Zinsen und einen entsprechend höheren fiskalischen Spielraum erwartet.4 Speziell den Deutschen halten Kritiker aus dem Ausland oft vor, dass ihr Denken schon durch die sprachliche Nähe zwischen finanziellen »Schulden« und moralischer »Schuld« vorbelastet und verzerrt sei. Dieses Buch versucht, ein solches »religiöses« Vorurteil zu vermeiden. Vor den Schulden wird hier nicht deshalb gewarnt, weil sie aus Prinzip »sehr schlecht« sind. Sondern weil die aktuellen Zahlen alarmieren.

Auf den folgenden Seiten sollen zunächst die wichtigsten Fakten und Grundbegriffe zur Staatsverschuldung erklärt werden. Wo genau steht die Welt? Wie funktionieren die Staatsschulden volkswirtschaftlich, warum sind sie so gefährlich und welche Auswege gibt es im Prinzip?

Teil zwei erzählt die Geschichte des großen Umdenkens nach der Weltfinanzkrise. Zu rekonstruieren ist, wie die Politik – auch in Deutschland – lernte, die Staatsverschuldung zu lieben. Selbstverständlich war diese Liebe keineswegs, insbesondere auf Seiten der Notenbanker. Über Jahrzehnte galten hohe Schulden in allen Parteien als gefährlich. Die deutsche Schuldenbremse war ein Ausdruck dieses Konsenses: Sie wurde von Union und SPD gemeinsam erarbeitet und bei der Verabschiedung 2009 als historische Reformtat gefeiert. Dass sie zuletzt genauso einmütig abgeräumt wurde, ist erklärungsbedürftig.

Die Ursachen und der Ablauf der Weltfinanz- und der anschließenden Euro-Krise können und sollen hier nicht umfassend dargestellt werden. Es lässt sich aber in geraffter Form nachzeichnen, wie sich die ökonomischen Paradigmen durch diese Krisen veränderten und wie die politischen Debatten schließlich grundlegend verschoben wurden. Maßnahmen, die einmal als »undenkbar« galten, wurden zu akzeptablen, akzeptierten oder sogar alternativlosen Optionen. Dieser Wandel ließe sich auch mit einem Konzept beschreiben, das auf den früh verstorbenen US-Politologen Joe Overton zurückgeht: Handelnde Politiker können immer nur in jenem Set von Handlungsmöglichkeiten entscheiden, das in der Öffentlichkeit als zumindest akzeptabel gilt. Dieses »Overton-Fenster« ist veränderbar – und es wird sich auch in der Zukunft bewegen.

In Teil drei wird genauer gezeigt, wie riskant die hohen Schulden heute sind: Die Kreditspielräume sind fast überall ausgereizt, einen größeren Schock könnten die Industriestaaten nicht mehr verkraften. Wenn eine Verknappung des Kapitals künftig zu höheren Zinsen führt, dann geraten ihre Finanzen stark unter Druck. Die Krisenszenarien für die vier führenden Volkswirtschaften werden konkret beschrieben und eingeordnet: Vom Menetekel des britischen Mini-Crashs 2022 über Japans Gratwanderung nach dem »All-in« bis zu der neuen europäischen Währungskrise, die sich vor allem in Frankreich zusammenbraut. Der »Worst Case« wäre die Eskalation der amerikanischen Staatsschuldenkrise, die sogar zu einem Umbruch der Weltwährungsordnung führen kann.

In Teil vier geht es dann um die Möglichkeiten, die Schuldenbombe zu entschärfen. Der Königsweg ist offenkundig, wird in der Politik allerdings meist mit anderen Zielen vermengt oder hintangestellt: ein stärkeres reales Wirtschaftswachstum. Die neue Bundesregierung und ihre europäischen Partner treten mit ihrer historischen Wende die Flucht nach vorn an: Mit hohen neuen Schulden, wahrscheinlich früher oder später auch auf der Gemeinschaftsebene der EU, soll ein politisch unabhängigeres und wirtschaftlich dynamischeres Europa aufgebaut werden. Ob das gelingt, hängt entscheidend davon ab, welche Wachstumseffekte diese Strategie in Gang setzen wird. Noch ist das völlig offen – die ersten Erfahrungen machen allerdings skeptisch.

