Die Schwimmbad-Bibliothek - Alan Hollinghurst - E-Book

Die Schwimmbad-Bibliothek E-Book

Alan Hollinghurst

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Beschreibung

Sie sind ein ungleiches Paar, der junge William Beckwith und der alte Lord Nantwich. William genießt sein Leben in vollen Zügen - verliebt, sorglos. Die schwule Subkultur Londons ist sein Zuhause. Er besucht die Sportclubs und Schwimmbäder, die Pornokinos, die verrauchten Bars und Clubs, immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Als er dem Lord auf einer öffentlichen Toilette das Leben rettet, weiß er noch nicht, dass er schon bald die Memoiren des früheren Kolonialbeamten schreiben wird. Vertieft in Nantwichs Tagebücher, wird für ihn eine Subkultur verbotener erotischer Beziehungen lebendig. Der grandiose Erfolgsroman von Alan Hollinghurst - ironisch, sexy und brillant erzählt.

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1. Auflage © 2015 Albino Verlag, Berlin in der Bruno Gmünder GmbH Kleiststraße 23-26, D-10787 Berlin Originaltitel: »The Swimming-Pool Library« © 1988 by Alan Hollinghurst Aus dem Englischen von Eike Schönfeld Umschlaggestaltung & Satz: Robert Schulze Abbildung Umschlag: shutterstock.com/YanLev eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-95985-053-7

Mehr über unsere Bücher und Autoren:www.albino-verlag.de

Für Nicholas Clark

 (1959–1984) 

»Sie liest mit solcher Geschwindigkeit«, beschwerte sie sich, »und als ich sie fragte, wo sie nur gelernt habe, so schnell zu lesen, entgegnete sie: ›Auf der Leinwand im Kino.‹«

Die Blume unter dem Fuß

1

Ich fuhr mit der letzten Bahn nach Hause. Mir gegenüber saßen zwei Streckenarbeiter von London Transport, einer klein, fünfzig, abgelebt, der andere ein unverschämt gut aussehender Schwarzer um die fünfundzwanzig. Schwere Segeltuchtaschen lehnten an ihren Stiefeln, die Overalls waren in der abgestandenen Hitze der Underground über dem Unterhemd offen. Jetzt begannen sie mit der Arbeit! Ich betrachtete sie mit einer Art betäubtem, trunkenem Staunen, verblüfft über die Vorstellung ihres verkehrten Lebens, darüber, wie ihre Arbeit davon abhing, dass wir fuhren, aber nur verrichtet werden konnte, wie ich nun sah, wenn wir nicht fuhren. Während wir nach Hause gingen und in Bewusstlosigkeit sanken, zogen diese Männer in Trupps mit Leuchten und Lötlampen und langstieligen Ratschenschraubenschlüsseln durch die Tunnel; und Wagen, nicht für Passagiere gebaut, abartig funktionell, rollten langsam und scheppernd von Nebengleisen heran, die der Pendler nicht kennt. Eine so einsame, unsichtbare Arbeit musste seltsame Gedanken zeitigen; die Männer, die durch jeden Tunnel des Labyrinths schritten und die Schienen abklopften, mussten so erleichtert sein, wenn sie die Lichter anderer nahen sahen und freundliche Stimmen ihren Fachjargon herüberriefen. Der Schwarze schaute auf seine locker daliegenden Hände: Er wirkte sehr unnahbar, beherrscht und strahlte eine enorme, kaum bewusste Kompetenz aus – ich empfand mehr als Respekt für ihn, etwas wie Zärtlichkeit. Ich stellte mir seine Erleichterung vor, wenn er nach Hause kam und die Stiefel auszog und ins Bett ging, während es um die Vorhänge herum hell wurde und der Straßenlärm draußen allmählich anschwoll. Er drehte die Hände um, und ich sah das blassgoldene Band seines Eherings.

Am Bahnhof waren die Ausgänge bis auf einen verschlossen, und ich drückte mich mit zwei, drei andern hinaus, als würde uns ein ungewöhnliches Zugeständnis gemacht. Dann noch die zehn Minuten zu Fuß nach Hause. Der Alkohol schien sie zu verkürzen, sodass ich mich am nächsten Morgen gar nicht mehr an den Weg erinnern würde. Und dass ich den Gedanken an Arthur unterdrückt hatte, damit es desto aufregender würde, wenn ich mich an ihn erinnerte, musste mich auch ganz schön getrieben haben.

Allmählich fand ich Geschmack an schwarzen Namen, westindischen Namen; sie waren eine Art Reise durch die Zeit, die Worte, die die Leute ihrem Kissen zuflüsterten, an den Rand ihres Schreibhefts malten, in Leidenschaft ausriefen, als mein Großvater ein junger Mann war. Ich hatte immer geglaubt, dass diese eduardianischen Namen die Verleugnung jeglicher Liebesgefühle seien: Archibald, Ernest, Lionel, Hubert waren lächerlich spröde; sie kündeten von Persönlichkeiten, die von Sex oder Bosheit ungetrübt waren; doch erst in diesem Jahr war ich mit Jungen zusammen, die eben solche gemessene Namen trugen; aber die Jungen waren nicht gemessen. Auch Arthur nicht. Sein Name war wohl derjenige, den ich mir am wenigsten jung vorstellen konnte: Er beschwor das sonnenlose Äußere, den ungelüfteten Anzugstoff und die Metallbrille eines Buchhalters aus einer verschwundenen Zeit. Jedenfalls so lange, bis ich meinen schönen, großspurigen, verluderten Arthur fand – einen Arthur, den man sich unmöglich alt vorstellen konnte. Sein glattes Gesicht mit den großen schwarzen Augen und dem sinnlich schwachen Kinn war immer vom Licht und Schatten des Zweifels überzogen und stellte sich dem Blick mit der entwurzelten Selbstsicherheit der Jugend.

Arthur war siebzehn und kam aus Stratford East. Ich war den ganzen Tag über weg gewesen, und als ich mit meinem ältesten Freund James zu Abend aß, hätte ich ihm um ein Haar gesagt, dass ich diesen Jungen zu Hause hatte, schluckte die Worte jedoch hinunter und strahlte besoffen vor heimlicher Freude. James war nämlich Arzt, stets bedächtig und vernünftig; er hätte mich für verrückt erklärt, dass ich praktisch einen Fremden bei mir zu Hause warten ließ. In meiner steifen, selbstgefälligen Familie gab es jedoch eine störrische Tradition des Vertrauens, und vielleicht hatte ich die Angewohnheit, Personal und Fensterputzer auf die Probe zu stellen, indem ich sie der Versuchung aussetzte, von meiner Mutter übernommen. Es bereitete mir ein leicht gruseliges Vergnügen, mir Arthur allein in der Wohnung vorzustellen, wie er ihren fremden Reichtum aufsog, die Bilder betrachtete, sich natürlich auf Whitehavens Fotografie von mir in der kleinen Badehose konzentrierte, den Schatten über meinen Augen … Ich konnte mir einfach keine Sorgen um die elektrischen Geräte machen, die bei Einbrechern gemeinhin hoch im Kurs stehen – und ich bezweifelte, ob die wertvollen Platten (darunter der Tristan von Rattle) nach Arthurs Geschmack sein würden. Ihm gefiel Tanzmusik, die heiß und cool war – wie sie über die Tanzfläche des Shaft, wo ich ihn vergangene Nacht kennengelernt hatte, peitschte und schnulzte.

Als ich eintrat, sah er fern. Die Vorhänge waren zugezogen, und er hatte einen alten, halb kaputten elektrischen Ofen ausgegraben; es war ungeheuer warm. Er erhob sich aus seinem Sessel und lächelte nervös. »Ich hab grad ferngesehen«, sagte er. Ich legte mein Jackett ab, schaute ihn an und war plötzlich von seinem Aussehen überrascht. Ich hatte mich sehr oft an die eine oder andere Einzelheit von ihm erinnert, sodass mir seine Gesamterscheinung entfallen war. Ich fragte mich, wie viel Arbeit darin stecken musste, sein Haar in die schmalen Rippen zu kämmen, die ihm von der Stirn nach hinten in den Nacken liefen, wo sie zu jungen festen Zöpfchen geflochten waren, acht vielleicht, gerade zwei Zentimeter lang. Ich küsste ihn, meine linke Hand glitt zwischen seine hohen, drallen Hinterbacken, während ich ihn mit der andern im Nacken streichelte. Oh, die immer offene Weichheit schwarzer Lippen; und die eigenartige Trockenheit seiner Zöpfchen, die knisterten, als ich sie zwischen den Fingern rollte, und tot und halb erigiert zugleich erschienen.

Um drei wachte ich auf und musste aufs Klo. Obwohl ich benommen und im Halbschlaf war, hämmerte mein Herz, als ich zurück ins Zimmer kam und Arthur in dem sanften Licht der Lampe, das über die Kissen fiel, schlafen sah, der eine Arm ragte seltsam verdreht unter der Steppdecke hervor, als wollte er die Augen damit schützen. Ich setzte mich und glitt neben ihn, wobei ich ihn sorgfältig beobachtete, über seinem Gesicht verharrte und wieder den Kindgeruch seines Atems einsog. Als ich das Licht ausschaltete, fühlte ich, wie er sich zu mir drehte und seine riesigen Hände sich unter mich gruben, fast, als wollte er mich wegtragen. Ich umarmte ihn, und er fasste mich noch fester, packte mich, als wäre er in Gefahr. Ich murmelte einige Male »Baby«, bis ich merkte, dass er noch immer schlief.

