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Als Tochter aus reichem Hause ist für Iwa nur ein Weg vorherbestimmt: gut zu heiraten und für Erben für die Familienbrauerei Abbing zu sorgen. Ihr Vater findet bald auch einen passenden Kandidaten für eine standesgemäße Hochzeit. Doch Iwa sehnt sich nach Freiheit, nicht nach einer Ehe. Als sie Wilhelm kennenlernt, einen Klavierspieler, der als Chauffeur seinen Lebensunterhalt zu verdienen scheint, lässt er mit seiner Musik Iwas verlorene Leidenschaft für den Tanz neu aufflammen. Um ihre Träume wahr werden zu lassen, muss sie aus den Fesseln der Konvention ausbrechen und nach Dresden gehen – an die Schule der berühmten Mary Wigman. Ist sie wirklich bereit, für den »New German Dance« alles aufzugeben, um am Ende womöglich mit nichts dazustehen?
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Seitenzahl: 465
Veröffentlichungsjahr: 2024
Clara Langenbach
Als Tochter aus reichem Hause ist für Iwa nur ein Weg vorherbestimmt: gut zu heiraten und für Erben für die Familienbrauerei Abbing zu sorgen. Ihr Vater findet bald auch einen passenden Kandidaten für eine standesgemäße Hochzeit. Doch Iwa sehnt sich nach Freiheit, nicht nach einer Ehe. Als sie Wilhelm kennenlernt, einen Klavierspieler, der als Chauffeur seinen Lebensunterhalt zu verdienen scheint, lässt er mit seiner Musik ihre verlorene Leidenschaft für den Tanz neu aufflammen. Doch um ihre Träume wahr werden zu lassen, muss sie aus den Fesseln der Konvention ausbrechen und nach Dresden gehen – an die Schule der berühmten Mary Wigman. Ist sie wirklich bereit, für den »New German Dance« alles aufzugeben, um am Ende womöglich mit nichts dazustehen?
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Clara Langenbach liebt die Recherche für ihre historischen Stoffe, die sie immer wieder nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch an neue Orte führt. Als junge Frau nahm sie selbst jahrelang Klavierunterricht an einer Musikschule. Ihr Interesse für Musik, Theater und Tanz war der Auslöser dafür, Dresdens Kulturszene in den Zwanziger Jahren als Hintergrund ihres neuen Romanprojekts zu wählen. Im Fischer Taschenbuch Verlag erschien zuletzt »Die Senfblütensaga«, mit deren dritten Band der Autorin der Sprung auf die »Spiegel«-Bestsellerliste gelang.
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Epilog
Nachwort und Danksagung
Triggerwarnung
1919. München.
Vor großen Ereignissen verwandelte sich die Villa der Abbings in eine Ballettbühne. Die Bediensteten schwebten wie in einer perfekten Choreographie durch die Räume, um die letzten Vorkehrungen für den Empfang der Gäste zu treffen. Aus der Küche wehten die köstlichsten Düfte heraus, unzählige Gärtner gaben dem Park des Anwesens seinen letzten Schliff, während die Dienerschaft die Anweisungen von Hilde Abbing, der Grande Dame des Hauses, erledigte.
Mit einem prüfenden Blick inspizierte Iwa ihr Erscheinungsbild im Spiegel. Der Blumenschmuck, der ihren dunklen Locken ein mädchenhaftes Flair verlieh, das zarte Rouge, das etwas Farbe auf ihre blasse Haut zauberte, der Sitz des Kleides, das ihre Figur umschmeichelte. Alles musste perfekt sein. Doch je länger Iwa sich anstarrte, desto mehr kam sie sich vor wie eine Porzellanpuppe, die man zu Dekorationszwecken auf ein Sofa setzte.
Mit einem Ruck stand sie auf und trat von der Frisierkommode zurück. Am liebsten hätte sie sich die ganzen Blumen aus dem Haar gerupft und das Rouge von den Wangen gerieben – sie war nicht so zart und lieblich, wie das Spiegelbild es vortäuschte. Aber das ging natürlich nicht. Es wurde von ihr erwartet, sich entsprechend ihrer Rolle als künftige Erbin der traditionsreichen Abbing-Brauerei zu verhalten.
Sie schnaubte, wandte sich schwungvoll vom Spiegel ab und stemmte herausfordernd die Arme in die Hüften. »Und, was sagst du dazu?«, fragte sie die üppige Monstera deliciosa, die in einer Ecke ihres Zimmers wuchs. »Nur nicht so schüchtern! Ah, verstehe. Du findest einfach keine Worte, um auszudrücken, wie grässlich das alles ist. Ja, geht mir genauso.« Sie erzwang ein Lächeln, machte einen Knicks und hielt mit gekünstelter Geste eine Hand an eines der großen, dunkelgrünen Blätter. »Sie sehen heute ganz fabelhaft aus, Frau Richterin«, säuselte sie. »Oh, tatsächlich, Herr General? Wie überaus amüsant!« Iwa verzog das Gesicht und schlug enttäuscht gegen die Pflanze. »Ja, dann sag mir doch, wie ich dieses Theater ertragen soll!« Die Blätter nickten ihr bloß stumm zu. »Ach, was erwarte ich auch von einer Zimmerpflanze!«
Sie hatte das Gefühl zu ersticken, trat zum Fenster und öffnete es sperrangelweit. Die abendliche Brise wehte herein und zupfte sanft an den Vorhängen. Tief sog Iwa die frische Luft ein und wollte – ihrem Schicksal ergeben – zurück an die Frisierkommode treten, als sie eine Gestalt durch den Park schleichen sah.
Sie spähte in die Dämmerung. Wer besaß bloß so viel Dreistigkeit, am Abend der Festlichkeiten im Hause Abbing sich vor seinen Pflichten zu drücken? Großmutter würde toben, sollte sie davon erfahren. Denn für private Belange, geschweige denn romantische Rendezvous konnte heute niemand Zeit haben. Iwa betrachtete die Gestalt genauer. Diese Leichtigkeit, der schwungvolle Gang – das war doch ihre Mutter!
Geräuschvoll schnappte Iwa nach Luft. Das konnte nicht sein! Ihre Mutter hatte sich bereits am frühen Nachmittag auf ihr Zimmer verabschiedet, weil eine heftige Migräne sie wieder einmal plagte.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Ohne lange nachzudenken, schnappte Iwa sich einen Mantel und huschte aus ihrem Zimmer. Sie eilte die Treppe hinunter, bog nach links in den Korridor ein und stieß mit Martha zusammen. »Nanu!«, rief die Haushälterin überrascht – eine große, gutgebaute Frau in einem stets tadellosen dunkelbraunen Kleid. »Wohin denn so eilig?«
»Dringende Familienangelegenheit!«, stieß Iwa atemlos hervor.
»So, so.« Martha lächelte ihr wissend zu, blickte sich um und beugte sich verschwörerisch vor. »Dann meiden Sie in dieser Angelegenheit am besten den linken Flügel, gnädiges Fräulein. Ihre Großmutter erfreut sich heute nicht der besten Laune und könnte Sie von Ihrer dringenden Familienangelegenheit abhalten.« Bedeutungsvoll wackelte Martha mit den Augenbrauen. »Ach, muss junge Liebe schön sein!«
»Doch keine solche Familienangelegenheit!«, widersprach Iwa vehement. Außer in ihren Liebesromanen hatte sie noch nie das Bedürfnis gehabt, jemanden anzuschmachten. Was vermutlich daran lag, dass die besagten Liebesromane, meist von Frauen geschrieben, ihre Ansprüche extrem hochgeschraubt hatten.
Marthas Augenbrauen wanderten noch ein wenig höher. »Sicher?«
»Ich habe keinen heimlichen Verehrer.« Sie seufzte und dachte an das Buch, das aufgeschlagen auf ihrem Nachttisch lag. Wie sehr wünschte sie sich, so geliebt zu werden, wie Mr. Rochester seine blasse, unscheinbare Jane Eyre liebte und zu der er sagte: In meinen Augen bist du eine Schönheit, eine Schönheit genau nach meinem Herzen. Ich will erreichen, dass auch die Welt in dir diese Schönheit sieht.
Das Seufzen ließ Martha zweifelnd die Lippen schürzen, doch zum Glück ließ die gute Frau das Thema fallen. »Was auch immer. Beeilen Sie sich, sonst wird es nicht unbemerkt bleiben. Und nehmen Sie am besten den Dienstbotenausgang! Ich habe Ihren Vater in der Nähe der Eingangshalle gesehen.«
»Danke!« Iwa stürmte davon, im Laufen drehte sie sich noch einmal um und rief: »Danke, liebste Martha!«
Auf die Haushälterin war immer Verlass. Sie strahlte so viel Ruhe und Gelassenheit in diesem überspannten Haushalt aus. Auch ein Jahr nach dem Kriegsende blieb die Stimmung in der Abbing-Villa gedrückt. Was aber nicht verwunderlich war. Ihr Vater hatte seinen Bruder an der Ostfront verloren. Doch offen seine Gefühle zu zeigen hatte Alois Abbing noch nie gekonnt. Statt die Trauer an sich heranzulassen, flüchtete er sich in die Arbeit, während sämtliche Familienbelange von Hilde Abbing geregelt wurden.