Einige populäre Argumente erwecken den Eindruck, die Schuldenfrage werde ideologisch bloß überdramatisiert. So verheißt die »Modern Monetary Theory (MMT)«, dass die Staaten sich fast unbegrenzt durch Geldschöpfung finanzieren können. Schulden für den Klimaschutz oder die Rüstung gelten als schlicht alternativlos. Auch die These vom »Ende des Kapitalismus« bleibt beliebt. Es soll gezeigt werden, dass die Gefahren einer schweren Finanzkrise (und der folgenden schweren Gesellschaftskrise) bei diesen Argumenten nur ausgeblendet und verdrängt werden.

Mit welchen Kniffen und äußersten Mitteln eine Schuldenbombe entschärft werden wird, wenn das reale Wachstum nicht reicht, wird zum Schluss ebenfalls erklärt. Es zeigt sich, dass selbst der beeindruckende Abbau der Staatsschulden in den langen Boomjahren der Nachkriegszeit nicht ganz ohne solche Kniffe stattfand. Vieles spricht dafür, dass die Notenbanken in der Zukunft gezwungen sein werden, eine höhere Inflation, sprich: eine schnellere Entwertung ihres Geldes, zuzulassen.

Zum Abschluss wird gezeigt, was die Schuldenbombe für die Strategien von Sparern und Geldanlegern bedeutet. Dieser Teil ist kein detaillierter Investment-Ratgeber, sondern soll eine erste Orientierungshilfe liefern: Was können Investoren tun, um sich gegen die wachsenden Risiken zu wappnen? Welche Chancen eröffnen sich neu? Welche Verschiebungen sind bei Anleihen und Aktien zu erwarten? Wie attraktiv sind »Betongold«, das klassische Gold und das neue »digitale Gold« aus Bitcoins?

Die Turbulenzen an den Finanzmärkten haben seit dem Amtsantritt Donald Trumps erheblich zugenommen, alte Regeln und Gewissheiten gelten nicht mehr. Sicher ist aber, dass die Politik ein zunehmend bestimmender Faktor an den Kapitalmärkten sein wird. Nicht nur wegen Trump.

Teil 1Zahlen, Fallen, Fluchten. Was man über die Staatsschulden wissen muss

»Die Lage ist schlimmer, als Sie denken.«

Gita Gopinath, Vizechefin des Internationalen Währungsfonds, 18. September 2024

Eine Welt am Limit

Die Verpflichtungen sind erdrückend: Der Berg der Schulden, den die westliche Staatenwelt angehäuft hat, ist zusammengerechnet heute auf dem höchsten Stand seit den späten 1940er-Jahren, der Phase des Neuanfangs nach dem Zweiten Weltkrieg, für den sich alle Länder damals massiv verschuldet hatten. 2025 erreichten die Verbindlichkeiten der Industrieländer gut 110 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP), berichtet der Internationale Währungsfonds (IWF), der als Frühwarn- und Rettungsorganisation der Staaten dafür zuständig ist, die weltwirtschaftlichen Trends und die Wirtschaftspolitik seiner Mitgliedsländer zu analysieren und in finanziellen Krisen Hilfe zu leisten.

Die künftige Dynamik dieser Schulden werde vermutlich sogar noch unterschätzt, analysieren die IWF-Ökonomen. Denn die bisherigen Prognosen litten typischerweise an einem »Optimismus-Bias«: Gerade dann, wenn zunächst ein Schuldenrückgang vorhergesagt wurde, lagen die Analysen besonders weit daneben. Zugleich gehe ein nachweisbarer Trend in allen politischen Lagern bereits seit Jahren in Richtung immer mehr Staat und höhere Staatsausgaben. Die Liste der Aufgaben, die zusätzliche Mittel erfordern, ist lang: Renten und Gesundheit; Bildung, Kinderbetreuung und Integration von Zuwanderern; Modernisierung und Ausbau der vernachlässigten Infrastruktur. Dazu hohe Investitionen in die Klimaneutralität, für die großflächig und schnell sogar intakte Anlagen ausgetauscht werden sollen. Der potenziell teuerste Posten sind die Militärausgaben, die rasant steigen werden, falls die weltpolitischen Konflikte sich weiter zuspitzen.

