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Die Senfblütensaga - Wege des Schicksals E-Book

Clara Langenbach

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Beschreibung

Der Traum vom Glück, die Saat des Zweifels, eine junge Liebe am Vorabend des Krieges - Der zweite Teil der großen Familiensaga um eine Senfdynastie Metz 1914: Emma hat ihr Studium beendet und will sich in die Arbeit in der Senffabrik stürzen. Doch die Familie Seidel erwartet von ihr, dass sie sich um Hochzeitsvorbereitungen kümmert. Sie versucht alles, um aus der ihr zugedachten Rolle auszubrechen. Als die Spannungen in der Fabrik Carls ganze Aufmerksamkeit fordern, will Emma helfen, wo sie kann. Doch immer mehr drängt sich ihr die Frage auf: Will Carl ihre Hilfe tatsächlich, oder sieht er in ihr nur die künftige Ehefrau und Mutter seiner Kinder? Als auch noch der Erste Weltkrieg ausbricht, steht plötzlich noch viel mehr auf dem Spiel als ihre gemeinsame Zukunft und der Fortbestand der Fabrik.

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Seitenzahl: 621

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Clara Langenbach

Wege des Schicksals Die Senfblütensaga 2

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Der Traum vom Glück, die Saat des Zweifels, eine junge Liebe am Vorabend des Krieges - Der zweite Teil der großen Familiensaga um eine Senfdynastie

 

Metz 1914: Emma hat ihr Studium beendet und will sich in die Arbeit in der Senffabrik stürzen. Doch die Familie Seidel erwartet von ihr, dass sie sich um Hochzeitsvorbereitungen kümmert. Sie versucht alles, um aus der ihr zugedachten Rolle auszubrechen. Als die Spannungen in der Fabrik Carls ganze Aufmerksamkeit fordern, will Emma helfen, wo sie kann. Doch immer mehr drängt sich ihr die Frage auf: Will Carl ihre Hilfe tatsächlich, oder sieht er in ihr nur die künftige Ehefrau und Mutter seiner Kinder? Als auch noch der Erste Weltkrieg ausbricht, steht plötzlich noch viel mehr auf dem Spiel als ihre gemeinsame Zukunft und der Fortbestand der Fabrik.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Clara Langenbach liebt Geschichten, die im Alltäglichen stecken. »Die Senfblütensaga« ist inspiriert vom wahren Leben einer Firmengründerin Anfang des 20. Jahrhunderts. In dieser hinreißenden Trilogie verknüpft die Autorin ihre Leidenschaft für historische Stoffe und Liebesromane mit kulinarischem Genuss und erfüllte sich so einen eigenen Traum.

 

 

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Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH,

Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Redaktion: Ulla Mothes

 

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildung: Arcangel / Magdalena Russocka und www.buerosued.de

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491307-0

 

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Inhalt

Warnung

Teil Eins

Straßburg, 1914

Metz, 1914

Metz, 1914

Metz, 1914

Metz, 1914

Metz, 1914

Metz, 1914

Metz, 1914

Metz, 1914

Rheinland, 1914

Rheinland, 1914

Rheinland, 1914

Rheinland, 1914

Metz, 1914

Metz, 1914

Teil Zwei

Metz, 1917

Russland, 1917

Metz, 1917

Metz, 1917

Metz, 1917

Russland, 1917

Metz, 1917/18

Frankreich, 1918

Metz, 1918

Nachwort und der historische Hintergrund

Metz im Ersten Weltkrieg

Spionage und Schmuggel im Ersten Weltkrieg

Historische Persönlichkeiten

Danksagung

Senfrezept

Leseprobe aus »Die Teehändlerin«

Dieser Ozean ist so entsetzlich groß

Triggerwarnung:

In diesem Roman wird an einzelnen Stellen sexualisierte Gewalt geschildert. Physische Gewalt und posttraumatische Belastungsstörungen kommen u.a. im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg vor. Im historischen Kontext werden zudem Diskriminierung und diskriminierender Sprachgebrauch sichtbar. Dies betrifft die Themen Ableismus und Antisemitismus.

Teil Eins

Straßburg, 1914

EMMA

Gutgelaunte Studenten strömten an ihr vorbei, lautes Lachen und ungezwungenes Plaudern tönten von überallher. Mit weit geöffneten Türen empfing die Universität ihre Gäste und Absolventen. Emma legte den Kopf in den Nacken und blickte hoch zu den Statuen der Gelehrten, die das Dach der Kaiser-Wilhelms-Universität zierten. Sie hatte es geschafft! Sie hatte es tatsächlich geschafft, allen Unkenrufen zum Trotz. Dennoch erfüllte der Gedanke sie mit Schwermut, die vertraute Schwelle zu überschreiten. Während ihre Kommilitonen einander feierlich gratulierten, nahm niemand Notiz von ihr. Als wäre sie unsichtbar.

Töricht, sich darüber Gedanken zu machen. Sie hatte so viel erreicht! Dennoch stand sie abseits da und fühlte sich schrecklich unwohl in der allgemeinen Heiterkeit.

»Beabsichtigt das gnädige Fräulein, Wurzeln zu schlagen?«, erklang eine neckische Stimme hinter ihr. »Wenn ja, so sei ihm gesagt, dass dies eine denkbar schlechte Stelle für ein solches Vorhaben ist.«

Emma fuhr herum. »Henri!« Erleichtert darüber, ein vertrautes Gesicht zu sehen, fiel sie ihm um den Hals.

»Sachte, sachte! Du erwürgst mich ja fast.« Er drückte sie brüderlich an sich.

»So schlecht ist es um unser Militär bestellt? Dass tapfere Offiziere Angst haben, von einem Frauenzimmer außer Gefecht gesetzt zu werden?«

»Die Erfahrung hat mich früh gelehrt, dass in deiner Nähe durchaus Gefahr für Leib und Seele besteht.«

Sie lachte so laut auf, dass sich ein paar Umherstehende nach ihr umdrehten. »Der gnädige Herr übertreibt ja maßlos!«

»Ach so?«, zog er sie auf. »Wie weit sind die nächsten Gewässer entfernt? Ich möchte heute ungern baden gehen. Und im Schlucken von Verlobungsringen konnte ich auch noch nicht ausreichend Übung erlangen. Meine Sorgen sind durchaus berechtigt, nicht wahr?«

»Was ist der gnädige Herr aber nachtragend. Dass dies zu seinen größten Qualifikationen gehört, hätte ich niemals vermutet!« Ein bisschen rot war sie dennoch geworden.

Er zwinkerte ihr zu. »In den Genuss meiner wahren Qualifikationen dürfen nur ganz erlesene Personen kommen. Das gnädige Fräulein gehört leider nicht zu ihnen.«

Sie lachte noch lauter und erntete hier und da ein Kopfschütteln. Unmöglich, dass eine Frau sich in der Öffentlichkeit so gehen ließ! Aber an Henris Seite fiel es ihr leicht, den gesellschaftlichen Konventionen zu trotzen. Seine imposante Erscheinung war wie ein Schutzschild vor allen Blicken und Lästereien. Die Offiziersuniform umspannte seine breiten Schultern. Die roten Ärmelaufschläge setzten zusammen mit den goldenen Knöpfen feine Akzente zum dunkelblauen Waffenrock, während die Schirmmütze und die schneeweißen Handschuhe seine feierliche Aufmachung vervollständigten. Kaum eine Dame, die an der Seite ihres Begleiters zum Eingang der Universität defilierte, konnte es sich verkneifen, ihm einen sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen. Nur interessierten ihn diese Blicke noch weniger als die Kieselsteine unter seinen Schuhsohlen. Sein Herz war seit Jahren vergeben – an einen jungen Mann namens Pierre Lefèvre. Der vermutlich zu den erlesenen Personen gehörte, die in den Genuss aller Qualifikationen Henris kommen durfte.

»Isch bin auch ’ier«, ertönte es hinter dem imposanten Offizier. Emmas Herz machte beinahe einen Salto.

»Émile!« Fest drückte sie ihn an sich. Sein feines silbergraues Haar kitzelte ihre Wange, und ein kaum wahrnehmbarer Geruch nach alten Büchern und Kamillentee stieg ihr in die Nase. Seine Nähe und sein Duft reichten aus, um alle Sorgen fortzuwischen. Wenn er bei ihr war, fühlte sich die Welt wie ein Zuhause an. Ganz egal, ob sie in seiner kleinen, gemütlichen Buchhandlung stand oder vor den Stufen einer riesigen Universität.

»Na, was ist denn los, ma chère?« Er schob sie ein Stück von sich und betrachtete sie voller Stolz. »Bereit für deinen großen Tag?«

Sie nickte entschlossen, dass ihr Hut beinahe verrutschte. »Jetzt schon. Außer, du hast Gusti mitgebracht. Dann muss ich natürlich vorher noch mit ihr schmusen.«

»Gusti ist sisch zu fein für solsche Ausflüge.« Er deutete auf den Eingang. »Wollen wir?«

»Wo ist Carl?« Henri sah sich um. »Sollen wir auf deinen Verlobten warten, oder muss er selbst sehen, wie er zurechtkommt?«

»Heute schaffe ich es ohne ihn.« Lachend stupste Emma ihn in die Seite. »Carl ist im Saarland. Wenn alles gut läuft, können wir unseren Senf an die Kantinen der Bergbauleute ausliefern. Das wäre ein bedeutender Erfolg für die Fabrik. Auch wenn es in Lothringen und im Elsass wunderbar läuft, brauchen wir dringend weitere Verträge, um die Zukunft des Betriebs dauerhaft zu sichern … Was ist?«, meinte sie, als sie Henris hochgezogene Augenbrauen bemerkte.

