Die Schwebfliege - Anja Gust - E-Book

Die Schwebfliege E-Book

Anja Gust

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Falsche Gefühle, gestohlenes Geld und ein schockierendes Geständnis.   Hinnerk Thies' Leidenschaft gehört der Entomologie. Dass sein geruhsames Leben als Schwebfliegen-Nerd je aus den Fugen geraten könnte, ahnt er nicht – bis er eines Abends Opfer eines Trickbetrugs wird. Im Bemühen, die Fesseln dieses zwielichtigen Spiels abzuschütteln, gerät er immer tiefer in den Sumpf der Hamburger Halbwelt. Gleichermaßen abgestoßen wie angetan von deren schillernder Fassade, lernt er die Prostituierte Cindy kennen. Doch ist die ehemalige Biologiestudentin wirklich so ehrlich, wie sie sich gibt? Und welche Rolle spielt ihre Freundin Tatjana? Bald stellen Hinnerks Gefühle ihn vor die schwerste Entscheidung seines Lebens – für oder gegen sein Gewissen. »Die Schwebfliege« Ein spannender Blick auf eine Randgesellschaft, die das Tageslicht scheut.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anja Gust

Die Schwebfliege

Eine schmutzige Geschichte

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Die Schwebfliege

 

  

 Anja Gust

 

Die Schwebfliege

 

 

Sozialkritischer Roman 

  

 

 

Über dieses Buch:

 

Im Süden des nördlichsten Bundeslandes liegt vor den Toren Hamburgs die fünftgrößte Stadt Schleswig-Holsteins namens Norderstedt und sie ist ein verlockender Wohnsitz im Speckgürtel der Metropole. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten …

Hinnerk Thies, ein Beamter des hiesigen Umweltamtes, der wegen seines entomologischen Fachwissens und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Mitmenschen beeindrucken zu lassen, einen Ruf als „Schwebfliegen-Nerd“ genießt, gerät durch die Verquickung unglücklicher Umstände immer tiefer in den Sumpf der Hamburger Halbwelt. Die hier herrschenden Regeln eröffnen ihm bald neue Werturteile, die sein Leben gehörig durcheinanderwirbeln. Wer ist Freund, wer ist Feind? Seine einstige Freundin Tatjana und ihr Freund – mit weitreichenden Verbindungen in alle Richtungen? Oder die Prostituierte Cindy in den Fängen ihres Zuhälters? Und welche Rolle spielt die aufstrebende ‚Weißwesten-Politikerin‘ Valerie Lorenz-Moreau?

Aufgrund grober Selbstüberschätzung ahnt Hinnerk nicht, in welcher Gefahr er sich befindet. Als er das zwielichtige Spiel erkennt, ist es fast schon zu spät …

 

Die Schwebfliege

Copyright: © Anja Gust 2022 – publiziert von telegonos-publishing

Covergestaltung: Kutscherdesign (unter Verwendung einer Vorlage von Adobe)

www.telegonos.de (Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der Website)

 

 

Der Roman spielt in allseits bekannten Stätten, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autorin und / oder des Verlages ist ausgeschlossen.

ISBN der Printausgabe: 978-3-946762-67-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

Anja Gust

    

 

    

    

    

Für den besten Kerl der Welt

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

Vorwort

    

Diese Geschichte ist durch und durch schmutzig. Und damit sie das bleibt, darf sie nicht durch einen Saubermann verfälscht werden. Deshalb ist mein Held auch ein Antiheld. Das bedeutet aber nicht, dass er deshalb ohne menschliche Züge ist. Im Gegenteil. Vielleicht erweist er sich sogar deshalb um ein Vielfaches menschlicher, weil selbst der letzte Schmutz durch ihn eine größere Wahrhaftigkeit erfährt. Ein Mann, der eine Frau einst liebte und sie durch ihren Betrug hassen lernte, kann nicht anders als schmutzig handeln. Natürlich ist das keine Entschuldigung, aber vielleicht eine Erklärung für die Absurdität blinder Rachegefühle, die mitunter zu wundersamen Wendungen führen können.

    

Anja Gust, im Jahre 2022

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

    

Zitate

    

Eine Hure wird niemals eine Hure, wenn sie nicht dazu gemacht wird.

Siegfried Lenz

    

Egal, wie lange du meinen Arsch betrachtest, er redet doch nicht mit dir.

Aus: Perle für Kerle

    

Wer die Seele einer Frau sucht, ist nicht immer enttäuscht, ihren Körper zu finden.

Jean Paul

    

Entfernt man die Prostitution aus den menschlichen Angelegenheiten, so werden alle Dinge mit Wollust befleckt.

Aurelius

    

    

    

    

    

    

    

Personenregister am Ende des Buches

    

EINS

EINS

 

Norderstedt, Frühjahr 2019

 

ES WAR AN einem dieser verregneten, lausig kalten Aprilabende, als Hinnerk zum ersten Mal diesem Typen begegnete. Plötzlich und unerwartet stand dieser am Schmuggelstieg vor ihm und sah ihn unmissverständlich an. Im ersten Augenblick dachte Hinnerk sich noch nichts dabei.

Zudem beschäftigten ihn ganz andere Dinge, wie der Frust über die jüngste Mieterhöhung auf unverschämte Vierhundertfünfzig kalt – und das für seine kleine Zweizimmerwohnung im achten OG eines Hochhauses am Glashütter ZOB mit fensterloser Toilette und ständig klemmendem Fahrstuhl. Hinzu kamen die Querelen wegen seines neuen Postens als wissenschaftlicher Mitarbeiter (kurz ‚Wimi‘ genannt) in der Norderstedter Stadtverwaltung, Abteilung Ökologie und Umwelt.

Nicht, dass es ihm dort missfiel. Im Gegenteil. Es kam seinem Interesse als diplomierter Biologe der Uni Kiel, Fachgebiet Entomologie, durchaus entgegen. Selbst eine Nervensäge wie Ole Radekühn nahm er als neuen Zimmerkollegen in Kauf. Das war ein dickbäuchiger, hornbebrillter Kaffeejunkie (im Kollegenkreis wegen seiner starken Brille auch ‚Grabowski‘ genannt), mit dem nur schwer auszukommen war, da er den ganzen Tag dummschwätzte und unter einer Schwiegermutter-Phobie litt.

Vielmehr lag es an seinem neuen Chef, einem gewissen Karl-Richard Dowe. Er war ein hirnloser Choleriker, der schrecklich viel aß, die Sozis wie ein rotes Tuch hasste und ständig auf Krawall gebürstet war. Als ob Hinnerk etwas dafür konnte, dass er im Auswahlverfahren ausgerechnet dessen Neffen Patrick ausgestochen hatte.

Nun ließ der neue Chef ihn das natürlich fühlen und das klang in etwa so: „Wie? – Thies? Hinnerk Thies? Und noch Junggeselle mit Mitte 40? Wieso das denn? Sie kommen wohl von irgendeiner Scholle aus dem Norden, wo die Kühe gleich Käse machen, hahaha. Gott sei Dank hier sind wir in Norderstedt, der viertgrößten Stadt im nördlichsten deutschen Bundesland, und nicht in Wittdün auf Amrum, wo man den Mond noch mit der Stange rausschiebt. Aber keine Sorge, Sie werden schon noch lernen, wo Fischers Fritz den Hering fischt‘.“

Natürlich ließ ihn Letzteres kalt, zumal es sich einzig und allein um das billige Rachegeplänkel eines gekränkten Esels handelte. Was jedoch sein Single-Dasein betraf, ging das entschieden zu weit. Weder war Hinnerk schwul, noch lag es an seiner Optik. Vielmehr hatte er bisher nicht die Richtige gefunden. Und das sollte ja hin und wieder vorkommen.

Dabei wurde ihm von mehreren Seiten wiederholt ein gewisser Charme attestiert, vor allem, wenn ihm sein Lächeln Grübchen in die Wangen schnitt. Dann wirkte er einfach ‚zum Fressen gern‘, wie es mal eine kokette Auszubildende auf den Punkt gebracht hatte.

In erster Linie aber zeichnete ihn ein gesundes Selbstvertrauen aus, das ihn zusammen mit einer gewissen Eloquenz zu einem durchaus interessanten Gesprächspartner machte, der sehr wohl wusste, wo ‚Fischers Fritz den Hering fischt‘.

So hatte er erst jüngst ein über eine Dating Plattform arrangiertes Rendezvous mit einer jungen Dame gleich im Keim erstickt. Aber was hätte er denn sonst tun sollen?

Nachdem zunächst alles sehr romantisch bei einem Glas Wein und Kerzenschein begonnen hatte, hatte er zu fortgeschrittener Stunde von seiner Leidenschaft für Schwebfliegen zu schwärmen angefangen. Zu seiner Überraschung hatte sie so etwas ‚Ungeziefer‘ genannt. Auf der Stelle war die Sache damit für ihn erledigt und er hatte vorgeschlagen, die Rechnung besser zu teilen.

Warum ihm dieses Fiasko just in dem Moment wieder einfiel, wusste er nicht. Womöglich lag es an diesem mysteriösen Typen, der jetzt erneut vor ihm aufkreuzte. Diesmal stand dieser in einem Hauseingang unweit des Kreisels am Ochsenzoll und gaffte ihn genauso unverhohlen an, wie vorhin. Was sollte das? Wollte der Typ ihm etwa eine Hinz&Kunzt1 andrehen? Oder ihn auf irgendeine andere Art und Weise anschnorren?

Das konnte dieser Mister Unbekannt gleich vergessen. Nichts verachtete Hinnerk mehr, als jede Form von Müßiggang – was nicht heißen sollte, dass er ein Spießer war. Aber er hatte so seine Prinzipien. Ohne den Typen eines Blickes zu würdigen, ging er an ihm vorbei. Kurz darauf meinte er, hastige Schritte hinter sich zu vernehmen. Was sollte das? Vorsichtshalber griff er nach seinem Schlüsselbund, um im Falle eines Angriffs seinem Boxhieb größere Wucht verleihen zu können.

