Die sexuellen Neurosen unserer Eltern - Lukas Bärfuss - E-Book

Die sexuellen Neurosen unserer Eltern E-Book

Lukas Bärfuss

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Beschreibung

»Mit »Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" stürmt Lukas Bärfuss die deutschen Bühnen", schrieb »Die Welt"; und das Schweizer Radio feierte das Stück als »Sternstunde des Theaters". In der Tat: Bis heute gibt es zehn Inszenierungen in Deutschland, der Schweiz und Österreich sowie Übersetzungen in 12 europäische Sprachen für Bühnen von Island bis Griechenland. Der Autor, der seit 1998 Theaterstücke schreibt und mit der freien Gruppe »400asa", die sich in der Tradition der dänischen Dogma-Filmemacher sieht, für Furore sorgte, nahm das gelassen und bekannte, ihn interessiere das Theater gerade »als eine besonders unvollkommene Kunst. Alles knirscht. Ich selber knirsche, die Schauspieler knirschen, sogar die alten Sessel." In gewissem Sinne ist in »Die sexuellen Neurosen ..." die geistig zurückgebliebene Dora solch ein Sand im Getriebe der guten, der liberalen Gesellschaft - nicht, solange sie die Rolle der nur Bemitleidenswerten ausfüllt, aber sofort, wenn sie eigene Ansprüche stellt und nicht länger als Projektionsfläche allen Toleranzgeschwafels dient.

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Lukas Bärfuss

Die sexuellen Neurosenunserer Eltern

Schauspiel

Dora

Doras Mutter

Doras Vater

Doras Chef

Doras Arzt

eine Frau, das ist die Mutter des Chefs

der feine Herr

Ein Gemüsestand

eine bürgerliche Wohnung

eine Arztpraxis

ein Hotelzimmer

eine Bahnhofshalle

ein Campingplatz

Mitarbeit: Barbara Frey, Judith Gerstenberg

1. ARZTPRAXIS.AN EINEM FAHLEN NACHMITTAG.

Die Mutter. Der Arzt. Dora.

MUTTER Tagsüber war Dora apathisch, und mitten in der Nacht hat sie dann manchmal geschrieen in einem hohen Ferkelton. Einmal hatte sie sich eingeschlossen und die Zimmertür verriegelt. Es war nicht auszuhalten. Und als die Feuerwehr kam und einstieg über den Balkon mit einer Leiter, da wurde sie auf der Stelle still und meinte, ich solle Kaffee kochen für die Männer. Es sei kalt draußen und schließlich immer noch Nacht.

ARZT Ich habe die Geschichte gehört.

Die Gegend ist nachsichtig dank ihrem Humor.

MUTTER Wir haben alles versucht, jeden Wirkstoff, jede Kombination, wir gaben nicht auf, bis wir das Richtige hatten. So wurde sie stiller und stiller: mit meiner Liebe und der Beharrlichkeit und Ausdauer des Arztes.

ARZT Schön, daß es Dora bessergeht.

MUTTER Ich weiß nicht, ob es ihr bessergeht. Ja, sie schreit nicht mehr, aber sie lacht auch kaum, weint nie, ißt, was man ihr vorsetzt. Seit zwei Jahren hat sie kein rechtes Gespräch geführt, nur Phrasen wiederholt sie, Aufgeschnapptes. Hin und wieder summt sie ein Lied, von dem keiner weiß, wo sie es herhat. Verstehen Sie mich nicht falsch. Undankbar bin ich nicht. Aber manchmal wünsche ich die Tobsuchtsanfälle zurück. Doras Lachen, das lauter war als das Lachen meines Mannes, und tiefer. Man glaubte, in meinem Mädchen hocke ein Seemann oder ein Schlachter.

ARZT Haben Sie darüber mit meinem Vorgänger gesprochen.

MUTTER Ich traute mich nicht. Er hat sich unendlich Mühe gemacht mit ihr. Dora war seine Passion, er hat alles versucht. Schrieb über sie. Kam zu uns nach Hause, wenn’s nötig war, auch an Sonntagen und nachts. Nie habe er ein Mädchen getroffen, das sei wie sie. Auf den ersten Blick wie jedes andere Kind. Ein Haarbreit nur neben unserer Welt, und von ihr doch unüberwindlich getrennt. Der Mann liebte meine Tochter. Mehr als mir gehörte sie ihm. Jetzt ist der gute Mann tot. Ich möchte meine Tochter zurück.

ARZT Ich verstehe nicht.

MUTTER Ich will, daß Sie die Medikamente absetzen.

ARZT Haben Sie sich das gut überlegt.

MUTTER Wenn’s schiefgehen sollte, bleibt uns diese Kombination. Damit ist sie eingestellt. Darauf können wir immer zurück.

ARZT Ihre Tochter ist auf die Medikamente angewiesen.