»Bei dem Elan, mit dem du darüber sprichst, wundert es mich, dass du in Straßburg bist, und nicht bei Carl im Saarland.«

»Heute ist meine Anwesenheit hier erforderlich. Wenn Carl zurück ist, werden wir meinen Abschluss feiern. Und hoffentlich auch die erfolgreichen Verhandlungen in Saarland.« Sie zwang sich zu einem siegreichen Lächeln. Obwohl es so sehr weh tat an Carls Abwesenheit erinnert zu werden. Sechs Monate hatten sie sich nicht gesehen. Seine Briefe – schon immer recht kurz – waren in der letzten Zeit noch knapper geworden. Doch zweifeln durfte sie nicht. Sie beide verband so viel! »Jetzt aber los!« Sie straffte die Schultern. »Auch wenn meine Anwesenheit hier unabdingbar ist, werden die Herrschaften nicht auf mich warten.« Mit hocherhobenem Kopf schritt Emma dem Eingang entgegen.

Die Abschlussfeierlichkeiten fanden in der großen Aula statt, die von einer beeindruckenden zweistöckigen Arkade gesäumt wurde. Weiches Tageslicht fiel durch das milchige Glas, das über ihren Köpfen das Dach ersetzte. Ganz vorn war ein Podest mit einem Pult aufgebaut worden, wie immer, wenn es um Ankündigungen und bedeutsame Reden ging. Davor standen in einem Halbkreis unzählige Stühle. Die meisten Anwesenden bemühten sich vergeblich, sich Ungeduld und Aufregung nicht ansehen zu lassen. Unsicher strich Emma ihren Rock glatt. Sie hatte sich für schlichte Stoffe und unauffällige Farben entschieden. Nur ein kleiner Strang aus Barockperlen, die Carl ihr geschenkt hatte, lag um ihren Hals. Nichts sollte davon ablenken, dass sie eine erfolgreiche Absolventin des Wirtschaftsstudiums war – und keine weitere Zierde für den festlichen Saal.

»Geh schon.« Väterlich tätschelte er ihr den Rücken. »Wir kommen zurescht.« Er sprach ganz leise, wie immer, wenn viele fremde Menschen um ihn herum waren, als würde er sich für seinen starken französischen Akzent schämen. Sanft schob er sie vorwärts. »Mach dir keine Sorgen um uns. Genieße deinen großen Tag.«

Emma nickte widerwillig. Wo war ihr ganzer Mut geblieben? Hatte das Studium sie nicht gelehrt, sich zu behaupten? Das zu nehmen, was ihr zustand? Noch immer kostete es sie eine Überwindung, sich bei offiziellen Anlässen zu ihren Kommilitonen zu gesellen. In ihren Ohren stieg sogleich das Gegröle ihrer Mitstudenten auf, das sie zu gern »Lied« schimpften:

O junge Mädchenherrlichkeit

Welch neue Schwulitäten!

Bezieht ihr alle weit und breit

Die Universitäten!

Vergebens spähe ich umher,

Ich finde keine Hausfrau mehr!

Was immer noch besser war als Pfiffe und das verächtliche Füßescharren zur Begrüßung, wenn sie einen Vorlesesaal betrat. Nicht zu vergessen den einen oder anderen schmerzhaften Kniff in den Arm, wenn einer der feinen Herren der Meinung war, sie würde ihm seinen Platz wegnehmen. Sie straffte die Schultern und steuerte die ersten Reihen an, wo sich die Absolventen des Jahres niedergelassen hatten. Heute grölte niemand und scharrte auch nicht mit den Füßen. Wenigstens etwas. Ihr Blick glitt über die jungen Männer, die aufgeregt miteinander tuschelten. Ein letzter freier Platz wartete auf sie. Emma beschleunigte den Schritt.

»Die Gäste nehmen bitte hinten Platz, mein liebes Fräulein.« Ein hagerer Mann sprang ihr in den Weg – die Hände hochgehoben. Hier sitzen …«

»Ich weiß, wer hier sitzt«, unterbrach Emma kühl seine Predigt. Manchmal reichte eine selbstbewusste Haltung, um das Gegenüber von unnötigen Diskussionen abzuhalten. Doch der Mann plusterte sich noch mehr auf, was bei seiner schmalen Gestalt einem Wunder glich. »Gnädiges Fräulein, bitte verzeihen Sie mir, aber mit einem der Absolventen herumplänkeln können Sie auch nach der Zeremonie. Ich muss Sie jetzt auf einen der hinteren Plätze verweisen.«

»Keine Sorge.« Emma lächelte charmant. »Während meiner Studienzeit habe ich genug mit meinen Kommilitonen geplänkelt. Wenn Sie erlauben – ich muss mein Zeugnis entgegennehmen.« Sie huschte an ihm vorbei zu ihrem Platz, während er mit ausgebreiteten Armen dastand und ihre Worte verdaute. Verärgert stieß sie die Luft aus und ließ sich auf den Stuhl nieder. Nichts hatte sich seit ihrem ersten Tag an dieser Universität verändert. Rein gar nichts! Aber irgendwann würde sich die Gesellschaft eingestehen müssen, dass Veränderungen unaufhaltsam waren.

Die plötzlich eingebrochene Stille lenkte ihre Gedanken ab. Der Rektor, August Sartorius von Waltershausen, stieg gemächlich auf das Podest und breitete auf dem Pult die Blätter seiner Rede aus. Elend lange raschelte es, bis er sich geschäftig räusperte. »Meine Damen und Herren. Feierlich begrüße ich Sie an diesem herrlichen Tag zu einem der bedeutendsten Ereignisse des Jahres. Heute wollen wir unsere Absolventen ehren, die unzählige Hindernisse überwunden haben, um in diesem Saal zu sitzen. Sicherlich können sie kaum erwarten, endlich ihre Zeugnisse in den Händen zu halten. Doch bevor wir zur Zeremonie übergehen, erlaube ich mir …«

Ungeduldig hörte Emma der Rede des Rektors zu, der es offensichtlich nicht für nötig hielt, in der nahen Zukunft zum Ende zu kommen. Langsam wurden auch ihre Kommilitonen unruhig, offensichtlich war sie nicht die Einzige, die vor lauter Nervosität kaum still sitzen konnte. Gustav neben ihr zupfte immer wieder an seinem Stehkragen. Eine Angewohnheit, der er besonders vor wichtigen Prüfungen frönte. Bernd, drei Stühle weiter, wippte ungeduldig mit dem Fuß.

Endlich beendete der Rektor seine Laudatio auf seine geliebte Universität und trat zurück. Ein anderer Mann stieg auf das Podest, um sich mit den Zeugnissen in der Hand hinter dem Pult aufzubauen. Emmas Herz setzte aus: Paul Laband!

Ausgerechnet Paul Laband, der sie damals seiner Vorlesung verwiesen hatte. Als sein Blick sie streifte, glaubte Emma, seine Stimme zu hören: »Ich fürchte, ich muss demnächst einen Pedell aufstellen, damit er mir die Weibsbilder vom Hals hält.« Was würde er heute über sie denken? Offensichtlich nichts, denn er beachtete sie nicht weiter.

Die Jahre hatten ihn fülliger werden lassen. Seine Tränensäcke wirkten wie schlecht aufgefüllte Lavendelkissen, die Carls Mutter zwischen ihren Kleidern aufzuhängen pflegte. Dennoch strahlte sein Ausdruck dieselbe Entschlossenheit und Überlegenheit aus wie damals. Dieser Mann wusste, wie bedeutend er war: ein gefeierter Wissenschaftler und Politiker, der vom Kaiser persönlich in die erste Kammer des Landtags berufen worden war. Trotz aller Verpflichtungen fühlte er sich der Universität in Straßburg so verbunden, dass er seine wertvolle Zeit für die Ausgabe der Zeugnisse opferte. Emma spürte, wie sich Genugtuung in ihr ausbreitete. Heute würde er nicht umhinkommen, ihre Leistung anzuerkennen.

Sie hörte seiner Einführungsrede zu, in der er die Bedeutung der Wissenschaft für das Kaiserreich anpries. Damals wie heute strotzte er vor purer Leidenschaft, mit der er seine Zuhörer in den Bann zog. Schließlich begann er, die ersten Namen in der alphabetischen Reihenfolge aufzurufen. Gustav Abderhalden war der Erste, der sich erheben und dem Podest entgegenschreiten durfte. Ein großer, junger Mann, der selbstbewusst die drei Stufen hochstieg. Von Nervosität keine Spur mehr.

»Herzlichen Glückwunsch«, begrüßte Laband ihn feierlich und schüttelte kräftig seine Hand. Applaus brandete durch den Saal und entlockte Gustav ein freudiges Strahlen, als er stolz zu seinem Platz zurückkehrte. Nach und nach wurden weitere Namen ausgerufen, und Emmas Herz schlug immer schneller, je weiter die Aufzählung fortschritt: Averbeck, Beckenhaub … Böttner? Sie hielt inne. War die alphabetische Ordnung durcheinandergeraten? Haffner, Jablonski … Sie hielt es nicht mehr aus.

»Bergmann!« Sie sprang auf. Ihre Stimme schrillte durch die Halle. »Emma Bergmann!«

Labands Blick schnellte zu ihr. Im Saal wurde es ganz still. Niemand wagte auch nur einen Atemzug zu machen.

»Gnädiges Fräulein«, erwiderte Laband süffisant, »kein Grund, hysterisch zu werden. Ich habe alles im Griff.«

»Nach Beckenhaub kommt Bergmann, oder nicht?« Verzweifelt sah sie sich um. Obwohl sie wusste, dass sie keine Hilfe zu erwarten hatte.

