Die Sekunde zwischen dir und mir - Emma Steele - E-Book
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Die Sekunde zwischen dir und mir E-Book

Emma Steele

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Beschreibung

Ein Paar. Eine Autofahrt. Ein bevorstehendes Unglück – ist ihre Liebe stärker als die Zeit? »Die Sekunde zwischen dir und mir« ist ein außergewöhnlicher Liebesroman, der sich wie ein Puzzle aus Erinnerungen zusammenfügt und eine bewegende Frage stellt: Wie stark ist die Verbindung zwischen Leben, Tod und Liebe? Robbie ist glücklich, dass Jenn nach acht Monaten Trennung wieder bei ihm ist. Zwei Mal drückt er ihre Hand – ihr geheimer Code für »Ich liebe dich«. Doch dann dreht Jenn sich zu ihm und sagt: »Ich muss dir etwas sagen.« In dem Moment starrt Robbie in die Scheinwerfer eines LKWs, der in ihr Auto zu krachen droht. Im nächsten Moment findet er sich als Zuschauer auf einer Reise durch Jenns wichtigste Erinnerungen wieder. Kann er so herausfinden, was acht Monate zuvor wirklich passiert ist? Und wenn er es weiß, kann er dann verhindern, was gleich geschehen wird – oder bereits geschehen ist? Tragisch, hochspannend und tief bewegend erzählt die schottische Autorin Emma Steele in ihrem Liebesroman eine Geschichte, die Leser*innen von »Zwei an einem Tag« oder »Die Frau des Zeitreisenden« und Fans von Filmen wie »Sliding Doors« begeistern wird.

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Emma Steele

Die Sekunde zwischen dir und mir

Roman

Aus dem Englischen von Simone Jakob, Nadine Alexander und Christina Kuhlmann

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Robbie ist glücklich, dass Jenn nach acht Monaten Trennung wieder bei ihm ist. Zwei Mal drückt er ihre Hand – ihr geheimer Code für »Ich liebe dich«. Doch dann dreht Jenn sich zu ihm und sagt: »Ich muss dir etwas sagen.« In dem Moment starrt Robbie in die Scheinwerfer eines Lkws, der in ihr Auto zu krachen droht. Im nächsten Augenblick findet er sich als Zuschauer auf einer Reise durch Jenns wichtigste Erinnerungen wieder. Kann er so herausfinden, was acht Monate zuvor wirklich passiert ist? Und wenn er es weiß, kann er dann verhindern, was gleich geschehen wird – oder bereits geschehen ist?

Inhaltsübersicht

WIDMUNG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

VIERUNDDREISSIG

FÜNFUNDDREISSIG

SECHSUNDDREISSIG

SIEBENUNDDREISSIG

ACHTUNDDREISSIG

NEUNUNDDREISSIG

VIERZIG

EINUNDVIERZIG

ZWEIUNDVIERZIG

DREIUNDVIERZIG

VIERUNDVIERZIG

FÜNFUNDVIERZIG

DANKSAGUNG

QUELLENHINWEIS

Leseprobe »Café Leben«

Für Ben, Flora und Daisy

EINS

2019
JENN

Wenn er in diesem Moment ihre Gedanken lesen könnte, wüsste er, wie viel ihr das hier bedeutet. Einfach nur mit ihm im Auto zu sitzen. Durch das beschlagene Fenster schaut sie hinaus in die Dunkelheit, wo Häuser und Straßenlaternen wie in einem verschwommenen Film an ihr vorbeiziehen. Sie wischt die Scheibe mit der Hand bis auf einen Fleck in der Mitte sauber. Ihr Spiegelbild lächelt sie geisterhaft an.

Und auf einmal ist es wieder da, dieses schreckliche, flaue, mulmige Gefühl in der Magengrube.

Hastig schaut sie zu Robbie hinüber, lässt den Blick von seinen kräftigen Händen auf dem Lenkrad zu den rauen Bartstoppeln und den zerzausten dunklen Haaren hinaufwandern. Er war ihr immer zu groß für den beengten Wagen vorgekommen – wie ein Clown in einem Spielzeugauto, dessen Knie fast das Armaturenbrett verdecken. Auf eines dieser Knie legt sie jetzt die Hand, versucht, sich nur auf ihn zu konzentrieren, auf die Liebe, die sie für ihn empfindet. Gut, dass sie zurückgekommen ist.

»Warum lächelst du?«, fragt er leise, legt seine Hand auf ihre und drückt zweimal – genau wie früher. Ich liebe dich.

Sie lehnt den Kopf zurück. »Nur so. Weil ich glücklich bin«, sagt sie lächelnd.

Erinnerungen wirbeln ihr durch den Kopf: wie sie einander vor fünf Jahren zum ersten Mal begegneten, sich verliebten, zusammenzogen.

Tausend wunderbare Momente, die in ihr aufsteigen wie Seifenblasen. Auch andere Erlebnisse kommen ihr kurz in den Sinn, doch die schiebt sie beiseite. Sie sind nicht mehr von Bedeutung.

Die letzte Nacht, ihre erste gemeinsame nach acht Monaten der Trennung, hätte schöner nicht sein können. Wie er im Türrahmen stand, der beinahe ungläubige Blick in seinen Augen, sein vertrauter Geruch. Einen kurzen Moment hatten beide gezögert, dann ließ er die Hände über ihre Haut gleiten, presste seinen Mund auf ihren, und sie taumelten ins Schlafzimmer und rissen sich ungeduldig die Kleider vom Leib, fieberhaft, wie berauscht, als wären sie nie getrennt gewesen. O Gott. Sie fühlte sich wieder wie damals, als sie sich kennengelernt hatten: fünfundzwanzig und trunken vor Liebe.

Später, als sie nebeneinander im Dunkeln lagen, hatte er ein kleines Geschenk hervorgekramt – ein Tütchen Jellybeans. Sie hatte den Kopf auf seine Brust gelegt und gelacht. Oh, Jellybeans! Was hatte ihr diese Geste bedeutet, selbst wenn sie keine Ahnung hatte, wie es mit ihnen weitergehen sollte!

Das quälende, bohrende, nagende Gefühl im Magen ist zurück. Sag ihm die Wahrheit.

»Wie war’s bei der Arbeit?«, erkundigt er sich, und sie muss lächeln.

Es geht ihr gut. Alles kommt wieder in Ordnung.

»Prima, alles bestens«, sagt sie und nickt entschlossen. »Es ist schön, zurück zu sein.«

Sie hatte die Arbeit als Ärztin vermisst, das Gefühl, gebraucht zu werden, ihr Gehirn so einzusetzen, wie sie es gelernt hat. Es hatte sich komisch angefühlt, all dem, wenn auch nur vorübergehend, den Rücken zu kehren.

Der Wagen wird langsamer, als sie auf eine Kreuzung zusteuern, und Jenn blickt zum Edinburgh Castle hinauf, das in der Ferne imposant auf einem Felsen thront. Sie findet es schön, dass man es aus jedem Winkel in der Stadt sehen kann, wie einen Leuchtturm auf einer Anhöhe. Der Motor vibriert, und der Wind peitscht gegen die Windschutzscheibe.

»Totale Anarchie wie immer?«, fragt er grinsend.

Sie lacht, als sie die vertrauten Worte hört. »Oh, ja, totale Anarchie. Muss ich dir ja nicht erzählen.«

»Die können von Glück sagen, dass du wieder da bist«, sagt er. »So wie ich.«

Sie mag, dass er immer geradeheraus sagt, was er denkt. Egal, worum es geht, egal, ob es gut oder schlecht ist. Ihr dagegen ist es immer schwergefallen, über Dinge zu sprechen, die sie bedrücken. Das Allerletzte, was sie will, ist, andere mit ihren Problemen zu belasten. Bemitleidet zu werden.

Aus ihrem Rucksack erklingt ein Piepton, und sie zieht ihr zerkratztes Smartphone aus dem Seitenfach. Kaum hat sie den Bildschirm entsperrt, hat sie das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Nein, nein, nein, doch nicht jetzt. Noch nicht.

Ihr Herz hämmert in ihrer Brust.

O Gott. Verzweifelt wünscht sie sich, die Ampel würde endlich auf Grün umspringen, damit sie weiterfahren können. Sie spürt, wie Panik sie überkommt, wie das Blut kribbelnd durch ihre Adern rauscht. Sie stehen ganz vorn an der Kreuzung, und die Zeit scheint einen Augenblick lang stillzustehen.

»Es ist grün«, sagt sie, den Blick auf den grell leuchtenden Kreis über ihnen gerichtet. Ihre Stimme klingt selbst in ihren eigenen Ohren schrill, und sie merkt, wie sich ihr Daumennagel in ihre Handfläche bohrt.

»Alles okay?«, fragt Robbie, während er Gas gibt und der Wagen mit einem Ruck anfährt, die Kreuzung überquert und die Einfallstraße in Richtung Stadt erreicht. Gleich sind sie zu Hause, und sie kann raus aus dem Wagen. Der Gedanke beruhigt sie, gibt ihr ein Gefühl von Frieden. Sie stellt sich vor, wie sie am Wochenende in den Pentlands wandern gehen, wo sie schon so viele glückliche Stunden miteinander verbracht haben, und sich von der schroffen Hügellandschaft den ganzen Tag in ihren Bann ziehen lassen. Sie denkt an Ginster und Heide und den schottischen Himmel, dessen ewiges Wetter-Roulette-Rad sich über ihnen dreht.