Iwa rannte schneller, als wäre ihr die alte Dame persönlich auf den Fersen, um sie an ihre Pflichten zu erinnern. Die Hochsteckfrisur löste sich, die Blumen hüpften an den Strähnen auf und ab. Raus aus dem Haus, geradewegs durch die Allee zum Tor – die vielen Gymnastikübungen und die geliebten Ballettstunden kamen ihr zugute. Sie war nicht einmal außer Atem, als sie die Straße erreichte.
Da! Im Licht der Straßenlaternen klar erkennbar, eilte ihre Mutter den Bürgersteig entlang. Immer wieder sah sie sich um, als spürte sie, verfolgt zu werden. Was ging da vor sich? Nach einem kurzen Luftschnappen sah es längst nicht mehr aus. Hoffentlich war sie nicht … Entschlossen verjagte Iwa den Gedanken, bevor er sich manifestieren konnte. Ja, ihre Eltern hatten Probleme, aber keine, die sich nicht überwinden ließen! Ihr Vater brauchte nur ein wenig mehr Zeit, um die Kriegsjahre zu verarbeiten. Ihre Mutter musste ihm gerade jetzt eine Stütze sein und sich auf ihre Aufgabe in dieser Familie besinnen. Diese Meinung vertrat zumindest Hilde Abbing – und die hatte man nicht in Frage zu stellen.
Iwa folgte ihrer Mutter mit einigem Abstand. Die Gegend zeichnete sich vor allem durch seine vornehme Idylle aus. Prächtige Villen, gepflegte Gärten – die Menschen hier wollten nicht von Lärm gestört werden, während sie ihre Privilegien genossen. Nun überquerte ihre Mutter die Straße und steuerte auf eine Kraftdroschke zu. Iwas Puls beschleunigte sich. Wollte ihre Mutter einsteigen?
O ja, sie wollte!
Iwa hielt den Atem an. Die Verzweiflung schlug in ihr hoch. Sie musste etwas tun! Sie musste ihre Mutter von einem schrecklichen Fehler abhalten, bevor es zu spät war!
»Mama, tu es nicht!«, rief sie aus Leibeskräften. Hoch und ängstlich hallte ihre Stimme durch die Straße, und die Fassaden der eleganten Häuser ringsherum schienen sie vorwurfsvoll anzustarren.
Johanna Abbing fuhr herum. »Wiwi? Was … was machst du hier?«
»Ich …« Nervös drehte Iwa an einem der Mantelknöpfe. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Bestimmt hatte das alles nichts zu bedeuten. »Ich habe mir Sorgen gemacht«, presste sie endlich hervor.
»Aber warum denn?« Die Stimme ihrer Mutter klang weich und tief wie ein wehmütiges Cello. In den Mundwinkeln spielte ein kleines Lächeln, das nichts und gleichzeitig so viel bedeuten konnte: einen stummen Tadel oder einen liebevollen Zuspruch.
»Du hattest Kopfschmerzen. Und dann habe ich dich davonschleichen sehen.« Noch bevor die Mutter etwas erwidern konnte, setzte sie energisch nach: »Jetzt sag nicht, du wolltest nur mal kurz an die frische Luft!« Iwa deutete auf die Droschke. »Wo willst du hin?«
»Ich fürchte, das kann ich dir nicht sagen.« Einen Moment lang schien ihre Mutter nachzudenken, dann entspannte sich ihre Haltung, und sie neigte den Kopf keck zur Seite. »Aber was ist, wenn ich es dir zeige?«
»Zeigen?« Völlig überrumpelt wich Iwa einen Schritt zurück. »Was zeigen? Der Empfang …«
»… kann auch ohne uns stattfinden, du wirst schon sehen!« Ihre Mutter lächelte, dieses Mal richtig, und winkte ab. »Oder möchtest du unbedingt dabei sein? Ich nämlich nicht.« Sie trat näher und begann, die verbliebenen Blumen aus Iwas Haar zu pflücken. »Du bist so viel mehr als eine Abbing. Bitte vergiss das niemals.«
Die Aussicht auf ein Abenteuer ließ Iwas Herz höherschlagen. »Aber unser Wegbleiben wird Großmutter fürchterlich verstimmen.« Die Worte kamen wie von selbst aus ihrem Mund, fühlten sich aber ganz falsch an. Als hätte ein Fremder sie ihr hineingelegt.
»Es gibt viele Dinge, die Großmutter fürchterlich verstimmen. Vor lauter Pflichtgefühl hat sie leider vergessen, was es heißt, glücklich zu sein. Aber dafür können wir beide nichts. Weißt du, was ich glaube? Manchmal muss man jemanden verstimmen, um etwas zu erleben, was einem wichtig ist. Denn es ist dein Leben. Und du lebst es nur ein Mal. Also, was ist? Kommst du mit?«
Iwa nickte. Vor Aufregung wurde ihr ganz schwindelig, und plötzlich wusste sie selbst nicht, wie sie auf die Rückbank der Kraftdroschke gelangt war. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch und altem Leder. Die Sitze waren durchgesessen und an einigen Stellen rissig, die Seitenscheiben fast blind. Der Fahrer – ein großer Mann mit lockigem Bart und ebenso lockigem Haar, das unter seiner Mütze hervorquoll – verströmte den Duft von leicht fauligen Äpfeln.
»Wo soll es denn hingehen?«, brummte er.
»Hotel Vier Jahreszeiten. Maximilianstraße«, verkündete Johanna Abbing feierlich, wobei sie die Straße, in der sich eines der nobelsten und ältesten Hotels der Stadt befand, kaum hätte nennen müssen.
Die Droschke setzte sich in Bewegung. Unruhig rutschte Iwa auf ihrem Platz hin und her.
»Nervös?« Die leise Stimme ihrer Mutter fühlte sich an wie eine Umarmung. Der Duft nach weißen Lilien, ihren Lieblingsblumen, verdrängte den Muff des Innenraums. Dazu mischte sich eine feine Note aus Gewürznelken und etwas Zitrone.
Der vertraute Geruch ließ Iwa ruhiger werden, konnte die Unsicherheit jedoch nicht gänzlich vertreiben. »Ich glaube, ich sehe gerade nicht wirklich präsentabel aus.« Ohne Hut, mit zerzausten Haaren und im schlechtsitzenden Mantel, den sie so unbedacht aus der Garderobe herausgezerrt hatte, fühlte sie sich neben ihrer eleganten Mutter wie ein hässliches Entlein.
»Aber selbstverständlich siehst du immer präsentabel aus! Lass dir von niemandem einreden, du wärest irgendwo fehl am Platz nur wegen der Kleidung, die du trägst.«
»Ich hätte mich passend gekleidet, hätte ich gewusst, wohin es geht.« Mit einem kleinen Neidstich schielte sie zu ihrer Mutter. Johanna Abbing hatte schon immer ein feines Gespür für Mode besessen und verlieh dieser gekonnt einen Hauch Individualität. Ihre ausdrucksvollen, grünen Augen hatte sie mit Kajal betont, ein bordeauxfarbener Mantel harmonierte perfekt mit ihrem Lippenstift. Doch das gewisse Etwas gaben ihr die Ohrringe und das Collier aus braunem Rauchquarz.
»Sicher?« Die Mutter zwinkerte ihr schelmisch zu. Plötzlich nahm sie den Hut ab, zog die Haarnadeln aus ihrer Frisur und fuhr sich schwungvoll durch ihre dunkelblonden Locken, bis die langen Strähnen wild um ihre Schultern fielen. Entschlossen knöpfte sie ihren feinen Ausgehmantel auf, dann nahm sie das Collier ab und legte es Iwa um den Hals. Schließlich atmete sie tief ein. »Du hast recht, Wiwi. So fühlt es sich viel besser an!«
Überrascht fuhr Iwa mit den Fingerkuppen über den Schmuck, der noch Mutters Wärme in sich hatte. Zwei Stränge aus feinverwobenen goldenen Ketten, an denen die tropfförmigen Steine hingen. »Das kannst du doch nicht machen«, murmelte sie.
»Du hast doch gerade gesehen, dass ich das kann«, erwiderte ihre Mutter und schüttelte wie zur Bekräftigung den Kopf. Die extravaganten Ohrringe klapperten leise – große Quadrate mit abgerundeten Ecken und einem so filigranen Muster gleich einem Spinnennetz, in deren Mitte jeweils ein runder Stein saß.
So seltsam der Moment auch war – überrascht stellte Iwa fest, dass sie sich tatsächlich besser fühlte – freier.