Doch als Hinnerk sich nochmals umwandte, war der andere schon wieder verschwunden. Aus Sicherheitsgründen änderte er trotzdem seinen Weg und bog nach links in eine kleine Seitenstraße ein, wohin ihm dieser Bursche bestimmt nicht folgen würde. Um auf andere Gedanken zu kommen, lief Hinnerk wie ein Kind mit einem Bein auf der Bordsteinkante, mit dem anderen auf der Straße. Und siehe – bald war es ihm gelungen.

Er war jedoch noch nicht weit gekommen, als der Unbekannte ein weiteres Mal vor ihm auftauchte. Nun allerdings mit in die Seiten gestemmten Fäusten und in erwartender Haltung. Hinnerk dachte nicht eine Sekunde daran, einzuknicken. Geradewegs hielt er auf ihn zu.

Ob nun einem blinden Reflex folgend oder aus einer Laune heraus – plötzlich entwich Hinnerk mit einem kurzen Seitwärtssprung in einen links befindlichen Toreingang.

Als Hinnerk Sekunden später verstohlen um die Ecke linste, musste er zu seinem Entsetzen feststellen, dass dieser Typ ihm eiligen Schrittes folgte.

Natürlich konnte er unmöglich wieder heraustreten, ohne sich lächerlich zu machen, von einem Weglaufen ganz zu schweigen. Glücklicherweise war die Tür hinter ihm unverschlossen, sodass er in den dortigen Hausflur flüchten konnte. Damit war das Problem allerdings nur verlagert, da dieser Bursche kurz darauf ebenfalls den Flur betrat.

Um den ohnehin schon schrägen Eindruck nicht noch weiter zu verstärken, musste Hinnerk bei seiner Linie bleiben. Von daher betätigte er die Flurbeleuchtung und tat so, als wäre er hier zu Hause. Im Schein des Lichtes konnte er erstmals das Gesicht des Fremden erkennen: Es war unrasiert und faltig und spielte in ein ungesundes Gelb hinüber. Auch wollte dessen sportliche Gestalt nicht zum verlebten Rest passen. Summa summarum: Dieser Mann war doch nicht so alt, wie zunächst angenommen, sondern höchstens Anfang dreißig, keinesfalls älter, und wirkte mehr als unheimlich.

Bloß nichts anmerken lassen, dachte Hinnerk und kramte wie selbstverständlich seinen Wohnungsschlüssel hervor. Dann tappte er schwerfällig die Treppe hinauf, in der Hoffnung, den anderen endlich loszuwerden. Als hätte der Typ seine Absicht längst durchschaut, setzte dieser auf der Stelle nach.

So blieb Hinnerk nichts anderes übrig, als vorauszugehen, wobei er seinen Verfolger aufgrund der knarrenden Dielen stets eine halbe Treppe tiefer hörte. Zudem beugte sich die Klette immer dann übers Geländer, wenn Hinnerk es ebenfalls tat. Auffälliger ging es nicht.

Freilich hätte Hinnerk umkehren und den Verirrten spielen können. Selbst das Erkundigen nach einem Nachbarn oder der Uhrzeit wäre immer noch plausibel gewesen. Aber irgendwie war er dafür zu stolz. Lieber ließ er sich auf diese Weise bis zur letzten Etage hinauftreiben, wo er schließlich vor der mittleren Wohnungstür ratlos stehenblieb. Diese besaß als einzige kein Namensschild und wies im Schlossbereich mehrfache Beschädigungen auf. Offenbar ein Andenken unerwünschten Besuches. Ihm wurde heiß und kalt. Wie sollte er jetzt bloß reagieren, zumal er gar nicht wusste, was er hier wollte?

Da er aber noch immer mit dem Schlüssel in der Hand hantierte und seinen Verfolger bereits sicher hinter sich wähnte, musste er irgendetwas tun. So kam es, dass er den Schlüssel in Richtung Schloss führte, freilich ohne ernsthaft öffnen zu wollen. Das geschah rein intuitiv, um Zeit zu schinden. Dabei schlug ihm das Herz bis zum Hals. Ein Gefühl zwischen Trotz und Peinlichkeit zwang ihn, für mehrere Sekunden zu verharren. Er konnte unmöglich den Schlüssel einführen, schließlich wartete der andere nur darauf. Zu guter Letzt platzte Hinnerk der Kragen. Barsch fuhr er diesen aufdringlichen Burschen an: „Sagen Sie mal, was wollen Sie eigentlich von mir?“

Der Mann hob verblüfft die Brauen, lächelte urplötzlich, was in dieser Situation aberwitzig wirkte, und erwiderte erstaunt: „Wie kommen Sie darauf, dass ich etwas von Ihnen will?“

Doch Hinnerk ließ sich nicht beirren. „Und warum stellen Sie mir andauernd nach?“

„Wie kommen Sie darauf, dass ich Ihnen nachstelle?“, entgegnete der andere frech. „Verraten Sie mir mal lieber, was Sie hier machen!“

Dieser anmaßende Ton missfiel Hinnerk. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht“, giftete er mit einem brennenden Blick zurück.

„Oh, eine ganze Menge. Als Hausbewohner geht mich das sehr wohl etwas an, zumal ich Sie hier noch nie gesehen habe. Erst schleichen Sie draußen herum und dann verschwinden Sie hier. Was soll man davon halten, wenn nicht das, wonach es aussieht? Und jetzt erwarte ich von Ihnen eine verdammt gute Erklärung!“

Hinnerk fühlte einen Stich in seinem Herzen. Gerade als er zur nächsten hanebüchenen Ausrede ansetzen wollte, kam ihm der Mann zuvor. „Entschuldigen Sie. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Klabunde, Aribert Klabunde. Für gute Freunde auch Bertchen.“ Er machte eine kleine Pause und räusperte sich. „Doch davon sind wir ja noch meilenweit entfernt“, fügte er dann zynisch grinsend hinzu. „Und wer bitteschön sind Sie?“

„Ich? Nun ja, wer soll ich schon sein? Mein Name ist … äh … Bender, Fiete Bender.“ Hinnerk fiel nichts Besseres als der Name eines ehemaligen Klassenkameraden ein, dem er einmal bei einer Rangelei einen Zahn ausgeschlagen hatte. „Und ich … Wie soll ich sagen … Ich bin im Gegensatz zu Ihnen kein Bewohner dieses Hauses und habe auch nicht vor, es zu werden, hehehe.“

Erstaunlicherweise lachte der andere mit und schien Gefallen an diesem Spiel zu finden. „Wirklich komisch, wie Sie das sagen, Herr Bender.“

„Wie meinen Sie das?“ Fragend sah Hinnerk ihn an.

„So, wie ich es sage. Ich sage immer, wie ich es meine. Das sollten Sie auch.“

„Wieso?“, entgegnete Hinnerk. „Tue ich das nicht?“

„Würde ich sonst fragen?“ Klabunde durchbohrte ihn geradezu mit seinem Blick. „Aber wo wir schon mal dabei sind: Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie hier machen.“

„Ach so, ja … haha.“ Hinnerk lachte nervös. „Wenn ich … Also, wenn ich ganz ehrlich sein soll … Anscheinend habe ich mich wohl im Haus geirrt. Die sehen hier ja alle so furchtbar gleich aus, hehehe. Finden Sie nicht?“

„Nein, durchaus nicht. Der eine Flur ist blau, der andere gelb – so hat eben jedes Haus seine Eigenheiten. Und jetzt sagen Sie mir endlich, was Sie hier wirklich suchen, bevor ich ungemütlich werde!“ Von einer Sekunde auf die andere verschwand sein Lächeln und seine Züge verdüsterten sich.

Nun wurde es Hinnerk doch zu dumm, da er es partout nicht einsah, sich noch länger zu erklären. Umgehend machte er Anstalten, sich an Klabunde vorbei zu drängen. Sogleich stellte dieser sich ihm in den Weg. „Warum so eilig? Ich glaube, Sie wollten mir gerade erzählen, warum Sie die ganze Zeit diesen Schlüssel in der Hand halten.“

„So? Wollte ich das?“ Doch bevor Hinnerk in irgendeiner Weise reagieren konnte, hatte der Kerl ihm auch schon den Schlüssel abgenommen und führte diesen – wie zum Beweis – ins Schloss. Als die Tür nach zweimaligem Schließen aufsprang, verstand Hinnerk rein gar nichts mehr.

Mit offenem Mund stand er da, um für einen Augenblick in ein unsinniges Kichern zu verfallen. Sofort versuchte er, alles richtigzustellen, wobei er über alles Mögliche redete, nur nicht über das Wesentliche. Kurzum, er eierte rum.

Indes zog Klabunde eine gleichgültige Miene, als wüsste er längst Bescheid. Das war freilich infam. Wen glaubte er vor sich zu haben? Immerhin bestand kein Grund zu irgendwelchen Verdächtigungen. Außerdem hatte nicht Hinnerk den Schlüssel eingeführt – auch wenn ihm die Tatsache, dass dieser passte, unbegreiflich blieb.

In diesem Moment kollidierte Hinnerks Empörung mit seinem ohnehin schon verletzten Stolz und wuchs sich zur handfesten Entrüstung aus. Er musste sich mächtig zügeln, dass es am Ende bei der freilich scherzhaften und doch bereits leicht grollenden Ermahnung: „Na, na, mein Guter, jetzt ist aber Schluss!“, blieb.

Natürlich war das sehr unglücklich. Aber mehr fiel ihm momentan nicht ein. Vielmehr nervte es ihn, dass er sich zunehmend bedrängt fühlte und das auf solch subtile Art und Weise, dass er sich nicht mal darüber zu mokieren wagte, ohne sich verdächtig zu machen. Denn leider Gottes hatte dieser Mann recht, Hinnerks Einwand hingegen war kaum glaubhaft.