Ihr Herzschlag setzt für den Bruchteil einer Sekunde aus, und sie schließt die Augen und wünscht sich, diesen Moment einfach auslöschen zu können. Dann scheint eine Fremde, die ihr Leben zerstören will, die Macht über ihren Körper zu übernehmen und sie zum Sprechen zu zwingen.

»Ich muss dir etwas sagen.«

Es ist, als würde alle Luft aus dem Fahrzeug gesogen, und kurz fragt sie sich, ob Robbie sie überhaupt gehört hat.

»Was denn?«, fragt er, sichtlich verunsichert von ihrem plötzlichen Stimmungsumschwung.

»Vielleicht sollten wir lieber warten, bis wir zu Hause sind.«

»Womit? Stimmt was nicht?«

Sie bringt keinen Ton heraus. Seine Anspannung ist fast mit Händen greifbar.

»Was ist denn los?«, will er wissen. Er klingt so besorgt, dass sie Mühe hat, nicht die Fassung zu verlieren. Ihre Wangen brennen, und als sie die Augen öffnet und den Blick senkt, sieht sie, wie ihre Beine zittern.

Gleich sind sie an der nächsten Kreuzung, hoffentlich bleibt die Ampel grün. Lass uns einfach weiterfahren. Bitte lass es nicht rot werden. Sie schielt verstohlen zu Robbie hinüber. Verkrampft umklammert er das Lenkrad, den Blick starr geradeaus gerichtet. Als sie sich der Ampel nähern, springt sie auf Gelb um, doch es ist schon zu spät, um noch sicher bremsen zu können. Dunkelgelb, hätte Robbie vermutlich an einem anderen Tag geflachst, als sie über die Kreuzung schießen. Sie spürt, wie er zu ihr herüberschaut. Im selben Augenblick nimmt sie eine Bewegung auf der Straße wahr. Irgendetwas schlittert von der anderen Seite auf ihre Spur herüber, Scheinwerfer rasen auf sie zu …

ZWEI

1999
JENNY

Ihre neuen silberfarbenen Gummistiefel glitzern im Sonnenlicht, als würden sie ihr zublinzeln. Schillernd wie Fische. Sie lächelt und spürt, wie eine kühle Brise ihr über das Gesicht streicht. Der geriffelte Sand unter ihren Füßen gleicht sich windenden Schlangen. Sie fand schon immer, dass der Meeresboden bei Ebbe komisch aussieht. Als hätte er vergessen, sich was anzuziehen.

Als Jenny aufschaut, ist es so hell, dass sie die Augen zusammenkneifen muss, um die Wellen in der Ferne zu erkennen. Möwen gleiten zwischen Schäfchenwolken hindurch, und die salzige Luft prickelt ihr in der Nase. Sie legt die Hand über die Augen. Auf ihren Schultern lastet das Gewicht mehrerer Schichten Kleidung – die kratzige Fleecejacke unter dem beerenroten Anorak, beides viel zu weit für sie. Ihr Vater kauft ihre Sachen immer zu groß – zum Reinwachsen, wie er sagt. Die Nachmittagssonne scheint auf Jennys erhobenen Arm, doch die Hitze ist genauso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen ist. Gleich darauf peitscht ihr der Frühlingswind die Haare vor die Augen und schneidet die Welt in Streifen.

Weiter hinten liegt Cramond Island, ein einsamer braungrüner Fleck, der aussieht, als wäre er eines Tages zu weit hinausgewatet und einfach stecken geblieben. Jetzt, bei Ebbe, kann man tatsächlich hinübergehen – ihr Vater sagt, die Insel ist eine von siebzehn, die man vom schottischen Festland aus zu Fuß erreichen kann. Er weiß eine Menge solcher Dinge. Sie fragt sich, wie es hier wohl nachts aussieht und ob weiß gekleidete Gespenster am Ufer umherspuken. Vielleicht wird sie es eines Tages herausfinden.

»Jenny, komm mal her!«, ruft eine Stimme. Sie dreht sich um und sieht ihre Mutter neben zerklüfteten Felsen stehen, die Haare vom Wind durcheinandergewirbelt, während sie Jenny mit begeisterter Miene zu sich winkt. Sie trägt ihren langen grünen Mantel und die zu großen Gummistiefel. Sie sieht lustig darin aus, als hätte ein Kind die Kleidung eines Erwachsenen angezogen. Jenny greift nach ihrem Eimer. Jakobs- und Steckmuscheln klappern in dem knallgelben Plastikbehälter, als sie zu ihrer Mutter hinüberrennt. Ihre Füße machen schmatzende Geräusche im Schlamm, und der Wind pfeift in ihren Ohren. Ihre Mutter beugt sich vor und betrachtet etwas.

»Was ist das?«, fragt Jenny, als sie vor dem mit klarem Wasser gefüllten Tümpel stolpernd zum Stehen kommt, einem wie hundert anderen, in die sie schon gemeinsam geschaut haben. »Was hast du gefunden?« Ob es ein Seeigel ist oder vielleicht ein Schleimfisch – oder eine Seenadel? So aufgeregt, wie ihre Mutter ist, muss es etwas Besonderes sein. Sie gehen an diesen Strand, solange sie zurückdenken kann, und sie ist immerhin schon zehn. Sie kennt alle möglichen Lebewesen, die in Gezeitentümpeln leben: die Wellhornschnecke mit ihrem geschwungenen Haus, den sich schillernd dahinschlängelnden Seeringelwurm und natürlich die Stammgäste, die Anemonen und Strandschnecken. Im nächsten Moment sieht Jenny, was sich da durch das eiskalte Wasser schlängelt.

»Ein Schlangenstern«, haucht sie und beugt sich vor, die Hände auf die Knie gestützt. Lange, krakenartige Arme recken sich aus dem Wasser, als die seltsame Kreatur beginnt, sich über das Felsgestein zu ziehen. Sie sieht vertraut aus, doch Jenny kennt sie nur aus ihren Tierbüchern.

»Genau der richtige Platz dafür, oder?«, sagt ihre Mutter.

»Aber hat Dad nicht gesagt, hier an der Ostküste gibt’s keine?«

Aus der Hocke heraus schaut ihre Mutter in Richtung Wasser, auf das der Schlangenstern mit seinen sich hektisch windenden Gliedmaßen offensichtlich zusteuert. Sie lächelt, die Wangen rosa wie Kaugummi, Lachfalten um die Augen.

»Vielleicht hatte er einfach Lust auf ein Abenteuer.«

Ihre Mutter hält kurz inne, dann beugt sie sich zur Seite und hebt das leere Gehäuse einer Kaurischnecke auf. Sie wischt den Schlamm ab und lässt es scheppernd in einen königsblauen Eimer fallen.

Jenny schaut sich um und erspäht ihren Vater ein Stück weiter oben am Strand. Er kniet im Sand, der dort fester ist, und hat den blauen Pullover hochgekrempelt, sodass man seine behaarten Arme sieht. Während er den Boden um sein neuestes Bauwerk festklopft, flattern seine Haare im Wind wie die Ohren eines Hundes. Jenny rennt die kurze Strecke von ihrer Mutter zu ihrem Vater, spürt, wie die Energie durch ihre Beine, ihre Arme bis in ihre Fingerspitzen strömt. Links von ihnen, hinter der Promenade, befinden sich grasbewachsene Hügel. Perfekt zum Runterrollen im Sommer. Ein Spaziergänger kommt mit einem Hund vorbei, aber sonst sind sie allein. Das passiert nicht oft. Heute gehört der Strand ganz ihnen.

Vor ihrem Vater erhebt sich eine liebevoll gestaltete Burg inklusive Türmchen, Zugbrücke und tiefem Graben ringsherum. Sie ist riesengroß und ein echtes Meisterwerk. Bei der Arbeit entwirft ihr Dad richtige Häuser und Gebäude und andere Sachen, deren Pläne sie in seinem unordentlichen Arbeitszimmer gesehen hat. Hier baut er einfach drauflos, damit Jenny ihm am Ende eine Note geben kann.

»Na, wie lautet das Urteil?«, fragt ihr Vater, und sie schaut lächelnd zu ihm auf – er hat buschige Augenbrauen, und seine Ohren sind zu groß, genau wie ihre.

Sie geht ein paar Mal um die Burg herum und bleibt dann abrupt stehen, den Finger an die Lippen gelegt. »9,6«, befindet sie mit verschränkten Armen und einem Nicken. Das Zucken seiner Mundwinkel verrät, dass er sich freut. Sagen würde er es nie. Er redet nicht viel – im Gegensatz zu den Vätern ihrer Freundinnen, die alberne Witzchen reißen und ihre Stimmen verstellen. Und im Gegensatz zu ihrer Mutter. Jenny sieht zu, wie er sich die Hände an seiner Cordhose abwischt, harte Sandkörner auf weichem Stoff. Irgendwie sehen seine Hände danach noch sandiger aus. Sie hätte am liebsten losgeprustet, und ihr schießt der Gedanke durch den Kopf, wie sehr sie ihn liebt.

»Marian!«, ruft er in den Wind, und Jenny dreht sich um. Ihre Mutter lächelt zu ihnen herüber. Er winkt ihr kurz zu, und Jenny weiß, dass sie gleich nach Hause gehen. Dann gibt es heißen Johannisbeersaft, und wenn sie Glück hat, bekommt sie noch einen Schokoladenkeks dazu. Ihre Mutter wird ihr später einen weiteren Keks zustecken, wenn ihr Vater nicht hinsieht. Er bereitet das Abendessen zu, während ihre Mutter die Muscheln in der Spüle abwäscht und das Licht der untergehenden Sonne, das durchs Fenster fällt, ihre Haare in einem sanften Rot leuchten lässt.