In jenem Sommer, dem letzten Sommer, der noch einmal so sein sollte, sah mein Leben seltsam aus. Ich schwebte auf einer Wolke aus Sex und Selbstüberschätzung – es war meine Zeit, meine belle époque –, doch immer war da noch ein schwaches, unheilvolles Flackern, wie Flammen um eine Fotografie, wie etwas, das man aus dem Augenwinkel sieht. Ich hatte keine Arbeit – o nein, keine Elendsgeschichte, kein Opfer der Rezession, nicht einmal, das hoffe ich jedenfalls, ein Teil einer Statistik. Ich hatte meine Arbeitslosigkeit bewusst oder wenigstens wissentlich selbst geschaffen. Mich betrachtete man als einen, der zu viel Geld hat, ich gehörte zu jenem winzigen Teil der Bevölkerung, dem tatsächlich fast alles gehört. Ich hatte mich der Aussicht auf ein Nichtstun ergeben, wenngleich mich das ganz schön in Atem hielt.

Fast zwei Jahre lang war ich in der Redaktion des Lexikons der Architektur bei Cubitt gewesen, einem hochfliegenden Projekt, das mit Verzögerungen und Verdruss behaftet war. Der Herausgeber war ein Freund meines Oxforder Tutors, der sich darum sorgte, dass ich mich widerstandslos in den Kreislauf der Bars und Clubs treiben ließ, der mich schon in verderblicher Muße versumpfen sah und eine Bemerkung fallen ließ – eine jener bloßen Andeutungen, die einen Nerv der Schuld treffen und die Macht eines Befehls annehmen. Und so erschien ich denn Tag für Tag am St. James’s Square, wo ich in einem Hinterzimmer saß, meinen Kater als eine Art dünnhäutige, ästhetische Geistesabwesenheit verkleidete und aktenweise Forschungsmaterial auf Vordermann brachte.

Band eins sollte A bis D umfassen, und ich durfte an einigen der Themen arbeiten, die mich am meisten interessierten – Adams, Lord Burlington, Colen Campbell. Ich redigierte die Aufsätze sich wiederholender Autoritäten, wurde in die British Library oder das Sir John Soane’s Museum auf die Suche nach Plänen und Stichen geschickt; über kleinere Themen durfte ich selber schreiben: Ich steuerte einen exemplarischen Artikel über Coade-Stone-Vasen bei. Doch das Lexikon war eine verrückte Geschichte, eine falsch gehandhabte Angelegenheit, ein Escorial, der zu einer Fonthill Abbey wurde, je länger wir daran arbeiteten. Ich rief Leute an, und es gab Partys von sechs bis acht – was bleiben bedeutete und danach ein alkoholreiches Abendessen und dann in aller Regel das Shaft und Handlungen, in denen die Bedeutung der Säulenordnung, des Doms, des Portikus kaum noch erkannt werden konnten.

Nach meinem Ausscheiden bei Cubitt empfand ich eine heitere Erleichterung, nicht mehr eine Kreuzung aus Professor und Laufbursche zu sein – einer, dessen Anwesenheit ebenso durch seinen Namen wie durch sein Interesse an der Kunst erklärt war. Gleichzeitig aber war ich doch etwas traurig über den Verlust der schludrigen Büroroutine, der Erklärungen beim ersten miesen Kaffee, wohin ich mit wem gegangen und wie er in allen Einzelheiten war. Es war eine Welt, die einen zum Original machte und einen fröhlich und unverrückbar ein Leben lang als solches sah. Und dann war da auch noch das Sujet – die Säulenordnung, der Dom, der Portikus, die geraden Linien und die gebogenen, die mich ansprachen und mir mehr bedeuteten als manchem andern.

Am nächsten Tag stahl ich mich von Arthur weg und ging im Park spazieren – wahrscheinlich übten die geraden Linien der Alleen eine beruhigende Anziehungskraft auf mich aus. Wenn ich als Kind Marden besuchte, das Haus meines Großvaters, waren die Tage geprägt von Spaziergängen auf dem Reitweg mit den ehrwürdigen Buchen, der sich meilenweit schnurgerade über hügeliges Land hinzog und vor einem versenkten Grenzzaun und einem hohen freien Feld endete. Zur Linken konnte man im Winter die Hühnerställe und Aborthäuschen eines Weilers erkennen, der einmal zu dem Gut gehört hatte. Dann kehrten wir um und nach Hause zurück, meine Schwester und ich, und kamen uns, von meinen Großeltern verwöhnt, ausgesprochen adlig und abgehoben vor. Erst Jahre später verstand ich, wie jung und künstlich dieser Adel war – das Haus selbst billig nach dem Krieg gekauft, halb ruiniert durch seine Verwendung als Ausbildungsstätte für Offiziere und danach als Militärlazarett.

Heute war wieder so ein Apriltag, reglos und bedeckt, der von einer ungeheuren Idee erfüllt schien und, während ich von einem Aussichtspunkt zum nächsten streifte, das Gefühl aufkommen ließ, dass dies lediglich ein Stillstand sei, der nur so lange währen würde, bis es so weit war, dass sich etwas anderes ereignete. Vielleicht war es einfach der Sommer und die Gewissheit von Wärme, alle Welt im Freien, Trinken in der frischen Luft. Die Bäume trieben Knospen, und es entfaltete sich jene seltsam verkehrte Logik, nach der sich der Park genau zu dem Zeitpunkt, da er heiß und beliebt wird, von der Außenwelt der Häuser und des Verkehrs mit der Dichte seines Laubwerks abschottet. Doch ich spürte auch die Bedrohung durch eine Erkenntnis über das Leben, etwas Düsteres, Unangenehmes und vielleicht Verdientes.

Auch wenn ich nicht an derlei Dinge glaubte, war ich doch der perfekte Zwilling, ein Kind des vieldeutigen Frühsommers, hin- und hergerissen zwischen zwei Varianten meiner selbst, zum einen der Hedonist und dann – zurzeit etwas im Hintergrund – eine fast gelehrte Gestalt mit einem schwachen puritanischen Zug um den Mund. Und es gab noch tiefere Dichotomien, abweichende Geschichten – die eine der »Bericht meiner selbst«, die sexgeladenen kleinen Runden durch Discos und Pubs und Landhäuser, die schiere gedrängte, unbeirrte Wiederholung meiner leeren Monate; die andere die »Romanze meiner selbst«, die all diese Banalitäten mit einem schützenden Glanz überzog, als wäre mein Schicksal tatsächlich von meinen frühesten Tagen an verzaubert, sodass ich von dieser Welt und zugleich jenseits ihres Einflusses war, wie die Pantomimenfigur, die Wordsworth beschreibt und auf deren Brust »unsichtbar« geschrieben steht.

Zuweilen wurde mein Freund James mein anderes Ich und schalt mich und versuchte, mich zu überzeugen, dass ich doch noch viel mehr tun könne. Ich hatte Schelte noch nie gut vertragen können, und als er darauf drang, ich solle mir eine Arbeit suchen oder gar mit einem Mann ein geregeltes Leben beginnen, geschah dies auf so persönliche und kenntnisreiche Art, dass es mir war, als klage die eine Hälfte von mir die andere an. Von ihm, den ich mehr liebte als jeden anderen, hörte ich den Bericht meiner selbst am häufigsten. Er hatte unlängst in seinem Tagebuch sogar gesagt, ich sei »gedankenlos« – er meinte damit grausam, die Art, wie ich einen Jungen hatte sitzen lassen, der sich in mich verliebt hatte und der mich zum Wahnsinn trieb; doch dann fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf: Hat Will überhaupt für jemanden etwas übrig? Macht Will sich überhaupt einmal Gedanken? Und so weiter und so fort. »Scheiße, natürlich mache ich mir Gedanken«, brummelte ich, obwohl er nicht da war und mich nicht hören konnte. Und er stellte eine gemeine kleine Diagnose: »Will wird immer brutaler, immer sentimentaler.«

Gewiss, bei Arthur war ich sentimental, zutiefst sentimental und leicht brutal, im einen Moment schenkte ich ihm zärtlichste Aufmerksamkeit, im nächsten überschwemmte ich ihn mit Sex, hirnlos – gedankenlos. Es war die wunderschönste Sache, die ich mir vorstellen konnte – umso mehr, weil wir wussten, dass wir es nie zusammen schafften. Selbst inmitten der geraden Linien des Parks dachte ich nicht geradeaus – ständig drehten sich meine Gedanken wieder um Arthur, und mein Verlangen nach ihm und der bedrückend milde Tag waren mir fast eine Bürde. Schließlich war der Park nur gezierte Landschaft, seine Seen und Bäume unzulängliche Erinnerungen an jene prägenden Landschaften, die Yorkshire Dales, die Flüsse und Auen von Winchester, deren Einfluss in der versexten Unmittelbarkeit des Londoner Lebens unterging.