Langsam näherte sich die Kraftdroschke ihrem Ziel. Durch die schmutzige Fensterscheibe versuchte Iwa, die umliegenden Fassaden zu erahnen, die bis in alle Ewigkeiten König Maximilian II. huldigen sollten. Trotz aller Kritik, mit der die Maximilianstraße seit jeher bedacht wurde, musste Iwa zugeben, dass sie ihr Erscheinungsbild durchaus mochte. Manch einer könnte behaupten, die Bauten wirkten zu geschlossen, als wollten sie die Passanten erdrücken, doch Iwa gefiel es, sich die einzelnen Elemente genau anzuschauen und dabei immer wieder etwas Neues zu entdecken. Das Zusammenspiel von Terrakotta, Eisen und Glas, dazu die feinen Details der Stuckverzierungen, bewiesen, dass München einiges zu bieten hatte. Und was konnte es Besseres geben, als in der allgemeinen Spießigkeit etwas Eigenwilligkeit zu entdecken? Auch wenn diese Augenblicke so rar waren wie die Gelegenheiten, zu denen die Mutter ihre extravaganten Ohrringe anlegen konnte.
Der Wagen hielt an. Der Fahrer stieg aus, zog seine Kluft glatt und rückte unter dem abschätzenden Blick des Hotelportiers, dessen glänzende Uniformknöpfe vermutlich mehr kosteten als ein Monatsgehalt, seine Mütze zurecht.
»Meine Damen, wir sind da.« Er räusperte sich verlegen. Die prachtvolle Fassade des Nobelhotels schien ihn einzuschüchtern. Kein Wunder, wenn man bedachte, welche berühmten Gäste hier bereits abgestiegen waren. Sogar die Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn hatte einst in diesem Hotel residiert.
Johanna Abbing bezahlte den Mann und hakte sich bei Iwa unter.
»Mama, dein Hut!«
»Ach, gönn ihm doch auch ein wenig Spaß und lass ihn etwas von der Welt sehen.« Sie zog Iwa dem Hoteleingang entgegen.
Mit wehendem Haar und aufgeknöpften Mänteln stolzierten sie auf den Portier zu, der zwar skeptisch guckte, sich aber beeilte, ihnen die Eingangstür aufzuhalten.
Johanna Abbing schien genau zu wissen, wohin sie wollte. Zielstrebig durchquerte sie das Foyer, in dem Luxus und Pracht zur Schau gestellt wurden. Die Glaskuppel über ihren Köpfen verlieh dem Raum etwas Erhabenes. In polierten Marmorflächen spiegelte sich das elektrische Licht unzähliger Lampen und brachte die vielen goldenen Verzierungen zum Glänzen. Dieses Haus war allerdings nicht nur der Inbegriff exklusiven Luxus, sondern auch des größten Fortschritts der Neuzeit. Nicht umsonst war ausgerechnet in diesem Gebäude die erste Telefonanlage Münchens installiert worden. Ganz zu schweigen von den rund tausend Glühlampen, die das Haus innen und außen beleuchteten, wofür noch vor der Jahrhundertwende ein eigenes Kraftwerk angeschlossen worden war. Ein Umstand, der Iwa durchaus beeindruckte.
Derweil wandte sich ihre Mutter an einen der Hotelangestellten. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir sagen könnten, wie ich zur für heute angekündigten Veranstaltung komme. Wenn ich richtig informiert bin, soll hier heute Mary Wigman auftreten, nicht wahr?«
»Gewiss.« Er lächelte mit professioneller Höflichkeit. »Bitte folgen Sie mir.«
Mary Wigman. Noch nie gehört. Lautlos formte Iwa den Namen mit ihren Lippen. Etwas Verheißungsvolles lag darin. Fragend blickte sie zu ihrer Mutter. Doch diese eilte bereits hinter dem Hotelangestellten her.
»Wer ist diese Mary Wigman?«, wollte Iwa wissen, als die Neugier kaum noch auszuhalten war.
Ihre Mutter schenkte ihr einen vielsagenden Blick. »Wer Mary Wigman ist? Ach, nur eine Frau, die schon bald unsere Wahrnehmung von Bewegung, Körper und Tanz vollkommen verändern wird!«
Iwa stutzte. »Und das ist alles, was du mir über sie sagen kannst?«
»Oh, wenn du wüsstest! Ich könnte stundenlang über sie reden!«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Nun gut.« Ihre Mutter senkte die Stimme. Auf ihren Lippen spielte ein geheimnisvolles, aber auch ein wenig verträumtes Lächeln. »Kannst du dich daran erinnern, dass wir im Sommer, bevor der Krieg losging, in der Schweiz am Lago Maggiore waren?«
»Natürlich!«
Wie hätte sie das vergessen können! Das war der letzte, wirklich unbeschwerte Sommer gewesen. Das Leben schien so leicht unter dem azurblauen Himmel in Locarno zu sein. Ihre Eltern hatten die Zweisamkeit genossen, und nichts konnte ihr Glück trüben.
»Als ich gesagt habe, dass ich auf meiner Reise auch eine Freundin in Ascona besuchen würde, habe ich nicht die Wahrheit gesagt«, holte die Stimme ihrer Mutter sie wieder in die Gegenwart zurück. »Denn ich habe gar keine Freundin in der Schweiz. In Wirklichkeit war ich auf dem Monte Verità, auf der Schule der Kunst von Rudolf von Laban!«
Iwa blinzelte. »Du hast gelogen?« Die Vorstellung, dass der Sommer doch nicht ganz so glücklich und ungetrübt gewesen war, wie sie gedacht hatte, bescherte ihr ein mulmiges Gefühl. »Aber ich dachte …« Sie verstummte. Ja, was hatte sie denn gedacht? Dass ihre Eltern das perfekte Paar waren, dem nichts auf der Welt etwas anhaben konnte? Und nur der Krieg und Onkel Gustavs Tod sie auseinandertreiben ließ wie ruderlose Boote?
»›Gelogen‹ ist vielleicht doch etwas übertrieben«, erwiderte ihre Mutter sanft.
»Wie würdest du es denn nennen?«, fragte Iwa pikiert. Sie wollte es einfach nicht wahrhaben, so blind gewesen zu sein.
»In Ordnung, du hast recht. Es war gelogen. Aber ich hab mir so sehr gewünscht, diese Künstlerkolonie zu besuchen, und dein Vater hätte es niemals erlaubt! Du weißt doch, wie er ist. Für etwas Neues, Innovatives ist er nur schwer zu begeistern. Das Vertraute gibt ihm Sicherheit.«
Entsetzt blickte Iwa ihrer Mutter ins Gesicht. »Aber was, wenn er es herausfindet?«
Ein Schatten legte sich über Mutters Gesicht. »Du wirst mich doch nicht verraten, oder?«
»Nein«, versicherte Iwa, auch wenn sie immer noch nicht wusste, was sie davon halten sollte.
»Außerdem ist es ja schon lange her. Und es war eine so wundervolle Erfahrung!« Ihre Mutter schloss die Augen, und aus dem wehmütigen Klang ihrer Cello-Stimme strömte pure Zufriedenheit.
»Eine Erfahrung? Welcher Art?« Etwas in Iwa fürchtete sich vor der Antwort. Gleichzeitig wollte sie mehr wissen. Um nicht zu sagen: alles!
»Wie soll ich es ausdrücken?« Ihre Mutter wurde so leise, dass Iwa die Worte mehr erahnte, als dass sie diese hörte. »Auf dem Monte Verità konnte ich meinen Körper erkunden und eine ganz andere Seite von rhythmischer Gymnastik erleben. Das alles an einem der malerischsten Orte, den ich je gesehen habe. Der Monte Verità hat einen anderen Menschen aus mir gemacht. Plötzlich habe ich gewusst, dass ich mehr will und vor allem mehr kann!«
Wieder überkam Iwa das Unbehagen, die prächtige Fassade der Familie Abbing würde nichts als Risse unter dem sorgfältigen Stuck tragen. »Was soll dieses Mehr denn sein?«
»Ich weiß nicht, ob ich es erklären kann.«
»Aber versuchen kannst du es doch wenigstens!«
Ihre Mutter schluckte. »Ich liebe deinen Vater, Iwa. Das musst du mir glauben. Aber manchmal … Manchmal frage ich mich, ob es das schon gewesen sein soll. Früher hatte ich eine richtige Aufgabe und eine Vision! Jetzt bin ich nicht mehr als nur eine nette Dekoration auf den Empfängen im Hause Abbing.«
»Aber das stimmt doch nicht! Jeder, der Rang und Namen hat, möchte mit dir befreundet sein. Auf Bällen bist du umringt von Menschen, die an deinen Lippen hängen!«
»Und doch interessiert es sie nicht im Geringsten, was ich zu sagen habe. Das hier …«, sie deutete um sich herum, »sind die einzigen Momente, in denen ich mir erlauben kann, ich selbst zu sein.«
»Vater würde alles für dich machen. Er würde dir die ganze Stadt zu Füßen legen!«
Das Lächeln ihrer Mutter, das sich so tapfer auf ihren Lippen hielt, wurde bitter. »Spricht jetzt deine Großmutter aus dir? Sie hält mir ja oft genug vor, dass ich mich glücklich schätzen kann. Eine Gymnastiklehrerin heiratet den begehrtesten Junggesellen Münchens! Was kommt ihr in den Sinn, sich zu beschweren? Nach ihrem Selbst zu suchen? Etwas Eigenes erreichen zu wollen? Wo sie doch alles hat, was das Herz begehrt, und in einer prächtigen Villa mit einem liebevollen Mann leben kann. Aber es gibt Tage, da habe ich das Gefühl, in dieser prächtigen Villa zu ersticken. Ich kann dort nicht atmen, Iwa. Verstehst du? Verstehst du es jetzt?«
Iwa schwieg. Dass ihre Mutter so viel Schmerz im Herzen trug, hätte sie niemals gedacht. Jeder kannte die Frau von Alois Abbing und beneidete sie. Niemand hinterfragte dabei, was aus Johanna Hellwig geworden war. Nun spürte Iwa Gewissensbisse, nie darüber nachgedacht zu haben, was ihre Mutter für das Leben mit ihrem Vater aufgegeben hatte und wie sehr es sie belastete, stets in seinem Schatten zu stehen.