Die Lage sei »schlimmer, als Sie denken«, hat die Vizechefin und ökonomische Vordenkerin des IWF, Gita Gopinath, gewarnt. Auch und gerade für die Industrieländer seien die gefährlichen Folgen der steigenden Staatsverschuldung nicht mehr länger wegzureden. Eine »strategische Wende in der Finanzpolitik« sei notwendig.5

Diese Mahnung gilt besonders den USA. Der mit Abstand größte Staatsschuldner der Welt ist nach Ansicht fast aller Volkswirte und Investoren auf einem finanzpolitischen Crashkurs. Im Mai 2025 entzog auch Moody’s als die letzte der drei großen Ratingagenturen den Vereinigten Staaten ihr Triple-Rating. Drastische Warnungen häuften sich schon lange vor der erneuten Wahl von Donald Trump zum Präsidenten. Es sei allgemeiner Konsens, dass die US-Staatsfinanzen auf ihrem gegenwärtigen Kurs nicht tragfähig seien, warnt der Chef der Notenbank Fed, Jerome (»Jay«) Powell, immer wieder. Jamie Dimon, Chef der weltgrößten privaten Bank JPMorgan und Doyen der Wall Street, hat vor einer »Rebellion« der Finanzmärkte gewarnt, weil die Haushaltsfinanzierung auf ein »Kliff« zusteuere.

Dass die US-Wirtschaft nach der Pandemie wieder eindrucksvoll auf Touren kam, war auch den massiven fiskalpolitischen Anschubhilfen zu verdanken. Washingtons Budgetdefizite blieben aber auch danach so übergroß, als müsse ständig gegen eine schwere Rezession gekämpft werden. Amerikas jährliche Brutto-Zinsausgaben stiegen 2024 erstmals über die Billionengrenze. Selbst netto, also nach Verrechnung mit staatlichen Zinseinnahmen, war der Schuldendienst erstmals größer als das riesige Militärbudget des Pentagon. Der Zinssatz für zehnjährige US-Anleihen hat sich seit der Vor-Corona-Zeit mehr als verdoppelt. Im Jahresdurchschnitt 2024 erreichte er den höchsten Stand seit 16 Jahren.

Der Kapitalmarkt ignorierte schließlich sogar die Signale der US-Notenbank: Obwohl die Fed im September 2024 auf einen Lockerungskurs einschwenkte und ihren Leitzins bis zum Jahresende um einen Prozentpunkt senkte, ging die Rendite der zehnjährigen Bonds im gleichen Zeitraum um einen Prozentpunkt in die Höhe – eine historisch höchst außergewöhnliche Bewegung.

Amerikas Fiskalkrise betrifft alle, denn die USA sind der dominierende Finanzplatz der Welt. Der von ihnen geschöpfte Dollar ist die Währung, in der alle anderen ihre internationalen Geschäfte machen und Reserven halten. Verirrungen des Schuldners USA können deshalb im Extremfall zu einer Kernschmelze des Weltfinanzsystems führen. Welche ökonomischen Erdbeben von den USA ausgehen können, hat die Welt in der Vergangenheit schon mehrfach erlebt. Etwa Anfang der 1970er-Jahre, als die an Dollar und Gold verankerte Währungsordnung der Nachkriegszeit, das Bretton-Woods-System, zerbrach. China und andere Herausforderer der USA arbeiten längst daran, die Dominanz des Dollar-Systems zu brechen.