Ich befand mich auf dem Weg zu dem tristen italienischen Garten am Kopfende des Sees, eine Terrasse mit Balustraden und gepflasterten Wegen, die um vier farblose Teiche führten, ein halbherziger barocker Brunnen (jetzt außer Betrieb) zielte auf die Serpentine darunter, und am Rand, mit dem Rücken zur Bayswater Road, ein Pavillon mit gewelltem roten Dach und mit Vogelkot bekleckerten Bänken. Tot, wie dieser Ort mir immer erschienen war, steinern und unecht inmitten des englischen Grüns des Parks, war er doch eine unfehlbare Attraktion für Besucher: Liebespärchen, einsame Entenliebhaber, große Familiengruppen vom Kontinent und aus dem Mittleren Osten auf einem müßigen Gang von ihren Wohnungen in Bayswater und am Lancaster Gate. Ich schlenderte mitten hindurch, als wollte ich mir bestätigen, wie sehr ich das alles verabscheute. Ein paar freudlose kleine Jungen spielten mehr aus Pflichtgefühl denn aus Lust zusammen. Schwuchteln in einem gewissen Alter spazierten ostentativ auf und ab. Der Himmel war ein einförmiges Grau, auch wenn ein Schimmer auf dem weißen Putz des Pavillons eine Sonne andeutete, die vielleicht durchbrechen könnte.

Ich wandte mich schon zum Gehen, als mir ein einsamer Araberjunge auffiel, der, die Hände in den Taschen seines Anoraks, dahinschlenderte, recht unauffällig, aber dennoch mit etwas, das mir sagte, den musst du haben. Ich war überzeugt, dass er mich bemerkt hatte, und ich spürte, wie mich eine köstliche Lust und Befriedigung bei dem Gedanken überflutete, ihn zu ficken, während ein anderer Junge zu Hause auf mich wartete.

Um ihn auf die Probe zu stellen, bummelte ich hinter den Pavillon, wo ein paar öffentliche Toiletten, übermäßig frequentiert von einsamen Männern mittleren Alters, in das von Efeu überwachsene, von Fichten verdunkelte Bankett der Hauptstraße geduckt waren. Ich ging die gefliesten Stufen zwischen den gefliesten Wänden hinab, und ein hygienischer, überraschend süßer Geruch umgab mich. Alles war sehr sauber, und an einigen der Abteile unter den polierten Kupferrohren (in die jemand seinen ganzen Stolz setzen musste) standen Männer, Regenmäntel verhüllten vor dem arglosen Besucher oder dem argwöhnischen Polizisten ihr stundenlanges Herumstehen. Ich verspürte ein schwaches Ekelgefühl – nicht Missbilligung, sondern die Furcht, auch einmal so zu werden. Ihre Köpfe erschienen mir grau und lieblos, als sie sich automatisch erwartungsvoll zu mir umdrehten. Wie viel Zeit sie da für welch schäbigen Ertrag investierten … Nickten sie einander zu, die alten Knacker, wenn sie ihre Stellung bezogen, Tag für Tag, einer neben dem andern, wo immer auf ihrer unterirdischen Tour durch die Toiletten sie sich gerade befanden? Geschah da je etwas, hatten sie in ihrer Verzweiflung über das, was immer sie suchten, was gewiss niemals Sex sein konnte, sondern bestenfalls eine Ahnung von etwas Erinnernswertem, je etwas miteinander? Mir schien gewiss, dass dem nicht so war; in einem stillschweigend vereinbarten Stillschweigen waren sie damit beschäftigt, endlos nach etwas Ausschau zu halten, was sie nicht haben konnten. Ich war nicht schüchtern, aber zu stolz und selbstgefällig, um meinen Platz unter ihnen einzunehmen, und ich zögerte nur einen kurzen Moment bei dem Entschluss, es nicht zu tun.

Ich ging ans andere Ende des Raums, wo die Waschbecken waren, und schaute in den Spiegel darüber, in dem ich die ganze Längsreihe der Urinale und Kabinen bis zur Tür überblicken konnte. Ich gab dem Araberjungen nur etwa eine Minute, wenn er dann noch nicht da war, wollte ich gehen, ihm vielleicht dorthin folgen, wohin er gegangen war, falls er noch zu sehen war. Ich tat, als betrachtete ich mich selbst im Spiegel, fuhr mir mit der Hand über meine kurzen blonden Haare, ertappte mich, wie ich tatsächlich schrecklich aufgeregt aussah, ein Fleck Rosa über den Wangenknochen, der Mund angespannt. Von der Treppe draußen kamen Schritte, langsam und schwer jedoch, begleitet von einem kurzatmigen Singsang, wortlos, Bariton. Eindeutig nicht mein Junge. Ich merkte, wie sich Enttäuschung mit einer Art Erleichterung mischte, und unbewusst hielt ich die Hände unter die Hähne, wechselte rasch zwischen dem Kalt und dem sehr warmen Warm. Ein älterer Mann war hinter mir erschienen, er dudelte noch immer vor sich hin, als wäre die Welt völlig in Ordnung, trat an die Urinale, wo er dann vorgebeugt stand, sich mit einer Hand, die das Kupferrohr vor ihm umfasste, abstützte und den mürrisch dreinschauenden Mann zu seiner Rechten freundlich anlächelte. Nach dem Handtuchspender suchend, drehte ich mich um, und während ich daran zog und der Apparat widerstrebend klickte, sagte der ältere Neuankömmling auf eine etwas fragende Art »Herrje aber auch« und fiel halb nach vorn, das Rohr noch immer im Griff, während seine Füße unter der Belastung durch den neuen Winkel sich auf der erhöhten Stufe, auf der er und die anderen standen, herumdrehten. Wie er nun halb mir zugewandt dastand, verlor er vollends den Halt und rutschte schwer zu Boden, wobei sein Kopf auf der Porzellantrennwand an der Seite des Abteils landete und seine kräftige, in Tweed gekleidete Gestalt auf dem feuchten Kachelfußboden ausgestreckt lag. Aus seinem Hosenschlitz ragte noch ein überraschend langer, seidiger Penis hervor. Er machte ein Gesicht, als hadere er mit sich selbst, als habe er gerade bemerkt, dass er etwas sehr Wichtiges vergessen hatte. Um seine Lippen bildete sich feiner Schaum, sein Gesichtsausdruck wurde eigenartig starr, die Wangen hatten eine wahrhaft blaue Färbung angenommen.

Der Mann, der neben ihm gestanden hatte, sagte »O mein Gott« und rannte hinaus. Die ganze Reihe der Urinale entlang wurden hastig Hosenläden geschlossen, und Gesichter, aus denen Betroffenheit und ein Gefühl des Ertapptseins sprach, drehten sich in meine Richtung.

Sofort hatte ich James vor Augen, wie er sich beschrieben hatte, auf langen Bahnfahrten über Leichen kniend, als Arzt, dem die Ehre gebot, Wiederbelebungsversuche zu machen, lange noch, nachdem es keine Hoffnung mehr gab. Auch erhaschte ich eben noch einen Blick auf den Araberjungen, wie er unter den knospenden Bäumen davonschlenderte, und dachte, wenn ich nicht dieser Fantasie erlegen wäre, steckte ich jetzt nicht in dieser Klemme. Dennoch glaubte ich zu wissen, was zu tun war, unter anderem weil mir unwillkürlich die Erste-Hilfe-Kurse am Schwimmbecken in der Schule einfielen, und ich kniete mich sofort neben dem Alten hin und schlug ihm hart auf die Brust. Die drei andern Männer standen daneben und durchliefen innerhalb von Sekunden eine beschämte Verwandlung vom Bummelanten zum Daumendrücker.

»Der hat sich hier nicht rumgetrieben, der hat gewusst, die Polente schnappt ihn, kaum dass sie ihn sieht«, sagte einer von ihnen und bezog sich dabei offenbar auf ihren Gefährten, der weggerannt war.

»Sollten Sie ihm nicht den Kragen öffnen?«, sagte ein anderer bedauernd und wohlformuliert.

Ich zog am Krawattenknoten und machte mit einiger Schwierigkeit den obersten Knopf auf.

»Er darf die Zunge nicht verschlucken«, erklärte derselbe Mann, als ich meine Brustschläge wiederholte. Ich wandte mich dem Kopf zu, legte ihn vorsichtig niedriger; er war schwer und rutschig in den dünnen silbrigen Haaren. »Schauen Sie nach, ob im Mund etwas verstopft ist«, hörte ich den Mann sagen – und, wie als Echo von den gekachelten Wänden, die Stimme des Sportlehrers in der Schule. Ich erinnerte mich, dass wir bei diesen Übungen nur längs des Kopfes des angeblich Verletzten ausatmen durften, statt unsere Lippen auf die seinen zu pressen, und welche Erleichterung und Enttäuschung dies auslöste, je nachdem, wen man als Partner hatte.

»Ich hole einen Krankenwagen«, sagte der Mann, der bisher noch nicht gesprochen hatte, wartete aber noch eine Weile, bevor er ging.

»Ja, der holt ’nen Krankenwagen«, bemerkte der erste Mann, nachdem dieser gegangen war. Er wusste über das Verhalten der andern gut Bescheid.

Der Patient hatte kein Gebiss, und auch die Zunge schien richtig zu liegen. Ich beugte mich hinab, sodass seine reglose Schulter gegen mein Knie drückte, ergriff mit zwei Fingern seine Nase, holte tief Luft und umschloss seine Lippen mit den meinen. Durch eine Drehung des Kopfes sah ich, wie sich seine Brust hob, und als er die Luft ausatmete, änderte sich deutlich seine Farbe. Mir wurde bewusst, dass ich nicht sofort erkannt hatte, dass sein Herz aufgehört hatte zu schlagen, und unwissend einem Gefühl gefolgt war, das sich als richtig erwiesen hatte. Erneut atmete ich in seinen Mund – ein eigenartiges Gefühl, intim und doch symbolisch, ich schmeckte seine Lippen auf unpersönliche und desinteressierte Weise. Dann massierte ich seine Brust mit festem, fast anstößigem Druck, eine Hand auf der anderen; und da war er auch schon wieder zum Leben erwacht.