»Auf dem Monte Verità habe ich Mary Wigman kennengelernt«, fuhr ihre Mutter fort, plötzlich so unbeschwert, als wäre nichts gewesen. »Und sie ist … O ja, sie ist eine wahre Naturgewalt! Ein Quell der Inspiration. Sie gibt der Kunst eine ganz neue Form, sie ist die personifizierte Impression des Tanzes! Wenn jemand der Welt eine Offenbarung schenken kann, dann ist sie es. Ganz bestimmt.« Ihre Augen glänzten nahezu fiebrig. So hatte Iwa ihre Mutter noch nie gesehen, als würde diese von innen leuchten und alles ringsherum mit ihrer Begeisterung erhellen. Eine Fremde? Oder viel mehr eine faszinierende Frau, die so viel Lebendigkeit ausstrahlte, dass die vornehme Johanna Abbing, die Iwa von den Bällen kannte, wie ein blasses Abziehbild im Vergleich wirkte. Wie gern hätte sie mehr über diese neue Frau erfahren, doch nun standen sie im Veranstaltungssaal.
Der Hotelangestellte verabschiedete sich höflich und zog sich zurück. Zu Iwas Überraschung war der Raum leer. »Sind wir zu früh?«
»Keineswegs!«, widersprach ihre Mutter enthusiastisch und machte eine weit ausholende Geste. »Wir haben freie Platzwahl. Das nenne ich Glück!«
Iwa runzelte die Stirn. »Ich hätte mehr Interesse an der personifizierten Impression des Tanzes erwartet.«
»Es liegt nicht an der Künstlerin.« Ihre Mutter verzog den Mund, während sie die leeren Plätze betrachtete. »Die Tanzkultur in München – ach was, in ganz Deutschland – steckt noch in den Kinderschuhen! Sogar das klassische Ballett führt bei uns nur ein mickriges Dasein im Schatten der Oper. Der Tanz muss sich endlich von den Zwängen befreien und seine wahre Strahlkraft entfalten!«
»Aber München hat doch viele Kunstschaffende hervorgebracht …« Iwa hatte das Gefühl, ihre Stadt verteidigen zu müssen. München leuchtete – die Formulierung aus Thomas Manns Gladius Dei hatte sich ihr eingebrannt. Vielleicht, weil sie so sehr daran glauben wollte, in einer weltoffenen, außergewöhnlichen Stadt zu leben.
»Die Schweizer sind da um einiges weiter«, erwiderte ihre Mutter. »Dort versteht man es, Neues zu fördern, statt sich hinter Altbewährtem zu verschanzen. Mary Wigman ist ihnen längst ein Begriff!«
Während sie sprach, strömte ein ganzer Pulk junger Menschen in den Saal hinein, die sich lebhaft miteinander unterhielten. »Ach, schau, da kommen sogar wahre Kenner!« Ihre Mutter senkte die Stimme. »Wenn ich mich nicht irre, sind das Schüler aus Labans Schule für Bewegungskunst. Ich hoffe, ich kann nach der Veranstaltung ein paar Worte mit ihnen wechseln. Und oh, sieh nur! Sogar Rudolf von Delius ist da!« Sie deutete auf einen Herrn mittleren Alters, der in Begleitung einer Dame durch die Tür kam.
»Auch ein Tanzkoryphäe?« Iwa schwirrte der Kopf, während sie versuchte, die Unterhaltung am Laufen zu halten. Diese neue Seite an ihrer Mutter war so echt und so voller Hingabe. Zum ersten Mal hatte auch Iwa das Gefühl, sie würde mehr und intensiver wahrnehmen – die Umgebung, sich selbst.
»Rudolf von Delius ist Schriftsteller und ein sehr gesellschafts- und kulturkritischer Mann. Ein kluger Kopf. Mary Wigman kann eine so prominente Unterstützung gut gebrauchen.«
Nach und nach kamen andere Gäste, doch die Plätze füllten sich kaum. Ihre Mutter redete begeistert weiter. Schon wieder schwärmte sie von Labans Kommune auf dem Monte Verità, von ihren Mitstreiterinnen, mit denen sie sich in leichten Gewändern, kaum bekleidet, frei bewegen konnte, von den Tänzen zu Tamburinen, Kastagnetten und Trommeln. »Alles ist Musik, Wiwi, und die Musik ist in uns. Wir müssen ihr nur folgen!«
Iwa versuchte, es sich vorzustellen, und versagte dabei kläglich. Niemals durfte ihr Vater davon erfahren. Geschweige denn ihre Großmutter. Wir repräsentieren eine renommierte Familie, Iwa, hörte sie die kühle, stets gefasste Stimme von Hilde Abbing in ihrem Kopf. Und das jederzeit. Vergiss das nie!
Nein, natürlich vergaß sie das nie. Wie sollte sie auch, wenn es in ihrem Leben nur darum ging, den Schein zu wahren?
»Es fängt an!« Die Mutter zog an Iwas Ärmel.
Iwa blinzelte und richtete ihren Blick nach vorne, wo eine Frau in einer seltsamen, beinahe verrenkten Pose stand. Ein dunkelbraunes Kleid, weit wie ein Priesterinnengewand, verhüllte ihren Oberkörper, ließ dabei aber ihre durchtrainierten Beine unbedeckt. Noch nie hatte sie einen fremden Körper so betrachten können. Iwa spürte, wie ihre Wangen rot wurden. Warum starrte sie so eindringlich hin, und warum gefiel ihr so sehr, was sie da sah? Die Klaviertöne setzten ein, verschmolzen zu einer eigenwilligen Melodie und lockten Iwa mit sich.
»Ekstatische Tänze«, flüsterte die Mutter ergriffen, ohne den Blick von der Bühne abzuwenden.
Unwillkürlich fasste sich Iwa an den Hals, spürte das Collier unter ihren Fingern und das wilde Pochen ihres Herzens. Ekstatische Tänze. Mary Wigman. Schon jetzt wusste sie, dass dieser Abend alles verändern würde.
Die Spannung im Saal stieg sich ins Unermessliche. Endlich begann sich die Tänzerin zu bewegen. Sie reckte einen Arm in die Höhe, dann den anderen, beschrieb damit fließende, kreisende Bewegungen, als würde sie einen Zauber in die Luft zeichnen, während sie sich zu den Klängen hin und her bog. Die Musik schien ihren Körper zu umweben. Und doch war jede Bewegung völlig losgelöst von den Klaviertönen, die sich eher an die Regungen anzupassen schienen. So viel Geschmeidigkeit und Ausdruckskraft hatte Iwa noch nie bei einem Tanz gesehen.
Mit angehaltenem Atem schaute sie zu ihrer Mutter, als müsse sie sich vergewissern, diese Schönheit von einem Tanz wirklich vor sich zu sehen. Diese nickte ihr wissend zu und deutete nach vorne. Richtig, sie durfte sich nicht ablenken lassen. Keine Sekunde dieser magischen Vorstellung verpassen! Mary Wigman reckte ihre Glieder in die Höhe, machte federnde, hohe Sprünge, vollführte schwungvolle Drehungen, drückte sich gen Boden, verrenkte die Arme. Unwillkürlich beugte sich Iwa nach vorne, als würde der Tanz sie in eine vollkommen andere Welt katapultieren. Unmöglich, stillzusitzen! Ihr Herz stolperte dem Musiktakt hinterher, sie wollte aufspringen, mittanzen, ihren Körper mit allen Sinnen spüren. Wie ordinär kamen ihr nun ihre Ballettstunden vor, in denen sie die vorgegebenen Schritte exakt im Takt der Musik auszuführen hatte – ohne jeglichen Spielraum, die wahre Natur des Tanzes zu entdecken. Was sich auf der Bühne entfaltete, war die Magie selbst, was kaum noch mit menschlichen Sinnen zu beschreiben war. Iwa konnte es kaum glauben – nur fühlen. Tief in ihrem Inneren spürte sie das Feuer, das von der Tänzerin ausging und immer mehr Funken in Iwas Seele zündete. Als wäre darin etwas Neues geboren worden und drängte sich nach draußen, bahnte sich unaufhaltsam einen Weg, um endlich aus der Enge auszubrechen.