»Wann Sie drankommen, entscheide immer noch ich, meine Liebe. Setzen Sie sich.« Er schaute auf das nächste Zeugnis. »Alfred Laue!«

Alfred erhob sich und schritt zum Podest. Emmas Blick wich er aus, als wäre es ihm unangenehm, sich mit ihr in einem Raum zu befinden.

Sie ballte die Hände und zwang sich zurück auf den Stuhl. In ihren Augen brannten Tränen, während tief in ihr so eine Wut loderte, wie sie diese noch nie empfunden hatte. Ein schreckliches Gefühl, vor Hilflosigkeit und Zorn vollkommen ausgezehrt zu werden.

… Leopold Wanke …

… Paul Ziegler …

Paul Ziegler war der Letzte, der nach vorn gehen durfte.

Und jetzt?

»Nun zu unserem Fräulein, das der Meinung war, mich in Sachen Alphabet unterrichten zu müssen. Emma Bergmann«, tönte es gönnerhaft vom Podest.

Vereinzelte Gluckser tönten. Emma schluckte. Mit schweißfeuchten Händen fuhr sie sich über ihren Rock, um das Zittern ihrer Finger zu kaschieren.

»Gnädiges Fräulein, wo bleibt denn Ihr Elan von vorhin?«, stichelte Paul Laband. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Sie stand auf, obwohl ihre Beine drohten, ihr den Dienst zu verweigern. Schritt für Schritt näherte sie sich dem Podest. Auf den Stufen verhedderte sie sich in ihrem Rock und wäre fast hingefallen. Blut schoss ihr in die Wangen. Nur noch die letzte Stufe erklimmen, dann stand sie ganz oben.

Laband schnaubte und versperrte ihr den Weg, bevor sie es ganz auf die Empore geschafft hatte. Unschlüssig blieb sie eine Stufe unter ihm stehen, streckte ihm ihre Hand entgegen, in Erwartung, er würde sie wie bei den männlichen Absolventen schütteln. Stattdessen drückte er ihr das Diplomzeugnis in die Finger.

»Gratuliere«, presste er durch die Zähne hervor. »Wie man sieht, ist diese hervorragende Universität in der Lage, auch einem Frauenzimmer etwas beizubringen.«

Er drehte ihr den Rücken.

Niemand applaudierte.

Dann tönte ein vereinzeltes Klatschen wie das Platschen von Regentropfen, die sofort versiegten, als Laband das Wort wieder dem Rektor übergab. Auf leisen Sohlen kehrte Emma zu ihrem Platz zurück. Die Tränen brannten noch immer in ihren Augen, doch die Wut machte tiefster Scham Platz.

Die Reden waren verhallt. Die Gäste – gegangen. Und sie saß immer noch auf ihrem Stuhl. Irgendwo im Saal warteten Henri und Émile auf sie. Zum Glück ohne sie zu bedrängen oder trösten zu wollen.

Erst nach einer Weile wischte sie sich über die nassen Wangen, dann stand sie auf und steuerte den Ausgang an, den Blick zum Marmormosaik des Bodens gerichtet.

Wie zum Hohn erstreckte sich über Straßburg der blaue Himmel. Doch die warmen Sonnenstrahlen vermochten keineswegs, die Gewitterwolken über Emmas Gemüt zu vertreiben. Sie lief geradeaus, immer weiter, das Zeugnis in der verkrampften Hand zusammengedrückt. Ein Stück Papier, das nichts, absolut nichts veränderte.

Irgendwann blieb sie dennoch stehen. Émile und Henri traten an ihre Seite.

»Wo’in jetzt, ma chère?«

Sie schloss kurz die Augen und hob ihr Gesicht der Sonne entgegen. »Nach Hause. Einfach nur nach Hause.«

So lange hatte sie gekämpft, um zu beweisen, dass sie nicht weniger vermochte als ihre männlichen Mitstreiter. So viel hatte sie gegeben, um die Anerkennung zu bekommen, die sie verdiente.

Und nun? Wie sollte es weitergehen, in einer Welt voller Labands? Sie starrte auf das Zeugnis in ihren Händen und spürte nichts als Leere.

Zu dritt machten sie sich auf den Weg zum Bahnhof. Henri kümmerte sich um die Fahrkarten, während Émile bei ihr blieb. Der Fahrplan machte die Hoffnung zunichte, bald zu Hause zu sein – auf den richtigen Zug würden sie mehrere Stunden warten müssen. Am liebsten wäre Emma auf einer der Wartebänke zusammengesackt, aber Émile bestand auf seinem Kamillentee, den er in einem der nahe liegenden Cafés zu sich zu nehmen gedachte.

»Es ist eine Sache, sisch das Wissen anzueignen«, philosophierte der Buchhändler, während seine Finger über den filigranen Henkel seiner Porzellantasse fuhren. »Eine andere – das Wissen einzusetzen. Du ’ast noch so viel vor dir.«

»Wer braucht schon mein Wissen?«, murmelte Emma, denn der sonst so wohltuende Kamillenduft verfehlte heute seine Wirkung.

»Du weißt, wer«, unterbrach Émile sie resolut. »’eute ist Saarland dran. Danach Luxemburg und Schweiz und Österreisch.«

»Frankreich, Italien, Belgien«, fuhr Henri fort und beugte sich zu ihr. »Was Eroberungsstrategien angeht, kannst du dich vertrauensvoll an mich wenden.«

Irgendwie schaffte er es immer, ihr ein Lächeln zu entlocken. »Sie haben auch schon so viel erobert, Herr Wolff. Fast das gesamte Frankreich. Oh, nein, warten Sie: Doch bloß einen gewissen Monsieur Lefèvre?«

»Mir reicht es aus.« Verwegen grinste Henri über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg.

»Aber, aber. Kinder!«, grummelte Émile Perrin in seinen Kamillentee und sah sich verstohlen um. Emma seufzte. Natürlich hatte er recht. Wenn sie unter sich waren, vergaß sie zu schnell die Vorsicht. Dabei konnte es nicht nur Henris Karriere, sondern sein gesamtes Leben zerstören, würden seine Herzensangelegenheiten an die Öffentlichkeit gelangen.

Immerhin half die Plauderei, die Trübsal beiseitezuschieben. Feierlich hob Emma die Tasse. »Auf den großen Tag. Auf dieses verfluchte Zeugnis, das ich so sehr haben wollte.«

»Auf die Zukunft«, bekräftigte Émile Perrin. Und wie damals in der Buchhandlung bei der Feier ihrer bestandenen Prüfung stießen sie mit den Teetassen an.

Erst in der Dämmerung erreichten sie Metz. Der riesige Bahnhof empfing die kleine Reisegesellschaft mit der gewohnten Wuseligkeit. Unzählige Menschen eilten an ihnen vorbei, die emsigen Gepäckträger huschten hin und her, und irgendwo rief ein Zeitungsverkäufer heiser etwas in die Menge, um die letzten Tagesausgaben loszuwerden.

Émile Perrin kramte ein paar Pfennige heraus und kaufte eine Ausgabe der Metzer Zeitung. Rasch blätterte er sie durch, bis er zufrieden vor sich hin grinste. »Wusste isch doch, auf dem Weg nach Straßburg was gesehen zu ’aben. Schau, ma chère!«

Er hielt das Blatt Emma unter die Nase. Sie trat einen Schritt zurück – und hielt den Atem an. Fast über die ganze Seite prangte eine Anzeige, die wortreich über die baldige Hochzeit von Carl Seidel und Emma Bergmann informierte. Ungläubig starrte Emma auf all die abgedruckten Blumen und Täubchen und Schleifen, die jeden freien Platz ausfüllten. Es war … überwältigend. Und ein wenig beängstigend. In den letzten Monaten hatte sie sich derart in den Abschluss ihres Studiums vertieft, dass sie kaum noch an etwas anderes gedacht hatte. Der Tag, an dem aus Fräulein Bergmann Frau Seidel werden sollte, schien unendlich weit weg zu sein. Nun prangte das Datum schwarz auf weiß auf der Seite einer Zeitung.

Émile Perrin forschte beunruhigt in ihrem Gesicht. »Freust du disch gar nischt?«

»Doch, natürlich«, stammelte sie kaum hörbar. Selbstverständlich freute sie sich. Freute sich so sehr! Mit Carl für immer vereint zu sein, war alles, was ihr Herz je gewollt hatte. Gleichzeitig spürte sie beim Anblick der prächtigen Anzeige ein Unwohlsein. Würde sie all dem gerecht werden, was die Seidels von ihr erwarteten? Konnte sie vor der feinen Gesellschaft bestehen, wenn unzählige Blicke auf sie gerichtet wurden? Was bedeutete es wirklich, Carls Namen zu tragen?

Plötzlich riss Henri dem Buchhändler die Zeitung aus der Hand. Mit gerunzelter Stirn starrte er auf die Überschrift, die auf der ersten Seite prangte.

Die Bluttat von Sarajevo: Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Herzogin von Hohenberg.

Emma schluckte.

Ein Attentat auch noch.

Was für ein schrecklicher Tag.

***

Sie hatte gehofft, nach Metz zurückzukommen, würde bedeuten, endlich zu Hause zu sein. Bei Menschen, die ihr so viel bedeuteten. Stattdessen spürte sie überall eine merkwürdige Anspannung und war froh, dass sie sich in Émiles Buchhandlung verkriechen konnte. Diese Anspannung schien sich über die Dächer der Stadt zu legen, die Fühler auszustrecken und Unsicherheit zu säen.