Es war alles so schnell und unausweichlich abgelaufen, dass ich erst, als er regelmäßig atmete und wir ihn auf einen Mantel gelegt und ihm den Hosenladen zugezogen hatten, wie von einer Welle verzögerten Hochgefühls erschüttert wurde. Ich rannte die Treppe hinauf in die milde Sonne und wartete auf den Krankenwagen. Ich musste unablässig grinsen, und die Hände zitterten mir. Und dennoch war es zu früh, um zu begreifen. Ich hatte jemanden von der Schwelle des Todes zurückgezerrt, doch das schien in keinem Verhältnis mit dem einfachen Ablauf zu stehen, dem ich gefolgt war, der lebenswichtigen kleinen Übung, die ich mir zusammen mit all dem ungleich komplexeren Wissen aus der Kindheit bewahrt hatte, das sich nie als so nützlich erweisen würde – Konvektion, die Sonatenform, die lateinischen und französischen Namen von Vögeln.

Der Corinthian Club in der Great Russell Street ist das Meisterwerk des Architekten Frank Orme, den ich einmal bei meinem Großvater kennengelernt habe. Ich erinnere mich, wie hochtrabend und unpassend er sich aufführte, da er jüngst und wie aus Versehen in den Ritterstand erhoben worden war. Selbst als Kind hatte ich ihn als Schaumschläger und Melange gesehen, und ich freute mich, als ich dem Club beitrat und erfuhr, dass er ihn entworfen hatte, in dessen Architektur genau dieselben Eigenschaften zu entdecken. Wie Orme selbst, so ist auch das Gebäude mies und selbstgefällig; ein Paradox, das durch die bescheidenen Mittel des Clubs in den dreißiger Jahren und sein damit kollidierendes hohes Ziel bürgerlichen Pomps noch betont wurde. Geht man auf dem Trottoir vorbei, dann blickt man durch das Geländer auf einen Bereich, wo Dampf aus den Ventilatoren und den halb geöffneten Oberlichtern der Umkleideräume und Küchen tritt; man hört das Scheppern großer Speisetabletts, das Zischen von Duschen, das geistlose Selbstgefühl von Discjockeys aus dem Radio. Das Erdgeschoss ist streng gehalten, der Portland-Stein von grün gestrichenen metallgerahmten Fenstern durchbrochen; doch in der Mitte steigert es sich zu einem üppig geschwungenen Eingang unter einem unterbrochenen Ziergiebel, den zwei fein ausgearbeitete Figuren überragen – die eine ein gedankenschwerer Negroide, die andere ein genialer Weißer –, die zusammen ein Banner mit dem Motto »Männer Aller Nationen« halten. Bevor man diesem Ruf folgt, sollte man auf die andere Straßenseite gehen und die Stockwerke darüber betrachten. So sieht man deutlicher, dass das Haus einen Stahlrahmen besitzt, der mit Nischen und Pilastern aufgedonnert ist wie etwas faktisch Nacktes, das stümperhaft verhüllt ist. An der entfernteren Ecke sieht man eine ungeheure Anhäufung von Kartuschen und Voluten, die von einer Kuppel wie der einer riesenhaften Midland Bank gekrönt sind. Gelder und Eingebung waren damit offenbar erschöpft, und daneben, über dem zentralen Kranzgesims des Gebäudes, erhebt sich eine zweistöckige Mansarde mit den billigen Unterkünften, die der Club in der billigstmöglichen Bauform anbietet. Auf den kleinen hervorstehenden Dachgauben des unteren Mansardenstocks stellen die Bewohner des oberen ihre Milchflaschen kalt oder breiten Schwimmzeug zum Trocknen aus, ungeachtet der Taubengefahr.

Drinnen im Club herrscht eine leicht heruntergekommene Stimmung, zu bestimmten Zeiten drängt sich alles, dann wieder ist er eigenartig verlassen, wie eine Schule. Am Abend ist in der Eingangshalle ein ständiges Kommen und Gehen, man trifft sich oder trägt einander für Volleyballmannschaften oder Fitnesskurse ein. In der Halle begegnen sich die Welten des Hotels oben und des Clubs unten. Ich nahm immer die Treppe nach unten, deren Handlauf statisch aufgeladen knisterte, und ging den unterirdischen Korridor entlang zur Turnhalle, zum Kraftraum und der schäbigen Pracht des Schwimmbads.

Hier fühlte ich mich wohl, in dieser düsteren und funktionellen Unterwelt voller Leben, Zielgerichtetheit und Sexualität. Jungen ab siebzehn konnten dort in der stehenden, aphrodisischen Luft des Kraftraums an ihrem Körper arbeiten. Je älter man wurde, desto teurer wurde es einem, doch eine ganze Reihe Männer fortgeschrittenen Alters, Mitglied seit ihrer Jugend, die die welken Relikte gestählter Brustmuskeln zur Schau trugen, bezahlten nach wie vor den Preis und tapsten herein, um ein anerkennendes Auge auf die duschenden Jungen zu werfen. »Mit Bruderclubs in allen großen Städten der Welt«, deren Namen und Daten in Marmor unter der Büste des Gründers in der Halle eingraviert waren – so wurde der große Kern von Männern, die täglich trainierten, immer durch Besucher ergänzt, die einen Sprung ins Wasser brauchten oder eine Partie Squash oder einen Freund suchten. Mehr als einmal war ich in einem Zimmer des Hotels oben mit einem Mann gelandet, dem ich unter der Dusche zugelächelt hatte.

Der Corry stellte den Nutzen des Lächelns generell unter Beweis. Ein netter, schwerfälliger Mann lächelte mich dort an meinem ersten Tag an, sprach mich an, zeigte mir, was was war. Damals studierte ich noch und war ein wenig nervös, erahnte mit einer Mischung aus Furcht und Sehnsucht Szenen gnadenlosen Machismos und institutionalisierter Laster. Doch Bill Hawkins, eine Stütze des Clubs, wie ich später herausfand, um die vierzig, mit dem breiten Gürtel und dem geschlechtslosen Unterbauch des Gewichthebers, hatte einem Neuling lediglich Kameradschaft angeboten.

»Hallo, Will«, sagte er jetzt zu mir, als ich den Umkleideraum betrat und er grunzend und mit aufgerissenen Augen von einem Mammuttraining kam.

»Hi, Bill«, antwortete ich. »Wie geht’s?« Das war unser unvermeidlicher Austausch, in dem eine Spur von Scherz lag, da wir beide zwar den gleichen Namen hatten, eines unterschiedlichen Buchstabens wegen jedoch wegen völlig anders genannt wurden.

»Lange nicht gesehen«, sagte er.

»Nein, war wohl so einiges los bei mir«, deutete ich an.

»Das hört man gern, Will«, antwortete er und folgte mir durch das kleine Labyrinth der Spindreihen. Ich fand einen leeren, schmiss meine Tasche hinein und begann, mich auszuziehen. Bill stand daneben, freundschaftlich, massig, gerötet, Kopf und Schultern noch schweißüberströmt. Sein irgendwie gutes Aussehen ging in seinem schweren, kantigen Gesicht unter. Er setzte sich auf die Bank, von wo aus er artig reden und mir beim Ausziehen zuschauen konnte. Das war typisch für sein Benehmen, diskret und nie anzüglich: Sein Ethos war das altmodische einer Männergemeinschaft – Freude am Mann, aber stets mit Respekt und brüderlich. Ich wusste, er würde nie eine persönliche Frage stellen.

»Dieser Phil macht sich gut«, sagte er. »Sehr hübsche Form. Meinte, er sei ein bisschen schlaff, nachdem er ein Weilchen weg war, aber ich würde sagen, er hat allein diese Woche schon wieder ein, zwei Zentimeter zugelegt.« Phil, das wusste ich, war ein Junge, für den er etwas übrig hatte; ich hatte gesehen, wie er bei ihm stand und für ihn zählte, wenn er an den Geräten war, und weil Phil ein echtes Interesse an seinem Körper hatte, konnte Bill ihn immer in ernste Analysen von Methoden und Ergebnissen verwickeln. Ich sah auch, dass Phil, der schüchtern und stämmig war, ein kniffliger Fall sein könnte, und spürte bei ihm einen Widerstand gegen Bills fröhliches und väterliches Geplapper quer durch den vollen Duschraum.

»Phil ist schon in Ordnung«, meinte ich, »aber er ist einer von den Rundlichen: Er wird immer hart arbeiten müssen.« Ich zog mein T-Shirt aus, und Bill schüttelte den Kopf.

»Du könntest auch etwas mehr tun«, sagte er und sog scharf die Luft ein. »Du hast das Zeug zur richtig großen Klasse.« Ich schaute wie bescheiden an meinem schlanken Rumpf hinab, die glatten, festen Titten, die kleine Haarlunte, die zum Gürtel hinablief.