Dad geht rechts von ihr, Mum links, und sie verabschieden sich von der Sandburg und vom Strand und nehmen Kurs auf das Felsenmeer. Jenny lässt sich Zeit und springt von Stein zu Stein. Dazwischen lauern Krokodile, und sie muss aufpassen, dass sie nicht in ihre Mäuler mit den scharfen Zähnen fällt. Happs. Sie kann ihre Spitzen durch die Gummisohlen spüren, schafft es jedoch, das Gleichgewicht zu halten. Eines Tages wird sie Orte wie in den Büchern besuchen, wo es Dschungel gibt und reißende Flüsse – und Berge erklimmen, die so hoch sind, dass sie in den Wolken verschwinden.

Als sie die Promenade erreichen, blickt Jenny zurück auf den Strand. Sie schaut ein letztes Mal zur Burg hinüber, versucht, sie sich einzuprägen, sieht die Wellen langsam näher kommen. Bald werden sie das Kunstwerk verschlingen. Sie will sich gerade wieder umdrehen, als ihr im Sand etwas ins Auge fällt. Sie blinzelt und kneift die Lider zusammen, doch da ist nichts. Ein Schauer läuft ihr den Rücken hinunter, und sie hat das seltsame Gefühl, genau diesen Moment schon einmal erlebt zu haben.

Ihre Mum nennt es Woanders-Momente.

»Ist was?«

Sie sieht, wie Dad fragend eine Augenbraue hochzieht, bevor er ihr den Arm um die Schultern legt. Ihre Mum ist schon vorausgegangen. Sie steigt den Grashang hinauf, der blaue Eimer schwingt im Wind. Vor Jenny taucht ein grüner Papierdrachen am Himmel auf, und es sieht fast so aus, als würde er ihr verspielt zuwinken. Als sie losrennt, um ihn besser sehen zu können, scheint die Welt zu verschwimmen und der Drachen sich in Nichts aufzulösen.

DREI

2014
ROBBIE

Über mir flattert irgendetwas Grünes. Es ist laut, überall drängeln sich Menschen. Hey, was zum Teufel ist hier los? Hoch oben befinden sich Deckengewölbe und von Wand zu Wand gespannte grüne Wimpelketten. Dröhnende Folkmusik und feuchtfröhliche Unterhaltungen, die mal lauter, mal leiser werden. Das Herz hämmert in meiner Brust, und ich spüre einen dumpfen Schmerz an der Schläfe. Ein Pulsieren.

Überall sind Menschen, meist Männer. Alle sehen ein bisschen angetrunken aus und haben ein Glas in der Hand. An der einen Wand ist eine Bar mit einem Spiegel dahinter. Ich kenne diesen Ort. Das muss der Irish Pub im Cowgate sein. Da habe ich oft abgehangen, als ich noch jünger war.

Aber wo ist der Strand hin? Wo ist Jenn? Und warum war sie so jung? Wie das Mädchen aus dem abgegriffenen Fotoalbum, aus der Zeit, bevor ihr Vater sie verlassen hat. Sie war vielleicht zehn – oder elf? Sie haben sie Jenny genannt.

Ist das nur ein Traum? Wenn ich aufwache, werde ich mich zu Jenn umdrehen und sagen: Ich hatte einen total schrägen Traum, aus dem ich nicht aufwachen konnte. Du kamst darin vor, aber du warst nicht du. Und sie wird mich anlächeln und die Augen verdrehen, weil ich mal wieder blödes Zeug rede.

Ich betrachte die Menschen um mich herum und werde das Gefühl nicht los, dass ich genau diesen Moment schon einmal erlebt habe. Aber meine Gedanken verschwimmen, wie ein vorbeirasender Hochgeschwindigkeitszug. Ich kann nicht mehr klar denken.

Schallendes Gelächter. Ein paar Jungs kommen mit Getränken in der Hand auf mich zu.

Mein Herz macht einen Satz.

Ich kenne sie – von früher, aus der Schule. Na klar. Doug, Rory und Gus. Nichts als Blödsinn im Kopf, die Jungs. Mann, die habe ich seit Jahren nicht gesehen. Aber damals, als ich aus Chamonix zurückkam, sind wir ständig zusammen was trinken gegangen.

Bevor ich Jenn kennengelernt habe.

Die drei bleiben neben mir stehen, und meine Panik legt sich etwas. Vielleicht bin ich ja doch nicht vollkommen durchgeknallt. Kann es sein, dass ich mir den Kopf gestoßen habe oder so? Bin ich etwa hier, weil ich mich mit ihnen verabredet habe? Um in Erinnerungen an die guten alten Zeiten zu schwelgen? Hektisch überlege ich, was vorher passiert ist und wie es mich hierher verschlagen hat.

Natürlich ist es auch möglich, dass ich einfach nur vollkommen hacke bin und den übelsten Filmriss aller Zeiten habe.

Nur dass ich mich nicht mal ansatzweise betrunken fühle.

Sondern stocknüchtern.

Gus fährt sich durch die blonde Surferfrisur und nimmt einen Schluck von seinem Bier, ohne mich zu bemerken. Ich will gerade etwas sagen, als von rechts auf einmal eine vertraute Frauengestalt auftaucht. Schlaksig, mit blasser Haut und kurz geschnittenen dunklen Haaren. Erleichtert atme ich auf, auch wenn mein Kopf mir irgendetwas sagen will. Ich eile zu ihr. Gleich wird sie mich ansehen, und ihre großen grünen Augen werden aufleuchten.

Doch sie geht einfach an mir vorbei.

»Jenn …« beginne ich, bevor mir die Worte im Hals stecken bleiben. Genau in dem Moment, als sie an mir vorbeigeht, verlässt jemand die Theke und durchquert den Pub.

Die Zeit scheint stillzustehen, als die beiden zusammenstoßen und er sein Bier über sie und den Boden verschüttet, während sie fluchend rückwärts taumelt. Er wirkt hünenhaft und ungepflegt, sein Kinn ist mit Stoppeln übersät, und seine Haare sind ungekämmt. Man könnte den Eindruck gewinnen, er würde nicht sonderlich viel Wert auf Körperhygiene legen, doch die teure Uhr an seinem Handgelenk spricht eine andere Sprache. Er beginnt sich zu entschuldigen, und mir wird schwindelig, als ich begreife, wen ich da sehe.

Mich.

Jenn trägt die Haare kurz wie früher und den blauen Mantel, den sie so gern mochte – der Bierfleck ist nie ganz rausgegangen. Ich habe all das wirklich schon mal erlebt. An dem Tag, als wir uns kennenlernten. Dem Tag, der alles verändert hat.

Ich halte mich an einem der Stehtische fest und ringe nach Luft.

Was passiert mit mir?

Schließlich lässt Jenn ihn stehen, und ich kann nicht anders, als ihr hinterherzulaufen. »Hallo?«

Doch meine Stimme klingt schwach, gedämpft, als hätte jemand die Lautstärke runtergedreht. Sie scheint nicht zu ihr durchzudringen. Ich probiere es noch einmal. Schreie sie an. Doch sie hört mich nicht. Es ist, als wäre ich da und gleichzeitig auch wieder nicht.

Jenn macht kurz an der Theke halt und nimmt sich ein paar Servietten, mit denen sie geistesabwesend über den Fleck auf ihrem Mantel wischt. Mir kommt eine Idee, und ich drehe mich zum Spiegel an der Wand um.

Ich bin nicht da.

Ich habe kein Spiegelbild.

Auf der Theke steht ein Bierglas. Ich strecke die Hand danach aus und spüre, wie kalt und hart es sich anfühlt. Verstörend real.

Ich habe das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Bloß – wen würde es interessieren? Ich bin mir schließlich noch nicht mal sicher, ob das hier gerade wirklich passiert.

Auf einmal taucht im Spiegel eine Hand auf Jenns Schulter auf. Sie dreht sich abrupt um, einen fast hoffnungsvollen Ausdruck im Gesicht.

Er schon wieder.

Ich.

»Hallo«, sagt sie lächelnd und mit fragendem Blick.

»Die Sache ist die«, sagt er und holt tief Luft, »ich habe eine goldene Regel: Wenn ich in einem Irish Pub jemandem eine Bierdusche verpasse, muss ich der Person als Entschuldigung einen Drink spendieren.«

Ach du Schande, habe ich das echt gesagt?

Sie lächelt ihn an, bis ihr Blick auf etwas hinter seiner Schulter fällt. »Ich fürchte, meine Freunde haben schon für mich mitbestellt«, sagt sie in fast entschuldigendem Ton.

Er hebt theatralisch die Hände. »Einen Versuch war es wert.«

Mein früheres Ich entfernt sich mit langsamen Schritten, und Jenn beißt sich auf die Lippe, wie immer, wenn sie nachdenkt.

»Hey«, sagt sie plötzlich, und er dreht sich etwas zu schnell wieder um.

Cool bleiben, Mann.

»Einen Drink vielleicht«, sagt Jenn mit hochgezogener Augenbraue. »Ich meine, den Bodycheck musst du schon irgendwie wiedergutmachen.«

Er grinst, während die Band gerade zu einem neuen Song ansetzt.

»Fisherman’s Blues«.