„Aber warum regen wir uns eigentlich so auf?“, versuchte Hinnerk es jetzt auf versöhnliche Art. „Immerhin ist nichts passiert. Wir sind zwei vernünftige Menschen, die an einem ungewöhnlichen Ort zu einer ungewöhnlichen Zeit zusammengekommen sind. Wir hätten sicher Besseres zu tun, als uns hier gegenseitig die Zeit zu rauben.“ Dabei lächelte er verschmitzt und war geneigt, seinem Gegenüber auf die Schulter zu klopfen, wäre dieser ihm nicht mit der Androhung zuvorgekommen, die Polizei zu rufen.

„Die Polizei?“

„Ja. Genau!“, wiederholte der andere überaus vergnügt. „Schließlich befinden Sie sich in einem fremden Haus, vor einer fremden Wohnung mit einem passenden Schlüssel in der Hand. Und ich habe Sie dabei ertappt. Wer weiß, was ohne mein plötzliches Hinzukommen geschehen wäre?“

„Müssen wir denn gleich mit Kanonen auf Spatzen schießen? Und überhaupt, woher wollen Sie eigentlich wissen, ob ich auch wirklich aufschließen wollte?“

„Wollten Sie es denn nicht?“ Klabunde zeigte sich verwundert, was Hinnerk wiederum maßlos ärgerte.

„Natürlich nicht! Was sollte ich denn in einer wildfremden Wohnung wollen? Wenn Sie aber glauben, mir dadurch etwas unterstellen zu können, nur weil Sie sich in einer vorteilhafteren Position befinden, irren Sie gewaltig.“

„Oh, das ist interessant.“ Sein Gegenüber mimte Erstaunen. „Ich meine, was Sie da eben gesagt haben, mit der vorteilhafteren Position. Sie bekennen sich also schuldig?“

„Ich bekenne mich zu überhaupt nichts!“, herrschte Hinnerk ihn an. „Ich habe lediglich etwas festgestellt und das wird man doch wohl noch dürfen!“

„Wissen Sie, Herr Bender, um ganz ehrlich zu sein, hatte ich sofort das Gefühl, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt. Deswegen bin ich auch umgekehrt und, wie sollte es auch anders sein, natürlich hatte ich recht. Also kommen Sie mir nicht mit dieser Nummer!“, entgegnete Klabunde mit erhobener Stimme.

„Glauben Sie doch, was Sie wollen.“ Hinnerk winkte entnervt ab. „Mir wird das langsam zu blöd. Also bitte! Wie Sie meinen! Rufen Sie die Polizei! Ich bin mir sicher, dann wird sich alles ganz schnell klären!“

„Nun, ich sage ja nicht, dass Sie lügen. Ich bezweifele nur Ihre Version. Vielleicht ist am Ende wirklich alles ganz anders?“ Klabunde machte eine kurze Pause. Dann fuhr er im verständnisvollen Ton fort: „Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir gehen gemeinsam in diese Wohnung hinein und fragen den Wohnungsinhaber. Vielleicht erkennt er Sie? Damit hätte sich alles erledigt. Wie finden Sie das?“

Entsetzt wich Hinnerk zurück. „Sie sind ja nicht ganz bei Trost!“

„Wieso? Weil ich Ihnen diesen Vorschlag mache? Oder dass Sie dann zugeben müssten, dass Sie hier einbrechen wollten?“ Plötzlich glomm in Klabundes Augen ein düsteres Entzücken. „Soll ich Ihnen mal was sagen? Ich glaube Ihnen kein Wort. In Wahrheit wissen Sie genau, dass Sie dort drinnen von einer ganz bestimmten Person erwartet werden – und diese ist niemand anderes als meine Frau!“

„Ihre Frau?“ Unverhofft musste Hinnerk lachen, aber das war ja mehr als absurd. „Das ist doch … Also, das wird ja immer schöner.“

„Wenn es sich allerdings nicht so verhält, werde ich umgehend um Entschuldigung bitten“, bot Klabunde ihm in sonderbarem Eifer an. „Darum sollten wir das auf der Stelle überprüfen.“

„Nein, nein. Sie machen Witze. Das nehme ich Ihnen nicht ab … Ich … Wir können doch nicht einfach so …“

„Nun kommen Sie schon.“ Fast schon etwas zu euphorisch forderte er Hinnerk auf. „Nichts anderes hatten Sie doch vor. Und jetzt tun wir es eben gemeinsam, wie zwei alte Freunde. Ist das nicht originell?“ Binnen Sekunden stieß Klabunde die Tür auf und rief sonderbar gereizt nach irgendeinem ‚Darling‘. Dabei schob er Hinnerk, der nicht wusste, wie ihm geschah, vor sich her. Mit der lautstarken Ankündigung einer Überraschung drängte er ihn weiter in Richtung Wohnstube.

Noch bevor Hinnerk sich’s versah, fand er sich in einem spärlich möblierten Zimmer mit verräucherten gelben Wänden und einer uralten Kommode in der Ecke wieder, auf der einige halbvolle Schnapsflaschen standen. Überall lagen Klamotten herum, die Sofa und Sessel unter sich begruben und auf dem Boden stapelten sich leere Pizzakartons. Der bitter-gärende Geruch nach Verfaultem und abgestandener Luft, vermischt mit kaltem Zigarettenrauch taten ein Übriges. Hätte Hinnerk nicht auf der Stelle durch den Mund geatmet, hätte er sich übergeben.

Das Erbärmlichste aber war eine speckige Couch gegenüber der Eingangstür, welche unterhalb eines halbgeöffneten Fensters stand. Von dort schaute, unter einer vor Dreck strotzenden Wolldecke, ein kalkweißes, weibliches Wesen hervor. Ihr Alter war aufgrund der tiefen Augenringe und der zotteligen Haare nur schwer zu schätzen.

Ruckweise setzte sie sich auf und hielt schamhaft die Decke vor die Brust. Der Schreck machte ihr Gesicht noch älter. Dennoch ließen gewisse Züge unschwer eine frühere Schönheit erahnen.

Fortwährend wechselte ihr Blick zwischen Hinnerk und diesem Klabunde, ohne im Mindesten zu begreifen, was hier vor sich ging. Doch es sollte noch weitaus schlimmer kommen …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ZWEI

 

HINNERK ERSTARRTE, ALS diese ihm bis dahin Unbekannte sich mit ihrer bandagierten Hand das Haar aus dem Gesicht strich. Ja, war das denn die Möglichkeit? Doch je länger er sie anschaute, desto sicherer war er sich. Es handelte sich um jene von ihm vergessene, total vergessene Frau, mit welcher ihn vor langer Zeit eine kurze, aber sehr leidenschaftliche Liaison verband. Umso mehr schockierte ihn jetzt ihr offensichtlicher Verfall. Damit verkomplizierte sich die Sache ungemein.

Sie hieß Tatjana Popova, musste mittlerweile Mitte, Ende dreißig sein und war vor einer gefühlten Ewigkeit als Aushilfe in seiner alten Abteilung im Marketingbereich der Firma Ethicon angestellt gewesen.

Damals hatte er sie zunächst gar nicht weiter beachtet, denn sie fiel überall durch ihre vorlaute und vulgäre Art unangenehm auf. Daran vermochte auch ihre verführerische Optik mit dem tief im Nacken zum Dutt geknoteten dunkelbraunen Haar, den geschminkten Schmolllippen und der Bella-Donna-Figur nichts zu ändern. Sie gab sich in Manieren und Gebaren überaus zwanglos und motzte sofort los, sobald ihr etwas nicht passte.

Um die Folgen kümmerte sie sich nicht, wie sie sich überhaupt so manche Frechheit herausnahm, als bereitete es ihr Spaß, überall anzuecken.

Deshalb war sie auch allen suspekt und er wäre nie auf die Idee gekommen, ihr irgendeine Form der Aufmerksamkeit zu schenken. Das änderte sich, als sie eines Tages völlig überraschend von Schmetterlingen zu fantasieren begann und sich begeistert über ihre Farbenpracht und deren mögliche Bedeutung äußerte.

Natürlich war ihr der Unterschied zwischen Tag- und Nachtfalter nicht geläufig, ebenso wenig kannte sie den Grund für die Flügelschattierungen dieser Spezies. Dennoch hatte sie etwas in ihm angerührt, was ihn sofort elektrisierte.

Fortan suchte er ihre Nähe und verlor sich dann oft in tieferen Ausführungen zu diesem Thema. Dabei meinte er stets, eine gewisse Begeisterung in ihr zu erkennen, vor allem, wenn sie ihm mit angestrengt zugekniffenen Augen zu folgen versuchte.

Das versetzte ihn in einen wahren Rausch, welcher am Ende zu einem völligen Realitätsverlust führte. Aber irgendwie fuhr er mit einmal auf sie ab und meinte, in ihr etwas zu erkennen, was ihm zuvor noch gar nicht aufgefallen war. Erst in Verbindung mit seinem tiefen Entzücken schien sie aus der vermeintlichen Bedeutungslosigkeit herauszutreten und für ihn den Status des Besonderen anzunehmen. Das musste ihm umso mehr schmeicheln, zumal er sich lange Zeit solcher Gefühle für unfähig hielt.

Wie lange dieser Zustand anhielt, hätte er nicht sagen können, ebenso nicht, wie viel von ihrem Interesse geheuchelt war. Sonst wäre ihm längst aufgefallen, dass sie vieles nur so daher sagte, ohne darüber nachzudenken, bisweilen sogar unmotiviert lachte, wenn er ihr etwas erklärte. Aber in dem damaligen Moment seiner glühenden Begeisterung übersah er vieles, was eigentlich offenkundig war. Erst als ihr Interesse zunehmend abflachte und einem kränkenden ‚Gelangweiltsein‘ wich, kühlte er allmählich ab.