Das Schwimmbecken des Corry erreicht man von den Umkleidekabinen über eine Wendeltreppe. Es ist der unterirdischste Bereich des Clubs, dessen hohe kassettierte Decke den Boden der Turnhalle darüber trägt. Korinthische Säulen an jeder Ecke verweisen auf das alte Rom, und fast erwartet man, die handtuchgegürteten Gestalten von Charlton Heston und Tony Curtis in eine Senatsverschwörung vertieft zu sehen. Stattdessen schreitet ein gelangweilter Bademeister in Gummilatschen den schmalen Mosaikrand des Beckens ab. Das Wasser geht bis ungefähr zwei Zentimeter an den Rand, und jede Welle schwappt auf den Boden, der schimmert und, da er uneben ist, kleine kalte Pfützen aufweist. Vermutlich legt irgendeine Vorschrift fest, wie oft der Bademeister das Becken pro Stunde umrunden muss, denn er verbindet seine Wachsamkeit mit Ruhepausen auf den Zuschauerbänken und der Lektüre eines Buchs; wenn er so eine längere Zeitspanne gesessen hat, trabt er wieder ein, zwei Minuten um das Becken, als müsse er sein Pensum erfüllen. Mir ist kein Anlass bekannt oder wurde mir genannt, der seine Dienste erforderlich gemacht hätte.

Die Beleuchtung dieses schäbigen, würdigen unterirdischen Bades entspricht nicht seinem Dekor. Ursprünglich, wie auf alten Fotografien zu sehen ist, warfen verzweigte neoklassizistische Lampadarien ein breites Gleißen über das Wasser, während in den Ecken muschelförmige Kelche ein orangefarbenes Glühen an den pompösen Stuck der Decke strahlten. Noch bis vor Kurzem konnte man oben im Foyer eine Postkarte erwerben, die unmittelbar nach dem Krieg entstanden war und weiße junge Männer in den gewaltigen, leicht obszönen, unelastischen Badehosen von damals direkt vor dem Sprung zeigte, sowie die glatten Köpfe derer, die dies schon getan hatten, als Punkte auf den dicht gedrängten Bahnen. Auf der Rückseite las man: »Der Corinthian Club, London: Das Schwimmbecken (25 yards). 1864 gegründet, stammt das jetzige prächtige Gebäude, das eine Turnhalle, Gesellschaftsräume sowie 200 Zimmer für junge Männer beherbergt, aus dem Jahr 1935.« (James hatte sogleich erkannt, dass diese Erklärung in der abgehackten, optimistischen Art eines Wochenschausprechers gelesen werden musste.) Kürzlich war jedoch die Beleuchtung zusammen mit der Anschaffung von ein paar Dosen braunem Glanzlack und dem Ausspachteln einiger der Risse, die ein stetes leichtes Absinken und Verschieben des Bodens verursachten, neu gestaltet worden. Weg mit der gesunden Helligkeit von Sir Franks ursprünglicher Konzeption, her mit einer suggestiven Düsterkeit, in der helle Lichtlachen mit dem sie umgebenden Schatten kontrastierten. Kleine, schwache, in die Decke eingelassene Punktstrahler tauchen den Weg um das Becken nun in ein Schummerlicht wie im Kino und zeichnen die Gestalten, die sich an den Enden ergehen oder ausruhen, als Silhouetten, lassen sie schwarz erscheinen. Schwarze selbst werden in dem Bad nahezu unsichtbar, die einstmals heiteren marineblauen Kacheln machen es nun selbst mit Taucherbrille unmöglich, unter Wasser weiter als einen Meter zu sehen. Das leuchtende Weiß des traditionellen Schwimmbeckens wird hier auf perverse Art vermieden: Die Schwimmer tauchen ein und auf, ohne etwas voneinander zu bemerken, kreuzen sich bisweilen in den weichen Lichtkegeln.

All das lässt das Becken vom Rest der Welt entrückt erscheinen, doch wird der Eindruck durch die Lautsprecheranlage verwischt, die die ständige Musikberieselung – wochentags seichter Pop, sonntags Klassik – unterbricht, um Mitglieder ans Telefon oder zum Empfang zu rufen. Dabei hört man für gewöhnlich die affektierte Stimme Michaels, die Wörtern wie Gast und Benutzer die wildesten Andeutungen abringt. Diejenigen, die seine Art kennen, begrüßen jede Durchsage mit einer Freude, die der Neuling nicht teilen kann; in meiner ersten Woche im Club hatte die höhnische Durchsage, »Mr. Beckwith hat einen Mann in Empfang«, dummes Gekichere ausgelöst, während ich errötend die Turnhalle verließ.

Und im Becken ist viel Betrieb. Mit Ausnahme bestimmter trister Zeiten – früher Nachmittag, Sonntagabend – ist es voll: Freunde schwimmen um die Wette, geübte Springer tauchen fast ohne einen Spritzer ins Wasser, die Flinken umgehen die Langsamen, man sitzt zu Gruppen in einer tropfenden Reihe am Beckenrand, Füße schnipsen Wasser, durch die Kälte geschrumpfte Schwänze stehen komisch in der Hose. Täglich werden in diesen fünfundzwanzig Yards Meilen ernsthaft schwimmend zurückgelegt, und wenn auch einige zwischen den Längen tändeln, so erblickt man von den meisten nur das Auf und Ab von Brustschwimmerrücken, die beschlagenen Brillen und die japsenden, halb abgewandten Münder der Krauler, die unablässigen spaltenden Bewegungen ihrer Arme und das sprudelnde Kielwasser ihrer Füße.

Ich ging fast täglich schwimmen, manchmal nach Übungen auf der Matte in der Turnhalle oder einem eher kurzen Abstecher in den Kraftraum. Es war eine bizarre Beschäftigung, betäubend und dennoch befriedigend. Ich schwamm schnell, wechselte zwischen Kraul und Brust, legte alle zehn Bahnen einmal Delphin ein. Meine Gedanken zählten die täglich fünfzig Bahnen so automatisch wie ein Fotokopierer; und gleichzeitig schweiften sie. Derart versunken nahm ich kaum wahr, wie die halbe Stunde – eine unerbittliche Spanne reiner körperlicher Übung – verging. An diesem Abend dachte ich viel an Arthur, spulte wirkliche und eingebildete Gespräche in Gedanken ab, während ich Bahn um Bahn in dem kühlen, düsteren Wasser wendete. Eine Woche war seit unserer ersten Begegnung vergangen, eine Woche im Bett oder nackt und träge auf dem Weg vom Bett übers Bad in die Küche; unregelmäßiger Schlaf, Betrunkensein, Filme im Video sehen. Ich war von ihm gefesselt.

Dennoch war er mir noch immer fremd und weit weniger berechenbar als ich selbst. Vielleicht fühlte er sich in der Wohnung eingeengt. Nach Stunden leerer Muße, sprang er plötzlich auf und rannte von Zimmer zu Zimmer, dabei auf Türrahmen und Stuhllehnen klopfend. Manchmal pflügte er durch die Kanäle auf dem Hifi, bis er Musik zum Tanzen fand, fegte dann umher, nackt bis auf meinen Schulstrohhut oder ein Handtuch, mit dem er herumkokettierte oder das er wie einen Fetisch schüttelte. Ich durfte diese Tänze nicht mitmachen: Wie die kleinen Runden durch die Wohnung hatten sie eine eigene geheime Kinderlogik, und sich ihm zu nähern barg das Risiko, von seinen hin und her schwingenden Gliedmaßen gestoßen oder geschlagen zu werden. Dann hörte er auf und ließ sich übermütig auf mich aufs Sofa fallen, keuchte mir ins Gesicht, küsste mich, voll tollpatschiger Laune und Verlangen.

Wir waren uns so nah, dass es mich jedes Mal beunruhigte; wenn er in seine eigene Welt ausbrach: die plötzliche Trennung, ein gebrochener Bann, die leise Furcht, ihn ganz zu verlieren. Gelegentlich lachte er lauthals über etwas mäßig Witziges und lachte weiter, wobei er sich auf die Schenkel schlug und auf meinen verwirrten, verstimmten Gesichtsausdruck zeigte. Ich konnte nicht begreifen, woher dieses Lachen kam; es kam mir vor wie ein neuerer nihilistischer Teenagertick, für den ich schon zu alt war. In der Oxford Street oder der Tottenham Court Road hatte ich Kinder auf dieselbe kalte, schmerzliche, hilflose Art lachen sehen.

Es endete immer damit, dass ich das Zimmer verließ und er mir wenig später, plötzlich stumm, folgte. Dann näherte er sich mir mit starrem Blick und leckte, was ihm gerade am nächsten war. Dann war er nicht mehr die tote Seele aus der Spielhalle oder von der windigen Ecke, und ich hatte das unendlich anrührende Gefühl, ihn ganz fern der Menge zu haben, wenn er durch Clubs und Bars zog, auf der Suche nach seiner romantischen Bestimmung. Sein Fürsichsein bewegte mich, und ich wollte es in Sex ersticken und ihn ganz allein besitzen.