Vergeblich versuchte sie, das Gefühl abzustreifen, aber es hielt sie fest in seinen Fängen. War Carl aus dem Saarland zurück? Laut seinem Brief müsste er seit gestern in der Stadt sein. Sie sehnte sich nach seiner Nähe, seinen Umarmungen, seinen Küssen. Gleichzeitig war ihr ein wenig bange. Würden sie einfach dort weitermachen können, wo sie vor vier Jahren aufgehört hatten? Wo standen sie heute? Was sah die Zukunft für sie beide vor? Die Gründung einer Familie, schon klar. Doch »Familie« war ein Wort, das für sie nur aus einem beklemmenden Schweigen, dem kalten Blick ihrer Mutter und der Unberechenbarkeit ihres Vaters bestand.

»Ach, was bist du nur so melancholisch?«, klagte der alte Buchhändler von seinem Sessel aus, und Emma ertappte sich dabei, wie sie schon wieder ins Nichts starrte und grübelte.

»Alles in bester Ordnung.« Wie schön, dass Gusti ihre Lüge gespürt zu haben schien und zu ihr kam, um es sich auf ihrem Schoß gemütlich zu machen. Die Wärme der Katze, das vibrierende Schnurren, das vom Körper des Tiers ausging, trösteten ungemein.

»Isch sehe doch, dass disch etwas beschäftigt.« Bekümmert schüttelte Émile den Kopf. Am liebsten wäre Emma zu ihm gegangen und hätte die Sorgenfalten auf seiner Stirn glatt gestrichen. Ihm Sorgen zu bereiten, war das Letzte, was sie wollte.

»Es ist nichts. Nur …« Sie vergrub die Finger im dichten Katzenfell. War es seltsam, sich zu wünschen, seine Tochter zu sein? Plötzlich fiel ihr auf, dass sie nie gefragt hatte, ob er eigene Kinder hatte. »Hast du … Familie?«

Er zögerte. »Natürlisch.«

»Hier in Metz?«

»Wo sonst?« Er lächelte ihr zu. »Du und Gusti sind ja ’ier.« Sein Gesicht strahlte so viel Zuneigung aus, dass Emma sie geradezu körperlich spürte. Eine warme Welle, die ihr Inneres zu umarmen schien, um die Sorgen von ihr fernzuhalten.

»Ich meine, deine richtige Familie.«

Belustigt hob er die Brauen. »Was ist denn an eusch zwei falsch?«

»Du weißt doch, wie ich es meine«, schalt sie ihn. »Hast du Verwandte?«

Er seufzte tief und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Mit einer unsicheren Hand, wie Emma es vorkam, nahm er seine Brille ab und legte sie auf den Tisch. Sein Blick schweifte zum Fenster. »Isch und die liebe Verwandtschaft. Was soll isch nur sagen? Irgendwo in Marseille sind bestimmt ein paar Cousins und Cousinen zu finden. Und meinen Bruder natürlisch, den gibt es bestimmt auch noch.«

»Du hast einen Bruder?«, hauchte Emma überrascht. Wie wenig sie über ihn wusste!

Émile winkte bloß ab. »Ach, komm mir bloß nischt mit meinem Bruder!«

Emma kaute auf der Lippe. Viel Kontakt schienen sie nicht zu haben.

»Und deine Eltern?« Sofort bedauerte sie es, ihn gefragt zu haben. Die drei unschuldigen Worte hatten es geschafft, etwas Wundes in ihm aufzureißen. Sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzhaften Grimasse. »Meine Mutter ist gestorben, kurz bevor isch zum Studium nach Straßburg gegangen bin. Mein Vater …« Er schluckte hart. Seine Finger bebten leicht, während er sich über den Nasenrücken strich. »Mein Vater ist sischerlisch auch unter der Erde. Er war damals schon nischt der Jüngste.«

Es tat weh, ihm zusehen zu müssen, wie viel Überwindung es ihn kostete, darüber zu sprechen. Hätte sie bloß nicht gefragt! Die Katze sprang von Emmas Schoß und rieb sich an Émiles Bein. Sichtlich dankbar für die Unterbrechung, nahm der alte Mann das Tier auf die Arme. Gusti streckte sich auf seiner Brust aus und rieb den Kopf an seiner Schulter. So verharrten die beide eine Weile.

Es war so still, dass man jeden Passanten hören konnte, der draußen an der Buchhandlung entlangspazierte. Und doch war diese Stille nicht von der Beklommenheit erfüllt, die in Emmas Elternhaus geherrscht hatte, sie trug nichts Bedrohliches in sich.

»Du hast in Straßburg studiert?«, wechselte Emma das Thema.

»Schien mir weit genug weg von der Vergangen’eit zu sein.« Er drückte seine faltige Wange an Gusti. »Isch bin glücklisch, ’ier zu sein.«

»Dass du hier bist, macht mich auch glücklich«, flüsterte sie ihm zu und wandte den Blick ab. Anscheinend waren Familien überall so schrecklich kompliziert. Nun war sie im Begriff, ihre eigene zu gründen. Mit nichts als der Hoffnung, es besser machen zu können.

Das Glöckchen an der Tür bimmelte.

»Carl!« Sie fuhr hoch. Doch es war nicht Carl.

Entschuldigend breitete Henri seine Arme aus. »Bedauere. Bloß meine Wenigkeit.«

Emma stürmte dennoch auf ihn zu. »Du bist doch immer willkommen.«

Lachend umfing er sie und hob sie an wie seine kleine Schwester. Misstrauisch betrachtete Emma sein breites Grinsen. »Führst du da etwas im Schilde?«

»Niemals!« Empört riss Henri die Augen auf. »Ich wollte dir bloß ein kleines Geschenk zur bevorstehenden Hochzeit vorbeibringen!«

»Ein Geschenk?« Skeptisch hob Emma eine Augenbraue. »Ist es nicht ein wenig verfrüht?«

»Geschenke sind nie verfrüht!« Er überreichte ihr ein Päckchen: Der Form nach zu urteilen ein Buch, das er in Packpapier gewickelt und mit einer schiefen Schleife versehen hatte. Ein großer Verpackungskünstler war er wohl nicht.

Mit gerunzelter Stirn machte Emma die Schleife auf und zog das Präsent heraus. »Die eheliche Pflicht«, las sie. »Von Dr. Karl Weißbrodt. Ernsthaft?«

Émile gluckste in seinem Sessel. Noch mehr Heiterkeit schien Henri zu versprühen, der mit gewölbter Brust in der kleinen Buchhandlung hin und her stolzierte. »Nun. Zwar gebe ich dir gern Ratschläge in allen Lebenssituationen, aber in diesen Belangen kann ich leider nicht mit meinem Wissen glänzen. Daher dachte ich, eine passende Lektüre wäre nicht verkehrt.«

Der Buchhändler prustete los. Empört blickte Emma auf, doch der alte Mann hob unschuldig die Hände. »Schau nischt misch an. Er ’at es nischt bei mir gekauft.«

»Man schrieb darüber«, belehrend streckte Henri seinen Zeigefinger in die Luft, »Ein Büchlein, das in sehr dezenter Weise und in durchaus christlichem Sinne von Dingen redet, die sonst für fast unnahbar gelten und in der Tat auch sehr behutsam behandelt sein wollen. Du kannst es bestimmt gebrauchen.«

»Ich zeige dir, wie gut ich es gebrauchen kann!« Sie lachte und warf das Büchlein Henri entgegen. Am liebsten hätte sie seinen Kopf getroffen, doch geschickt, wie er war, fing er es auf.

»Doch nicht deine Lektüre?« Er legte das Buch beiseite.

»Werde mir nicht zu frech«, mahnte Emma. »Sonst lade ich deinen Pierre von meiner Hochzeit aus und hetze dir dafür jede auf dem Fest anwesende Jungfer an den Hals. Mal sehen, wie vergnüglich der Tag für dich sein wird!«

»Bekomme ich wenigstens eine Tasse Tee, wenn ich verspreche, ab jetzt ganz brav zu sein?«

»Ich schaue gerne nach, was sich da machen lässt.«

Rasch machte sie sich davon, auch wenn sie sich fragte, wann es an der richtigen Zeit war, Henri beizubringen, sich selbst um den Tee zu kümmern. In der Buchhandlung fühlte er sich doch auch sonst längst wie zu Hause.

Eine kurze Zeit später saßen sie am Tisch. Nachdenklich nippte Emma an der heißen Flüssigkeit und schielte ab und zu zum Büchlein, das neben ihr lag. Wusste sie wirklich genug über die eheliche Pflicht? Ihre Mutter hatte nie von solchen Dingen gesprochen, weder dezent noch behutsam, und die Gedanken daran machten Emma ganz konfus.

Während sie über die Nützlichkeit des Ratgebers sinnierte, kam das Gespräch der Männer auf das Attentat. Mit Sorge sprach Henri vom österreichisch-serbischen Konflikt, von den möglichen Folgen, sollte die Lage sich weiter zuspitzen, von den Spannungen, die in der letzten Zeit immer spürbarer geworden waren.

»Krieg?« Ungläubig betrachtete Emma sein ernstes Gesicht und Perrins Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen. »Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert! Man wird wohl andere Wege finden können, um Konflikte zu lösen, als den Krieg!«

Der Buchhändler hob beruhigend die Hand. »Abwarten. Wir sollten den Teufel nicht gleich an die Wand malen.«

Schon unterhielten sich die beiden über Literatur, besprachen die Brisanz einer im letzten Jahr erschienenen Novelle, Der Tod in Venedig von Thomas Mann, stritten sich über die Allegorien, Symbolik und Décadence-Motive, während Emmas Gedanken nur um das eine kreisten.

Scheußlich, dieses Attentat. Absolut scheußlich. Aber ein Krieg? Konnte es wirklich so weit kommen? Sie wusste es nicht.