Dabei war ihm dieser Wandel unbegreiflich geblieben und er fragte sich, ob er diese Frau wirklich je geliebt hatte oder alles nur eine Sinnestäuschung gewesen war. Die Antwort darauf wusste er bis heute nicht.

Natürlich hatte ihn das damals sehr verletzt. Und als dann noch dieser Stephan Zenker, ein schmuddeliger Typ vom damaligen Gebäudereinigungsteam, Tatjana nicht ohne Erfolg anbaggerte, nahm die Sache schon groteske Züge an.

Spätestens da wurde ihm klar, dass ihre Gefühle für ihn nicht nur geheuchelt, sondern niemals vorhanden waren. Dahinter lauerte nur eine miese Absicht. Sie hatte seine Leidenschaft als Aufhänger für eine Annäherung genutzt, in der Hoffnung, über ihn an eine lukrative Stelle zu kommen. Verfügte er doch seinerzeit im Personalrat über einen gewissen Einfluss und hatte ihr möglicherweise im Überschwang seiner Gefühle dahingehend etwas signalisiert. Doch wenn, war das niemals ernst gemeint, sondern nur eine Folge seiner Vernarrtheit.

Abgerundet wurde die Sache schließlich damit, dass er bald darauf von ihrer wilden Ehe mit einem stadtbekannten Nichtsnutz und Trickbetrüger erfuhr, der schon seit Jahren an der Flasche hing und von ihr ausgehalten wurde. Und wie das Schicksal es wollte, fand dieses Gerücht samt all den Finessen jetzt nachträglich seine traurige Bestätigung in Gestalt dieses Typen.

„Sieh nur, Darling, wen ich mitgebracht habe.“ Polternd riss Klabunde Hinnerk aus seinen Gedanken. „Was ist? Erkennst du ihn denn nicht? Das ist doch Herr Bender.“

Tatjanas Blick blieb weiterhin wie gefroren. Zweifellos war sie über das unerwartete Zusammentreffen nicht weniger schockiert als Hinnerk. Doch spätestens als sie seinen falschen Namen hörte, musste ihr klar geworden sein, dass er nichts verraten hatte.

Tatsächlich wirkte sie jetzt überaus gefasst und lächelte sogar ein wenig. Und als sie dann noch voller Unschuld fragte: „W-wer – Herr Bender?“, wurde gewiss, dass auch sie ihn erkannt hatte.

Es war die verzögerte Reaktion, das leichte Schwingen in ihrer Stimme und ihr gequältes Lächeln. Und wenn ihr Mann kein völliger Idiot war, sollte ihm das eigentlich nicht entgangen sein.

Glücklicherweise war er das aber. Denn statt darauf einzugehen und sofort nachzusetzen, wie er es wohl an seiner Stelle getan hätte, stichelte er in diebischer Freude weiter: „Freust du dich nicht über dieses Wiedersehen?“

Jetzt musste Hinnerk nur noch mitspielen und Klabunde würde weiterhin arglos bleiben. Ohne zu zögern, sprang er ihr bei, indem er rief: „So lassen Sie doch die arme Frau! Sie sehen doch, dass sie mich nicht kennt. Ihr Verdacht ist somit völlig unbegründet und absurd!“

„Aber warum zittert die Ärmste dann so? Sehen Sie doch selbst. Sie starrt Sie an, als wären Sie ein Geist! Woran das nur liegen mag? … Ich bin sicher, sie wird es uns gleich verraten.“ Nun begann dieser Holzkopf seiner Frau ziemlich umständlich die Vorgeschichte ihrer Begegnung zu erklären, angefangen beim ersten Aufeinandertreffen am Schmuggelstieg über die dubiose Verfolgung bis zu dem Moment, als er Hinnerk mit einem passenden Schlüssel ertappte. Und nun hätte er gern von ihr gewusst, wie das angehen konnte.

„Oh!“, stieß Tatjana daraufhin theatralisch aus. Und als ihr Mann mit der Behauptung nachlegte, nunmehr alles zu wissen und von daher jedes längere Leugnen sinnlos wäre, prägte sich ein vollkommenes Entsetzen in ihre Züge. Man konnte förmlich sehen, wie sie mit sich rang, noch immer unsicher, was sie davon halten sollte. Dann konnte sie sich nicht länger zurückhalten und brach erwartungsgemäß in Tränen aus. O Gott, welch eine Show! Es wäre schon sehr verwunderlich gewesen, wenn sie jetzt nicht einräumte, was er von ihr hören wollte.

Und tatsächlich gab sie kurz darauf nicht nur ihre Bekanntschaft zu, sondern meinte zudem, den Besucher so zu kennen, wie man jemanden nur kennen konnte, der sich nachts vor ihrer Tür mit einem passenden Schlüssel in der Hand aufhielt. Und als wäre es noch nicht genug, unterfütterte sie das Ganze noch mit allerlei Halb- und Unwahrheiten, sodass am Ende eine wilde Story entstand, welche ihrem Mann den nötigen Vorwand bot, sich jetzt aufzuspulen.

Zuvor las sie ihm aber erst einmal die Leviten. Neben der üblichen schmutzigen Wäsche, die man in langjährigen Beziehungen nun mal wusch, warf sie ihm Vernachlässigung und maßlosen Egoismus vor. Das habe letztlich dazu geführt, dass sie den Kopf verloren und sich mit diesem Hallodri (sie sagte tatsächlich Hallodri und zeigte auf Hinnerk) eingelassen habe.

Gewiss wäre das nur platonisch gewesen und hätte niemals wahren Tiefgang erreicht. Deshalb bedauere sie es auch, weil sie erst jetzt begriffen hätte, was sie an ihm – ihrem geliebten ‚Bertchen‘ – habe und so weiter. Kurzum, sie drehte die Sache so, dass es ihm schmeicheln musste.

Hinnerk gefiel diese Komödie. Vor allem klang sie glaubhaft. Und je länger er zuhörte, desto sicherer wurde er, dass der Typ noch viel dümmer war, als ursprünglich angenommen. Nur warum musste sie gleich so überziehen, zumal von ihm keinerlei Gefahr drohte? Dafür gab es nur eine Erklärung: Sie nutzte die Gelegenheit zu einer nachträglichen Abrechnung, welche dieser Dummkopf natürlich nicht verstand, Hinnerk dafür umso mehr.

Freilich wusste er um Tatjanas Kaltblütigkeit. Dass sie aber so hoch pokerte, überraschte ihn nun doch. Prompt fühlte er sich versucht, alles klarzustellen, allein für die Frechheit, ihn derart zu diffamieren. Und er hätte es wohl auch getan, wäre ihm nicht in jenem Moment ihr Blinzeln aufgefallen, das ihm offenbar signalisieren sollte, sie würde nur taktieren.

Doch zu welchem Zweck? Und in der Tat, wenn er es recht betrachtete, kam ihr Geständnis viel zu schnell. Außerdem bestand keine Veranlassung zu einer solchen Übertreibung, zumal ihr Mann bis dahin völlig arglos war, zumindest was den wahren Hintergrund betraf.

Warum sonst hatte sie während dieses ‚Geständnisses’ jeden Blickkontakt vermieden, wenn nicht, um sich nicht zu verraten? Offenbar entsprach es ihrer Taktik, durch Übertreibung Unglaubwürdigkeit zu suggerieren, nach dem Motto: je dicker, desto unwahrscheinlicher. Und dieser Trottel fiel prompt darauf rein.

Das war’s! Hinnerk glaubte, sie durchschaut zu haben. Demnach setzte sie auf sein Feingefühl, wodurch er alles erraten würde, hingegen Klabunde blind wie ein Huhn blieb.

Nicht übel, dachte er angesichts der Vorstellung, dass sie die Sache jetzt nach Belieben drehen konnte, ohne weitere ‚Überraschungen‘ fürchten zu müssen. Nur hatte Hinnerk längst eigene Pläne und zögerte nicht, sie umzusetzen. „Darf ich darauf hinweisen, dass Sie mich die ganze Zeit gegen meinen Willen hier festhalten?“, überraschte er beide, ohne im Geringsten auf die erhobenen Vorwürfe einzugehen. Damit hoffte er, vor allem Tatjana zu erschrecken, die sein juristisches Wissen fürchtete.

Während sie jedoch ungerührt blieb, lachte ihr Mann erneut auf, nannte ihn einen ‚Spaßvogel‘ und schlug voller Begeisterung vor, dann eben die Polizei zu rufen. „Was meinst du, Darling? Was wird man wohl sagen, wenn ein wildfremder Mann in unsere Wohnung eindringt und versucht, dir Gewalt anzutun?“ Nach einem bedeutungsschweren Schweigen setzte er hinzu: „So war es doch, nicht wahr?“

Natürlich bestätigte ‚Darling‘ das erwartungsgemäß und es war klar, worauf das Ganze zielte. Offenbar war Hinnerk nichts weiter als das Opfer eines miesen Komplotts zweier gerissener Gauner, die darauf setzten, einen arglosen Passanten in eine missliche Lage zu bringen, um daraus Kapital zu schlagen.

Was für ein abgekartetes Spiel. Nun wurde ihm auch klar, warum dieser Bursche zurückgekommen war, nachdem er sich in diesen Toreingang geflüchtet hatte. Damit hatte er sich selbst festgenagelt. Zudem hatte er sich bis in die letzte Etage hinauftreiben lassen, wo sich diese Wohnung befand.

O nein, das war kein Zufall. Seine Reaktion wurde von Anfang an erzwungen. Selbst die Wahl der Mitteltür entsprang in diesem Moment einer psychologischen Gesetzmäßigkeit, schon weil sie die einzige ohne Namensschild war. Und der passende Schlüssel konnte leicht mit einem Nullachtfünfzehn-Schloss erklärt werden, das mit jedem Nagel zu öffnen war. Wie Schuppen fiel es ihm jetzt von den Augen. Alles war inszeniert. Er betrachtete beide voller Verachtung.