In vermintem Gelände bewegen sich aber auch die übrigen G7-Staaten. In Großbritannien musste 2022 eine frisch gewählte britische Premierministerin, Liz Truss, schon nach 49 Tagen wieder abtreten, weil ihre nicht gegenfinanzierten Steuersenkungspläne den Finanzmarkt ins Chaos gestürzt hatten. Die Londoner Schuldenpanik beruhigte sich nach ihrem Rücktritt schnell wieder. Doch die Abstrafung der allzu forschen Regierungschefin gilt seither als Menetekel: Die Angst vor dem nächsten »Truss-Moment« treibt Regierungen und Finanzanalysten weltweit um.

Japan hat schon seit vielen Jahren die mit Abstand höchste Schuldenquote der Welt und kann seinen Schuldenberg von mittlerweile rund 240 Prozent des BIP überhaupt nur finanzieren, weil die Notenbank immer wieder Geld schöpft und Staatspapiere kauft. Seit die Inflation im Land anzieht und auch die Wähler zunehmend besorgt, steckt die Bank of Japan allerdings in einem Dilemma: Verknappt sie das Geld zu energisch, droht eine Finanzkrise. Macht sie weiter wie bisher, droht der Verfall des Yen.

Die Staaten der EU haben sich zwar zur Stabilisierung und zum Abbau ihrer Schuldenstände verpflichtet. Doch die Realität sieht völlig anders aus, fiskalischer Sprengstoff türmt sich mittlerweile selbst im Zentrum der Europäischen Währungsunion. In Frankreich, das mit Deutschland den wirtschaftlichen und politischen Kern der EU bildet, sind die Schulden außer Kontrolle geraten. Wieder und wieder mussten die Regierungen von Präsident Emmanuel Macron einräumen, dass ihre Defizite noch viel größer ausfallen werden als erwartet. Einen wahren »Ausgabenrausch« während der Corona-Krise hat der frühere französische Finanzminister Bruno Le Maire beklagt.

Das Land ist politisch tief gespalten und gelähmt, nach den überraschend ausgerufenen Wahlen im Sommer 2024 fand sich im Parlament keine handlungsfähige Mehrheit mehr. Eine erste Minderheitsregierung des Konservativen Michel Barnier, die das Defizit senken sollte, wurde schon nach weniger als 100 Tagen gestürzt. Da die Kurskorrektur kaum machbar erscheint, haben alle Ratingagenturen die Bonität Frankreichs herabgestuft. Die Zersplitterung der Politik erschwere jede substanzielle Konsolidierung, erklärte etwa die Agentur Moody’s nach dem Aus für Barnier. Die Chancen für einen nachhaltigen Defizitabbau seien »sehr gering«.

Laut IWF-Prognose wird die französische Schuldenquote bis 2030 auf rund 125 Prozent des BIP ansteigen, also auf mehr als das Doppelte des im Maastricht-Vertrag vereinbarten 60-Prozent-Limits. Frankreich könnte am Ende Italien in der Rolle des europäischen Krisenkandidaten Nummer eins ablösen. Die Märkte preisen das schubweise ein: Der Zinssatz französischer Staatsanleihen lag früher stets nur eine Winzigkeit über dem der deutschen Titel. Im Krisenherbst 2024 sprang er auf das Niveau Spaniens, ja sogar noch leicht darüber. Anfang 2025betrug der Aufschlag (Spread) gegenüber Deutschland rund 0,8 Prozentpunkte. Einen Crash der französischen Papiere könnten die EU-Partner weder zulassen noch mit ihren kollektiven Fiskalinstrumenten aufhalten: Frankreich ist, ebenso wie Italien, »too big to fail«, aber auch »too big to bail«: zu groß für die Pleite und zu groß für einen Freikauf. Die Europäische Zentralbank (EZB) wäre gezwungen, massiv einzugreifen und die Staatspapiere zu stützen.