Anfang Juli hatte das Kaiserreich seinem Verbündeten Österreich die volle Unterstützung bei militärischen Konflikten zugesichert. »Blankoscheck« nannte Henri es. Damals nur eine leere Worthülse. Heute – eine Bedrohung? Andererseits: Würde der Kaiser in solch unsicheren Zeiten dann zu seiner üblichen Nordlandreise aufbrechen? So schlimm konnte es kaum sein. Émile hatte recht. Sie sollten abwarten.

Dennoch schlief sie schlecht in dieser Nacht. Die Sorgen waren geblieben und woben ein dichtes Netz um sie herum. Unaufhörlich wälzte sie sich herum, das Bett knarzte – ihre Unruhe verscheuchte sogar Gusti von ihrem Kopfkissen. Sicherlich hielt sie auch Émile mit ihrer Schlaflosigkeit wach, in seiner winzigen Wohnung oberhalb der Buchhandlung gab es nicht viel Platz.

Noch vor Sonnenaufgang stand Emma auf. Zum Glück wartete im Laden genug Arbeit und lenkte sie ab. Rechnungen prüfen, Bücher einsortieren, Kunden bedienen. Dennoch kam sie nicht umhin, sich immer wieder zu fragen, ob sie heute Carl sehen würde. Oder ging er ihr aus dem Weg? Ausgerechnet jetzt, nachdem sie vier Jahre der Trennung überstanden hatten?

Das Glöckchen klingelte.

»Ich bin gleich für Sie da!«, rief Emma zwischen den Regalen hervor, steckte die Bücher, die sie im Arm hielt, in ein Fach und hastete zurück. Am Eingang stand Wilhelmine im sonnenblumengelben Musselinkleid, auf ihrer aufwändigen Hochsteckfrisur thronte ein kleiner beigefarbener Hut, der ihrer wohlgenährten Erscheinung dennoch etwas Filigranes verlieh. Emmas Herz stolperte. Die ganze Zeit half sie Émile in der Buchhandlung aus – dabei warteten Hochzeitsvorbereitungen auf sie! Das Donnerwetter konnte sie schon nahen hören. Eine stechende Stimme, die sich tiefer und tiefer in ihren Verstand bohrte: Was bist du nur für ein Taugenichts! Erst nach ein paar Augenblicken fiel Emma auf, dass die Stimme ihrer Mutter gehörte, die da in ihrem Kopf schimpfte. Wilhelmine dagegen ließ sich ausgiebig von Gusti beschnuppern, bevor sie Emma in die Arme schloss.

Auch nach all den Jahren hatte Carls Mutter nichts von ihrem sonnigen Gemüt eingebüßt. Der warme, vertraute Geruch nach Veilchen hieß Emma willkommen. Trotzdem fühlte sie sich schrecklich befangen in Wilhelmines Umarmung: So viel Körperkontakt war sie nicht gewohnt. Hatte ihre Mutter sie doch nur angefasst, wenn es sich nicht vermeiden ließ.

Endlich ließ Wilhelmine sie los und strich Emma behutsam über die Schulter, während in ihren Augen ähnlich heitere Funken stoben wie im Blick ihres Sohnes. »Wie schön, dass du endlich wieder in Metz bist. Wir freuen uns alle sehr.«

»Danke«, flüsterte Emma. Das Schuldgefühl, die Hochzeitsvorbereitungen verdrängt zu haben, nagte an ihr. »Geht es allen gut? Du siehst so wunderbar aus!«

Es war keine Floskel. Wilhelmine schien zu den Frauen zu gehören, die nie alterten. Natürlich gesellte sich das eine oder andere Fältchen dazu, auch ihr Haar war eine Spur grauer geworden. Was ihr einen besonders edlen Ausdruck verlieh.

»Danke, uns geht es gut. Ich sehe, dass du beschäftigt bist, möchte auch nicht lange stören …«

»Nein, nein! Ich freue mich wirklich, dich zu sehen.« Nervös knetete Emma ihre Finger. Die vernarbte Haut auf ihren Armen spannte.

»Ich wollte nur ein paar Sachen mit dir bereden. Habe schon ein ganz schlechtes Gewissen, weil Louise und ich so vieles ohne Rücksprache mit dir entschieden haben. Aber die Zeit drängt. Bald ist es so weit!«

»Du brauchst doch kein schlechtes Gewissen zu haben«, versicherte Emma. Schon gar nicht dafür, dass die Seidels ihr so viel abgenommen hatten. »Möchtest du dich hinsetzen? Hier, bitte.« Emma deutete zum Tisch, auf dem es sich Gusti bereits gemütlich gemacht hatte und die Unterhaltung mit ihren goldenen Augen verfolgte. »Darf ich dir vielleicht etwas Kamillentee anbieten?«, redete Emma weiter und ertappte sich schon wieder dabei, wie sie an ihren Fingern zupfte. »Ich fürchte, andere Getränke hat dieser Laden nicht zu bieten.«

»Ein Tee ist ganz wunderbar!« Wilhelmine legte ihr Täschchen beiseite und setzte sich.

Geschäftig nahm Emma die Buchhandlungskatze vom Tisch, fegte ein paar Katzenhaare beiseite und bereitete den Tee zu. Sie setzte sich gerade hin, da fiel ihr Blick auf Die eheliche Pflicht, das Büchlein, das sie nicht weggeräumt hatte. Sofort lief Emma rot an, ihre Wangen brannten. Was würde nur Carls Mutter darüber denken? Amüsiert schien Wilhelmine die Lektüre zu betrachten. Dann beugte sich die Frau vor und schaute ernst auf. »Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, oder? Ganz besonders, wenn es um Fragen geht, die … nun ja … von Frau zu Frau geklärt werden sollten.«

»Da, da gibt es nichts zu klären.« Hastig packte Emma das Büchlein weg. Dieser verfluchte Henri!

Wilhelmine senkte die Wimpern. »Entschuldige. Ich wollte nicht aufdringlich sein.«

»D-das bist du nicht. Wirklich nicht«, stotterte Emma. Zur Stärkung nahm sie einen großen Schluck Kamillentee. Vielleicht war es doch nicht verkehrt, das eine oder andere in Erfahrung zu bringen. »Carl … hat er vor mir schon andere Frauen gehabt?«

Wilhelmine schmunzelte. »Ganz unerfahren ist er nicht.«

»Und …« Emma spürte, wie die Hitze in ihr Gesicht stieg. »Was macht man … um … nun ja … ihm Vergnügen zu bereiten?«

»Das ist natürlich nichts, worüber er mit seiner Mutter reden würde.« Wilhelmine legte eine Hand auf ihre Schulter. Die Berührung wirkte so leicht, kaum merkbar – und doch überkam Emma plötzlich das Gefühl, mit all ihren Fragen und Sorgen nicht allein zu sein. »Aber du brauchst keine Angst zu haben, glaube mir. Es ist unsere Pflicht, die Bedürfnisse unserer Männer zu erfüllen. Aber diese Pflicht kann auch viel Vergnügen bereiten. Carl ist jemand, dem das Glück der Frau sehr am Herzen liegt. Vertraue ihm. Er wird schon wissen, was zu tun ist.«

Emma wusste, dass ihr Gesicht gerade feuerrot leuchten musste. Genauso fühlte es sich nämlich an. Warum hatte sie nur dieses Thema angefangen? Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, trank sie noch einen Schluck Tee. Kamille war ja bekannt für ihren beruhigenden Effekt.

»Dein Hochzeitskleid ist endlich da«, verkündete Wilhelmine und überspielte gekonnt die peinliche Stille. »Wir müssen sehen, dass wir bald bei der Schneiderin vorbeikommen, um Anpassungen vorzunehmen.«

»Ich kann es kaum erwarten.« Deutlich vorsichtiger nippte Emma an ihrer Tasse. Sie wusste noch, wie Wilhelmine sie in Straßburg besucht hatte, um die Kleiderfrage zu klären. Aber sie war so sehr in ihren Prüfungsstoff vertieft gewesen, dass sie sich kaum daran erinnerte, worauf sie sich letztendlich geeignet hatten.

»Du wirst bezaubernd darin aussehen!«, versicherte Wilhelmine. »Es ist aus dem Modehaus Christoph Drecoll, aus schwarzer Seide und Spitze gefertigt. Ich weiß, neuerdings heiratet man in Weiß, aber Schwarz steht für Tradition. Ich finde, die Familie Seidel sollte nicht den flüchtigen Modeerscheinungen nachlaufen.«

Emma senkte den Blick in die gelbe Teeflüssigkeit. Von Seide und Spitze verstand sie nicht viel – schon schweiften ihre Gedanken ab. Ob Carl erfolgreich im Saarland gewesen war? Welche Konditionen hatte er für den Vertrag aushandeln können?