Glücklicherweise kannte er Tatjanas Labilität und erinnerte sich an die vielen Situationen, in denen er ihr irgendetwas erzählte, was sie ihm schon deshalb abnahm, weil es ‚toll‘ klang, wie sie einmal sagte.

Warum sollte das jetzt nicht erneut gelingen? Und was diesen Klabunde betraf, so würde er mit dem schon fertigwerden. War er doch durch den täglichen Publikumsverkehr als Sachbearbeiter für Ökologie im Umgang mit besserwissenden Rechthabern geübt, vor allem, wenn sie sich für gewiefter hielten, als sie es tatsächlich waren, auf der Ziellinie jedoch schwächelten.

Genau darauf setzte Hinnerk, als er mit einem Mal herzhaft lachend behauptete, in der Tat nicht zufällig hier zu sein. Vielmehr habe er als eine Art Lockvogel fungiert, da von ‚anderer Seite‘ seit geraumer Zeit gegen sie wegen Trickbetruges und Erpressung ermittelt würde.

Dazu sollte alles so arrangiert werden, dass er entsprechende Beweise sichern könnte. Voraussetzung wäre allerdings, er müsste in überzeugender Manier und gewaltsam von ihnen über einen längeren Zeitraum bedrängt und genötigt worden sein und so weiter und so fort.

Natürlich war das in höchstem Maße fragwürdig. Da er aber absichtlich schnell redete, dabei viele hochtrabende Worte benutzte und keinesfalls an einem drohenden Unterton sparte, verfehlte das nicht seine Wirkung.

Hinzu kamen die Leichtigkeit und der Schwung seiner Worte. Diese strahlten eine solche Selbstsicherheit aus, was die beiden zweifellos beeindrucken musste. Jetzt brauchte Hinnerk diese Unsicherheit nur noch durch eine überzeugende Überlegenheit zu befeuern und dann sollte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn er diese Sache nicht noch in seinem Sinne beenden konnte. Also sah er beiläufig auf die Uhr und schloss salopp: „Sonst noch Fragen?“ Daraufhin folgte ein längeres Schweigen.

Dann aber raunte Klabunde Tatjana etwas zu, worauf sie zunächst eine zweifelnde Miene zog, schließlich aber zögerlich nickte. Offenbar ein guter Auftakt, weshalb Hinnerk sogleich anbot, im Fall einer Einigung auf eine Anzeige zu verzichten.

„Wie jetzt?“ Verwundert sah sein Gegenüber ihn an. „Sie wollen uns anzeigen?“

„Wie wäre es mit Freiheitsberaubung, Verleumdung und Nötigung?“, legte Hinnerk gleich noch mal nach.

„Hähähä.“ Klabunde angelte sich eine Bierdose vom Tisch und öffnete sie zischend. Dann soff er einen großen Schluck, wischte sich den Schaum vom Mund und meinte: „Wie wollen Sie das beweisen? Wir sind zu zweit und Sie allein, also zwei Aussagen gegen eine. Sie haben nicht den Hauch einer Chance.“

„Irrtum! Ihre Frau ist befangen. Somit steht es eins zu eins“, stellte Hinnerk noch einmal klar.

„Blödsinn!“, erwiderte Klabunde sichtlich nervös. „Immerhin bist du hier in einer fremden Wohnung. Das darfst du nicht vergessen!“ Plötzlich grinste er triumphierend.

„Nachdem du mich hierhergetrieben hast“, entgegnete Hinnerk in derselben Respektlosigkeit. „So was nennt sich übergeordneter Notstand. Ich werde es beweisen.“ Nichts würde er beweisen, das wusste er genau, aber die beiden nicht.

„Und der Schlüssel? Wie erklärst du dir den passenden Schlüssel?“, bemerkte Klabunde spitzfindig.

„Ganz einfach. Den hast du mir zugesteckt“, flunkerte Hinnerk und registrierte Tatjanas zornigen Blick. „Dich meine ich nicht“, korrigierte er sich sofort, „sondern deinen Mann.“

„Wie … Das glaubst du doch wohl selbst nicht“, empörte Klabunde sich filmreif und deutete auf Tatjana. „Sie weiß auch, dass du lügst.“

„Beweise das Gegenteil“, fuhr Hinnerk plötzlich auf, als käme er aus einem Versteck hervorgeschossen. „Wofür haltet ihr euch eigentlich? Ihr solltet so etwas künftig besser planen. Dann passiert so etwas auch nicht.“

Und während Klabunde noch immer zweifelte, ob das Ganze nicht doch ein Bluff war, blieb Hinnerk überaus gelassen, wie jemand, der den Umgang mit Leuten wie ihnen gewohnt war.

Tatjanas Gesicht hingegen war abermals wie gefroren. Mit großen Augen sah sie Hinnerk an, der sie jedoch ignorierte. Schließlich war er noch nicht fertig.

Um die Sache nach seinen Vorstellungen hinzubiegen, musste er schnellstens nachlegen. Folglich wurde er nicht müde, den beiden seine Version einer Lösung zu unterbreiten, die teilweise recht schmeichelhaft klang. So stellte er ihnen nicht nur einen Anzeigenverzicht in Aussicht, sondern bot sich auch bei einem möglichen Prozess als Entlastungszeuge an, der ihnen ‚tätige Reue‘ bestätigen könne.

Erneut sprach er sehr schnell und hatte sich am Ende so ereifert, dass er schon selbst nicht mehr wusste, was er sagte.

Klabunde kam jetzt ins Schwitzen. Irgendetwas stank an der Sache. Gleichwohl hatte er keinen Bock mehr auf weiteres Geplänkel. Missmutig trank er sein Bier. „Scher dich zum Teufel!“, brüllte er mit einem Mal ungehalten und warf die noch halbvolle Dose neben den Papierkorb, wo sie sich schäumend auf dem Boden ergoss.

Das ließ Hinnerk sich nicht zweimal sagen, denn wer konnte schon wissen, wie lange es dauern würde, bis sie ihn durchschaut hatten.

 

DREI

DREI

 

Wieder auf der Straße …

 

SELTSAM WAR DAS. Trotz des glücklichen Endes fühlte Hinnerk sich wie angespuckt. Zwar beruhigte sich sein Puls relativ schnell, dennoch machte ihn die Unverfrorenheit der beiden fassungslos.

Als er sich einen Zigarillo anzündete (entgegen ärztlichem Rat) und verstimmt in den nächtlichen Himmel starrte, hätte er am liebsten irgendetwas demoliert, einen Papierkorb zum Beispiel oder eine Mülltonne. Aber seine Wut auf Tatjana war grenzenlos. Selbst wenn dieser Kerl zehnmal ihr Lebensgefährte war, hatte sie nicht das Recht, sich auf solche Art mit ihm zu verbünden.

Wer weiß, was sie ihrem ‚Bertchen‘ alles erzählt hatte, denn als ihr damaliger Vorgesetzter hatte er seinerzeit zu einer zu großen Arglosigkeit geneigt. Seine Vertrauensseligkeit war dabei sein größter Fehler, wie sich jetzt herausstellte.

Kein Wunder, dass er für dieses Spielchen ausgesucht worden war. Nur hatten sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Bluff mit der ‚anderen Seite‘ erwies sich als genial. Zweifellos hatten sie das geschluckt. Bei dieser Vorstellung wurde ihm richtig warm ums Herz und er fühlte sich gleich besser.

 

Es waren kaum mehr als ein paar Minuten vergangen, als Hinnerk hastige Schritte hinter sich vernahm. Unwillkürlich fuhr er herum und erkannte Tatjana. Sie war ihm nachgeeilt und stand, am ganzen Körper zitternd, vor ihm. Ihr Gesicht war bleich, fast bläulich, die ansonsten vollen Lippen zornig zusammengepresst.

Sie hatte nicht mal Zeit gefunden, sich etwas Ordentliches überzuwerfen. „Das werde ich dir nie vergessen“, fuhr sie ihn bitterböse an. Dann verschwand sie ebenso schnell, wie sie gekommen war.

Das kam so überraschend, dass er ihr verdutzt nachschaute. Was sollte das? Immerhin war er fair geblieben und hatte nichts verraten, hingegen sie nur wenig Toleranz gezeigt hatte.

Am Ende ärgerte er sich, widerstand jedoch der Versuchung, ihr nachzulaufen. Warum auch? Er hatte sich nur verteidigt und würde es wieder tun, sollte es nötig sein. Außerdem war das alles nicht seine Schuld.

Freilich hätte er nicht gedacht, dass ihr unerwartetes Wiedersehen ihn so aufwühlen würde, das hieß, soweit man das überhaupt so nennen konnte. Genau genommen war es nur ein leichter Schauer, gefolgt von einem unbestimmten Druck in der Magengegend, der aber von der abendlichen Wurststulle rühren konnte, die möglicherweise zu fettig gewesen war.

Aber aufgrund der sich anhäufenden Konjunktive wie ‚hätte, könnte, sollte, würde‘ ahnte er bereits, dass die Sache durchaus nicht so einfach war, wie ursprünglich angenommen. Irgendetwas würde noch folgen. Sein plötzliches Unvermögen, sich zu ordnen und die Dinge gelassen zu sehen, deutete darauf hin.

Nicht, dass ihm an Tatjana noch etwas lag – Gott bewahre. Dieser Gedanke kam ihm gar nicht erst, weshalb er seinen Zynismus angesichts dieses unerwarteten Zusammentreffens durchaus für berechtigt hielt. Und womöglich war das alles nur die Folge ihrer abschätzigen Titulierung als ‚Hallodri’ gewesen.