Selbst Ökonomen, die alles andere als Schuldenfalken sind, haben deshalb Alarm geschlagen. Olivier Blanchard etwa, der französische Ex-Chefökonom des IWF, warb in den vergangenen Jahren wie kein anderer für eine entspanntere Sicht auf die Staatsverschuldung. Die Krise in seinem Heimatland besorgte aber auch ihn: »Eine Explosion der Schulden, der Verlust der Kontrolle, ist sehr gefährlich«, schrieb Blanchard nach dem Sturz der Regierung Barnier. Er habe so etwas in vielen Krisenländern gesehen, als er beim IWF war: »Das ist die Gefahr, die Frankreich droht.«

Deutschland hat in dieser Welt der Defizite lange wie der verrückte Musterschüler gewirkt: Geradezu absonderlich solide und in eigenen Sphären unterwegs. Die deutsche Staatsschuldenquote überschritt 2024 das Maastricht-Limit nur noch um knapp 4 Prozentpunkte, sie ist eine der niedrigsten im Vergleich der großen Industrieländer. Neben Kanada ist Deutschland auch der einzige verbliebene G7-Staat mit einer unbestrittenen Triple-A-Bonität. Die Alarmrufe in Washington oder Paris sind auf die hiesigen Verhältnisse nicht ansatzweise übertragbar.

Krisenimmun ist Deutschland aber deshalb längst nicht. Schon weil die deutsche Wirtschaft stark exportorientiert ist, spürt sie internationale Schocks sofort. Auf den zweiten Blick sind auch die deutschen Finanzkennzahlen keineswegs glänzend. Die demografische Alterung schlägt hier besonders stark zu Buche, immense Zusatzlasten stecken in den impliziten Zahlungsverpflichtungen des Staates, etwa für Renten, Pensionen und das Gesundheitssystem. Je nach Berechnungsmethode ergeben sich daraus verdeckte zusätzliche Schuldenquoten von weit über 100 Prozent oder aber sogenannte Tragfähigkeitslücken im Haushalt, die einen massiven Anpassungsbedarf für die künftige Finanzpolitik anzeigen.

Immer zu beachten ist, dass Deutschland als der anerkannte Stabilitätsanker der europäischen Währungsunion de facto längst mithaftet für die Schulden der anderen Euro-Länder und der EU-Institutionen. Für den »Wiederaufbau« nach der Pandemie verabredeten die EU-Staaten 2020 erstmals sogar offizielle Gemeinschaftsschulden. Das neue Instrument Next Generation EU (NGEU) im Volumen von 750 Milliarden Euro sollte zwar zunächst eine einmalige Ausnahme bleiben. Viele Ökonomen und Europapolitiker haben aber signalisiert, dass sie es gerne dauerhaft weiterführen wollen. Ganz gleich, wie man zu weiteren Euro-Bonds steht: Der wichtigste Garant dieser gemeinsamen europäischen Anleihen wäre Deutschland. Jede neue Krise der EU oder des Euro träfe die deutschen Staatsfinanzen unmittelbar.

Der Schuldenberg des Westens wäre nicht so beunruhigend, wenn die Einkommen kräftig wachsen und sich neue Haushaltsspielräume auftun würden. Frühere Schuldenprobleme ließen sich zum Teil auf diese Weise entschärfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg und auch nach dem Ende des Kalten Krieges konnten die Staaten jeweils von der historischen Friedensdividende profitieren. Die große De-Mobilisierung ließ die Wirtschaft zwar zunächst in einer Übergangsphase knirschen. Bald danach setzten aber mächtige neue Wachstumskräfte ein: Militärapparate und Rüstungsindustrie wurden schnell und drastisch verkleinert, neue zivile Produktion und Forschung sprangen an. Die Grenzen wurden wieder geöffnet für den Austausch von Waren, Kapital und Ideen. So nahm einst das Wirtschaftswunder der Nachkriegsära Fahrt auf. Vier Jahrzehnte später folgte auf den Fall des Eisernen Vorhangs der große Globalisierungsboom.

Heute ist die Situation gerade umgekehrt, denn die bisherige »Friedensdividende« fällt weg. Die neuen Programme zur Aufrüstung des Militärs, zum Aufbau robusterer Lieferketten und zur grünen Transformation erhöhen zwar in einer Übergangsphase die Nachfrage. Langfristig werden sie aber die Produktivität eher bremsen. Einflussreiche Vordenker der Klimabewegung lehnen weiteres Wirtschaftswachstum ohnehin entschieden ab und fordern eine planwirtschaftliche »De-Growth«-Ökonomie.