Am meisten außer Rand und Band war er, wenn wir tranken. Vor unserer Zeit hatte er seine Abende mit ein paar Dosen Cola und Bier verbracht, oder was ihm die Männer – schrecklich klangen sie, wenn er sie nostalgisch beschrieb – sonst spendierten, wenn sie ihn anquatschten. Jetzt aber war er täglich meinem unverdünnten Konsum von Wein, Whisky und Sekt ausgesetzt. Whisky nippte er voll Misstrauen, er hatte noch keinen erwachsenen Geschmack dafür, Wein aber mochte er, und Sekt kippte er hinunter, als wäre es Bier, rülpste fürchterlich und kicherte nach jedem Glas. Dann musste er mich unbedingt über seinen Zustand auf dem Laufenden halten: »Ich bin ein ganz klein wenig beschwipst, William«, sagte er fast sofort. Dann: »Will? Will? Man könnte mich beschickert nennen.« Und ein, zwei Gläser später: »Mann, bin ich breit, Mann.« Erst wenn er still wurde und in die Luft starrte, »wieder besoffen« murmelte, als erinnere er sich daran, wie eine Mutter einen Vater schilt, wurde er anders. Während wir uns umarmten und an uns herumschnupperten, stieß er mich auf Armeslänge von sich und blickte mir in die Augen und wiederholte etwas, was ich gesagt hatte. Manche Wörter schienen ihn zu amüsieren oder zu beleidigen, und er machte meine Aussprache in Gassenjungenmanier nach. »Aaschloch«, dehnte er. »Weg von meinem Aaschloch.« Oder wenn wir in der Küche hockten und quatschten und ich in meinem Tran ein Essen zauberte, unterbrach er mich mitten im Wort, tanzte herum und schrie: »Neinneinnein – hör doch, nein – ›Fotzehren‹«, und kriegte sich nicht mehr ein vor Lachen. Manchmal lachte ich dann gnädig mit und ahmte seine Mimikri, da ja keiner zuhörte, noch vornehmer nach. Manchmal packte ich ihn mir und gab ihm, was er verlangte.

Während der letzten paar Tage hatte ich dem Alkohol also etwas mehr zugesprochen, und es war umso schöner, dass ich Arthur dadurch lockern konnte, er aber nicht völlig außer Kontrolle geriet. Nie war es besser zwischen uns gewesen. Dennoch war die Erleichterung, wieder im Wasser zu sein, ungeheuer; als er am Morgen telefoniert hatte und mir sagte, er sei den Tag über weg, beteuerte etwas in mir: »In Ordnung.« Ich lieh ihm ein Hemd, vielleicht schenkte ich es ihm auch – rosa Seide, es stand seinem Schwarz nicht weniger als meinem Weiß –, küsste ihn keusch, sagte ihm, er könne zurückkommen, wann er wolle, und als er weg war, ging ich herum und öffnete die Fenster (es war ein kühler Frühlingstag). Ich bezog das Bett frisch und konnte es kaum erwarten, dass es Nacht wurde und ich mich einmal allein ordentlich ausschlafen konnte. Ich streckte und reckte Arme und Beine wie einer jener tuntigen Söhne des Morgens auf einem Stich von Blake.

Nach einer Weile erweiterte ich das Programm und jagte durch eine Serie Klimmzüge, Liegestütze und Sit-ups – und lechzte dann nach dem Becken. So zurückgezogen war mein Leben in der vergangenen Woche gewesen – nur unterbrochen von Fünf-Minuten-Gängen in den Laden an der Ecke, um Cornflakes, Konserven und Zeitungen zu holen –, dass ich die Menschenmassen auf dem Bahnsteig der U-Bahn mit der Beklommenheit und Verblüffung betrachtete, die einen befällt, wenn man gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden ist.

Tropfend und keuchend ging ich vom Becken in den Umkleideraum. Als ich die Schwingtür mit dem beschlagenen kleinen Fenster aufstieß, das wie in einem Restaurant Leute in Eile davon abhalten sollte, einander über den Haufen zu rennen, hörte ich das Zischen der überfüllten Duschen und spürte die warme, dichte Atmosphäre des Raums im Hals und auf der Haut. Ich schlenderte zwischen den beiden Reihen heißer Strahlen hindurch, deren Gischt auf den schwarzen Kacheln tanzte, die Richtung änderte und plötzlich abgeschnitten wurde, je nachdem, wie die Männer, nackt oder in Badehose, sich drehten, ein Bein an die Wand stützten und abseiften, sich klatschend auf den Bauch schlugen oder sich, wenn die Türen zur Außenwelt aufflogen, umwandten, um zu sehen, was für eine Schönheit hereingekommen war. Ich wechselte mit ein paar Kerlen, die ich kaum kannte, einen kurzen Gruß und wählte einen freien Platz zwischen einem blassen, schwer mitgenommen wirkenden Jungen, an dessen Armen sich Tätowierungen hochschlängelten, und einem riesigen dunkelbraunen Mann, an die zwei Meter groß, wie ich schätzte, sehr rund und schwer, mit einem gewaltigen kindlichen Gesicht und nicht einem Haar auf dem Kopf – oder wie ich bald wahrnahm, am ganzen Körper. Sein geschmeidiger, schwerer Schwanz, der auf einem festen, faltigen Hodensack gebettet lag, ragte unter einer Fettrolle hervor. Der Mann seifte sich kräftig ein, verteilte über die weiche, plumpe Fläche von Hintern und Bauch einen seidigen Film und sang dabei mit munterer Unbefangenheit. Ich nickte ihm zu, wie um ihm zu sagen, dass ich sah, wie gut es ihm ging, worauf er auf eine Art zurückgrinste, die ein liebevolles, ungestümes Gemüt verriet. Ich stellte mir vor, dass er mich so streichelte wie ein Golem ein kleines Mädchen, das ihm vertraut, oder mich aus Versehen zu Tode quetschte. Ich legte Seifenschale und Shampoo ab, ließ mir das Wasser auf die Schultern trommeln und blickte mich um.

Im Corry zieht man sich bei den Spinden aus und nimmt das Handtuch zu dem Laufrost am Ende des Duschraums mit. Oft haben die, die gerade vom Schwimmen kommen, noch die Badehose an, und mancher Hengst lässt noch ironisch eine spannungsgeladene Minute verstreichen, bevor er aufreizend lässig das Zugband aufknotet und sich aus dem winzigen Kleidungsstück schält, den Schwanz und die Eier in einem der alltäglichsten und atemberaubendsten Augenblicke überhaupt befreit. Ein, wie ich meinte, amerikanischer Kerl am andern Ende des Raums tat dies gerade; offen und adrett stand er da, schwer atmend und sich unter dem Wasser aalend, bevor er den Rücken zum Raum drehte und die glitzernde Hose löste, um einen festen, unbehaarten Arsch zu entblößen, milchweiß zwischen sonnen- oder sonnenbankgebräunten Schenkeln und Rücken. Ich selbst hatte noch meine lächerlich winzige Hose an und spürte, wie mein Schwanz gegen die Zwangslage protestierte, anschwoll und dabei schmerzte – wie nach dem Pochen, dem er jüngst ausgesetzt gewesen war.

Am Anfang hatte ich es immer peinlich gefunden, wenn ich unter der Dusche einen Steifen bekam. Doch im Corry lief viel bewusst aufreizendes Schwanzeinseifen ab, und etliche Mit-Glieder hatten hier ihre täglichen Routineerektionen. Auch die meinen waren, wenngleich weniger regelmäßig, wohl erhofft und beachtet. In der Zurschaustellung liegt eine paradoxe Stärke: Der Nackte ist gesellschaftlich stets im Vorteil gegenüber dem Bekleideten (wenngleich der Nackte dies vergessen kann, wie zahllose Farcen zeigen), und unter der Dusche war ich dreist.

Die Auswirkungen davon auf andere waren allerdings nicht unbedingt eine gute Sache. Es wäre sinnlos, so zu tun, als sähen alle Männer im Corry aus wie die Stars in einer Zeitschrift für Körperkultur. Es gab Götter – oder wenigstens Halbgötter –, doch ein Ort, der die Fantasien so vieler, Junger und Alter, bündelte, hatte zwangsläufig sein trauriges Netzwerk unausgesprochener Loyalitäten, verstohlener und übelgenommener Blicke, unschöner Züge und erniedrigender Vernarrtheiten. Dieses nackte Gemenge, das für das Clubleben ein ritualistisches Herz war, brachte seine ganz eigenen unpassenden Anreize für ideale Verbindungen und polyandrische Happenings, die in der Welt der Jacketts und Krawatten, Fahrradklammern und Dufflecoats nicht überleben konnten. Und wie schwierig gesellschaftliche Unterschiede unter der Dusche sind. Wie konnte ich jetzt meinen riesigen afrikanischen Nebenmann anlächeln, der elefantengleich auf meine Erektion antwortete, und dabei dem grauslichen Beinahe-Jungen, der sich unter dem Strahl nebenan eins grinste, einen finsteren Blick zuwerfen?