»Es ist fantastisch! Du wirst die schönste Braut sein, die Metz dieses Jahr zu sehen bekommt!« Aus ihrem Täschchen zog Wilhelmine ein Blatt Papier, das mit ihrer geschwungenen Handschrift beidseitig beschrieben worden war. »Ich habe es mir erlaubt, für dich festzuhalten, was als Nächstes ansteht und wo deine Anwesenheit benötigt wird. Lass uns zuerst die Ereignisse am Hochzeitstag durchgehen. Am Freitagnachmittag wird es die Trauung im Standesamt geben. Danach geht es zum Polterabend, den wir in der Villa veranstalten werden.« Sie schmunzelte. »Die Kinder der Nachbarschaft sammeln schon eifrig das alte Geschirr und stellen es uns vor der Tür. Bald weiß ich gar nicht mehr, wohin mit all den Tontöpfen! Am Samstag findet die kirchliche Hochzeit mit einer anschließenden Feier statt, ebenfalls in der Villa. Auf Hochzeitsreise geht es am Montag – Carl kann es kaum erwarten, dir Dijon zu zeigen und dich mit den Senfblüten auf den Feldern von Burgund bekannt zu machen. Ach, ein bisschen beneide ich euch zwei.« Ihr Blick verklärte sich. »Als ich meinen Ehrhard geheiratet habe, da konnten wir nirgendwohin fahren. So viel Geld hatten wir nicht. Aber er hat mich in den Botanischen Garten gebracht und so getan, als wären wir weit weg in fremden Ländern. Umgeben von den exotischsten Gewächsen. Bis dahin hatte ich nicht einmal geahnt, dass er wusste, wie viel mir Pflanzen bedeuteten.«

Ganz still betrachtete Emma das Gesicht, das vor bedingungsloser Liebe strahlte. Hoffentlich würde sie genauso aussehen, wenn sie in vielen, vielen Jahren an Carl denken würde. An den Moment, an dem sie mit ihm in Dijon die Senfpflanzen sehen würde, die seiner Fabrik die wertvolle Saat lieferten.

Dijon war alles für ihn. Er war so häufig hingereist, dass diese Stadt ihr wie eine heilige Stätte vorkam. Nun würde sie selbst ihre Geheimnisse erkunden.

»Emma?« Wilhelmines Stimme riss sie aus den Gedanken. Noch war sie nicht in Dijon. Erst galt es, die Hochzeit des Jahres erfolgreich über die Metzer Bühne zu bringen.

»Entschuldige, was hast du gesagt?«

Behutsam stellte Wilhelmine ihre Tasse ab und räusperte sich. »Ich weiß, es ist ein heikles Thema für dich. Aber deine Eltern haben nicht auf die Hochzeitseinladung geantwortet. Meinst du, sie werden kommen?«

»Sie … sie haben nichts geantwortet?« Ein Gefühl, wie ins Bodenlose zu stürzen. Unbewusst klammerte Emma sich an die Tischkante. »Gar nichts?«

Traurig schüttelte Wilhelmine den Kopf. »Tut mir leid. Ich habe nichts von ihnen gehört.«

Emma blinzelte. Die Gedanken an ihre Eltern fraßen ein tiefes Loch in ihre Magengrube. Wie konnte es sein, dass sie nicht einmal auf die Hochzeitseinladung geantwortet hatten?

Nicht einmal auf die.

Dabei hatte sie so sehr gehofft, diese Vermählung würde die Kluft zwischen ihnen schließen. Immerhin war es das, was sie sich immer gewünscht hatten: ihre Tochter endlich unter die Haube zu bringen. An einen angesehenen Mann übergeben, der ihrer aller Zukunft sichern würde.

Vielleicht … vielleicht sollte sie sich langsam mit der Tatsache abfinden, dass ihre Eltern sie längst begraben hatten, wie die kleine Elsa damals. Nur dass Emmas Herz noch schlug. Und so weh tat Im Gegensatz zu dem ihrer Schwester, die in ihrem winzigen Grab tief unter der Erde nichts mehr fühlte.

Plötzlich spürte sie Wilhelmines warme Hand auf ihrem Arm. Eine zaghafte Berührung, die trotzdem Zuversicht spendete. »Wir sind für dich da, Emma. Wir werden immer für dich da sein.«

»Ich weiß.« Sie schluckte. Die Worte kamen nur schwer über ihre Lippen.

Wilhelmine lächelte traurig. »Nein. Weißt du nicht. Noch nicht. Aber das ist in Ordnung. Es braucht seine Zeit. Ich schicke einen Burschen zu deinen Eltern und werde ihn anweisen, nicht wegzugehen, bevor er eine Antwort bekommt. Dann haben wir Gewissheit.«

»Nein, nein. Ich mache das selbst. Ich gehe hin.« Ihre Stimme bebte. War sie wirklich bereit, ihren Eltern unter die Augen zu treten? Andererseits: Wann, wenn nicht jetzt?

***

Am späten Nachmittag ging Emma zu ihrem alten Mietshaus. Im Hof musste sie sich sammeln, bevor sie ins Treppenhaus eintauchte. Die Stufen unter ihren Sohlen knarzten vertraut. Jedes Geräusch weckte die vielfältigsten Erinnerungen. Wie sie hier angekommen waren, als ihr Vater nach Metz versetzt worden war und die knarzenden Stufen ihr Angst eingejagt hatten. Wie sie glücklich die Treppe herunterlief, in der Hoffnung, Carl wiederzusehen.

Endlich stand sie vor der Tür. Emma klopfte, wartete, doch auch nach einer ganzen Weile kam niemand, um zu öffnen. Vielleicht war ihre Mutter einkaufen? Scheeles Brot, das der Vater so gern mochte und jeden Abend auf dem Tisch sehen wollte.

Wer sicherlich mehr wusste, war die alte Rosenberger ein Stockwerk weiter unten. Was auch immer in diesem Haus vor sich ging, die Nachbarin erfuhr es als Erste. Mit etwas Glück würde sie gleich eine Auskunft bekommen, ob es sich lohnte, länger zu warten.

Die Tür öffnete sich sofort. Der altbekannte Geruch nach gebratenen Zwiebeln wehte Emma entgegen.

»Sieh an, sieh an«, knarzte die Nachbarin mit einem verkniffenen Gesicht.

Emma presste die Lippen zusammen. Es kostete sie Überwindung, die Rosenberger freundlich anzuschauen. »Ich wollte zu meinen Eltern, um …«

»Ach. Nach all den Jahren? Sie sind nicht da.«

»Wissen Sie, wann sie nach Hause kommen?«

»Niemals. Sie wohnen hier nicht mehr.«

Emma schluckte. »Und wo sind sie hin?«

»Zurück ins Rheinland vielleicht, was weiß ich! Die Schande ihrer Tochter konnten sie wohl nicht länger ertragen. Kann man ihnen das verübeln?« Die Nachbarin warf einen letzten missbilligenden Blick durch den Spalt und schlug die Tür zu.

Emma taumelte zurück, stieg auf unsicheren Beinen die Treppe hinunter, trat nach draußen. Sofort schlug ihr die sommerliche Wärme entgegen, doch in ihrem Innern blieb alles kalt.

Ihre Eltern waren weg.

Sie hatte keine Familie mehr.

Gar keine.

Metz, 1914

CARL

Er hätte schon vor Tagen wieder in Metz sein sollen, doch die Verhandlungen waren zäh und langwierig gewesen. Mit fadenscheinigen Entschuldigungen hatte man ihn immer wieder auf später vertröstet, bis er ein Gerücht von einem Gegenangebot aufgeschnappt hatte.

Nun saß er im Zug nach Hause – mit leeren Händen.

Ich hoffe, du wirst den heutigen Tag gut in Erinnerung behalten, geisterten die Worte von Richard Weber in seinem Kopf herum.So hatte er also die Quittung bekommen, das Angebot seines alten Lehrherrn ausgeschlagen zu haben – der Sohn des Stollenbetreibers war mit Webers Schwager befreundet. Obwohl Carl mit allen Mitteln gekämpft und die Konditionen so sehr nach unten geschraubt hatte, wie es ging, würden die Bergleute demnächst den Weber’schen Mostrich in den Kantinen aufgetischt bekommen und nicht den ersten lothringischen Senf.

Bitterkeit erfüllte seine Seele. Enttäuschung über sich selbst, den sicheren Erfolg verspielt zu haben. Vielleicht wäre alles anders gelaufen, wenn er das Spiel hinter seinem Rücken früher durchschaut hätte. Wenn er energischer, kompromissloser, härter um den Vertrag gekämpft hätte. Richard Weber wusste viel schmutzige Wäsche vor fremden Augen zu verstecken. Wenn Carl sein Wissen bloß ausgespielt hätte, wenn er sich dafür nur nicht zu schade gewesen wäre – dann hätte er womöglich den Zuschlag erhalten.

Die vielen Wenns schwirrten in seinem Kopf wie Schmeißfliegen, bis er kaum noch klar denken konnte, ohne sich selbst zu verfluchen. Endlich kam der Zug am Hauptbahnhof in Metz an. Carls Laune hatte sich während der langen Reise allerdings kaum gebessert. Das bunte Treiben in der Halle bescherte ihm Kopfschmerzen. Er war froh, das riesige Gebäude hinter sich zu lassen und an die frische Luft zu treten.

Carl ignorierte die Kraftdroschken und ihre Fahrer, die um die Passagiere buhlten, und machte sich auf den Weg zur Fabrik. Der Spaziergang würde ihm guttun. Genug mit dem Trübsalblasen. Er musste sich entscheiden, wie es weitergehen sollte. Und wie er sein Versagen Emma beibringen konnte.

Ihr Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf, und die Sehnsucht nach ihr breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Sie war schon seit einigen Tagen wieder in Metz. Er müsste nur in die Buchhandlung gehen, um sie in die Arme zu schließen und ihr persönlich zum Zeugnis zu gratulieren. Oft fragte er sich, womit er diese großartige Frau eigentlich verdient hatte. Umso schwerer lastete die Vorstellung davon auf seiner Seele, ihr den Fehlschlag im Saarland erklären zu müssen. Denn natürlich würde sie sofort danach fragen.

Der Anblick des Fabrikgebäudes erfüllte ihn mit Zuversicht. Er blieb stehen. Sein Blick glitt die Fassade hoch zu den verheißungsvollen Buchstaben, die ihn daran erinnerten, wie viel er erreicht hatte:

Erste Lothringische Senffabrik C. Seidel.