Der ökonomische Fortschritt lahmt besonders in Europa. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf liegt in den USA heute um rund ein Drittel über dem Wert in der EU, denn den Produktivitätsschub, den die US-Digitalwirtschaft gebracht hat, haben die Europäer verpasst. Mehr denn je sei die EU heute auf hohe Produktivität angewiesen, doch tatsächlich sei die Produktivität »schwach, sehr schwach«, hat Ex-EZB-Chef Mario Draghi gewarnt, als er 2024 in Brüssel seinen Report über die »Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit«6 vorstellte. Wenn sich das nicht ändere, werde man seine großen Ambitionen zurückschrauben müssen und auch das europäische Sozialmodell nicht mehr finanzieren können, so Draghi. Ohne einen energischen wirtschaftspolitischen Neuanfang bleibe der EU nur die »langsame Agonie des Niedergangs«.

Die Wachstumsaussichten für Deutschland sind besonders schlecht: Nach dem Ende der Pandemie übernahmen die Deutschen die rote Laterne im Wachstumsvergleich der großen Industrieländer; das Wort vom »kranken Mann Europas« (The Economist) kehrte zurück. Laut den Schätzungen des Sachverständigenrats liegt das Wachstum des deutschen Produktionspotenzials in den kommenden Jahren bei nicht einmal mehr 0,5 Prozent jährlich, Tendenz weiter fallend.7 Diese Größe, die den Trend des volkswirtschaftlichen Leistungsvermögens jenseits des Aufs und Abs der Konjunktur beschreibt, erreichte in den ersten beiden Dekaden der 2000er-Jahre immerhin noch durchschnittlich 1,4 Prozent. In den 1970ern, als die Bundesrepublik erstmals begann, in großem Stil Schulden zu machen, betrug das Potenzialwachstum rund 2,5 Prozent.

Die Summen, mit denen die westlichen Länder heute in der Kreide stehen, werden langfristig wie eine zusätzliche Bremse für das Wachstum wirken: Große Staatsdefizite halten die Zinsen hoch, dadurch erschweren und verdrängen sie die Investitionen in der Privatwirtschaft. Diese Verteuerung des Kapitals zieht sich quer durch alle Regionen und Sektoren, sie trifft die Start-up-Szene ebenso wie den Bau.

Die Schulden verstärken zudem die wirtschaftliche Unsicherheit, denn wer, wann und wie eines Tages für die enormen Verpflichtungen zur Kasse gebeten wird, ist unklar. Kommt es zu neuen Schocks oder auch nur zu einer schweren Rezession, dann haben viele Regierungen kaum noch Reserven. Nach den Mega-Krisen der vergangenen Jahre müsste eigentlich wieder in den Aufbau solcher Finanzpuffer investiert werden. Denn ein handlungsfähiger Staat sollte in der Not immer so kreditwürdig sein, dass er auch enorme finanzielle Lasten und Risiken rasch auf seine Schultern nehmen kann. Viele Staaten können das heute nicht mehr.

Die hohen Schuldenberge sind deshalb auch nicht mehr nur eine Belastung für die Generationen in ferner Zukunft (»die Steuern von morgen«). Sie beschränken bereits jetzt die politischen Handlungsspielräume. Und sie können schon hier und heute destabilisieren: die öffentlichen Haushalte, die Finanzmärkte, die Währungsordnung und damit letztlich auch den sozialen Frieden. Das große Risiko ist ein Teufelskreis aus erdrückenden Schulden, hochschießenden Zinsen und einer dadurch abgewürgten Wirtschaft – die wiederum mehr Schulden nötig macht. Nimmt eine solche Dynamik erst einmal Fahrt auf, dann bleiben einer Regierung nur noch die hässlichsten Rettungswerkzeuge: harte Austerität oder Sondersteuern; die Restrukturierung der Verpflichtungen (vulgo: Pleite); oder aber die gezielte Aushöhlung der Schulden durch eine Entwertung des Geldes.