Aus dem Saal tönte ein höhnisches Lachen. Iwa zuckte zusammen, beachtete die Störung aber nicht weiter. Ganz wie die Tänzerin, die völlig konzentriert die Bewegungen vollführte. Ihre Augen halb geschlossen, ruhte sie in sich selbst, während die Gefühle in Sprüngen und Drehungen ihre Kraft entfalteten. Mary Wigman gab sich völlig ihrem Tanz hin und zeigte eindrucksvoll, wie facettenreich und kunstvoll er war. Es schien sie nicht zu beeindrucken, was andere darüber dachten, ob nur vereinzeltes Lachen die Vorstellung störte, oder sogar Pfiffe und Gejohle. Mary Wigman tanzte weiter, als hinge ihre ganze Existenz davon ab. Mit jedem Sprung dehnte sie die Grenzen des Möglichen ein wenig weiter aus, machte sich die Naturgesetze untertan.
Plötzlich erstarben die Klänge und die Tänzerin verharrte. Es war vorbei. Schluss.
Einem Impuls folgend, sprang Iwa auf und klatschte, so heftig, dass ihre Handflächen weh taten. Für die Tänzerin. Vielleicht sogar für sich selbst, für die Erkenntnis, die wie eine Brandung über sie hinwegspülte. Denn mit einem Mal wurde Iwa bewusst, dass sie es auch wollte. Auf einer Bühne stehen, ihren Körper spüren, die ganzen Emotionen durch die Bewegung formen und Menschen, die nach etwas Neuartigem suchten, vollkommen in den Bann des Tanzes ziehen.
1923. München.
Bälle waren die größte Verschwendung von Musik, die es nur gab. Missmutig ließ Iwa ihren Blick über die Gäste gleiten, die sich im Saal tummelten. Die einen hatten nicht die geringste Ahnung, was zu tanzen wirklich bedeuten konnte. Die anderen waren eh nur am teuren Champagner und an den exquisiten Häppchen interessiert. Am schlimmsten unter ihnen waren allerdings die hoffnungsvollen Junggesellen, die ihre Begeisterung für Fräulein Abbing, die Erbin der erfolgreichsten Abbing-Brauerei, mimen sollten.
Iwa stöhnte. Was tat sie hier eigentlich noch? Warum war sie nicht längst weg? Ach ja. Als besagtes Fräulein Abbing musste sie die gute Gastgeberin spielen. Was bedeutete, dass es keinerlei Möglichkeit gab, diesem Spießrutenlauf zu entkommen.
»Sie überstrahlen heute alle Anwesenden«, raunte der Mann neben ihr, dessen Name sie bereitwillig vergessen hatte. Albert? Alfons? Alfred? Sein gieriger Blick klebte auf ihrer Oberweite. Wobei ihn nicht einmal ihr Dekolleté zu interessieren schien, sondern der kostbare Familienschmuck, den sie um den Hals trug. Damit jeder sehen konnte, dass der Wohlstand und der Ruf der Familie – allen Krisen zum Trotz – kein bisschen gelitten hatten.
Routiniert setzte Iwa ein liebreizendes Lächeln auf, obwohl die Nähe dieses Kerls ihr äußerst unangenehm war. »Im Namen meiner Edelsteine darf ich Ihnen mitteilen, dass sie Ihre Lobhudelei sehr zu schätzen wissen, mein Herr.«
Der junge Mann blinzelte verwirrt, und zum ersten Mal, seit sie einander vorgestellt worden waren, schaute er ihr ins Gesicht.
»Verzeihung?«, murmelte er, und auf seiner hohen Stirn erschien ein feiner Schweißfilm. Seine wässrig blauen Augen zuckten unruhig hin und her und erinnerten Iwa an einen Kalmar. Noch ein bisschen, und er würde sie mit seinen Tentakeln umwickeln. Wobei viel eher die Juwelen – sie selbst wäre vermutlich nur ein Kollateralschaden.
»Sie scheinen so fasziniert von meinem Schmuck zu sein, dass ich angenommen habe, dass sie Ihre Worte an die Steine richten und nicht an ihre Trägerin.« Ihr Lächeln war breiter geworden. Natürlich würde sie es niemals laut zugeben – schon gar nicht, wenn ihre Großmutter in Hörweite stand –, doch ihn aufzuziehen versprach tatsächlich Spaß. Wenigstens etwas, denn dieser öde Abend diente sonst nur dazu, sie allen ledigen Herren von Rang und Namen anzupreisen.
»Meine Aufmerksamkeit gilt selbstverständlich nur Ihnen und unserer vorzüglichen Konversation, gnädiges Fräulein«, versicherte Albert-Alfons-Alfred inbrünstig. Fast hätte sie aufgelacht. Welche Konversation? Bis jetzt blieb ihr der Genuss eines interessanten Gesprächs verwehrt. Die meisten Gäste beschränkten sich in ihrer Gegenwart auf nichtssagende Floskeln und oberflächliche Höflichkeiten. Vielleicht glaubten sie tatsächlich, das würde vollkommen ausreichen, um eine junge Frau wie sie zu bezirzen.
»Das freut mich aber zu hören.« Iwa angelte sich ein Champagnerglas von einem Tablett, das gerade vorbeigetragen wurde. »Sie sind also ebenfalls besorgt, dass die Ernennung von Kahrs zum Generalstaatskommissar die Situation im Land außerordentlich verschärfen könnte?«
Er blinzelte erneut. Vielleicht hatte er etwas im Auge.
»Ähm …«, meinte er schließlich. Vermutlich, um die vorzügliche Konversation mit einem geistreichen Kommentar am Laufen zu halten.
»Das Konstrukt der Demokratie ist sicherlich noch sehr fragil. Dass ausgerechnet jetzt ein Monarchist an die Macht kommt, ist nicht besonders förderlich für die Stabilität des Landes, nicht wahr?«
»Iwa!«, erklang neben ihr die harsche Stimme ihrer Großmutter. Iwa verdrehte innerlich die Augen. Natürlich entging Hilde Abbing nicht, dass ihre Enkelin wieder einmal dabei war, einen jungen Mann zu vergraulen.
»Ja, Großmutter?«, säuselte sie und nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas. Nüchtern würde sie diesen Abend vermutlich nicht überstehen können.
»Glaubst du nicht auch, dass dies hier nicht der richtige Ort ist für solch … verwirrende Diskussionen?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was du mit verwirrenden Diskussionen meinst, Großmutter.«
Hilde Abbing hob bedeutsam eine Augenbaue. »Mir war, als ginge es gerade um die Ernennung des Generalstaatskommissars.«
»Furchtbar, nicht wahr?« Sie wandte sich zu Albert-Alfons-Alfred um und prostete ihm zu. »Gleich einen Ausnahmezustand zu verhängen halte ich für keinen klugen Einstieg ins neue Amt. Die Unruhestifter warten doch nur auf einen Anlass in den Krisenzeiten, die Wankelmütigen und Unzufriedenen gegen die Regierung in Berlin aufzuwiegeln.«
Aus dem Augenwinkel sah Iwa, wie Hilde Abbing den Mund verzog. Tiefe Falten gruben sich um ihre Mundwinkel. »Ach, Kind!« Ihre Stimme klang dennoch so süßlich, dass man davon einen Zuckerschock hätte bekommen können. »Es ist nicht unsere Aufgabe, uns mit solchen Themen zu beschäftigen und politische Aussagen zu treffen.«
»Sind solche Gespräche wirklich nur den Herren der Schöpfung vorbehalten, die sich dafür mit einem teuren Cognac und stinkenden Zigarren zurückziehen? Während unsere Aufgabe darin besteht, dekorativ mit den Wimpern zu klimpern?«
Alle Farbe wich aus dem Gesicht ihrer Großmutter.
»Bitte entschuldigen Sie uns, Herr Neumüller.« Wie eine Gewitterwolke rückte die alte Dame auf Iwa zu, und die knochigen Finger schlossen sich um ihren Arm wie Handschellen. »Ich habe etwas Dringendes mit meiner Enkelin zu besprechen.«
Geschickt schlängelte sich Hilde Abbing durch die Menge und zog dabei Iwa hinter sich her. Erst als sie den Saal weit hinter sich gelassen hatte und in den Gang zum Dienstbotentrakt eingebogen war, lockerte sie den Griff um Iwas Handgelenk.
»Hat diese Familie nicht genug gelitten? Musst du uns derart beschämen?« Ein Sturm der Entrüstung fegte über Iwa hinweg. Doch Iwa war gewappnet. Sie wollte nicht länger schweigen und alles über sich ergehen lassen.
»Warum machen wir das? Was soll diese Farce? Ist dieses Fest wirklich für mich? Für meine Zukunft? Die meisten Menschen da drinnen kenne ich nicht einmal. Und sie kennen mich nicht. Ich habe keine einzige Freundin, niemanden, mit dem ich reden kann.«
»Du brauchst keine Freundinnen! Du hast deine Familie. Deinen Vater und mich. Wir tun alles für dich!«
»Was denn genau?« Sie deutete an sich herab. »Mich in ein teures Kleid stecken und mit Juwelen behängen, damit ich präsentabel genug bin, um irgendeinen Herrn Neumüller zu unterhalten?«
Die Nasenflügel der Großmutter bebten. »Wie kannst du so etwas sagen?«
»Ich bin mir selbst fremd. In diesem Kleid, in diesem Körper, in meinem Leben, das ich für sinnlose Konversation mit irgendwelchen Männern vergeude!« In ihrem Inneren bebte etwas, drohte, jeden Moment auszubrechen. Dieses Etwas war so dunkel und so voller Feuer, dass Iwa manchmal Angst vor sich selbst bekam.