Gegründet 1909

Der Betrieb schrieb schwarze Zahlen. Sein Senf erfreute sich immer größerer Beliebtheit. Inzwischen überzeugte der erlesene Geschmack sogar den Gaumen des einen oder anderen Gourmets in Feinkostläden. Lächelnd hob Carl sein Gesicht den Sonnenstrahlen entgegen. Verdammt, ja – dafür lohnte es sich zu kämpfen, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Aus dem Hof tönte eine laute Stimme und riss Carl aus den Gedanken. Albert? Der Mann war einer der Ersten, die in der Fabrik angefangen hatten, und hatte sich schon bald als einer der zuverlässigsten und engagiertesten Angestellten des Betriebs entpuppt. Es hatte nicht lange gedauert, bis Albert zum Vorarbeiter und Carls rechter Hand avanciert war.

Alberts Stimme wurde stechender, wie immer, wenn er der Meinung war, sein Gegenüber hätte etwas missverstanden. Dann erinnerte der Tonfall an das Quietschen eines rostigen Tors. Man könnte meinen, dieser Mann stecke immer noch im Stimmbruch.

Als Carl durchs Hoftor trat, erblickte er den jungen Boten, der gerade schuldbewusst das Gesicht verzog und sich auf das Rad schwang. Kleinere Auslieferungen innerhalb der Stadt erledigte der Junge mit einem Lastenfahrrad. Erst für große Mengen und weite Strecken wurde das Seidel’sche Fuhrgeschäft eingesetzt.

Mit voller Kraft trat der Bursche in die Pedale.

»Guten Tag, Herr Seidel«, keuchte er. Auf seinem roten Gesicht glänzten Schweißperlen. Doch er hatte keine Möglichkeit, sie abzuwischen, so sehr musste er sich anstrengen, um das Fahrrad auf die Straße zu manövrieren.

»Albert?« Carl winkte den Vorarbeiter zu sich. »Ich möchte nicht, dass Ivos Rad so schwer beladen wird. Er kam gerade kaum von der Stelle.«

»Ach, der Bub schafft das schon.« Albert sah ihm verkniffen hinterher. Auf seiner Stirn pochte eine Ader. Vor Unsicherheit quietschte seine Stimme noch mehr. »Es trainiert die Muskeln! Wie dürr der war, als er bei uns angefangen hat, und nun: Sehen Sie ihn sich an. Ein prachtvoller Bursche ist aus ihm geworden. Und alles wegen der Arbeit an der frischen Luft.«

Carl zog die Augenbrauen zusammen. »Wir werden in ein weiteres Lastenfahrrad investieren und einen zweiten Jungen anstellen. Bis dahin passen Sie auf, dass seine Fahrten mindestens um ein Drittel des Gewichts reduziert werden.«

»Wie der Herr wünscht«, murmelte Albert. Mit Kritik – auch indirekter – konnte der Mann noch nie gut umgehen. »Es gibt noch etwas, worüber ich mit Ihnen reden möchte. Unter vier Augen, wenn es möglich ist.«

»Natürlich.« Carl klopfte Albert auf die Schulter und deutete zum Eingang der Fabrik. Obwohl er zuerst in Ruhe ankommen und sich einen Überblick über das aktuelle Geschehen hatte verschaffen wollen – für die Belegschaft hatte er immer ein offenes Ohr. Er ging voran. Die Arbeiter grüßten höflich, ohne ihre Tätigkeit an den Maschinen zu unterbrechen. Die Geräusche und Gerüche bescherten Carl endgültig das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein.

Im Kontor schloss er hinter Albert die Tür. Das Schloss zickte und schnappte nicht richtig zu, so dass die Tür einen Spaltbreit offen stehen blieb. Er drückte noch einmal zu, dieses Mal hielt das Schloss. Der Mechanismus sollte demnächst ausgetauscht werden.

Albert setzte sich auf Kante des Besucherstuhls. Seine knochigen Finger tippten unruhig auf dem Oberschenkel.

»Worum geht es?«, half Carl.

Albert schielte zur Tür. Als er sich vergewissert hatte, dass diese tatsächlich zu war, presste er unwillig hervor: »Hans Neuböck.«

Abermals schaute er zur Tür.

»Ich versichere, alles, was Sie sagen, bleibt unter uns.« Carl bedeutete dem Mann weiterzusprechen. Auch wenn ihm klar war, worauf das hinauslaufen würde. Seit dem ersten Tag hatte es sich Hans zur Aufgabe gemacht, Albert wegen seiner Quietschestimme vor anderen Arbeitern bloßzustellen. Inzwischen ertönte Gelächter, sobald Albert auch nur den Mund aufmachte. Der Vorarbeiter revanchierte sich, indem er Hans jeden Fehler unter die Nase rieb. Dabei gab Hans bei der Arbeit sein Bestes und lieferte manchmal das Doppelte von dem, was man von ihm verlangte.

»Jetzt reden Sie schon.« Carl seufzte. »Wir finden bestimmt eine Lösung.«

Albert sah zu Boden. »Ich möchte niemanden anschwärzen. Aber so kann es mit Hans nicht weitergehen. In Ihrer Abwesenheit ist er des Öfteren betrunken zur Arbeit erschienen. Dabei weiß ich, wie wichtig es Ihnen ist, dass die Maschinen nur nüchtern zu bedienen sind. Außerdem ist mir zu Ohren gekommen, er würde andere beklauen. Ich habe ihn gestern darauf angesprochen, und da ist er vollkommen ausgerastet.« Albert neigte den Kopf und zeigte auf einen Bluterguss am Wangenknochen. »Ich kann froh sein, dass er mir dabei nicht den Schädel eingeschlagen hat.«

Carl lehnte sich gegen den Tisch. Nüchternheit war ihm wichtig, weshalb sich viele beschwerten. »Ich bin doch kein Pferd, dass ich Wasser saufen soll«, hatte er mal jemanden zetern hören. Doch nachdem er zwei Arbeitern wegen Trunkenheit gekündigt hatte, wagte niemand mehr, seine Geduld in der Alkoholfrage auf die Probe zu stellen.

»Das sind schwere Anschuldigungen«, murmelte Carl schließlich.

Albert zuckte die Schultern. »Ich dachte, Sie sollten es wissen. Dieser Mann ist unberechenbar.«

»In Ordnung.« Carl richtete sich auf. »Ich gehe dem nach.«

Albert erhob sich. »Noch eine Frage. Stimmt es, dass Ihre Verlobte hier bald alles übernehmen wird? Man munkelt …«

Carl schmunzelte. »Sicherlich nicht alles. Sie können jetzt zurück an die Arbeit, Albert.«

»Selbstverständlich.« Unsicher trat der Mann von einem Fuß auf den anderen. »Das war unangebracht von mir. Bitte verzeihen Sie.«

»Alles gut.« Tatsächlich wusste er selbst noch nicht, ob und wie viel Emma in die etablierten Strukturen der Fabrik eingreifen würde. So richtig hatten sie beide darüber nicht gesprochen. Sicherlich war Emma in der nächsten Zeit sowieso mit der Hochzeit und weniger mit den Abläufen im Betrieb beschäftigt. Doch etwas in ihm freute sich bereits auf den frischen Wind, den Emma in das Unternehmen bringen würde. Auch wenn er dann zusehen musste, nicht allzu alt neben ihr auszusehen. Hoffentlich gelang es ihm vorher, den Rückschlag im Saarland auszubügeln.

Etwas vor sich hin murmelnd, verließ Albert den Raum. Carl setzte sich an seinen Tisch. Die Sache mit Hans Neuböck beschäftigte ihn. Dieser Mann war kein einfacher Mensch. Das konnte man kaum leugnen. Er eckte gern an, sagte unverblümt seine Meinung und wurde schnell unbeherrscht, wenn er das Gefühl hatte, er würde ungerecht behandelt. Andererseits zeichnete er sich durch seinen Fleiß aus und hatte in kürzester Zeit die Abläufe in der Fabrik gelernt. Außerdem erwartete seine Frau ihr viertes Kind. Kein Wunder also, wenn seine Nerven ab und zu versagten.

Carl rieb sich nachdenklich die Stirn. Die Angelegenheit würde er im Auge behalten müssen. Jetzt erforderten Papiere seine Aufmerksamkeit, die sich in seiner Abwesenheit angesammelt hatten. Als der Arbeitstag sich dem Ende zuneigte, schickte er nach Hans. Vielleicht würde sich eine Lösung finden, wenn er mit dem Mann in Ruhe redete und sich seine Sichtweise anhörte. Sicherlich war es nicht leicht, sich in eine Gemeinschaft einzufügen, in der sich die meisten schon seit Jahren kannten.

Hans Neuböck bequemte sich erst nach einer ganzen Weile dazu, zu ihm zu kommen. Mit seiner kräftigen Statur füllte er fast den ganzen Türrahmen aus. Er war groß und breitschultrig – ein Berg von einem Mann, der ohne einen Schweißtropfen Säcke mit der Saat herumschleppte oder mit den schweren Fässern, in dem der Senf reifte, hantierte.

»Der gnädige Herr wollte mich sehen? Was gibt es?«, murrte er ohne besondere Freundlichkeit, aber auch nicht mit auffälligem Zorn.

Carl deutete auf den Besucherstuhl. »Bitte, setzen Sie sich.«

»Ach was. Ich kann stehen.« Seine tiefe Stimme klang etwas gedehnt, und Carl rätselte, ob es dem Alkoholeinfluss geschuldet war. Um dies zu beurteilen, müsste er dem Mann deutlich näher sein.