»Fürs Erste habe ich eine bessere Idee«, verkündet er, und ehe ich mich’s versehe, hat er ihre Hand genommen und führt sie davon. Er bahnt sich mit ihr einen Weg durch das Publikum vor der Band und wirbelt sie so flott herum, dass die beiden in der Menschenmenge zu verschwinden scheinen. Sie tanzen, bis der Song vorbei ist, drehen sich lachend, ein breites Grinsen in den Gesichtern.

Ohne zu wissen, warum, folge ich ihnen. Ich kann den Blick nicht von ihnen abwenden.

Schließlich endet der Song mit einem Trommelwirbel, und sie stehen vor mir und schnappen nach Luft. Er klatscht begeistert, jubelt der Band zu, pfeift. Kleine Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn.

Er ist vollkommen am Ende, doch ihr Lächeln ist es wert.

Sie sieht so verdammt glücklich aus.

»Ich heiß Robbie«, sagt er, bevor die Band zum nächsten Song ansetzt.

»Und ich Jenn.«

Gleich darauf tanzen sie wieder, halten einander noch immer an den Händen. Ich spüre ihre Hand in meiner und wie sie neben mir lächelt.

JENN

Sie steht auf dem Kopfsteinpflaster und wartet auf ihn, es ist kalt und dunkel. Rings um sie herum zeichnen sich die Gebäude der Altstadt vor dem Nachthimmel ab: oben rechts das Schloss, links der Irish Pub. Die Kneipen machen gerade zu, überall laufen Menschen herum, rufen sich etwas zu, stolpern über die eigenen Füße. Sie schaut zur Tür hinüber, und als die letzten Nachzügler aus dem Pub kommen, beginnt ihr Herz schneller zu schlagen.

Und dann entdeckt sie ihn. Als er aus dem Lichtkegel vor der offenen Tür heraustritt und auf sie zukommt, vollführt ihr Herz einen kleinen Sprung. Er zieht sich einen Wintermantel an, während er sich nähert, die Haare noch ganz zerzaust vom Tanzen.

Mann, steh ich auf ihn.

»Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass du mich so leicht loswirst, oder?«, sagt er mit einem Lächeln, das die Schmetterlinge in ihrem Bauch wild umherflattern lässt. »Tut mir leid, die Schlange an der Garderobe war endlos.«

Ich hatte echt Angst, er wäre einfach verschwunden.

»Ich hätte dir noch dreißig Sekunden gegeben«, sagt sie, »dann wär ich weg gewesen und hätte mir irgendwo einen Mitternachtsdöner geholt.«

»Du stehst also auf Döner?« Sie schlendern gemeinsam die Straße entlang. »Eine Frau ganz nach meinem Geschmack.«

Sie lacht, aber gleichzeitig überkommt sie das eigenartige Gefühl eines Déjà-vu, als hätte sie genau dieses Gespräch, genau diesen Abend schon einmal erlebt. Sie versucht, die Empfindung abzuschütteln und sich ganz auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

»Wo wohnst du eigentlich?«, fragt er, während hinter ihnen Flaschen zu Bruch gehen.

»Fünf Minuten in diese Richtung, Tollcross.« Sie zeigt nach links.

»Perfekt, genau auf meinem Weg.«

Die Schmetterlinge in ihrem Bauch schlagen vor lauter Vorfreude Purzelbäume.

»Willst du etwa den Beschützer spielen oder so was Altmodisches?«

»Na klar.« Er grinst. »Gehört sich doch so für einen Gentleman, oder?«

»Aha«, sagt sie lächelnd. »Nur damit eins klar ist: Heute Abend läuft ganz bestimmt nichts zwischen uns beiden.«

»Hab ich auch nie behauptet.«

Er nimmt ihre Hand, und sie hat das Gefühl, ihr ganzer Körper stünde plötzlich unter Strom. Sie schlendern langsam auf ihre Wohnung zu und reden über alles und nichts. Sie erzählt, dass sie Ärztin ist, er sagt, er sei Koch, und sie lacht alle paar Sekunden laut auf, wenn er wieder eine Anekdote aus seinem Restaurant zum Besten gibt. Sie ist sich nicht sicher, ob es jemals zwischen ihr und einem Typen derart gefunkt hat, aber das Timing könnte nicht mieser sein.

Wieso hat sie ihn nicht früher kennengelernt?

Schließlich kommen sie im trüben Schein einer Straßenlaterne vor ihrer blauen Haustür zum Stehen.

»Möchtest du noch auf einen Drink mit raufkommen?«, fragt sie, plötzlich nervös. »Es ist aber auch kein Problem, wenn du direkt nach Hause musst.«

Robbie lächelt sie an. »Ich muss definitiv nicht direkt nach Hause.«

Sie nickt. »Na dann.«

Sie geht vor ihm die schummrige Treppe hinauf und spürt die Spannung, die sie umgibt, diese ganz besondere Atmosphäre, bevor zwischen zwei Menschen etwas passiert. Sie öffnet die Wohnungstür und führt ihn in den voll gestellten Flur, während sie sich fragt, in was für einer Wohnung er wohl lebt. Vorhin im Irish Pub hatte sie den Eindruck, dass seine Familie recht gut situiert und »normal« ist. Mit einem Mal fühlt sie sich unsicher.

Ihr Leben ist da ein gutes Stück komplizierter.

Sie stehen dicht beieinander im Dunkeln und schauen sich an, und einen Moment lang rechnet sie damit, dass er sie gleich hier an der Garderobe küssen wird.

Sie schluckt. »Ich hole uns kurz was zu trinken, okay?«

Sie bugsiert ihn ins Wohnzimmer und sucht in der Küche nach etwas Trinkbarem. Aus dem Kühlschrank fördert sie zwei Bierflaschen zutage, die sich hinter einem verschimmelten Stück Käse versteckt hatten. Susies Freund muss sie mitgebracht haben. »Sorry, Paul«, murmelt sie, als sie mit den beiden Flaschen Richtung Wohnzimmer aufbricht. Bevor sie hineingeht, bleibt sie einen Moment im dunklen Flur stehen und sieht, wie Robbie sich unbeholfen auf dem kleinen Sofa zurücklehnt, einen Arm auf der Lehne, als versuche er verzweifelt, möglichst lässig zu wirken. Sie unterdrückt ein Lächeln und betritt den Raum. Er schaut sofort auf.

»Hier, bitte«, sagt sie so beiläufig wie möglich und reicht ihm eine Flasche, bevor sie sich auf der anderen Seite der Couch niederlässt. Beide nehmen einen Schluck von ihrem Bier.

»Wohnst du allein hier?«, fragt er schließlich. Er trommelt mit den Fingern auf die Rückenlehne, was sie vermuten lässt, dass er nie wirklich still sitzt.

Oder ist er etwa auch nervös?

»Nein«, sagt sie und schüttelt den Kopf. »Ich wohne mit Susie zusammen. Sie arbeitet im gleichen Krankenhaus wie ich.«

»Ach, cool«, sagt er und beugt sich ein Stück nach vorn. »Ist sie heute Abend hier?«

»Nein, sie übernachtet bei ihrem Freund.«

»Schön, sehr schön«, erwidert er eine Spur zu begeistert, und sie muss lächeln, woraufhin er rot anläuft. Der Abstand zwischen ihnen scheint nach und nach geschrumpft zu sein. Ihre Knie sind einander zugeneigt, berühren sich fast. Er schiebt seinen Arm noch ein Stück weiter, und sie nimmt einen tiefen Atemzug, weil sie instinktiv weiß, was gleich passieren wird.

Ihre Haut kribbelt, und einen bizarren Moment lang hat sie das Gefühl, dass sie nicht allein im Raum sind. Sie schaut sich um, doch es ist niemand zu sehen.

Als sie sich Robbie wieder zuwendet, küsst er sie, und ihre Lippen pressen sich stürmisch, drängend aufeinander. Er schmeckt metallisch, seltsam vertraut, und sie bezweifelt, dass sie sich je zuvor so lebendig gefühlt hat. Er schlingt die Arme um sie, und sie vergisst jeden Gedanken in ihrem Kopf und verliert sich im Moment.

ROBBIE

Ein lila Bett. Zwei ineinander verschlungene Körper unter den Laken. Jenn und mein anderes Ich. Unter einer alten Jalousie schimmert Licht hindurch, und die Luft riecht intensiv nach Schlaf und dem Alkohol vom Vorabend. Jenn lacht über irgendwas, das mein anderes Ich gesagt hat, ein wunderbares, glockenhelles Geräusch, und er lächelt hingerissen zurück.

Ich träume anscheinend immer noch von unserer ersten Begegnung – wie ich mit zu ihr hochgegangen bin, unser erster Kuss, unsere erste gemeinsame Nacht. Ich verstehe bloß nicht, warum alles einfach so weiterläuft. Wie es kommt, dass es sich so real anfühlt.

Ich würde gern aufwachen und gleichzeitig auch wieder nicht, denn ich möchte noch ein wenig länger in diesem Moment verweilen.

Der mein Leben vollkommen auf den Kopf gestellt hat.

Ich hätte an jenem Abend eigentlich überhaupt nicht in dem Irish Pub sein sollen, sondern im Restaurant. Aber Matt hatte im letzten Moment mit mir die Freitagsschicht getauscht, weil er zu irgendeinem Gig gehen wollte. Also hatte ich ein paar alte Schulfreunde angefunkt, und wir waren so bald wie möglich auf ein Bier losgezogen, von einer Bar zur nächsten. Während ich zuhörte, wie die anderen von ihrer Karriere in »richtigen« Berufen – als Anwalt, Buchhalter, Landvermesser – erzählten, begann ich mich wieder in die Alpen zurückzusehnen. In Edinburgh wusste ich nicht mehr, wo mein Platz war. Rückblickend betrachtet, war ich damals vollkommen verloren. Keine Peilung. Keinen Plan.