Ich lernte James in Oxford kennen; er hatte von mir gehört, während ich nichts von ihm wusste. Es war auf einer der kleinen Partys, die mein Tutor immer samstags zur Lunchzeit veranstaltete, mit Rot- und Weißwein und Nüssen – angenehme tuntige Anlässe, wo schwule Kaplane (das heißt also: Kaplane) und die aufgeklärteren Dozenten sich mit Studenten mischten, die wegen ihrer Reize oder ihrer Verbindungen eingeladen waren, während ein, zwei sehr alte und hervorragende Leute inmitten der stehenden Gäste saßen, Hof hielten und ihren Wein auf dem Teppich verschütteten. Ich war besonders von mir eingenommen: Ich fickte damals einen französischen Jungen vom Brasenose, es war ein heißer Frühsommer in meinem zweiten Jahr, und ich hatte das eigenartige Erlebnis, als ich in den dicht gedrängten Collegeraum trat, dass ich direkt hinter meinem Tutor und einem seiner Doktoranden stand, der gerade zu diesem sagte: »Ich hoffe, du hast den jungen Beckwith eingeladen; ich muss schon sagen, ich könnte mir denken, dass er dieses Jahr in voller Blüte steht …«, bevor ich sah, wie sich das Vergnügen des Doktoranden in errötendes Unbehagen auflöste. James stand in zerknittertem Leinenjackett, offenem Aertex-Hemd und ausgebeulter rotbrauner Kordhose am Fenster. Er wirkte sehr jung, unschuldig und dennoch reif, da ihm schon die blonden, dünnen Haare ausgingen. Im Gegensatz zu seiner Haut- und Haarfarbe waren seine Augen tiefbraun, und als mein Tutor uns vorstellte, sagte James: »Oh, sehr erfreut«, womit er Lust und Überraschung andeutete, und ich sagte in der groben Art, die ich damals toll fand: »Er hat wunderschöne Augen.«

Ich erröte, wenn ich daran denke, wie ich anfangs glaubte, James sei scharf auf mich, so sehr war ich in mich selbst verliebt. Ein paar Tage später begegneten wir uns bei einem Cricketmatch in den Parks (mein französischer Junge war launisch und feindselig geworden), tranken den ganzen Nachmittag lang Bier, hörten bis spät in die Nacht Wagner, und ich merkte, dass er meine Gesellschaft suchte und wir dieselben Ansichten über Jungen und Musik teilten. Wir erreichten den Zustand der Trunkenheit an der Stelle, wo Brünnhildes Opfergang nur etwa eine halbe Minute zu dauern scheint, obwohl jeder Takt noch immer eine wundervolle Offenbarung ist. Als er das Grammophon ausschaltete, aufstand und sagte: »Und nun musst du gehen, Darling«, war ich von Freundschaft ergriffen und insbesondere davon bewegt, dass er nicht wollte, dass ich blieb. Von da an trafen wir uns fast an jedem Tag unserer Studienzeit.

Heute Abend trafen wir uns im Volunteer, meiner schwulen Stammkneipe. Von außen ein wenig Jugendstil und weltstädtisch mit rätselhaft düsteren geätzten Fenstern, erwies sich das Volunteer nach katastrophalen Renovierungen als eine ewige Parabel der Enttäuschung. Eine kleine Bar im Hinterraum, beliebt bei den Älteren, hatte sich ein wenig Charakter bewahrt, alles andere aber war zu einer weiten Fläche verwüstet worden, die für das freitag- und samstagabendliche Gedränge der Suchenden erforderlich war. Runde Tische mit gehämmerten Kupferplatten reihten sich vor der lederbezogenen Bank, die an den Wänden entlanglief. Je nach Jahreszeit brannte ein Feuer im Kamin, dessen verstellbare Gasdüsen die synthetischen Scheite nicht zu entzünden vermochten. Wenn es an war, enthüllten die Flammen Hunderte von Zigarettenkippen, die achtlos hineingeworfen worden waren.

Am frühen Abend war das Pub am wenigsten anregend. Hartgesottene Stammkunden, die sich stundenlangem Warten ergeben hatten, standen an der Bar herum und schlugen die Zeit mit dem Evening Standard tot, arbeiteten sich durch ein Lagerbier nach dem andern, warfen Neuankömmlingen finstere Blicke zu und tauschten Grüße in einem Ton aus, der andeutete, dass es ziemlich schlimm stand. Und so war es auch. Das Volunteer war ein zweitklassiges Homopub, und während die Schönen und Edlen einander im King’s Cross oder der St. Martin’s Lane anmachten, hing über jenen eine Stimmung provinzieller Verwahrlosung. Es wirkte, während ich meine Flasche Guinness erstand und mich in eine Ecke verzog, wie der Wartesaal eines Bahnhofs an einer Nebenstrecke, wo der nächste Zug erst in einiger Zeit erwartet wurde.

Einer der Barkeeper, sehr dünn in sehr engen Jeans und mit einer kummervollen, aufgesetzten Art, streunte zur Tür und schaute auf den Bürgersteig hinaus, eine lusttötende Werbung für jeden potenziellen Trinker. »Fängt an zu regnen«, sagte er zu niemand Besonderem, als er wieder in die Bar trat. James hatte natürlich einen Schirm und trabte, sehr solide aussehend, wenig später herein. Er kam direkt aus der Praxis.

»Du siehst müde aus«, sagte er. »Zu viel Analverkehr, würde ich meinen.« Dann hob er, als sei er in der Praxis, meine Guinness-Flasche hoch: »Nehmen Sie dieses Tonikum zweimal täglich, und ruhen Sie sich ordentlich aus, dann haben wir Sie bald wieder auf den Beinen.«

Es war wunderbar, ihn zu sehen, obwohl er (schätzenswert selbstlos) ebenfalls müde aussah. Ich verkniff mir eine Bemerkung dazu, denn seine Überstunden und seine ungerecht langen Sprechzeiten bedrückten ihn und ließen ihn älter erscheinen. Er setzte sich mit seinem Glas neben mich, und ich fuhr ihm mit der Hand über den Kopf, der mittlerweile bis zur Mitte kahl war. Er lächelte und drückte mir einen Kuss auf den Wangenknochen.

»Wie geht’s den Kranken?«, fragte ich.

»Ach, ganz gut«, sagte er.

»Irgendwas Interessantes?« Die bizarren Dinge, die die Leute bei ihm im Sprechzimmer sagten und taten, waren für uns ein wesentlicher Gesprächsstoff.

»Eigentlich nicht. Die Frau mit den Steinen war wieder da. Und heute morgen hatte ich einen Burschen mit einem ganz ungeheuren Apparat.« James war besessen von großen Schwänzen, von denen ihm wohl viele in seiner Eigenschaft als Arzt durch die Hände gingen – allerdings allzu wenige, wie ich argwöhnte, nach Dienstschluss.

»Wie groß?«, erkundigte ich mich.

»Ooh …«, er zeigte mit den Händen wie ein Angler – »natürlich in schlaffem Zustand. Leider ein ganz unerträglich hässlicher Junge. Er war der Meinung, dass etwas damit nicht stimmte – also schickte ich ihn in die Klinik.« Er nahm einen langen Zug von seinem Bier. »Aber ein fantastischer Schwanz«, setzte er sehnsüchtig hinzu.

Ich kicherte. »Neulich wärst du stolz auf mich gewesen«, sagte ich, »als ich eine ganz heldenhafte Tat vollbrachte und einem schwulen Peer das Leben rettete.« Und ich erzählte ihm den Vorfall in der Klappe in Kensington Gardens. »Das ist nur dir zu verdanken, Darling«, sagte ich. »Ich habe mich daran erinnert, was du immer im Zug machst.«

»Ich bin stolz und beeindruckt«, sagte James. »Aber ein Lord – ein Baron, oder womöglich ein noch höheres Tier?«

»Kam mir wie ein Baron vor«, sagte ich – und mit einem dummen Grinsen: »Ein Viscount würde ja wohl nicht auf Klappe gehen …«

»Noch nicht«, erwiderte James bissig. »Hat er sich bei dir gemeldet?«

»Hat er nicht. Als der Rettungswagen eintraf, kam auch ein Mann und rannte herum und sagte: ›O Gott, Mylord‹ und dergleichen. Wir werden wohl nie erfahren, wer das war.« Ich schaute James an. »Und du machst so etwas jeden Tag. Mein Gott, ich würde mich danach immer herrlich fühlen …«

»Ja; das gibt sich, wenn dir das noch einmal passieren sollte, wirst sehen. Aber was ist mit diesem Jungen? Erzähl mir doch lieber davon.«

Ich musste James viele Stunden mit den gnadenlosen Erinnerungen jedes Details meiner sexuellen Begegnungen gelangweilt haben. Wenn ich sagte: »Gestern Abend habe ich einen verflucht schönen Mann getroffen«, war seine Reaktion oft: »Danke, ich will nichts davon hören« – auch wenn das wenigstens einer Zusammenfassung der wesentlichen Ereignisse nie ganz Vorbeugen konnte. Diese Routine war nun ein Scherz, wenngleich dahinter all seine Hemmungen, all die unerforschten Geheimnisse seines Intimlebens lagen. Auch dass er Arzt war, machte ihn bedachtsam und verlieh seinem Mangel an Abenteuerlust eine gewisse Autorität. Und selbst wenn ich wusste, dass er sich mit einem ausgetobt hatte, kam er nie von allein darauf zu sprechen, sodass einzelne Begebenheiten, die ich für die Ausnahme hielt, ebenso gut als typisch für ein gedeihliches Liebesleben interpretiert werden konnten. Irgendwie hatte er es unmöglich gemacht, dass man ihn direkt fragte.

»Was gibt’s dazu zu sagen?«, antwortete ich ausnahmsweise. »Eben die reine Wonne, endloses Ficken, Lecken, Sauen.«

»Er ist also dumm.«

»Jedenfalls ist er kein Einstein.«

»Worüber redet ihr denn dann die ganze Zeit?«

»Weiß ich auch nicht. Wir haben so eine Art Babysprache – nur dass alle Wörter unanständig sind – und kichern viel und loben ansonsten das Aussehen des andern. Eines Abends waren wir im Testudo essen, und das Gespräch wurde etwas seicht. Und dann tat ich etwas ziemlich Schlimmes.« In gespielter Bestürzung senkte ich den Blick.