»Das ist so typisch für dich!« Hilde Abbing schnaubte abfällig. »Nie ist dir etwas gut genug. Nie bist du glücklich mit dem, was du hast.«
»Ja, richtig, ich bin nicht glücklich!«, rief Iwa ihr entgegen.
Mit verkniffenem Gesicht starrte die alte Dame sie an. »Und was hindert dich daran, glücklich zu sein, die schöne Musik zu genießen, dich zu vergnügen und nett zu den Gästen zu sein? Du bist zwanzig Jahre alt, und kein einziger Verehrer ist in Sicht!«
»Darin soll der Schlüssel zum Glücklichseins liegen? In der Existenz eines Verehrers?« Ihr Herz schlug so ohrenbetäubend laut, dass ihr schwindelig wurde. »Das ist einfach nicht meine Art, glücklich zu sein. Ich möchte auf eigenen Beinen stehen, eine Aufgabe haben, eine Spur in dieser Welt hinterlassen und nicht meine Freiheit, mein Leben einem Mann vor die Füße werfen!«
»Deine Aufgabe ist es, die Pflichten zu erfüllen, die deine Herkunft mit sich bringt!«
»Bin ich nicht mehr als meine Herkunft? Ist es vollkommen egal, was ich mir von meinem Leben erhoffe?«
Die Gesichtszüge ihrer Großmutter entgleisten nun vollends.
»Wie undankbar kann man nur sein?«, zischte Hilde Abbing nahezu tonlos. Ihr Gesicht sah maskenhaft aus, rissig wie ein altes Gemälde. »Du bist wie deine Mutter. Aber sei dir gewiss, ich werde nicht tatenlos zusehen, wie du unseren Namen mit Füßen trittst.«
Die Worte schnitten ihr wie Klingen in die Brust. »Meine Mutter …«
»Deine Mutter hätte es fast geschafft, den guten Ruf unserer Familie zu ruinieren! Die Leute reden noch immer hinter vorgehaltener Hand über uns. Dass du in ihre Fußstapfen trittst, werde ich nicht zulassen! Aus dir kann eine respektable, feine Dame werden, und ich werde dafür sorgen, dass ein angesehener junger Mann dir den Hof macht! Bald werden die Hochzeitsglocken läuten, und die Leute vergessen endlich die Schande, die uns deine Mutter bereitet hat!«
Iwa hatte das Gefühl zu ersticken. Die Luft fühlte sich zäh an und ließ sie kaum atmen. »Ist es wirklich eine Schande, ein Dasein hinter sich zu lassen, das einen fast kaputtgemacht hat?« Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, da traf sie eine heftige Ohrfeige. Iwa taumelte gegen die Wand hinter ihr. Für einen Moment sah sie nichts. Alles war hinter einem Schleier verschwunden. Erst dann begriff sie, dass es ihre Tränen waren, die ihre Augen füllten, die Sicht verhinderten und unaufhaltsam ihre Wangen hinunterliefen.
Sie spürte eine behandschuhte Hand auf ihrer Wange. Nahezu zärtlich strich ein Daumen über ihre Haut. »Ach Kind. Was machst du nur? Sieh dich doch an … Was sollen die Leute nur denken?« Liebevoll schaute Hilde Abbing auf sie herab. Ein mildes Lächeln umspielte ihre Lippen. Iwa spürte, wie ihr ein Taschentuch in die Finger gedrückt wurde. »Nimm das, dann gehst du auf dein Zimmer und machst dich zurecht. Und wenn du zurückkommst, bist du die Gastgeberin, die man von dir erwartet zu sein.« Schon wandte sich die alte Dame ab und stolzierte davon, ohne auch nur im Geringsten daran zu zweifeln, dass ihrer Anweisung Folge geleistet werden würde.
Krampfhaft schloss Iwa die Finger um das Taschentuch. Wie sollte sie das alles nur überstehen? Sie hob den Blick gen Himmel. Mama … Warum bist du nicht hier, Mama? In solchen Momenten fühlte sie sich verraten. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und rutschte an der Wand zu Boden.
»Fräulein Abbing!«
O nein. Niemand durfte sie in so einem aufgelösten Zustand sehen! Mit dem Taschentuch wischte sie die Tränen weg, hob den Kopf und seufzte erleichtert auf. Es war Martha, die auf sie zukam. »Es geht mir gut«, log sie trotzdem, denn sie war es gewohnt, ihren tatsächlichen Gemütszustand nicht preiszugeben. Mit wackligen Beinen stand sie auf und war froh, sich dabei an der Wand festhalten zu können. »Ich muss nur an die frische Luft.«
»Und sich den Tod holen?«, empörte sich die Haushälterin. »Oktobernächte sind definitiv nichts für ein Abendkleid.« Sie deutete auf die mit funkelnden Glassteinchen verzierte Robe aus Chiffon, die Iwa trug. Darunter verbarg sich zwar ein Unterkleid aus Baumwolle, aber auch das wärmte nicht sonderlich. »Kommen Sie erst einmal mit.« Martha legte einen Arm um sie und führte sie zum Dienstbotenausgang. Ringsherum herrschte rege Betriebsamkeit, doch niemand beachtete sie. Im Laufen zog Iwa sich den Haarschmuck aus ihrer zerzausten Frisur, nahm die Ohrringe und die schwere Edelsteinkette ab. Schon atmete sie leichter, freier. Sie legte den Schmuck auf einer Kommode ab, wischte sich übers Gesicht, schob sich die Locken aus der Stirn. In Marthas Nähe fühlte sie sich so sicher und geborgen, wie sie sich sonst nur bei ihrer Mutter gefühlt hatte. Die Gedanken an die Mutter machten ihr Herz wieder schwer. Noch ein wenig, und die Tränen würden erneut ihre Wangen herabfließen. Dabei durfte sie weder verbittert sein noch sich bemitleiden, denn von allen hatte sie es am leichtesten. Sie musste weder hungern noch frieren, und sie blickte einer sicheren Zukunft entgegen. Das Einzige, was sie dafür tun musste, war, nett zu dem einen oder anderen Albert-Alfons-Alfred zu sein.
»Warten Sie hier einen Moment.« Martha verschwand, kehrte aber wenige Minuten später mit einem Mantel und einem Hut zurück. »Damit bleiben Sie warm, und man erkennt Sie nicht sofort. So können Sie etwas Zeit für sich haben.« Die Haushälterin setzte ihr den Hut auf und zog ihn ihr tief ins Gesicht.
»Danke, Martha«, hauchte Iwa schwach. Der Mantel war zu groß und kratzte, dennoch kuschelte sich Iwa dankbar in ihn hinein.
Die Haushälterin war schon wieder an die Arbeit gegangen, prüfte, ob die Sektgläser akkurat gefüllt waren, schickte die Diener mit den bestückten Tabletts in den Saal und dirigierte die Dienstmädchen, die im Hintergrund für den reibungslosen Ablauf des Abends sorgten. Niemand beachtete sie.
Iwa schlüpfte durch den Dienstboteneingang nach draußen. Die Nacht war kalt und nass. Ein kräftiger Wind fegte durch die Bäume und ließ die Äste knarzen. Im Dunkeln wirkten sie wie knochige Arme, die sich zum Himmel reckten.
Iwa hob den Kopf und sah in den finsteren Himmel. Tropfen fielen auf ihr Gesicht – es begann zu regnen. Doch obwohl das Wetter nicht gerade freundlich war, fühlte Iwa sich hier deutlich wohler als im stickigen Saal. Sie konnte hören, wie der Kies unter ihren Sohlen knirschte. Jeder Schritt brachte sie weiter weg vom Trubel, von den unbekannten Gesichtern und den sinnlosen Gesprächen. Was, wenn sie einfach immer weiter gehen würde? Ohne zurückzublicken. Schritt für Schritt. Irgendwann würde sie doch bestimmt in einem neuen Leben ankommen. Doch dafür hatte sie nicht den Mumm, nicht wahr?
Sie schaute zu den hell erleuchteten Fenstern der Villa, schauderte und zog den Mantel noch enger um sich. Der Wind fand jedes Loch in der Naht, um bis zu ihrem Körper vorzudringen. Sie lief dennoch weiter, bog um die Ecke des Hauses, ging die Allee entlang.
Plötzlich hörte sie Motorgeräusche, Scheinwerferlicht streifte die Bäume. Kamen noch mehr Gäste, die sie nicht kannte? Sie beobachtete den Wagen, der auf den Haupteingang zurollte. Es war ein erst im letzten Jahr auf der Automobilmesse vorgestellter Lancia Lambda. Sie kannte das Modell, weil ihr Vater wochenlang über dieses Wunder der Technik referiert hatte. In Weinrot sah er wirklich äußerst schnittig aus – irgendjemand wollte hier offensichtlich gehörig Eindruck schinden.