Crash-Talk

Die Gefahren einer Schuldenspirale gehen nicht nur die junge Generation der künftigen Steuerzahler an. Sie treffen auch all diejenigen, die sich für staatliche Zahlungsverpflichtungen in einer fernen Zukunft überhaupt nicht interessieren. Etwa weil sie davon ausgehen, dass sie selbst dann ohnehin nicht (oder nicht mehr) zur Ader gelassen werden.

Über die Fragen der »Generationengerechtigkeit« lässt sich endlos politisch streiten, denn bei der Verteilung von Steuerlasten über die Zeit gibt es immer jüngere Gruppen, die verlieren – und ältere, die gewinnen. Der Sprengsatz dauerhaft nicht tragbarer Staatsschulden gefährdet aber hier und heute jeden. »Die Fragilität der Schulden kann ein ebenso großes Problem sein wie die darin steckende langfristige Steuerbelastung, manchmal sogar ein noch größeres«, warnen die beiden Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff in This Time is Different. Eight Centuries of Financial Folly, ihrem modernen Standardwerk über die Geschichte der Finanzkrisen, das vor anderthalb Jahrzehnten, kurz nach dem Weltfinanzcrash, erschien.8

Einer der wichtigsten Investoren der Welt, der CEO des aus den Öleinnahmen gespeisten norwegischen Staatsfonds, hat sich bereits auf einen solchen Schock eingestellt. Die enorme und anhaltende staatliche Verschuldung sei eine der wichtigsten Entwicklungen im heutigen Kapitalismus, erklärte Nicolai Tangen bei der Pressekonferenz seines Fonds im Herbst 2024. Das könne zwar noch eine Weile so weitergehen, aber es werde plötzlich stoppen, wenn die Investoren keine weiteren Schulden mehr akzeptieren wollen, so der Chef des größten Staatsfonds der Welt: »Das ist für mich das ganz große Ding, das plötzlich passieren kann. Wir wissen nicht, wann es passiert oder was der Auslöser sein wird, aber an dem Tag, an dem es passiert, wird es ziemlich dramatisch sein.«9

Solche Warnungen vor einem kommenden »Crash« sind immer hoch spekulativ und zugespitzt. Ob, wann und wie eine deutliche Schieflage zu einem jähen Bruch führt, kann niemand vorhersagen. Die beteiligten staatlichen Institutionen können sich auf solche Gedankenspiele schon aus Prinzip nicht öffentlich einlassen. Ökonomen sprechen bei kippeligen Marktsituationen von »multiplen« – also mehreren möglichen – Gleichgewichten. Ein starker Glaube trägt jeden Schuldenberg: Solange die Finanzakteure auf die Stabilität der Staatsfinanzen vertrauen, sind die Staatsfinanzen auch tatsächlich stabil.

Bricht das Vertrauen aber an einer Stelle einmal weg, kann eine abrupte Korrektur einsetzen: Anleihekurse stürzen, Refinanzierungskosten explodieren. Die Druckwelle eines solchen Schocks trifft dann rasch auch das Finanzsystem und die reale Wirtschaft. Denn Kreditgeber, Investoren und Steuerzahler müssen plötzlich einpreisen, dass der angeschlagene Staat die Spielregeln zu ihren Lasten verändern wird.

Eine böse Überraschung am Finanzmarkt oder ein unvorhergesehener Schock in der Politik kann als Zündfunke reichen. Der britische Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson zitiert in seiner Geschichte der Anleihemärkte deshalb Harold Macmillan, den konservativen britischen Premier der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre.10 Gefragt nach der größten Gefahr, die einer Regierung drohe, soll Macmillan einmal die berühmte Antwort gegeben haben: »Events, dear boy, events – Ereignisse, mein Lieber, Ereignisse.«