»Sag’s nicht.« Er fixierte mich streng. »Doch nicht etwa Massimo?«

»War das nicht ganz abscheulich von mir? Aber ich musste ihn haben …«

»Mein Gott!«, heulte James auf. »Was bist du nur für ein Schwein. Wie hast du das bloß geschafft? Ich will es gar nicht wissen.«

»Wir sind einfach hinten raus, nicht aufs Klo, sondern in diesen Hinterhof da mit den Kästen. Und ganz schnell.«

»Und der arme kleine Dingsbums?«

»Arthur? Ach, der saß ganz verträumt und ahnungslos da und wartete auf mich. Massimo hat dann sogar noch gesagt, er wolle ihn auch, aber das war mir dann doch zu viel.«

»War es so, wie wir es uns immer vorstellten?«

»Mhm. Ziemlich. Alles à la carte; Riesenportionen.« Ich geierte hilflos. »Aber ich würde es auch mal probieren – bei dem kommt bestimmt jeder …«

»Ich danke!«

»Aber nein, da gibt’s bestimmt keine Probleme.«

»Aber es heißt doch, Kellner …«, murmelte James in erstickter Erregung. »Ach ja, wie ist denn so Arthurs … Glied?«

»Ganz wunderbar. Vielleicht nicht ganz dein Geschmack – kurz, gedrungen, gnadenlos beschnitten und unglaublich elastisch und voller Charakter.«

James ließ eine Pause entstehen, in der die Leidenschaft meines Zeugnisses fast an Peinlichkeit grenzte, und sagte dann: »Dann liebst du ihn also, oder?« Ich trank einen verschriebenen Schluck Guinness.

»Das kann eigentlich nicht sein«, räumte ich ein. »Wir könnten uns nicht zusammen Idomeneo anhören und uns dabei seelisch tief verbunden fühlen. Es darf nur Verliebtheit sein. Manchmal glaube ich, ich kenne ihn überhaupt nicht, was der Sache einen ungeheuren Kick gibt. Und dann sind ja Holland Park und meine Wohnung für ihn eine vollkommen neue Welt. Er lebt mit seiner ganzen Familie in einer Mietskaserne. Ich habe ihn gefragt, ob sich seine Mutter keine Sorgen mache, wo er sei, aber er meinte, er komme oft nachts nicht nach Hause. Sie haben kein Telefon, deshalb kann er ihnen auch nicht Bescheid sagen. Aber ich glaube, er ist heute wieder hin – musste zum Arbeitsamt. Aber« – und damit kam ich zum Punkt – »du hast völlig recht: Es kann nicht so weitergehen. Ich will es eigentlich auch nicht – es war eben nur eine himmlische Woche.«

Wir bummelten unter James’ Schirm zum Westbourne Grove. Was mich an James ein wenig langweilte, war unter anderem, dass er Vegetarier war – mit ihm Essen zu gehen bedurfte einer sorgfältigen Planung. Schließlich aßen wir dann ein köstliches Belpoori, das fast nichts kostete und von einem Jungen serviert wurde, den James mit einer ganz neuen Dreistigkeit beäugte, während draußen der Regen niederprasselte. Vielleicht ließ der Regen unsere Gedanken zurückschweifen, zu schönen Zeitgenossen aus Oxford und wie sie Banker geworden waren oder einen Bauch bekommen oder geheiratet hatten.

Es regnete noch, als wir gingen, und so unterdrückte ich meine Vorliebe für die U-Bahn und winkte mir ein freies Taxi, das herangefahren kam. Der Fahrer wirkte unbeeindruckt, als ich James einen recht ostentativen Abschiedskuss gab und ihm dabei mit der Hand über den Hintern strich. Er war so liebenswert, schüchtern, männlich, ich begriff nicht, warum er nicht mehr und öfter Verehrer hatte. Aber wenn ich es nicht sein konnte, dann gab es vielleicht einen Grund, warum andere es auch nicht sein konnten: Er strahlte nicht genügend Sex aus, sein Geschmack war zu fein für die Ex-und-hopp-Welt der Clubs und Bars. Wir hatten ein-, zweimal zusammen geschlafen, uns aber beide nicht ganz gelöst gefühlt, und so passierte nicht mehr als Küssen und Kuscheln.

»Bis dann, wenn das alles vorüber ist, Darling«, sagte ich und schlüpfte aus dem Schutz seines Schirms ins Taxi, wobei ich, was ich instinktiv immer mache, auf die Hand des Fahrers am Lenkrad blickte, ob er einen Ehering trug. Ich hatte schon schöne Erlebnisse mit Taxifahrern gehabt, und selbst Heteros konnten solche Tiefen der Frustration erreichen, wenn sie so in ihrem Taxi festsaßen und Tag für Tag Hunderte von Meilen abspulten, dass sie gern auf eine halbe Stunde hereinkamen und Zoten rissen, oder man konnte ihnen ein Video zeigen und ihnen einen lutschen. Der hier allerdings führte nicht in Versuchung und schien wie verwachsen mit seiner dicken fetten Taxikiste.

Als wir die belebten, von Geschäften erhellten Straßen hinter uns ließen und in die exklusive Ruhe von Holland Park einbogen, gähnte ich und blickte voll Vergnügen auf die verlassenen Gehwege, die glitzerten, wo eine Straßenlampe stand, die überhängenden knospenden Bäume in den Vorgärten, die gedankenlose Stabilität, die der Reichtum den kleinen Villen dahinter gewährte, in denen gelegentlich durch ein Fenster – die Vorhänge zuzuziehen erachtete man als unnötig – Bücher sichtbar wurden, die bis zum Deckenstuck reichten, oder Gestalten, die sich mit Gläsern in der Hand bewegten, diskrete Beleuchtung, die Bilder in mattgoldenen Rahmen hervorhob.

Ich bezahlte den Fahrer am Tor und lief über den kurzen Kiesweg zur Seitentür des dunklen Hauses, die zur Treppe zu meiner Wohnung führte. Eine kleine Lampe glomm darüber, und die Nässe tröpfelte von den kahlen Zweigen der Kletterpflanze, die den zurückgesetzten Eingang einrahmte. Mein Herz tat einen Sprung, als ich im Schatten auf dem Boden eine zusammengesunkene Gestalt sah, die dort Schutz vor dem Regen suchte.

In einen Ton irritierter Humorigkeit verfallend, sagte ich: »Arthur, was zum Teufel tust du denn hier?«

»Mensch, ich dachte schon, du kommst nie«, sagte er mit angespannter Stimme und schniefte kräftig. »Ich wart hier schon ’ne Ewigkeit.«

»Aber ich wusste doch nicht, dass du heute Abend noch kommen würdest.«

Statt einer Antwort erhob er sich und kam auf mich zu. Ich spürte seinen schweren Atem auf dem Gesicht und den Ärger, dass er da war, wahrscheinlich, weil er mir einen Schrecken eingejagt hatte. Er packte mich mit seinen langen, kräftigen Händen an den Oberarmen und drückte sich an mich. Der Regen fiel auf uns herab, aber als ich die Hände hob, um ihn zu umarmen, merkte ich, dass er schon völlig durchnässt war; die feuchten Sachen, die sein Körper wärmte, verkühlten ihn gleichzeitig.

»Baby, du bist ja ganz nass«, sagte ich in einem praktischen Ton. »Du hättest sagen sollen, dass du kommst.« Ich löste mich von ihm und tastete nach den Schlüsseln. »Komm rein, und zieh alles aus«, rief ich, während ich mich an den Gedanken gewöhnte, dass er wiedergekommen war; dass er nicht wegbleiben konnte, ließ mich nicht unbewegt. Ich trat an ihm vorbei und schloss die Tür auf, schaltete das Licht an und ging durch den Flur zum Fuß der Hintertreppe. Er zögerte, kam dann auch herein, seine Füße quatschten in den durchweichten Turnschuhen, und stieß die Tür zu.

Ich wandte mich ihm mit einem Lächeln wieder zu, schon voll mütterlicher Zuneigung. »Baby«, wisperte ich … »Mensch, was hast du denn da gemacht.« Er schniefte und fuhr sich mit dem Handrücken über Nase und Mund. Er zuckte unter dem Licht zusammen. Über seine rechte Wange zog sich ein breiter Schnitt, der verkrustet und blutverschmiert war. Eine purpurne Patina aus Blut zeichnete sich an seinem schwarzen Hals ab. Das rosa Seidenhemd, das ich ihm gegeben hatte, war oben rechts unter der schmuddeligen alten Strickjacke blutgetränkt, die frische Farbe lief durch den regennassen Stoff aus. Wieder verspürte ich die Angst, unwissentlich in etwas Schlimmes verwickelt zu sein. Er hatte etwas Abstoßendes, Nachlässiges an sich, seine Nase war mit blutigem Rotz verstopft und seine Augen müde geweint (auch wenn er diese Schwäche mit einem rebellischen Blick zu überspielen suchte). Dabei war er jedoch völlig hilflos: Alles an ihm verlangte nach Hilfe.

Wir gingen nach oben. Ich war erleichtert, dass niemand im Hauptteil des Hauses war. Er folgte mir matt, der nasse Kord scheuerte an seinen Schenkeln; hastig blickte ich an der Treppenkehre hinab und sah seine verschmierten braunen Fußspuren auf dem Teppich.