Was blieb ihm, als sich mit dem glimpflichen Ausgang der Sache zu begnügen. Das war auch dringend nötig, denn er konnte jetzt keinen Ärger gebrauchen, zumal Dowe, der hierarchisch gleich auf Oberbürgermeister Kublitz folgte, nur auf jede Gelegenheit lauerte, ihn anzupissen.

Doch das war nicht der eigentliche Grund für Hinnerks Verstimmung. Erst kürzlich hatte er einen unschönen Disput mit einer Kollegin vom Hamburger Umweltamt, ein engagiertes Mädel mit Charme, Esprit und von erstaunlicher Schlagfertigkeit.

Ausgerechnet während einer Telefonkonferenz, woran gut ein Dutzend namhafter Leute teilgenommen hatten, war er wegen der Klassifizierung einer bestimmten Getreidesorte mit ihr in Streit geraten. Erstaunlicherweise hatte sie ihn dabei ein paar Mal unerwartet ausgekontert, was er überhaupt nicht vertrug – erst recht nicht, wenn andere zuhörten, die davon null Ahnung hatten. Schon deshalb konnte er das so nicht stehen lassen.

Also hatte er sie noch am selben Tag auf dem Park & Ride Parkplatz abgepasst und zu einem klärenden Gespräch genötigt. Dabei war es ihm um die dringende Klarstellung einiger Fakten gegangen, welche offenbar auf einem Missverständnis beruhten.

Sie hieß übrigens Neele Warmböck, mochte Mitte zwanzig sein, also noch ein Küken, und wirkte äußerlich völlig unscheinbar. Dabei hatte sie auf dem Monitor einen anderen Eindruck gemacht – unglaublich feminin und von bezauberndem Charme, eine Art Lady Gaga im Kleinverschnitt. Aber so konnte man sich täuschen.

Schon hatte er diesen Schritt bedauert, zumal der nachfolgende Wortwechsel nur sehr kurz und heftig ausgefallen war. Dabei war es ihm nicht gelungen, sie von seinen Einwänden zu überzeugen. Sie hatte weiterhin auf ihrem Standpunkt beharrt und sich kaum kompromissbereit gezeigt.

Damit nicht genug. Er war dabei erneut in die Defensive geraten, da sie einige Dinge auffuhr, mit denen er nicht gerechnet hatte. Nur mit Mühe konnte er mit allerlei Spitzfindigkeiten ein gefühltes Patt herausholen und sie zu einem Folgegespräch am nächsten Tag überreden.

Dort wollte er ‚dezidierte‘ Beweise vorlegen und die Sache erneut angehen. Doch dann nicht so plump, sondern konzentriert, vor allem aber in einem angemessenen Rahmen.

Dazu hatte er eigens einen Zweiertisch im Café ‚Alte Liebe‘ reserviert – ein gemütlicher kleiner Rückzugsort in Traventhal –, das sich angesichts der bezaubernden Naturkulisse auch für andere Gesprächsthemen eignete, die man dann durchaus hätte einflechten können. Da der Termin aber bereits auf den morgigen Tag gelegt war, fand er jetzt keine Zeit, sich noch länger über die soeben erlebte Posse zu ärgern. Also hakte er die Sache ab, drückte den Zigarillo aus und begab sich umgehend nach Hause, um die dafür nötigen Vorbereitungen zu treffen.

 

Am folgenden Morgen fuhr er mit seiner ‚Möhre‘, wie er seinen mittlerweile in die Jahre gekommenen Saab nannte, beizeiten los, um seine Verabredung am vereinbarten Treffpunkt abzuholen (Neele wollte mit der Bahn aus Richtung Kiel kommen). Von dort aus beabsichtigte er, gemeinsam mit ihr zum Café zu fahren, um sie vor der wundervollen Kulisse etwas zu verzaubern, so jedenfalls der Plan. Und je näher er der Holsteinischen Schweiz kam, desto vertrauter wurde ihm die Gegend. Plötzlich wurde ihm ganz warm ums Herz:

Da lag zur Linken das von brandgelbem Ginster umrundete Hünengrab. Über die leicht abschüssigen Felder lief eine dünne, zarte Welle frischen Grüns. Die Flieder- und Schlehenbäume in der angrenzenden Knicklandschaft waren in den unterschiedlichsten Farben ineinander verwoben. Die Linden glänzten matt im zarten Sonnenlicht des frühen Vormittags und er fühlte sich beschwingt wie lange nicht. Kurz darauf umfuhr er einen kleinen Karpfenteich, an dessen Ufer die gebogenen Weidenäste bis ins Wasser ragten.

Hinter der nächsten Kurve lag der Garten des Bauern Winckler, gefolgt vom Haus der von Bredows, dessen Sohn damals beim Spielen mit einer Gaspistole sein Augenlicht verlor. Und was fiel ihm jetzt nicht alles wieder ein: Tante Maaschs legendärer Kartoffelsalat mit Schnittlauchröllchen, Krabben satt im Krog2, Trecker Treck auf verschlammten Wiesen …

Dabei hatte er sich einst geschworen, diese Gegend niemals wieder zu besuchen, geschweige, dort ein Treffen zu vereinbaren. Wurde er doch im Scheidungskrieg der Eltern seinerzeit hin- und hergerissen, was ihn bis heute belastete. Seine ursprüngliche Wahl für den Vater begann er zu bereuen, als dessen neue Frau Jule in ihr Leben trat. Diese hatte den neuen Stiefsohn von Anfang an abgelehnt und seinen Vater damit vor die Wahl zwischen ihr und ihm gestellt. Doch bevor die Sache eskalierte, war Hinnerk dann in einer Nacht- und Nebelaktion verschwunden und hatte jeglichen Kontakt zum Vater abgebrochen.

Dem Umzug nach Norderstedt folgte dann das Studium. Anfangs hatte er die alte Heimat sehr vermisst, da ihm der Großstadtmief des nahen Hamburgs unerwartet zusetzte. Doch nachdem ein paar Jahre ins Land gezogen waren, ließ der Schmerz allmählich nach und er gewöhnte sich an die neue urbane Atmosphäre.

Doch jetzt, in der Geborgenheit seines Autos und benebelt von Helene Fischers ‚Atemlos‘, war er so in Gedanken, dass er fast am Treffpunkt vorbeigerauscht wäre.

Schließlich lenkte er seinen Wagen in den Wendehammer des kleinen Bahnhofs und parkte an einem Seitenstreifen. Hier wartete er. Da seine Verabredung jedoch nach zwanzig Minuten immer noch nicht erschienen war, kramte er sein Smartphone hervor und wählte Neeles Nummer. Dabei sprang jedoch nur ihre Mailbox an. Als kurz darauf ein Smiley mit einer Kartoffelnase folgte, war die Sache klar.

Wütend löschte er auf der Stelle all ihre Daten und blockierte den Kontakt. Eher würde er sterben, als auch nur auf eine ihrer Nachrichten zu reagieren. Was erlaubte sie sich? Für einen Moment erwog er, ihr als Retourkutsche noch eine zu geigen, allein schon wegen der Knollennase. Immerhin kannte er ihren Vorgesetzten und hätte eine dienstliche Beleidigung konstruieren können. Aber war es das überhaupt wert?

Gefühlte 120 Kilo schwer schaltete er in den Rückwärtsgang und fuhr wieder nach Hause. Als er kurz nach Mittag dort eintraf, war er noch immer derart auf Zinne, sodass er das Gezeter im Hausflur, das an einen aufgescheuchten Hühnerstall erinnerte, zunächst gar nicht bemerkte.

Erst als die dicke Rodeholz aus dem Parterre – ein unmögliches Klatschweib, so breit wie hoch, über alles informiert und ständig auf Streit aus – mit der Frage an ihn herantrat (dabei fuchtelte sie mit den Armen, als wollte sie abheben), ob er diesen Mann hier kenne, erwachte er.

Zu allem Unglück bemerkte Hinnerk auch noch seine unmittelbare Nachbarin Frau Krüger, welche gemeinsam mit ihrer drallen Schwägerin, Frau Hebestreit, einen fremden Mann festhielt. Wer war das? Etwa der Wichtigtuer und Großkotz Schröder von Gegenüber, der vor keinem Weiberrock haltmachte?

Als Hinnerk genauer hinsah, erkannte er zu seinem Entsetzen niemand anderen als Aribert Klabunde, der mit diesen Weibern offenbar im Clinch lag. Woher um alles in der Welt hatte dieser Typ die Adresse?

„Herr Bender, Herr Bender!“, kreischte dieser, als ginge es um Leben und Tod, und riss Hinnerk aus seinen Gedanken. „Ich –“

„Bender, wieso Bender? Das ist Herr Thies!“, fuhr die Rodeholz empört dazwischen, während Klabunde ihn verdutzt ansah, dann aber wissend lächelte.

„Stellen Sie sich vor, Herr Thies“, griff die Hebestreit jetzt unterstützend ein, Klabunde fest an ihren ausladenden Busen gedrückt, und erklärte mit ihrer rauchigen Stimme, was vorgefallen war. Demnach habe dieser Mann soeben Hinnerks Briefkasten gewaltsam zu öffnen versucht. Und wären sie nicht hinzugekommen, hätte dieser Unbekannte unter Garantie die Post gestohlen. „Sie wissen doch selbst, was sich hier in letzter Zeit für Typen herumtreiben! Erst neulich –“

„Schon gut, Frau Hebestreit“, beschwichtigte Hinnerk sogleich die aufgeregte Dame und erklärte zu deren Überraschung, diesen Mann zu kennen und ihn bereits erwartet zu haben. Das erschien ihm jetzt auch dringend nötig, denn das Letzte, was er gebrauchen konnte, war eine längere Erklärung zu den peinlichen Umständen ihrer Bekanntschaft. Schließlich ging das niemanden etwas an, ganz zu schweigen von dem Grund für seinen falschen Namen.