Doch als ich Jenn an jenem Abend im Irish Pub traf, überkam mich auf einmal ein merkwürdiges Gefühl der Unausweichlichkeit.

Sie war anders. Ungewöhnlich groß, mit kurzen Haaren. Eigentlich überhaupt nicht mein Typ. Aber die Lachfältchen um ihre Augen, als sie mich anlächelte, ließen mich dahinschmelzen. Ich wünschte, die Nacht würde nie zu Ende gehen. Nicht, weil ich mit ihr ins Bett wollte – klar wollte ich das irgendwann, aber nicht beim ersten Treffen. Ich glaube, ich wusste schon damals, dass wir an der Schwelle zu etwas Bedeutsamem standen.

Wir redeten, bis die Sonne aufging, zu elektrisiert von der Gesellschaft des anderen, um einzuschlafen. Wenn ich es recht bedenke, hat sie mir nicht gerade viel über ihre Vergangenheit erzählt – sie schien nicht darüber sprechen zu wollen. Aber ich fand sie absolut großartig, und das war alles, was zählte. Irgendwann erwähnte sie, dass sie am liebsten Jellybeans naschte, und ich versprach, ihr am nächsten Tag welche zu kaufen.

Denn mir war klar, dass ich sie wiedersehen musste.

Der andere Robbie küsst sie erneut. Ich erinnere mich noch gut an das Gefühl von damals, an das Kribbeln tief in meiner Magengrube, an die Macht, die sie über mich hatte. Und dann springen meine Gedanken unvermittelt zu dem Tag vier Jahre später, an dem sie mich ohne jegliche Erklärung verließ.

Wieder überkommt mich ein Gefühl des Schwindels, und das Pulsieren in meinem Kopf nimmt beharrlich zu. Ich versuche, sie nicht aus den Augen zu verlieren, doch der Raum scheint von Sekunde zu Sekunde heller zu werden, und das Bild der beiden auf dem lila Bett verblasst wie ein Foto, das zu lange in der Sonne gelegen hat.

* * *
ROBBIE

Ich bin wieder auf dem Fahrersitz. Im Auto. Meine Hände halten das Lenkrad fest umklammert. Vor der Windschutzscheibe der gleißend helle Lichtkreis, der mich blendet. Jenn sitzt neben mir. Doch ich kann mich nicht zu ihr umdrehen. Mein Körper reagiert nicht.

Hier hat alles angefangen. Hier, im Auto, auf der Fahrt nach Hause.

Ich erinnere mich jetzt wieder. Wir haben über ihre Arbeit geredet, und ich habe ihre Hand gedrückt.

Ich liebe dich.

Doch der Rest unseres Gesprächs ist irgendwie verschwommen, alles um uns herum wie erstarrt. Ich sehe Staubpartikel zwischen uns in der Luft schweben und im Scheinwerferlicht glimmen. Mein Herzschlag rast, aber ich bin wie gelähmt.

Dann bewegt sich etwas. Der Lichtstrahl kommt ein klitzekleines Stück näher, und in dem Moment begreife ich, dass das Ding auf der anderen Seite der Scheibe riesengroß ist. Ein Lkw oder ein Bus – schwer zu sagen. Auf jeden Fall rast es auf uns zu. Und Jenn hat es auch gesehen.

VIER

2001
JENNY

Es ist nebelig auf der Straße – haar, so nennt ihr Vater den hiesigen Nebel auf Schottisch. Aus dem weißen Himmel über ihr ertönt der Ruf einer Möwe, die sich zu weit vom Meer entfernt hat. Ihr Vater geht neben ihr, beide tragen grüne Gummistiefel und marineblaue Regenjacken. Verrückt, dass sie mit ihren gerade einmal zwölf Jahren schon fast genauso groß ist wie er. Automatisch passt sie ihre Schritte seinen an: links, rechts, links, rechts. Er schaut lächelnd zu ihr hinüber.

Schließlich kommt ihr Haus in Sichtweite, und sie fragt sich, was ihre Mutter wohl heute gemacht hat.

Wahrscheinlich hat sie sich ausgeruht und vielleicht ein bisschen gemalt. Egal, was sie tut, sie ist jetzt ständig müde. Ganz anders als ihr Vater, dessen Energie grenzenlos zu sein scheint, auch wenn er nicht gerade viel redet. Sie sind den ganzen Nachmittag über am Strand und in den nahe gelegenen Wäldern umhergestreift.

In der Auffahrt hört sie den Kies unter ihren Stiefeln knirschen, und die blauen Giebel von Larchfield und die an einer Seite von Efeu eingerahmte Tür werden sichtbar. Aus den Fenstern im Erdgeschoss strahlt ein warmes Licht, das hier draußen in der Kälte unglaublich einladend aussieht. Sie findet es schön, dass ihr Haus hinter hohen Bäumen versteckt ist, wie ein Märchenhaus. Im Sommer ist der Garten ihrer Mutter ein einziges Blumenmeer.

Ihr Vater öffnet die massive Eingangstür und betritt das Haus. Er hält kurz inne und atmet tief ein.

Es riecht verbrannt.

Hastig durchquert er den Flur. Jenny streift sich die Gummistiefel von den Füßen und eilt hinterher.

Mum.

Durch den Qualm in der Küchentür sieht sie ihren Vater auf das Fenster zueilen und es aufreißen. Ihre Mutter kauert mit umgebundener Schürze und verquollenen Augen vor einem Schrank.

»Tut mir leid«, schluchzt sie.

»Ist schon okay.« Ihr Vater hockt sich neben sie und legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Was ist passiert, Liebes?«

Ihre Mutter legt die Hände vors Gesicht. »Ich wollte«, schnieft sie, »ich wollte bloß helfen, weil Margaret mich darum gebeten hat, aber dann ist mir eine ganze Ladung verbrannt, also musste ich noch mal von vorne anfangen und …«

»Schhh«, beruhigt Dad sie und nimmt sie in den Arm. »Wobei hast du denn geholfen?«

Jenny beobachtet alles von der Tür aus – es ist nicht das erste Mal, dass sie mit ansieht, wie ihre Mutter zusammenbricht. Aber Dad wird es wieder in Ordnung bringen.

Das macht er immer.

Schließlich lässt Mum die Hände sinken. »Während ihr unterwegs wart, wollte ich in der Stadt ein paar Besorgungen erledigen, und dann habe ich Margaret getroffen, weißt du, die von der Schule. Mrs Hamilton«, fügt sie an Jenny gewandt hinzu. »Sie hat gefragt, ob ich für den Kuchenbasar der Abschlussklassen morgen etwas beisteuern kann, also habe ich zugesagt, ein paar Kuchen zu backen, aber ich muss mich doch auch noch auf meinen Kunstkurs morgen vorbereiten, ich habe einfach so viel um die Ohren.«

»Pass auf«, sagt ihr Vater sanft und hilft ihrer Mutter hoch. »Leg dich doch einfach einen Moment hin, und ich bringe dir einen Tee, was hältst du davon?«

»Nein, nein«, sagt sie und schüttelt entschlossen den Kopf. Das Bild des Hochlandrindes auf ihrer Plastikschürze ist so zerknittert, dass es aussieht, als würde das Tier Schmerzen leiden. Die Schleife ist aufgegangen, und die roten Bänder hängen seitlich herunter. »Ich muss diesen Kuchen backen.«

»Schatz«, sagt er und berührt ihren Arm. »Mach dir keine Sorgen, Jenny hilft mir bestimmt, nicht wahr, Jenny?«

Er schaut sie an, und sie nickt und lächelt. Sie hilft ihm gern beim Backen. »Klar.«

Ihre Mutter schaut zwischen den beiden hin und her und denkt einen Moment nach. »Na gut. Tut mir leid, aber ich habe mich einfach nicht getraut, Nein zu sagen.«

»Kein Problem«, sagt Dad lächelnd. »Wir werden unseren Spaß dabei haben. Setz dich hin und ruh dich aus.«

Jetzt lächelt ihre Mum endlich auch, und ihr bildschönes Gesicht strahlt. Sie zieht sich die Schürze über den Kopf und legt sie auf den Küchenstuhl. Nach einem letzten kurzen Zögern verlässt sie den Raum.

»Jetzt müssen wir nur noch entscheiden, welchen Kuchen wir für den Basar backen wollen«, sagt ihr Vater und hält ein übrig gebliebenes Stück Schokolade hoch. Er bricht eine Hälfte für Jenny ab und schiebt sich die andere selbst in den Mund.

Als sie ihren Vater ansieht, bemerkt sie plötzlich, dass sie beide genau dasselbe tun: Sie kauen nur auf einer Seite, er auf der linken und sie auf der rechten, wie Spiegelbilder. Es ist ein lustiger Anblick, zumal sie sich mit ihren dunklen Haaren und grünen Augen gleichen wie ein Ei dem andern.

Wie aus dem Gesicht geschnitten, sagt ihre Mum immer.

ROBBIE

Ich beobachte die Szene durch das offene Küchenfenster.

Was zum Teufel ist hier eigentlich los?

Alles passiert so schnell, dass ich keine Zeit habe, nachzudenken, es zu verarbeiten. Eben war ich noch im Irish Pub, dann mit Jenn im Auto. Und jetzt stehe ich vor diesem Haus.

Tief durchatmen, Robbie.