Der Wagen hielt vor dem Eingang der Villa.
Der Chauffeur, ein großer, kräftig gebauter Mann, stieg aus. Er öffnete die hintere Tür, und ein älterer Herr mühte sich aus dem Inneren. Mit seinen breiten Schultern erinnerte er an einen Stier, der sich zum Kampf bereitmachte. Langsam ließ er den Gehstock von einer Hand in die andere wandern, rückte seinen Hut zurecht und trat einen Schritt beiseite.
Iwa hörte ein platschendes Geräusch.
»Musst du ausgerechnet neben einer Pfütze halten?«, polterte der Mann los. Seine kratzige Stimme klang leicht verwaschen. »So viel Unzulänglichkeit ist kaum zu ertragen!«
»Tut mir leid. Mein Fehler«, sagte der Fahrer mit fester Stimme.
»Wessen sonst?« Der Alte schnaubte entrüstet.
Iwa fragte sich, ob der Chauffeur solch einen Umgang gewohnt war. Man konnte von Hilde Abbing halten, was man wollte, doch die Angestellten behandelte sie mit Respekt. Ganz gleich, ob es um Martha ging, die für alle Abläufe im Haus zuständig war, oder um eine einfache Küchenmagd.
»Wegen dir sind wir zu spät! Und ich hasse es, zu spät zu sein.« Er hob eine Hand und drückte den Knauf des Gehstocks gegen die Brust des Fahrers. »Wehe, wenn ich heute keine Gelegenheit mehr bekomme, mit diesem Abbing zu sprechen. Hoffentlich gibt es da drin was Ordentliches, um die Kehle zu befeuchten.« Endlich senkte er den Gehstock und wandte sich zum Haus. »Nicht einmal einen Regenschirm kannst du aufspannen!«, knurrte er missmutig. »Aber was erwarte ich da auch?«
»Für die zwei Schritte doch wohl keinen Schirm«, tönte es leise.
»Wie war das?« Mit erhobenem Stock drehte sich der Alte ruckartig um. Die Spitze sauste durch die Luft. Geistesgegenwärtig duckte sich der Fahrer zur Seite weg, doch er stand viel zu nah, und der Stock erwischte ihn ihm Gesicht.
»Grundgütiger, kannst du nicht aufpassen?«, keifte der Alte, schnaubte verächtlich und drehte sich zum Gehen. »Warte hier, bis ich fertig bin. Hast du verstanden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schwankte er zum Hauseingang.
Das konnte doch nicht wahr sein! Ließ er seinen Angestellten tatsächlich einfach so zurück?
Iwa lief auf den Fahrer zu. »Geht es Ihnen gut?«, rief sie besorgt. »Lassen Sie mich bitte sehen.«
»Da gibt es nichts zu sehen.« Eine Hand ans Gesicht gepresst, drehte er sich von ihr weg.
»Sie bluten ja!« So viel hatte sie trotzdem gesehen.
Er warf ihr einen grimmigen Blick zu. »Wird hier gleich das Riechsalz gebraucht?«
Immerhin drehte er sich nicht weiter von ihr weg, also trat sie direkt vor ihn. »Haben Sie welches dabei? Sie sehen wirklich etwas blass aus. Nun stellen Sie sich nicht so an und lassen Sie mich mal sehen.« Entschlossen griff sie nach seiner Hand, um sie wegzuziehen. Von der plötzlichen Berührung überrumpelt, fuhr er zusammen und wich einen Schritt zurück. »Entschuldigen Sie bitte«, stammelte Iwa rasch. »Ich wollte Ihnen nicht weh tun.«
»Haben Sie nicht.« Langsam senkte er die Hand, und zum ersten Mal konnte Iwa ihn genauer betrachten.
Die Nacht zeichnete die Konturen seines Gesichts weich, doch in seinen dunklen Augen glaubte Iwa eine gewisse Härte zu erkennen. Als wäre er es gewohnt, die Welt um sich herum misstrauisch zu betrachten.
»Und, wie schlimm ist es, Frau Doktor?«, brummte er und riss sie aus den Gedanken. »Wie lange hab ich noch?«
Sie musste sich geradezu zwingen, den Blick von seinen Augen zu lösen, um die Wunde zu betrachten. Der Gehstock hatte ihn an der Stirn über der rechten Augenbraue erwischt. Nur ein wenig tiefer, und es hätte böse enden können.
»Sie haben Glück, ich bin für solche Notfälle gut ausgestattet.« Die Wunde schien nicht besonders tief zu sein. Doch zusammen mit dem Regen lief unaufhörlich Blut hinunter. Sie holte das Taschentuch, das ihre Großmutter ihr in die Hand gedrückt hatte, hervor. »Darf ich?«
Er nahm das Taschentuch aus ihren Fingern und tupfte das Blut weg. Zumindest so viel wie möglich, denn es sickerte wieder neues hervor.
»Meine fachmännische Meinung – wir sollten ins Haus gehen und Sie ordentlich versorgen«, sagte sie bestimmt.
»Danke, ich verzichte.« Er drückte sich den Stoff fest auf die Wunde.
»Was wollen Sie denn die ganze Zeit über machen«, Iwa deutete zum Eingang, »während der feine Herr sich die Kehle zu befeuchten gedenkt?«
Er verengte die Augen. »Warten. Sie haben den feinen Herrn sicherlich gehört.«
»Im Regen?«
Er klopfte auf das Autodach. »Ich kann mich reinsetzen.«
»Und wie genau reagiert der feine Herr, wenn Sie seine teuren Ledersitze vollbluten?«
»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie eine ganz schöne Nervensäge sind?« Er schnaubte.
»Eine Nervensäge? Ich?« Herausfordernd stemmte sie die Hände in die Hüften. »Heißen Sie zufällig Oskar?«
Er stutzte sichtlich. »Nein.«
»Sie sind nämlich so frech wie einer. Und stur wie … wie … eine Katze!«
Ganz langsam hob er die unverletzte Augenbraue. »Also, bitte. Katzen sind niedlich.«
Fast hätte sie losgeprustet. Das Wort ›niedlich‹ aus seinem Mund klang erst recht niedlich. Trotzdem gelang es ihr, eine ernste Miene aufzusetzen. »Ich nehme es zur Kenntnis. Sie sind niedlich wie eine Katze. Und genauso stur.«
»Sie haben nicht viel Erfahrungen mit Katzen, stimmt’s? Katzen sind nicht stur, Katzen sind charakterfest.«
»Verstanden, Herr Charakterfest. Jetzt kommen Sie mit und lassen Sie sich Ihre Wunde desinfizieren und die Blutung stillen. Wenn Sie dabei ganz brav sind, bekommen Sie in der Küche sogar ein paar Kekse und ein Glas warme Milch.«
Seine Augenbraue konnte gar nicht mehr höher wandern.
»Was ist?«, rief Iwa ungeduldig aus. So ein Katzensturkopf aber auch!
»Ich glaube, ich habe noch nie ein Gespräch geführt, in dem gleichzeitig eine Wundversorgung, Katzen und Kekse vorkamen.«
Iwa seufzte. Dass die Herren der Schöpfung gleich so überfordert mit allem waren! »Nun, die Erfahrung ist auch für mich ganz neu. Wie sieht es aus, kommen Sie jetzt mit? Und sobald Ihr Herr auf die Idee kommt, den Heimweg anzutreten, kriegen Sie selbstverständlich sofort Bescheid. Sie können sich natürlich auch völlig durchnässt ins Auto setzen und in der Kälte warten. Ihre Entscheidung.«
Er stöhnte übertrieben laut auf. »In Ordnung, bei dem Keks hatten Sie mich. Aber ohne Nüsse, die vertrage ich nicht.«
»Notiert! Keine Nüsse.« Sie grinste siegreich, wendete sich ab und ging zum Haus. Er folgte ihr tatsächlich.
Sicherheitshalber nahm sie wieder den Dienstboteneingang. Kaum vorzustellen, was für ein Donnerwetter ihre Großmutter veranstalten würde, sollte Iwa ihr in Marthas Mantel und mit einem Chauffeur im Schlepptau unter die Augen kommen. Ein Skandal! Was sollten nur die Leute denken! Iwa schmunzelte in sich hinein. Vielleicht fühlte sich die ganze Unternehmung gerade deswegen wie eine kleine Rebellion an.
Iwa öffnete die Tür und trat ein. Die Wärme des Hauses schlug ihr entgegen wie aus einem Ofen. Zielstrebig führte sie den jungen Mann in die Küche, in der Hochbetrieb herrschte, und schließlich in den dahinterliegenden Raum, in dem normalerweise die Dienerschaft speiste. Dort würden sie ungestört sein.