Carl trat hinter dem Tisch hervor. »Es wäre vielleicht besser, wenn Sie zumindest reinkommen. Machen Sie die Tür zu.«

Bereitwillig zog der Mann die Tür hinter sich zu, kam herein und stützte sich mit beiden Händen auf der Lehne des Besucherstuhls ab. Nun standen sie nahe genug beieinander, dass Carl tatsächlich eine Spur von Alkohol wahrnehmen konnte, die offenbar von Salbei überdeckt werden sollte. Das Kraut hatte den Ruf, unangenehme Mundgerüche zu kaschieren. Aber Carls Nase, die die feinsten Nuancen der neuen Senfkreationen und Gewürze wahrnehmen konnte, entging es nicht.

»Ich habe von gewissen Spannungen zwischen Ihnen und anderen Mitarbeitern gehört«, begann Carl.

Der Mann schnalzte mit der Zunge. »Von wem?«

»Das tut nichts zur Sache. Ich habe Sie eingeladen, um mir Ihre Seite anzuhören.«

»Da gibt es nichts, was angehört werden muss. Ich mache meine Arbeit. Und ich mache sie gut! Die anderen können mir den Buckel runterrutschen.«

Carl beäugte den Mann von Kopf bis Fuß. Der Kerl überragte ihn mindestens um zwei Köpfe und mied sichtlich jeden Blickkontakt. »Sie wissen schon, dass Sie zu mir kommen können, wenn es Konflikte gibt?«

»Die gibt es nicht. Kann ich jetzt gehen?«, brummte der Mann. »Die Arbeit erledigt sich nicht von alleine.«

Carl seufzte. Es war schwer, jemandem zu helfen, der sich nicht helfen lassen wollte. »Ja. Sie können gehen. Zögern Sie aber nicht, sich an mich zu wenden, sollte Ihnen etwas auf der Seele liegen.«

Hans grunzte etwas Unverständliches und machte sich auf den Weg zur Tür. Carl beobachtete seine Bewegungen. Sie deuteten nicht darauf hin, dass er viel über den Durst getrunken hatte, so dass er seine Aufgaben in der Fabrik nicht erledigen konnte. Dennoch sollte er den Mann eine Weile beobachten. Das Arbeitsklima in der Fabrik war ihm wichtig. Vorschnell wollte er aber nicht urteilen.

Kaum hatte er die Papiere auf dem Tisch einsortiert und weggeräumt, erscholl von irgendwoher Lärm. Es polterte, dazu mischten sich aufgeregte Stimmen, die sogar durch die geschlossene Tür und den Krach der Maschinen drangen, dann Schreie und Rufe. Carl stürzte hinaus. Hoffentlich gab es keinen Unfall, der einen der Arbeiter verletzt hatte! Der Tumult kam aus dem Raum, in dem sich die Mitarbeiter umzogen, um ihre Arbeitskleidung anzulegen. Carl riss die Tür auf. Zwei Körper wälzten sich auf dem Boden in einem schieren Durcheinander aus Armen und Beinen. Ein paar andere Mitarbeiter drückten sich an die Wände, der eine oder andere feuerte die Schlägerei an, verstummte aber, sobald Carl eintrat.

»Aufhören! Was ist hier los?«, brüllte er in das Gemenge. Doch die Streithähne schienen nichts zu bemerken, bis ein paar andere Mitarbeiter sie mit vereinten Kräften auseinanderzogen. Erst da realisierte Carl, dass es sich um Albert und Hans handelte. »Was geht hier vor sich?«

Albert wischte sich mit einem Ärmel seine blutende Nase ab und schickte Hans einen verächtlichen Blick. »Der ist auf mich losgegangen«, keuchte er. »Einfach so.«

Carl blickte zu den Außenstehenden. Doch niemand gab auch nur einen Mucks von sich. Vielleicht aus Angst, in den Genuss von Hans’ Fäusten zu kommen.

»Einfach so?« Hans spuckte Albert vor die Füße. »Angeschwärzt hast du mich!« Dann schickte er einen finsteren Blick in die Runde. »Na, war es allein seine Idee, oder wollt ihr mich alle hier loswerden? Ihr Feiglinge.«

»Schluss jetzt!«, donnerte Carl und stellte sich vor Hans. »Kommen Sie mit.«

»Ach, jetzt bin ich der Böse?« Der Mann verzerrte das Gesicht und ballte seine riesigen Hände. »War ja klar. Hauptsache, dem Chefliebling passiert nichts.«

»Beruhigen Sie sich bitte«, redete Carl auf ihn ein, während er fieberhaft überlegte, wie er die Situation entschärfen sollte. »Ich bin mir sicher, wir können den Vorfall klären. Jetzt kommen Sie erst einmal mit.«

»Ach, und der da bleibt?« Der Mann deutete zu Albert.

Der Vorarbeiter kniff die Augen zusammen. »Der da wird dir noch zeigen, wo dein Platz ist.«

Carl spürte, wie die Situation ihm entglitt.

»Mal sehen, ob du auch mit einer zerschlagenen Fresse so große Reden schwingen kannst«, knurrte Hans Neuböck.

Carl hob beschwichtigend die Arme. Doch Hans stieß ihn beiseite. Hart prallte Carl mit dem Rücken gegen eine Wand. Zum Glück drängte ein ganzer Pulk aus Mitarbeitern Hans von Albert weg. Sie redeten ihm gut zu.

Langsam richtete sich Carl auf. Er konnte einiges verzeihen. Aber wenn dieser Mann seine Autorität untergrub, hatte er in seiner Fabrik nichts zu suchen.

»Ich fürchte, ich kann Sie nicht länger in meiner Fabrik beschäftigen«, presste er durch die zusammengepressten Zähne hervor.

Hans’ Nasenflügel flatterten. »Ach. Der feine Herr kann das nicht?«

»Gehen Sie. Jetzt.« Entschlossen wies Carl auf die Tür. In seinem Innern brodelte die Wut. Umso mehr wunderte es ihn, wie kühl seine Fassade blieb. »Oder ich werfe Sie raus.«

»Du? Mich?«

Zwei Mitarbeiter stellten sich ihm in den Weg. Darunter Joseph, Hans’ Vetter, der so eifrig für ihn gebürgt hatte, als dieser sich um die freie Stelle in der Fabrik beworben hatte.

»Hans, gib doch endlich Ruhe.« Unbeholfen kratzte er sich seinen blonden Schopf. »Du machst es nur schlimmer.«

Genug.

»Gehen Sie«, stieß Carl mit Nachdruck hervor. »Oder ich schicke nach der Polizei.«

Hans schnaubte. »Das wird euch allen noch leidtun!«, zischte er. Doch angesichts der anderen Männer wich er zurück. »Denkt an meine Worte! Ich zeig euch, was passiert, wenn man es sich mit Hans Neuböck verscherzt!«

Dann schnappte er sich sein Bündel und stampfte davon. Eine Weile war es ganz still im Raum. Carl spürte die Blicke, die auf ihn gerichtet waren. Dennoch brauchte er einen Moment, um wieder zu sich zurückzufinden. Wie konnte die Situation nur so entsetzlich aus dem Ruder laufen? War es sein Fehler gewesen? Mal wieder?

Er seufzte. »Albert? Brauchen Sie einen Arzt?«

»Geht schon.« Der Mann zupfte seine Kleidung zurecht.

»Nehmen Sie sich morgen frei. Ihren Lohn bekommen Sie trotzdem. Alle anderen …« Er nickte ihnen dankbar zu. »Gut, dass Sie eingeschritten sind.«

Die Männer raunten etwas Undefinierbares und gingen davon.

Auch Carl verließ den Raum. Draußen lockerte er seinen Stehkragen. Seine Finger zitterten leicht. Vorher hatte er sich kaum Gedanken darüber gemacht, aber war die Fabrik wirklich der richtige Ort für eine Frau? Für seine Emma? Was, wenn sie in eine ähnliche Situation geraten würde?

Er wollte tief durchatmen, doch seine Brust war wie zusammengedrückt. Erst jetzt merkte er, wie ausgelaugt er war. Zeit, nach Hause zu gehen.

Metz, 1914

EMMA

Sie hatte noch immer nichts von Carl gehört. Wie viel in der Fabrik zu tun war, konnte sie sich gut ausmalen. Sorgen machte sie sich dennoch. Nein, nicht einmal wirklich Sorgen, denn es gab keinen Grund dafür, sagte sie sich. Aber etwas nagte an ihr, obwohl sie alles tat, um die Zweifel von sich zu weisen.

Carl würde sich melden, sobald er konnte.

Sie sollte brav sein und sich gefälligst um ihre eigenen Sachen kümmern. So viel musste noch für die Hochzeit geregelt und organisiert werden! Gleichzeitig ärgerte es sie, dass ihre innere Stimme so sehr nach ihrer Mutter klang.

Am späten Nachmittag machte sie sich doch noch auf den Weg zur Fabrik. Der sommerliche Tag lud buchstäblich zu einem Spaziergang ein. Der Himmel war mit zarten Schäfchenwolken übersät, das vergnügliche Zwitschern der Singvögel tönte aus den Baumkronen. Es war nicht so heiß, wie es im Hochsommer oft der Fall war, wofür Emma im Stillen dankte. Sie hatte sich für ihre beste Bluse aus Häkelspitze mit einem Stehkragen entschieden, dazu trug sie einen dunkelblauen Rock. Beides etwas zu warm für diese Jahreszeit, aber viel Auswahl an eleganten Kleidungsstücken hatte sie nicht. Ein kurzer Strang aus Barockperlen vervollständigte ihr Erscheinungsbild. Auch wenn Carl nicht viel Wert auf die Garderobenfragen legte, wollte sie in der Fabrik einen respektablen Eindruck hinterlassen.