Geh noch mal durch, was du weißt. Wir waren auf dem Heimweg vom Krankenhaus und haben uns unterhalten. Ich habe ihre Hand genommen, und plötzlich kam ein riesiger Lastwagen auf uns zu. Aber wir sind nicht weitergefahren, sondern saßen nur wie erstarrt im Auto. Also, unsere Körper, denn ich springe ja munter von einem Ort zum nächsten – vom Strand mit der kleinen Jenn in den Irish Pub mit der älteren Jenn, dann in ihre Wohnung, und jetzt anscheinend in ihr Elternhaus. Was hat das alles zu bedeuten?

Es ist kein Traum.

Die Worte kommen aus dem Nichts.

Mir gefriert das Blut in den Adern.

Was, wenn der Unfall bereits geschehen ist und ich mich nur nicht erinnern kann?

Was, wenn ich tot bin und alles aus dem Jenseits beobachte?

Ich schaue an mir hinunter – dieselben New-Balance-Sneaker, dieselbe Jeans, derselbe rote Kapuzenpulli wie vorhin im Auto.

Scheiße, am Ende bin ich wie der Typ aus diesem Film, Ghost – Nachricht von Sam, den ich mir mit Jenn ansehen musste: Ich renne ihr die ganze Zeit hinterher, aber sie sieht mich nicht.

Ich kneife mich, so fest ich kann, in die Hand. Es tut weh. Die Haut verfärbt sich erst weiß, dann rötlich. Ich stütze mich auf das Fensterbrett vor mir. Es ist solide, so, wie es sein muss.

Gott sei Dank.

Nicht tot.

Ich muss einfach aufwachen, egal, was das hier ist. Ich schließe die Augen und denke mit aller Kraft: Wach auf, Robbie!

Nichts.

Ich öffne die Augen.

Mann, ist das arschkalt hier draußen. Ich reibe mir die Hände, hauche sie an und eile zur Eingangstür, vorbei an Bäumen, Sträuchern, einer alten Schaukel. Der Kies knirscht unter meinen Turnschuhen.

Ich stehe vor der massiven Eichentür und strecke die Hand nach dem Türknauf aus, umklammere ihn. Aber ich kann ihn einfach nicht drehen – es ist, als könne meine Hand keine Verbindung dazu herstellen. Ich sitze hier draußen fest.

Verdammte Hacke.

Ich laufe wieder zum Küchenfenster. Sie ist immer noch da. Ob sie weiß, dass ich hier bin? Ist die Jenn, die ich kenne, irgendwo da drin?

Ich male mir aus, wie ich ihr das Ganze später erzähle. Sie wird mir diese Story niemals abnehmen. Ich glaube sie ja selbst kaum. Vielleicht liegt es an dem aufregenden Tag, den wir hinter uns haben.

Sie ist zurückgekommen.

Ich sehe, wie Jenn das Mehl von der Arbeitsfläche wischt und ihr Vater den Boden fegt. Wenigstens nehme ich an, dass der Mann ihr Vater ist. Natürlich habe ich ihn nie getroffen. Ich kenne nur ein Foto von ihm, aus einem Album von früher, bevor er die beiden verlassen hat.

Fotos. Die Wand auf der anderen Seite des Zimmers ist voll davon, in allen möglichen Formaten. Ich luge vorsichtig durch das offene Fenster. Es ist seltsam, Jenn als Kind zu sehen. Ich frage mich, ob es Momente sind, von denen sie mir erzählt oder Fotos gezeigt hat, in die ich mich jetzt selbst mit einbaue, obwohl ich natürlich nicht dabei war. Ziemlich unwahrscheinlich, wenn ich bedenke, wie wenig sie über ihre Kindheit gesprochen hat. Aber sie in diesem warmen, behüteten Umfeld zu sehen, das mich an meine eigene Familie erinnert, überrascht mich doch. Ich hatte angenommen, dass ihre Familie von Anfang an zerrüttet war.

Die meisten Bilder zeigen unscharfe Umrisse eines Kindes auf einer Schaukel oder verschwommene Menschen am Strand. Ich bekomme Gänsehaut. Ein Foto ist gestochen scharf. Darauf sind ihre Eltern zu sehen; es scheint an ihrem Hochzeitstag aufgenommen worden zu sein. Wenn ich genau hinschaue, erkenne ich die Worte Marian und David, die in eine Ecke gekritzelt sind. Ihrem bauschigen Kleid, seinem Smoking und der leicht trüben Farbqualität nach zu urteilen, muss das Bild aus den frühen 1980er-Jahren stammen. Doch was mir am meisten ins Auge sticht, ist, wie glücklich die beiden aussehen. Sie gehen auf die Kamera zu, doch Marians Blick ist auf irgendetwas dahinter gerichtet, ihr Mund ist leicht geöffnet, als wolle sie jemandem etwas zurufen. Mit ihren wallenden roten Haaren und dem Kranz aus weißen Blumen auf dem Kopf sieht sie atemberaubend aus. Wie das blühende Leben. Und er schaut sie an, als könne er sein Glück kaum fassen.

Was ist schiefgelaufen?

Wieder spüre ich ein Pochen in meinem Kopf, begleitet von einem Summen in den Ohren, und das Foto wird immer unschärfer. Undeutlich erkenne ich, wie Jenns Dad den Geschirrspüler einräumt und Jenn saubere Rührschüsseln und eine Waage aus dem Schrank holt. Die Szene vor mir beginnt zu verblassen, zu verwischen wie frische Farbe, bis schließlich nur noch die Küchenlampe sichtbar ist – ein heller Kreis in der Dunkelheit.

FÜNF

2014
JENN

Helles Licht scheint ihr in die Augen. Sie blinzelt und erblickt eine warme Küche. Sofort breitet sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Glühwein blubbert auf dem Herd vor sich hin, und auf dem Tisch in der Nische warten Familienpackungen Chips und ein umfangreiches Alkoholsortiment – Wodka, Gin, Rum, ein kleines Bierfass. Eine halb leere Flasche billiger Wein steht auf der Anrichte, flankiert von zwei rötlich schimmernden Gläsern, und mittendrin Robbie, in seinem nach Zimt duftenden Chaos. Er lächelt sie an.

»Steht dir gut«, sagt er, und sie folgt seinem Blick hinunter zu ihrem Oberkörper, zu den Sternen und dem Glitzern, den wollenen Flocken über einem kopfstehenden Schneemann.

»Ja, klar«, sagt sie lachend.

Sie weiß, er macht nur einen Witz. Das kann er nicht ernst meinen. Sein Pulli ist ihr ungefähr vier Nummern zu groß, und ihre schlaksige Gestalt verschwindet fast darin. Und doch – die Art, wie er sie ansieht. Dieser Blick. Sie spürt, wie ihr die Hitze in die Wangen steigt.

»Ich fasse es nicht, dass du mehrere Weihnachtspullis hast«, kommentiert sie lächelnd, um von sich abzulenken. »Die sind so was von kitschig.«

»Kitschig?« Er tut schockiert. »Sag das bloß nicht, wenn meine Familie dabei ist, die lieben so ’nen Schwachsinn.«

»Na, meine hatte da einen anderen Geschmack«, stellt sie fest und lacht.

Sie hält inne, als ihr bewusst wird, was sie da gerade gesagt hat, und seinen fragenden Blick bemerkt. Ein bleiernes Gefühl nistet sich in ihrer Magengrube ein, wie jedes Mal, wenn über Familie, Weihnachten oder sonst etwas gesprochen wird, das für andere Leute ganz normal ist. Aber gleich darauf hat sie es schon wieder verdrängt. Sie will sich jetzt nicht damit auseinandersetzen – nicht heute Abend.

»Dir ist hoffentlich klar, dass ich jetzt nicht Bridget Jones nachspielen werde, nur weil du einen Rentierpulli trägst«, fügt sie hinzu und deutet mit dem Finger auf ihn. »Ich werd mich bestimmt nicht Hals über Kopf in dich verlieben, Robbie Stewart.«

Sie sehen sich an, und ihre Blicke sagen mehr als tausend Worte. Jenn verspürt ein nervöses Kribbeln, als ihr aufgeht, welches Wort jetzt zwischen ihnen in der Luft hängt. Dann lächelt er.

»Also, verstehe ich das richtig, ich bin so eine Art … wie hieß der Typ doch gleich? Mr Darcy, oder?«

Er zieht eine Augenbraue hoch, und sie schüttelt den Kopf, kann sich jedoch ein Grinsen nicht verkneifen. Als er zu ihr kommt, macht ihr Herz einen Satz. Sie muss daran denken, wie sie den Nachmittag gemeinsam im Bett verbracht haben. Sie haben ferngesehen, miteinander geschlafen und Jellybeans gegessen – und es gerade mal aus der Wohnung geschafft, um Proviant für die Party heute Abend zu besorgen. Vor fünf Wochen haben sie sich erst kennengelernt, und sie hat wahrscheinlich jetzt schon mehr Spaß gehabt und aufregendere Dinge erlebt als in ihrem ganzen bisherigen Leben. Jedes Treffen birgt neue Überraschungen: Sei es, was es zu essen gibt (»Mexikanisch oder mediterran, Jenn? Ach, was soll’s, ich mach einfach beides.«), was sie an ihren gemeinsamen freien Abenden unternehmen (irgendwo gibt es immer eine tolle Party, einen Comedy-Abend oder einen Film, den kein Schwein kennt, den Robbie aber unbedingt sehen will) oder welche zärtliche und gleichzeitig urkomische Nachricht er ihr wohl diesmal schicken wird, wenn sie bei der Arbeit ist (Du bist besser als Eier mit Tabascosoße, und ich wünsche dir einen super Tag oder Du bist besser als Top Gun an einem verkaterten Sonntag, und ich wünsche dir einen super Tag).