Wieder musste sie schmunzeln. Noch vor einer Stunde hätte sie bei der Vorstellung, mit einem Mann ungestört in einem Zimmer zu sein, nichts als Brechreiz empfunden. Jetzt hatte sie einen geradezu genötigt, mit ihr hierherzukommen, und es fühlte sich überraschend gut an. Vielleicht, weil er an dem heutigen Abend der einzige war, mit dem sie eine zusammenhängende Konversation führen konnte. Worauf sie sich allerdings nichts einbilden sollte. Er hatte ihr deutlich gezeigt, dass er keinerlei Wert auf ihre Gesellschaft legte. Es ging nur um seine Wunde. Und vielleicht ein bisschen um die Kekse.
Iwa dirigierte den jungen Mann zu einem Stuhl. »Wie heißt denn der gnädige Herr, der so gerne seinen Gehstock schwingt?«
Sie merkte, wie er sich verspannte.
»Damit man Ihnen auch mitteilen kann, wann er den Heimweg anzutreten gedenkt«, erklärte sie und hoffte inständig, dass dies nicht allzu bald passieren würde.
»Baron Leopold Theodor Maria Franz Freiherr von Hohenstein. Und ja, er besteht darauf, genau so vorgestellt zu werden, auch wenn wir alle seit mindestens drei Jahren wissen, dass Namen nur Schall und Rauch sind.« Seine Stimme klang angenehm tief, doch jedes Wort schien nur widerwillig über seine Lippen zu kommen.
»Behandelt er Sie immer so schlecht?«, fragte Iwa so beiläufig wie möglich.
Er verengte die Augen. »Es war doch nur ein Unfall. Nicht der Rede wert.«
»Seinen Ton Ihnen gegenüber hat er dagegen sehr bewusst gewählt.«
»Wie viel haben Sie eigentlich mitgehört?«
»Genug, um zu wissen, dass man so nicht mit anderen Menschen umgeht! Nicht nur ein Gehstock kann verletzen, sondern auch Worte.«
Eine Weile starrten sie einander an, bis er entrüstet schnaubte und seinen Blick abwandte. »Wollten Sie sich um die Wunde kümmern oder um mein Seelenheil?«
»Vielleicht wäre die Welt ein wenig besser, wenn wir uns alle mehr um das Seelenheil eines anderen kümmern würden«, murmelte Iwa. »Aber sichtbare Wunden haben natürlich Priorität.«
Sie ging, um eine Packung Hansaplast zu holen – seit Beiersdorf im letzten Jahr den Schnellverband auf den Markt gebracht hatte, bestand ihr Vater darauf, immer genug davon vorrätig zu haben, falls sich jemand verletzte. Viel Erfahrung in der Wundversorgung hatte Iwa zwar nicht, nahm aber auch etwas Mull und Alkohol mit, um die Wunde zu desinfizieren.
In der Küche griff sie noch nach der Dose mit den Keksen, die zu jeder Jahres- oder Tageszeit stets mit knusprigen Leckereien gefüllt war. Nachdenklich betrachtete Iwa den Inhalt. Nüsse waren zwar keine zu sehen, aber die genaue Zusammensetzung hatte Iwa noch nie sonderlich beachtet.
Trude, die Köchin, gab gerade Anweisungen, wie die Häppchen auf den Servierplatten drapiert werden sollten. Groß, dünn und muskulös, sah sie aus wie eine Generalin auf dem Schlachtfeld, die zur Attacke blies. Kein Wunder, dass jeder in ihrer Nähe wenn nicht Angst, dann zumindest einen gehörigen Respekt vor ihr hatte. Auch Iwa kostete es eine kleine Überwindung, sie zu stören, um zu fragen: »Sind die Kekse mit Nüssen?«
Trude fuhr herum. »Nüsse? Sie möchten Nüsse?« Sie zog die Stirn kraus, auf der sich ein Schweißfilm gebildet hatte. Offensichtlich suchte sie in ihrem Kopf bereits nach einer Möglichkeit, wie sie in der ganzen Hektik noch Kekse mit Nüssen backen könnte.
»Nein, nein!«, beeilte sich Iwa zu erklären. »Ich möchte nur wissen, ob die ohne Nüsse sind.«
Trude kam näher und deutete mit dem Messer, das sie in der Hand hielt, auf die Dose. »Orangenschalen, Ingwer, Honig …« Ohne auch nur für eine Sekunde ins Stocken zu geraten, ratterte die Köchin die gesamte Zutatenliste herunter.
»Danke!«, rief Iwa und schob sich an der Köchin vorbei, die sich sofort wieder ihrem Feldzug widmete, und machte selbst etwas Milch auf dem Herd warm, gerade genug für zwei Gläser. Dann stellte sie alles auf ein Tablett und trug es in den angrenzenden Raum, nicht ohne einem der Dienstmädchen aufzutragen, ihr Bescheid zu geben, sobald ein gewisser Baron von Hohenstein das Haus verlassen wollte.
Auf der Schwelle blieb sie kurz stehen. Ihr Gesicht glühte. Vernünftigerweise hätte sie Marthas Mantel längst ausziehen sollen. Aber dann würde er ihr exquisites Kleid darunter sehen. Und vermutlich wäre es dann mit einer zusammenhängenden Konversation schlagartig vorbei. Also würde sie lieber noch ein bisschen länger im Mantel schwitzen, als sich zu erkennen zu geben.
Er drehte den Kopf und sah sie an. Mit einem Mal hatte Iwa das Gefühl, als wäre die Luft elektrisch aufgeladen. Nein, das bildete sie sich bestimmt nur ein. Sie gab sich einen Ruck, trat ein und stellte das Tablett auf den Tisch. »Da bin ich wieder«, sagte sie, um zu überspielen, wie durcheinander sie plötzlich war.
Er blickte auf das Tablett und hob die Augenbrauen. »Das mit den Keksen war kein Scherz?«
»Ein Glas warmer Milch gibt es auch dazu. Aber nur, wenn Sie bei der Wundversorgung ganz tapfer sind und Ihre Katzenkrallen nicht zu sehr ausfahren.« Sie nahm die Packung mit dem Hansaplast und schüttelte sie.
»Ich verspreche, mich zusammenzureißen.« Seine Mundwinkel zuckten kurz. War das etwa ein Lächeln? Herr Charakterfest war in der Lage zu lächeln?
»Damit kann ich leben.«
Sie befeuchtete den Mull mit Alkohol und deutete auf seine Wunde. »Darf ich?«
Er nickte.
Vorsichtig tupfte sie das Blut weg. Er zuckte nicht einmal. »Tut es weh?«, fragte sie dennoch.
»Noch lässt es sich aushalten.« Er sah zu ihr auf, und plötzlich musste sie daran denken, was für schöne Augen er hatte. Die Farbe erinnerte Iwa an braunen Rauchquarz, an die funkelnden Steine des Colliers ihrer Mutter. Sie verharrte, unfähig, den Blick abzuwenden. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus, es war, wie endlich zu Hause zu sein. In der vertrauten Geborgenheit, wo es sich so viel leichter atmen ließ und ihr Herz ganz frei sein konnte.
»So schlimm?« Neckisch runzelte er die Stirn. »Wie kritisch werden denn die nächsten Stunden sein bei der Verletzung?«
Ertappt räusperte sie sich. Sicherlich sah es mehr als seltsam aus, wie sie dastand und ihn anstarrte. Iwa zwang sich, den Blick von seinen Augen abzuwenden, auch wenn es ihr einen leichten Stich versetzte. Sie klebte das Pflaster in sein Gesicht und trat schnell von ihm weg. »Die Chancen stehen gut, dass Sie die Nacht überstehen.«
»Ein Glück!« Sie spürte, wie er sie aufmerksam betrachtete, traute sich aber nicht, ihn erneut anzuschauen. Ihr Gesicht fühlte sich schrecklich heiß an, und dieses Mal war nicht der Mantel allein schuld. »Ich bin übrigens Wilhelm«, sagte er mit seiner tiefen Stimme, die jetzt sanft und melodisch klang.
Was sollte sie tun? Sie konnte unmöglich ›Iwa‹ sagen. Der Name war zu extravagant, als dass er nicht eins und eins zusammenzählen würde.
Plötzlich hörte sie hastige Schritte, und ein Dienstmädchen erschien auf der Schwelle. »Gnäd …«
Ruckartig fuhr Iwa herum. »Ja?«
»Der Baron möchte gehen.«
»Jetzt schon?«, kam es Iwa entsetzt über die Lippen. Nein, das konnte nicht sein! Das bedeutete …
Der junge Mann sprang auf die Beine. »Ich muss los«, sagte er knapp und schenkte Iwa – so kam es ihr zumindest vor – einen entschuldigenden Blick.
Doch bevor er loslief, griff er nach einem Keks. »Bestimmt ohne Nüsse?«
Iwa nickte. »Garantiert!«
Er schob sich das Gebäck in den Mund, trank einen großen Schluck Milch und eilte zur Tür, wo das Dienstmädchen stand und die Situation mit großen Augen verfolgte. Es trat zur Seite, um ihn durchzulassen, doch statt an ihr vorbeizustürmen, machte er wieder halt und blickte zurück. »Danke«, murmelte er. »Für alles.«
Sie schwieg. Ihr Kopf war voll von Worten, die sie ihm sagen wollte, doch kein einziges davon kam heraus. Er wandte sich ab, um zu gehen.