Dann erlöste er den Bedrängten aus seiner misslichen Lage und wollte ihn schon zur Straße hinausgeleiten, als dieser sich unerwartet sperrte und etwas von verletztem Ehrgefühl und nötiger Klarstellung palaverte.

Und als wäre das nicht genug, fügte er an die Frauen gewandt mit gedämpfter Stimme hinzu, dass es wohl triftige Gründe für Herrn Thies geben müsse, ein solches Versteckspiel zu veranstalten, denn er kenne ihn unter dem Namen Fiete Bender. Kein Wunder, dass er seinen Briefkasten nicht finden konnte, hahaha.

Er zog sein Lachen absichtlich in die Länge, woraufhin Hinnerk nichts anderes blieb, als sich darüber zu empören und ihn des Hauses zu verweisen. Anderenfalls würde man sich woanders wieder sprechen.

„Gute Idee, warum nicht gleich auf der nächsten Polizeistation oder noch besser, in Ihrer Wohnung. Wer weiß, wen wir dort noch antreffen werden“, erfrechte Klabunde sich und winkte die Frauen aufmunternd herbei. „Haben Sie nicht auch ein Interesse daran, zu erfahren, welcher Herr hier in Ihrem Haus wohnt? Am besten kommen Sie gleich mal mit!“

Obwohl Hinnerk innerlich kochte, hütete er sich tunlichst, weiteres Öl ins Feuer zu schütten. Aus Furcht vor einer weiteren Eskalation gelang es ihm schließlich mit viel gutem Zureden, diesen Schreihals von seinen Nachbarinnen ein Stück wegzuziehen, um ihn dann kurz vor dem Treppenaufgang wie einen dummen Jungen zur Rede zu stellen.

Aber da er selbst dort noch immer keine Ruhe gab und die Frauen erneut herbeizukommen drohten, blieb ihm nichts, als diesen Störenfried zu packen und mit zum Fahrstuhl zu ziehen. Allerdings dachte Klabunde nie und nimmer daran, Hinnerks Diskretionsgebaren zu befolgen. Wiederholt riss er sich los und brüllte etwas von Intriganz und zerstörtem Leben. Kurzum, er war auf Biegen und Brechen auf einen Skandal aus, was unter allen Umständen verhindert werden musste.

Nur mit Mühe gelang es Hinnerk, ihn im Fahrstuhl zu halten und den Etagenknopf zu drücken, denn auf die Straße konnte er ihn in diesem Zustand unmöglich entlassen. Er würde dort weiteren Lärm schlagen und das musste durch ein klärendes Gespräch unbedingt verhindert werden.

Kaum oben angekommen, lotste er den ungebetenen Gast in seine recht pragmatisch und ohne jedwedes Steh-im-Weg eingerichtete Wohnung und schloss die Tür. Erregt und wie vor den Kopf geschlagen, führte er ihn weiter bis ins Wohnzimmer. Dort nötigte er ihn in einen Sessel, blieb aber selbst stehen. Zu tief saß ihm noch der Schrecken im Nacken, als irgendetwas Vernünftiges herauszubringen. Vielmehr wartete er jetzt auf Klabundes Erklärung.

Zu seiner Verwunderung blieb diese aber aus. Hinnerks Blick verfinsterte sich. „Sagen Sie mal, woher wussten Sie eigentlich, wo ich wohne?“, stieß er schließlich hervor.

Klabunde hüllte sich weiterhin in Schweigen.

„Was ist?“ Verärgert trat Hinnerk einen Schritt vor. „Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?“

„Natürlich nicht“, schleuderte Klabunde ihm jetzt entgegen und verzog verächtlich das Gesicht. „Nur bin ich erstaunt, was Sie sich trauen.“

„Wieso trauen?“ Hinnerk runzelte die Stirn. „Was meinen Sie?“

„Na, mich erst anlügen und dann auch noch mit in Ihre Wohnung nehmen, nach alledem.“

Die letzte Bemerkung steigerte Hinnerks Wut. „Tut mir leid, aber ich konnte Ihnen meinen richtigen Namen nicht sagen. Das hätten Sie an meiner Stelle auch nicht getan, oder?

„Da Sie ohnehin nur lügen – und das in vielerlei Hinsicht – ist das jetzt unwichtig“, wandte Klabunde pikiert ein.

„Wie bitte?“, fuhr Hinnerk über diese Unverschämtheit empört auf.

Erneut verzog Klabunde das Gesicht. „Ach, kommen Sie! Glauben Sie etwa, ich ziehe mir die Hosen mit der Kneifzange an?“, entgegnete er und winkte verächtlich ab. „Wissen Sie was? Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, wie jemand von Ihrem Schlag, ich meine, jemand, der sich so durchs Leben mogelt, echt ist. Ich habe Sie nämlich von Anfang an für einen Spießer gehalten, der mit seinem dummen Geschwätz die Leute blenden will. Und was erlebe ich nun? Nichts weiter als einen miesen, kleinen –“

„Ja, ist ja gut“, unterbrach Hinnerk ihn mit einer nervösen Geste und blickte auf seine Uhr. „Wir haben nicht ewig Zeit. Also, was wollen Sie von mir?“

Verschmitzt schaute sein Gegenüber auf und konterte mit einer Gegenfrage. „Nervös?“

„Nicht im Geringsten. Bloß kann ich es nicht leiden, wenn jemand keinerlei Anstand zeigt!“

„Anstand?“ Klabunde lachte bitter auf. „Ausgerechnet Sie reden von Anstand?“

Augenblicklich bereute Hinnerk diesen Lapsus, sah es aber keineswegs ein, um Entschuldigung zu bitten. Wofür auch? Außerdem gefiel ihm dessen Ton nicht. Was bildete dieser Kerl sich ein? „Hören Sie! Wenn Sie nur gekommen sind, um mir das zu sagen, sollten wir hiermit diese Unterredung beenden! Ich habe nicht die Absicht, mir noch länger Ihre Unverschämtheiten anzuhören! Nur damit wir uns recht verstehen!“

Doch sein Gegenüber war längst auf Streit gebürstet. „O ja, natürlich“, legte er prompt nach. „Nach Ihrem überaus lehrreichen Vortrag von Ehrgefühl und Verpflichtungen – Sie werden sich erinnern – muss selbst Ihnen die jetzige Situation peinlich sein, hähähä.“

Hinnerk stutzte. Sollte er so etwas tatsächlich geäußert haben? Besonders in einem Anflug von Emotionen neigte er zuweilen zu solchen Ausschweifungen, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern. Doch was spielte das jetzt für eine Rolle? Dieser Kerl war einfach penetrant. „Nun ist aber gut! Was geschehen ist, ist nun mal geschehen. Sollte ich dabei jemandem zu nahegetreten sein, tut es mir leid. Aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht –“

„Ach, es tut Ihnen leid?“, fiel Klabunde ihm ins Wort, als hätte er nur auf diese Bemerkung gewartet. „Das wäre doch schon mal was. Sehen Sie, das ist es nämlich: Mir tut es überhaupt nicht leid, und ich habe nicht mal ein Problem damit, wie Sie sehen, selbst wenn das reichlich abgeschmackt erscheint.“

„Um ganz ehrlich zu sein, interessieren mich weder Ihre Probleme noch Ihre Abgeschmacktheit.“ Hinnerks Leib straffte sich. „Mich regt nur auf, dass Sie hier eine solche Show abziehen, statt endlich zu sagen, was Sie von mir wollen!“

„Von Ihnen?“, erwiderte Klabunde unerwartet scharf und sah ihm fest in die Augen. „Gar nichts! Nur sollen Sie wissen, dass ich mir so etwas nicht bieten lasse, weder von Ihnen, noch von sonst jemandem …“

„Ah ja. Und das wäre?“

„Jetzt tun Sie nicht so! Das wissen Sie doch genau!“

„Sie sind ja betrunken.“ Demonstrativ kehrte Hinnerk ihm den Rücken zu, als wollte er dadurch seiner Entrüstung einen stärkeren Ausdruck verleihen.

„Und wenn schon! Kann man das nicht verstehen, nach alledem? … Soll ich Ihnen mal was verraten …?“ Klabunde tippte sich auf die Brust und dämpfte die Stimme. „Ich war seit Tatjanas Verschwinden überhaupt nicht mehr nüchtern. Dabei bin ich normalerweise strikter Abstinenzler, fragen Sie sie ruhig. Aber was tut man nicht alles, wenn man hofft, jedoch sehen muss, wie diese Hoffnung zerplatzt.“ Sein Ton wurde jetzt geradezu weinerlich. „Dann kommen einem die unsinnigsten Gedanken und man begreift, wie elend das eigene Dasein ist. Ich könnte wetten, so etwas ist Ihnen noch nie passiert!“ Sichtlich ergriffen kramte Klabunde sein Taschentuch hervor und schnäuzte laut hinein. „Doch seien Sie unbesorgt, ich werde es akzeptieren, werde alles akzeptieren, wenn es ihr nur gut geht … Verraten Sie mir nur eines, und das auf Ehre und Gewissen: Haben Sie sie wirklich jemals geliebt, ich meine so richtig?“ Dann schlug er die Augen nieder. Mit hängenden Schultern und melancholischer Miene simulierte er perfekt ein wahres Häufchen Elend.

Diese unerwartete Sentimentalität überraschte Hinnerk, zumal sie gar nicht zur Situation passte. „Aber ich bitte Sie, das steht doch hier überhaupt nicht zur Debatte“, hielt er ihm entgegen.