Und ihr gefällt, zu wem sie in seiner Gegenwart wird, zur glücklichsten, spontansten Version ihrer selbst.

Kaum zu glauben, dass es mal eine Zeit ohne Robbie gab; eine Zeit, in der sie sich nicht geradezu magnetisch von ihm angezogen fühlte.

Als er seine Hände auf ihre Taille legt, schaut sie lächelnd zu ihm auf.

»Auf wie viele Weihnachtspulli-Partys gehst du eigentlich im Jahr? Nur so aus Interesse«, fragt sie und schlingt die Arme um seinen Nacken.

»Ach, du weißt doch, ich bin ständig unterwegs. Bin halt heiß begehrt«, sagt er grinsend.

»Tatsächlich?«

Seine Finger riechen nach Muskatnuss, Clementinenschale und Vanille; vor kaum einer Stunde hat er gekonnt eine Schote der Länge nach zerteilt. Seine Lippen glänzen rot vom Glühwein, den er getestet hat – und der anscheinend bei keiner guten Weihnachtsfeier fehlen darf.

Beim Gedanken an heute Abend wird sie nervös, seine Freunde müssten jeden Moment kommen. Sie kennt nicht einen von ihnen; bisher haben sie ganz in ihrer eigenen kleinen Blase gelebt.

Wird sie bald zerplatzen?

»Was ich dich noch fragen wollte«, sagt er nach einer Weile, »was machst du eigentlich an Weihnachten? Fährst du nach Cornwall?«

Schon wieder dieser neugierige Blick. Sie streicht sich die Haare hinters Ohr.

»Zu meiner Mutter? Nein, ich arbeite.«

»An Weihnachten?«, fragt er entsetzt, und sie muss lachen.

»Es gibt tatsächlich Menschen, die Weihnachten arbeiten, weißt du?«, erwidert sie in gespieltem Ernst.

»Aber an Weihnachten guckt man doch Jurassic Park und besäuft sich!«, ruft er schockiert aus, dann zögert er.

»Willst du vielleicht …, also, du könntest doch nach deinem Dienst bei meinen Eltern vorbeikommen, wenn du magst.«

»Ja, das wäre schön«, sagt sie und meint es auch so. »Aber ich hab auf keinen Fall vor acht Feierabend, könnte auch neun werden. Das ist dann schon spät, und ich kenne deine Eltern doch noch gar nicht … Aber wie sieht es denn mit dem zweiten Weihnachtstag aus?«

»Abgemacht«, erwidert er und küsst sie.

Die Türklingel ertönt und reißt sie aus ihrer Versunkenheit. Robbie löst sich mit theatralischer Geste von ihr.

»Auf in die Schlacht.«

 

Zwanzig Minuten später ist die Küche rappelvoll mit Leuten, die reden und lachen. Einer nach dem anderen wird ihr vorgestellt – alte Kumpel aus der Schule, Kollegen aus dem Restaurant und auch dessen lebenslustiger Besitzer, Matt. Alle sind nett und laut, genau wie er. Du bist also Jenn, sagen sie, lächeln vielsagend und werfen Robbie verstohlene Blicke zu. Er war noch nie länger als ein paar Monate mit einer Frau zusammen, wie sie weiß.

Sie bietet ihnen etwas zu trinken an, doch die meisten haben ihre eigenen Flaschen mitgebracht, deponieren sie auf dem Tisch oder im Kühlschrank – das Ganze folgt anscheinend festen Regeln. Es klingelt erneut, noch mehr Leute. Robbie unterhält sich mit allen, aufgedreht, mit leuchtenden Augen.

Er ist ganz in seinem Element.

Plötzlich taucht ein kleiner, gut aussehender Typ in der Tür auf. Er hat dunkle Haare, fast aquamarinblaue Augen, und sein grüner Weihnachtspulli ist eine Spur schicker als die der anderen. Robbie reißt begeistert die Arme hoch, dann marschiert er zu ihm hinüber, und die beiden klopfen sich zur Begrüßung auf den Rücken.

Marty.

Sie kennt ihn von Fotos, die sie im Internet gesehen hat, und wird wieder nervös – er ist Robbies bester Freund, die beiden sind zusammen aufgewachsen. So wie ich und Katy, denkt sie und empfindet einen Anflug von Traurigkeit.

Robbie kommt zu ihr zurück und verkündet: »Jenn, ich möchte dir meinen Kumpel Marty vorstellen, den alten Vollpfosten.«

»Schön, dass ich jetzt endlich weiß, wie du aussiehst.« Marty lächelt. »Ich hab schon so viel von dir gehört.«

»Ach ja?«, entgegnet sie und sieht Robbie mit hochgezogenen Brauen an, obwohl sie sich insgeheim geschmeichelt fühlt. Sie wendet sich wieder Marty zu. »Willst du was trinken? Wir haben, hm, jede erdenkliche Art von Alkohol.« Mit einer ausladenden Handbewegung präsentiert sie die Flaschen auf dem Tisch.

»Alles andere hätte mich auch gewundert«, antwortet Marty lachend, »aber ich hab selbst was dabei, danke.« Er deutet auf den Viererpack Bier in seiner Hand.

»Er ist so ein Weichei«, kommentiert Robbie kopfschüttelnd.

Vielleicht ist es nur Einbildung, aber sie glaubt zu sehen, dass Marty bei diesem Kommentar kurz das Gesicht verzieht. »Ich hol mir auch noch ein kaltes Bier«, sagt Robbie und stellt eine leere Dose auf der Anrichte ab. »Und was ist mit dir, Jenn?«

»Ich bin versorgt, danke.« Sie deutet mit dem Kopf auf ihr noch volles Weinglas.

»Er stellt mich also immer noch als Marty vor«, sagt Marty lächelnd, sobald Robbie verschwunden ist.

Sie sieht ihn verwirrt an.

»Eigentlich heiße ich Chris«, erklärt er, »aber mein Nachname ist McFly, also hat Robbie mich in der Schule einfach Marty getauft.«

»Wie … die Band?«

»Nein, wie Marty McFly aus Zurück in die Zukunft.« Er sieht sie etwas erstaunt, aber keineswegs herablassend an. »Wegen meines offensichtlichen Mangels an Größe.«

»Ach, ja.« Jetzt dämmert es ihr: der Film aus den 1980ern mit Michael J. Fox. Sie hat ihn mal gesehen, als sie jünger war.

»Soll ich dich lieber Chris nennen?«

»Nö«, sagt er grinsend, »Marty ist schon okay.« Er blickt sich im Raum um. »Ganz schön anstrengend, alle auf einmal kennenzulernen, was?«

Sie seufzt und nickt. »Schon. Aber sie sind alle total nett.«

»Freu dich nicht zu früh«, erwidert Marty und zieht eine Dose aus dem Viererpack. »Die liegen hier nachher alle besoffen in den Ecken rum, und dann hilft nur noch Gewalt, um sie wieder loszuwerden.«

»Kann’s kaum erwarten«, entgegnet sie.

Robbie ist wieder da, ein Bier in der Hand. Er schaut zwischen ihr und Marty hin und her, die vor sich hin grinsen, und lächelt. »Hört mal, ich dachte, wir drei könnten vielleicht nächsten Donnerstag zu einem Gig gehen, wenn du Bock hast, Marty? Mit der schottischen Band, die wir so toll fanden, du weißt schon, wo der Typ am Ende immer total abgegangen ist.«

»Klingt super«, erwidert Marty und fügt nach kurzem Zögern hinzu: »Aber ich kann leider nicht.«

»Sag nicht, du musst schon wieder arbeiten.«

»Na ja, so was in der Art.«

Robbie sieht Jenn an und verdreht die Augen. »Er kann einfach nicht anders, ehrlich. Arbeit, Arbeit, Arbeit.«

Marty wippt auf den Zehenspitzen. »Und wenn ich dir sage, dass die Arbeit in New York ist?«

Robbie bleibt der Mund offen stehen. »Willst du mich verarschen?«

»Nee, ich hab drüben einen Job gekriegt. Bei einer Vermögensverwaltungsgesellschaft.«

»Alter, das ist ja Wahnsinn«, sagt Robbie grinsend, als er sich wieder gefangen hat. »Da wolltest du doch schon immer arbeiten.«

»Herzlichen Glückwunsch«, schließt sich Jenn lächelnd an.

»Danke«, erwidert Marty. »Also, kommt ihr mich drüben mal besuchen?«

»Na, da kannst du Gift drauf nehmen«, beteuert Robbie, doch dann sieht er mit einem Mal traurig aus. »Mann, du wirst mir fehlen.«

Ihr wird ganz warm ums Herz. Es berührt sie, wie wichtig ihm sein Freund ist.

»Ach, du überlebst das schon, da mach ich mir keine Sorgen«, flachst Marty, aber auch er ist sichtlich bewegt.

»Moment mal«, sagt Robbie plötzlich verwundert. »Was ist denn mit deiner Freundin? Ich dachte, Claire wäre deine große Liebe?«

Marty lächelt. »Claire ist toll, aber ich glaube, zur Liebe gehört ein bisschen mehr, als nur mit jemandem abzuhängen.«

Robbie schüttelt den Kopf, noch immer fassungslos. »Ich versteh nicht, wieso ich erst jetzt von alldem erfahre.«

»Na ja, du warst in letzter Zeit irgendwie mit anderen Dingen beschäftigt«, erwidert Marty, und seine Augen blitzen schelmisch.