Einen Eindruck von der Stimmung unter den Analysten vermittelt die Umfrage des Davoser Weltwirtschaftsforums (WEF) für seinen »Ausblick der Chefökonomen« im Herbst 2024: Die Sorge, dass es unter den hoch entwickelten Volkswirtschaften zu Staatspleiten kommen könnte, trieb zwar nur eine kleine Minderheit um; nicht einmal jeder zehnte Befragte rechnete mit einem solchen Szenario. Als gefährlicher Störfaktor standen die Schulden aber schon bei vielen auf dem Zettel. Jeweils deutlich mehr als die Hälfte der Befragten sahen in den hohen Staatsschulden eine Gefahr für die makroökonomische Stabilität sowie einen Bremsklotz für die politischen Bemühungen, das Wachstum wieder zu stärken. Fast 60 Prozent fürchteten zudem, dass die verschuldeten Industrieländer auf die nächste Rezession schlecht vorbereitet sind.

»Ist eine ernste globale Schuldenkrise möglich?«, wollte auch das Washingtoner Fachmagazin The International Economy im Sommer 2024 von einer Riege profilierter Weltwirtschaftler wissen. Seine Frage zielte nicht nur auf die staatliche, sondern auch auf die private Verschuldung der Unternehmen und Haushalte. Die 27 Befragten, zumeist führende Ökonomen aus internationalen Organisationen, Wissenschaft und Finanzwirtschaft, sollten die Wahrscheinlichkeit einer neuen großen Krise auf einer Skala von null bis zehn taxieren.

Die Mehrheit der Experten nannte einen Wert von drei oder weniger. Umfassende Entwarnung gab allerdings nur eine kleine Minderheit. Das Bankensystem sei robust, so argumentierte diese Fraktion. Auch von einem »Kreditwahn« könne keine Rede sein, wenn man die kräftige staatliche und die eher gedämpfte private Schuldenaufnahme gemeinsam betrachte.

Die Mehrheit der Befragten betrachtete die Staatsschulden als ein erhebliches und wachsendes Risiko. Stabilität sahen sie nur unter Vorbehalt: Die Verschuldung sei latent gefährlich, aber noch keine unmittelbare Gefahr, beschwichtigten einige; die Lage sei dramatisch, aber die Zentralbanken stünden bereit, jede Krise im Keim zu ersticken, sagten viele; eben weil der Verschuldungskurs nicht durchzuhalten sei, würden die Regierungen schon noch rechtzeitig zum Umsteuern gezwungen, hofften die Optimisten. »Es wird harte politische Entscheidungen geben müssen«, so Álvaro Pereira, der Chefvolkswirt des Industrieländer-Clubs OECD.

Viele Schwellenländer befänden sich längst in der schlimmsten Schuldenkrise seit den 1980er-Jahren, betonte Indermit Gill, der Chefvolkswirt der Weltbank, die vor allem Entwicklungsprojekte finanziert. An der Neuverhandlung und dem Erlass von Schulden zugunsten der Schwächsten führe kein Weg mehr vorbei. Gill zitierte den amerikanischen Juristen Lee Buchheit, der als Altmeister dieses Geschäfts seit den 1970er-Jahren mehr als zwei Dutzend Restrukturierungen für Staaten aushandelte und in der Euro-Krise auch Griechenland beriet. Aufgetürmte Staatsschulden, so ein berühmtes Buchheit-Bonmot, seien so ähnlich wie schmutzige Windeln oder Atommüll: Die Entsorgung mache enorme Kopfschmerzen – aber man könne sie nicht unbegrenzt aufschieben.

Die geräuschloseste Methode, eine Haushaltslücke abzudecken, bleibt die Geldschöpfung. Als der Geldverleiher der letzten Zuflucht, der »Lender of Last Resort«, kann eine Notenbank mit ihrer eigenen Währung im Prinzip auch Staatsanleihen in unbegrenzter Höhe aufkaufen. Das besonders in Deutschland hochgehaltene alte Tabu, das es den Notenbankern verbot, den Staat zu finanzieren, wurde in den Krisen der 2010er-Jahre erheblich aufgeweicht. Die Grenzen zwischen Geldpolitik und Finanzpolitik sind seither fließend geworden.