„Das denken Sie!“, lamentierte Klabunde weiter und kehrte erneut den Gekränkten heraus. „Für euch ist das alles so einfach: Ihr nehmt euch, was Ihr braucht und werft es weg, sobald Ihr es nicht mehr benötigt. Ich aber habe niemals jemandem etwas weggenommen, geschweige denn weggeworfen, was im Laufe der Jahre … Im Gegensatz zu euch weiß ich nämlich so etwas zu schätzen und –“

„So beruhigen Sie sich doch“, wurde er schleunigst von Hinnerk unterbrochen. „Es ist nicht so, wie Sie denken.“

„Ach ja …?“ Ohne Unterlass wühlte Klabunde jetzt in seiner Hosentasche herum, als würde er etwas Wichtiges suchen. „Sehen Sie – hier!“ Er hielt ihm jetzt einen Zettel entgegen, den er hastig aus der Gesäßtasche gekramt hatte. „Diabetes, Gicht, Bluthochdruck mit Herzrhythmusstörungen; und jetzt die Sorge um Tatjana … ein glattes Todesurteil! Aber ich bin bereit, Ihnen zu vergeben – Nun glotzen Sie nicht so, Sie hören richtig! – und das auf der Stelle, wenn Sie meine Frau wieder zu mir zurückschicken, da ihr Platz bei mir ist!“

„Wie bitte?“ Hinnerk verstand kein Wort. „Ist sie denn nicht bei Ihnen?“

Klabunde ließ sich mit der Antwort Zeit und sah ihn an, als würde er bis auf den Grund seiner Seele schauen. „Sparen Sie sich diese Vorstellung. Sie ist mehr als unangebracht.“

„Moment mal.“ Hinnerks Gedanken überschlugen sich. „Das geht mir jetzt zu schnell. Wenn sie nicht bei Ihnen ist, wo ist sie dann …? Sie glauben doch nicht etwa … Das ist ja völlig absurd. Wie kommen Sie nur darauf?“

„Dann verraten Sie mir bitte“, zischelte Klabunde gefährlich leise, „wo sie sonst sein sollte. Schließlich ist sie Ihnen doch nachgelaufen und das mitten in der Nacht.“

„Ja schon. Aber wie hätte ich …?“ Abermals vergegenwärtigte Hinnerk sich die Situation: Wie aus dem Nichts war Tatjana plötzlich vor ihm aufgekreuzt. Nicht nur, dass ihn ihr rabiates Verhalten verwundert hatte, ebenfalls hatte ihn ihre leichte Bekleidung irritiert. Allerdings war er davon ausgegangen, dass sie danach wieder in die Wohnung zurückgekehrt war. Und warum – um alles auf der Welt – hätte er auf Weiteres achten sollen? Immerhin war sie alt genug.

Von daher versicherte er seinem Besucher wiederholt seine Unschuld. Zudem bot er ihm an, seine Wohnung zu durchsuchen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass sie nicht dort war.

Klabunde wiederum hielt ihn längst für überführt und behauptete unter ohrenbetäubendem Gejammer, er, Hinnerk, würde Tatjana nur woanders verstecken. Womöglich in einem dunklen Loch ohne Strom und fließendes Wasser.

Da reichte es Hinnerk. Ohne Vorwarnung packte er Klabunde an den Schultern und versicherte ihm eindringlich seine Unschuld. Dann versprach er, alles zu tun, ihm zu helfen, nur momentan leider nicht wisse, wie. Er mutmaßte, dass alles vielleicht ja nur ein schlechter Scherz und Tatjana mittlerweile schon längst wieder zu Hause war. Oder sie würde bei einer Bekannten eine ‚Auszeit‘ nehmen.

Doch Klabunde hörte überhaupt nicht mehr zu. Vielmehr hatte er sich in den Wahn verstiegen, Hinnerk habe sie ihm ‚weggenommen‘.

Plötzlich hob er den Kopf, sah sein Gegenüber durchdringend an und fauchte ihn an: „Meine Frau gehört mir. Und außer mir kriegt sie keiner. Merke dir das, du Vogel!“ Mit wutverzerrtem Gesicht sprang er auf und stürmte aus der Wohnung. Völlig perplex sah Hinnerk ihm nach.

 

VIER

 

SCHWER ZU SAGEN, wie lange Hinnerk noch dastand, ohne Anstalten zu machen, die Tür zu schließen, die dieser schräge Typ offengelassen hatte. Aber diesen Schock konnte er nicht so einfach wegstecken. War das jetzt eine Finte oder war Tatjana tatsächlich verschwunden? Und selbst wenn, blieb noch immer die Frage offen, wohin sie verschwunden war und vor allem, warum.

Ahnte Klabunde womöglich etwas von ihrer damaligen Beziehung? Oder war es zum Streit gekommen, verbunden mit einer Kurzschlussreaktion? Tatjana war schon immer sehr sprunghaft und neigte zu Überreaktionen. Sollte sie etwa …?

Aber nein. Dazu hing sie viel zu sehr am Leben. Offenbar hatte sie nur eine Auszeit genommen und war abgetaucht, um ihren ‚Männe‘ zu erschrecken. So etwas passte zu ihr. Bald würden sie wieder zusammenkriechen. So war es doch immer. Pack schlug sich und Pack vertrug sich.

Was kümmerte es ihn? Im Grunde war auch nichts weiter geschehen, außer der unerwarteten Begegnung zweier alter Bekannter, gefolgt von einem misslungenen Erpressungsversuch. Da am Ende alles klargestellt wurde, gab es keinen Grund, noch weiter darüber zu befinden.

Irgendwann schloss Hinnerk die Tür und ging in die Küche zurück. Er sah durchs Fenster auf den Verkehr der Segeberger Straße, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Gedankenversunken schüttelte er einen Zigarillo aus der Verpackung, zündete ihn an und inhalierte den blauen Rauch.

Ein äußerst merkwürdiges, ja geradezu absurdes Pärchen war das. Doch trotz aller – oder besser – wegen ihrer Trivialität schienen sie sich vortrefflich zu ergänzen, wirkten ausgebufft und standen in ihrer Skrupellosigkeit einander in nichts nach. Doch nur bis zu einem gewissen Punkt. Sobald es Probleme gab, erwiesen sie sich als überfordert und es war erstaunlich, wie kläglich sie dann scheiterten.

Sie dachten nichts zu Ende. Das war ihr Fehler. Somit zogen sie einander immer weiter hinab, fast so, als müsste es so sein, und genau genommen war es auch so. Allein war jeder für sich verloren. Aber selbst wenn sie sich dann vorteilhafter hätten entwickeln können, wollten sie das offenbar gar nicht. Es schien, als lebten sie in einer Blase. Und obwohl sie das wussten, konnten sie einfach nicht voneinander lassen, als wären sie dazu verdammt, miteinander unglücklich zu werden.

Hinzu kam ihre Überheblichkeit, verbunden mit fehlender Einsicht. Statt tiefer darüber nachzudenken, machten sie stets andere für ihre Misere verantwortlich, und daran würde sich auch nichts ändern.

Recht so, dachte Hinnerk und musste unwillkürlich schmunzeln, um verwundert festzustellen, dass er sich jetzt sauwohl fühlte. Aber die Gewissheit, sie gefoppt zu haben, war in doppelter Hinsicht erquickend. Hatte er es doch mit der Richtigkeit seiner Überlegungen nicht nur ihnen, sondern vor allem sich selbst bewiesen! Dabei hätte er doch eigentlich beleidigt sein müssen. Immerhin war er das Opfer einer infamen Unterstellung geworden und hätte sogar rechtlich dagegen vorgehen können. Aber was hätte das bringen sollen?

Und wenn er seine damalige Liaison mit Tatjana nochmals nüchtern überdachte, kam er wie so oft zu dem Schluss, dass es ohnehin nur ein Spiel gewesen war. Keine Sekunde hatte sie auch nur das Geringste für ihn empfunden. Und seine Gefühle wiederum waren nur die Folge einer Verirrung, die sie geschickt einzusetzen wusste.

Von wegen ‚süßer Hasenfratz‘ und ‚kleine Schwebfliege‘. Sie wollte ihn nur ködern mit Sprüchen wie: „Ich mag deine wirren Gedanken“ oder „Niemand kann etwas für seine Größe“. Freilich geschah manches nicht so direkt, sondern mehr durch die Blume, was nichts weiter als billige Effekthascherei war.

Ebenso waren ihre gelegentlichen Depri-Phasen zu verstehen, in denen sie unter Tränen ihr ‚verkorkstes‘ Leben beklagte. Selbst ihre halbseidene Anspielung auf einen möglichen Karriereschub im Falle eines vorzeitigen Ausscheidens seines damaligen Chefs, Jochen Liebetreu, erfolgte nur, weil sie bei jenem nicht landen konnte.

Von wegen ‚zu alt‘. Tatjana wäre skrupellos genug gewesen, selbst ihm den Kopf zu verdrehen. Nur hatte Liebetreu sie schnell durchschaut und ‚diese Person‘, wie er sie abschätzig nannte, nach einem schamlosen Annäherungsversuch achtkantig rausgeschmissen. Warum er ihr danach dennoch einen Schonplatz verordnet hatte, blieb bis heute rätselhaft.

Der Grund mochte in der Dringlichkeit einer damaligen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme durch das hiesige Sozialamt gelegen haben. Dort kannte man ihre zerrütteten Verhältnisse und führte sie als kritischen Fall. Resozialisierung nannte man das. Schon deshalb hätte es einen Haufen Papierkram erfordert, ihre Umsetzung triftig zu begründen.

Jedoch waren das Dinge, die Hinnerk jetzt nicht mehr kümmerten und genau genommen auch nie gekümmert hatten. Sollte ihre plötzliche Wiederbegegnung sie in Schwierigkeiten oder gar Erklärungsnöte gebracht haben, wäre das zwar bedauerlich, jedoch nicht sein Problem.

Aber angesichts dieses plötzlichen Druckes an besagtem Abend konnte er gar nicht anders. Das musste sie doch verstehen. Doch selbst wenn nicht, war das nur ein weiteres Indiz ihres Kleinmuts. Nur so wurde ein Schuh daraus.