Robbie zieht Jenn an sich und schaut sie – unberührt von Martys Worten – auf so unverhohlen zärtliche Art an, dass die Schmetterlinge in ihrem Bauch wieder einmal heftig flattern.

Als die beiden sich schließlich wieder Marty zuwenden, betrachtet er sie seltsam eindringlich, als würde er etwas zu durchschauen versuchen.

Oder mich zu durchschauen?

Doch schon ertönen weitere Stimmen in der Küche, die inzwischen aus allen Nähten platzt, und Robbie und Marty gehen die Neuankömmlinge begrüßen; der Moment ist vorüber.

Sie trinkt einen kleinen Schluck Wein und lächelt, während sie darüber nachdenkt, wie sehr sie Robbies laute, bunte Welt liebt, die Partys, die Ausflüge und den Spaß.

Eine Welt, die so ganz anders ist als ihre.

Manchmal fragt sie sich, weshalb er überhaupt mit ihr zusammen ist.

Was, wenn er es gar nicht ernst meint?

Bei dem Gedanken wird ihr plötzlich schwindelig, und sie bahnt sich einen Weg zur Spüle, lächelt unterwegs Leuten zu, denen sie vorgestellt wurde. Sie schnappt sich ein Glas vom Geschirrständer, füllt es mit Wasser und leert es in einem Zug. Das hat sie bisher noch mit keinem Mann gehabt, dieses Gefühl, dass ihre Welt vollkommen auf den Kopf gestellt wird und sie nicht mehr weiß, wo es langgeht.

Ein Geräusch hinter ihr, und gleich darauf legen sich vertraute Arme um ihre Taille. Sie blickt zu ihrem Spiegelbild im Fenster auf und sieht Robbie hinter sich stehen. Ein Lächeln umspielt seine Lippen. Sie lehnt sich zurück und schmiegt sich an seine Brust.

»Guck mal«, sagt er leise und deutet über ihre Schulter auf das Fenster.

Eine Schneeflocke landet auf der Scheibe, dann noch eine. Als sie sich umdreht, um ihn anzusehen, nimmt er ihre Hand.

»Komm«, sagt er und zieht sie durch die dicht bevölkerte Küche und den verrauchten Wohnungsflur. Er schnappt sich die Schlüssel vom Flurtisch, öffnet die Tür, und sie gehen die zwei Treppen hinunter ins Erdgeschoss.

Robbie steckt einen rostigen Schlüssel in die schäbig wirkende Tür an der Rückseite des Mietshauses, öffnet sie mit einem Ruck, und sofort schlägt ihr eisige Luft entgegen. Doch statt des grünen Rasenstücks, das sie erwartet hat, liegt vor ihr eine makellos glitzernde Schneefläche und an der Seite altes Laub, das aussieht wie mit Puderzucker bestäubt.

Es ist stockfinster, aber die Fenster der Wohnungen um sie herum leuchten wie Kerzen.

Ihre Atemwölkchen steigen zum Himmel auf, bevor sie sich auflösen.

Wie lange schneit es schon? Ihre Füße sinken ein, hinterlassen Abdrücke im Schnee, der ihre Schritte dämpft, und als sie die Mitte des Gartens erreicht hat, blickt sie hinauf in die unendliche Leere über sich. Es sieht aus, als hätte jemand im Himmel ein Kopfkissen zerrissen, aus dem unzählige winzige Federn rieseln.

»Sonst schneit es doch nie im Dezember.«

»Stimmt«, hört sie ihn sagen. »Dabei meine ich doch, dass es massenhaft Schnee gab, als ich klein war. Allerdings frage ich mich manchmal, ob ich mir das nur einbilde.«

Als sie den Blick wieder senkt, merkt sie, dass er sie zärtlich betrachtet. Die Welt hüllt sie in ein gedämpftes Weiß, und ihre Gedanken wandern zurück in die Winter ihrer eigenen Kindheit: blaue Plastikschlitten, weiße, steinige Hänge – ihr Vater mit einem grauen Hut auf dem Kopf. Einen seltsamen, flüchtigen Moment lang hat sie das Gefühl, wieder dort zu sein.

»Das bildest du dir nicht ein«, sagt sie schließlich.

Eine einsame Schneeflocke landet auf ihren Wimpern, sie spürt ihre Kälte und zwinkert sie fort. Um sie herum schweben Tausende weitere sanft zu Boden, fallen immer dichter, und mit einem Mal steht Robbie direkt vor ihr.

»Ich wollte vorhin noch was mit dir bereden«, sagt er.

»Was denn?« Sie schaut beunruhigt zu ihm auf, das Herz hämmert ihr in der Brust.

Vielleicht war es das jetzt. Vielleicht hat er es sich anders überlegt.

Es war eben zu schön, um wahr zu sein.

»Na ja«, druckst er herum und holt tief Luft. »Ich wollte nur wissen, ob wir eigentlich ein Paar sind?«

Er betont das Wort Paar, als ob das ein alberner Ausdruck wäre. Aber sein Blick ist ernst, beinahe ängstlich.

Plötzlich muss sie grinsen, weil ihr klar wird, was er gerade gesagt hat.

Er empfindet genau wie sie.

»Ich glaub schon«, antwortet sie und küsst ihn innig und leidenschaftlich.

Als sie sich schließlich voneinander lösen, ergreift Robbie mit bloßen Händen etwas Schnee. Er formt einen Ball, seine Augen blitzen schelmisch.

»Dir ist schon klar, dass du gerade deine eigene Party verpasst?«, erinnert sie ihn.

Er zuckt mit den Achseln. »Na und?«

Er geht mit dem Schneeball in der Hand einen Schritt auf sie zu, und sie weicht zurück.

»Wag es ja nicht«, sagt sie lachend und hebt drohend den Zeigefinger.

Während sie mit ihm durch den Schnee rennt, wird sie das Gefühl nicht los, dass sie aus seinem hell erleuchteten Küchenfenster beobachtet werden. Sie blickt abrupt auf, aber hinter der beschlagenen Scheibe ist niemand zu sehen. Doch das Gefühl bleibt.

Das Gefühl, dass sie nicht allein sind.

Zwei Wochen später
ROBBIE

Lange Reihen grauer Schließfächer. Ein grüner PVC-Boden unter meinen Füßen. Eine Bank in der Mitte des Raumes. Keine Fenster, aber an einer mit Flyern bestückten Pinnwand hängt blaues Lametta. Nichts davon kommt mir bekannt vor. Mein Herz rast. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Gnadenlos werde ich von einem Ort zum nächsten katapultiert, ohne Vorwarnung, ohne zu wissen, wann es passieren wird und wohin es als Nächstes geht.

Wenigstens war ich beim letzten Mal in meiner Wohnung. An die Weihnachtspulli-Party, die ich vor fünf Jahren veranstaltet habe, kann ich mich noch erinnern.

Eine weitere bizarre Rückblende in meine Vergangenheit.

Die Szene mit uns beiden da draußen im Schnee, als ich sie bat, meine Freundin zu sein, hatte ich total vergessen. Ich war verdammt nervös, sie hätte ja auch Nein sagen können. Immerhin wusste ich nur zu gut, wie verschieden wir waren, und dass sie eigentlich eine Nummer zu groß für mich war. Aber sie war so anders als die Mädchen, mit denen ich sonst ausgegangen war, mit ihren glitzernden Röcken und ihrem öden Gerede. Jenns Intelligenz und liebevolle Art spornten mich dazu an, etwas Besseres aus mir zu machen. Ein besserer Mensch zu werden.

Auf einmal ging ich abends lieber nach Hause, anstatt endlos durch die Clubs zu ziehen. Ich hatte Lust, sie zum Brunch auszuführen, wo wir dann stundenlang darüber diskutierten, wie das ideale Frühstück aussieht (für sie ein Schinkensandwich, für mich ein englisches Frühstück mit Würstchen und Rührei), und anschließend, unfassbar, besuchten wir auch noch meine Eltern zum Tee.

Ihretwegen war ich bereit, über meine Zukunft nachzudenken, denn zum ersten Mal in meinem Leben glaubte jemand daran.

Glaubte jemand an mich.

Ein lautes Scheppern. Mist, ich muss erst mal rausfinden, wo ich eigentlich bin. Ich suche nach irgendetwas, das mir hilft, mich zu orientieren.

Dieser Geruch.

Es riecht penetrant nach Desinfektionsmittel, Seife und etwas anderem, das mir partout nicht einfallen will, nach etwas Unangenehmem.

Aber klar doch – Krankenhäuser. Die konnte ich noch nie leiden. Ich war nur ein, zwei Mal in einem, als ich jünger war, betrunken und verletzt – meist, weil ich meine große Klappe nicht halten konnte, wenn ich aus dem Pub kam. Jenn hatte irgendwann, als ich mir die Stoppeln abrasierte, die Narbe an meinem Kinn entdeckt. Ich weiß noch, wie sie mit dem Finger über die gewölbte Linie fuhr. Sieht aus, als würdest du immer lächeln, hatte sie gesagt.

Hinter mir ertönen Schritte. Ich drehe mich hastig um und sehe sie in blauer Krankenhauskleidung durch eine Tür kommen. Bei ihrem Anblick schlägt mein Herz schneller. Wir sind also in Jenns Krankenhaus, in Edinburgh.