MUTTER Zum letzten Mal hatte ich meine Tochter, als sie ein Kind war. Jetzt ist sie beinahe erwachsen. Ich sah, wie sich ihr Körper veränderte. Ich möchte sehen, wie verändert ihr Inneres ist. Was unter dem ewig gleichen Gesicht liegt.

ARZT Wenn ich mir die Krankengeschichte ansehe.

MUTTER Sie brauchen mir das nicht vorzulesen. Ich kenne die Geschichte gut. Ich kenne sie ausgezeichnet. Ich möchte einen Schritt wagen. Ich habe Zeit. Mein Mann arbeitet viel, und andere Verpflichtungen als Dora habe ich keine. Mit Ihnen will ich’s versuchen. Oder mit einem anderen Arzt.

ARZT Kann Dora mich verstehen.

MUTTER Natürlich.

ARZT Guten Tag, Dora.

DORA Hallo.

ARZT Wie fühlst du dich.

DORAzeigt dem Arzt die Zunge.

MUTTER Ist gut, Dora.

Nimm die Zunge rein.

Er wird dich nicht untersuchen.

ARZT Was meinst du zur Idee deiner Mutter.

DORA Weiß nicht.

ARZT Sie möchte deine Medikamente absetzen.

DORA Ooch.

ARZT Gefällt dir das nicht.

DORA Weiß nicht.

ARZT Hast du Angst davor.

DORA Weiß nicht.

ARZT Du hast dich daran gewöhnt.

DORA Weiß nicht.

ARZT Verstehst du überhaupt, was Medikamente sind.

DORA Weiß nicht.

MUTTER Natürlich weißt du es, Dora.

DORA Ah ja, klar weiß ich es.

ARZT Also.

DORA Wir sollten zuerst Papa fragen.

MUTTER Ich hab’s mit ihm besprochen.

ARZT Und was meint er.

DORA Ja, was meint er.

MUTTER Er ist einverstanden.

DORA Nun, dann los, auf was warten wir.

2. AN EINEM GEMÜSESTAND AM BAHNHOF. MAN HÖRT VON FERN DIE ZÜGE. ES GEHT SCHON GEGEN ABEND.

Der Chef. Dora. Die Mutter vom Chef.

CHEF Ich habe es gesehen, Dora. Ich habe es ganz genau gesehen. Den ganzen Morgen habe ich dich beobachtet. Hast du es bemerkt.

DORA Nein.

CHEF Ich nehme meine Augen nicht von dir. Nicht eine einzige Sekunde. Keine deiner Bewegungen entgeht mir. Wie fühlst du dich.

DORA Gut.

CHEF Unkonzentriert bist du. Hör zu, Dora. Auch wenn für dich jetzt ein neues Leben beginnt, es ist eine Ordnung in der Welt, und den Kohl stellst du jetzt wieder zuhinterst in die Reihe. Schau, das ist eine einfache Rechnung:

Was kostet der Kohl.

DORA Einsneunzig das Kilo.

CHEF Richtig. Und von einem Kilo Kohl lebt eine Familie zwei Tage. Zwei Tage. Da müßten wir verlumpen, wir müßten den Laden schließen. Unsere Miete ist zu hoch, um Kohl zu verkaufen. Aber du würdest Runkelrüben verkaufen und Futtermais, wenn ich ihn bestellen würde. Wir verkaufen kein Suppengemüse, Dora. Wir sind kein Suppengemüse-Laden! Also: in der ersten Reihe haben wir Spargel, Brunnenkresse, Schwarzwurzeln, aber nur geputzte, siehst du, Schnittsalat ist in der ersten Reihe, die Kanada-Reinette von Oktober bis in den November, ab November aber ist es Lagerobst. Und dieser Laden führt kein Lagerobst. In der ersten Reihe sitzt die zarte Kefe, ja, und das Erbschen, verstehst du, die Bohne nicht, die Bohne ist höchstens dritte Reihe, daneben Mangold und der alberne Topinambur. In die erste Reihe wird es das Zeugs bei mir nie schaffen, obwohl er es vom Preis her dreimal mit der Brunnenkresse aufnehmen könnte. Nur: in der Welt schaffen es die Kostbaren auch nicht in die erste Reihe, wenn sie denn ein Gesicht haben wie eine Saatkartoffel im dritten Jahr auf ihrer Hurde.

Aber das weißt du doch alles.

DORA Ja.

CHEF Also.

DORA Weiß nicht.

CHEF Sind es die Medikamente.

DORA Weiß nicht.

CHEF Warum hat sie es nicht mit mir besprochen. Es geht mich etwas an. Ich habe eine Meinung dazu. Ich arbeite mit dir. Sie hätte mich fragen sollen, was ich von der Sache halte. Das nehme ich deiner Mutter übel. Diese arrogante Herumexperimentiererei. Es ist dir gutgegangen, was muß sie daran ändern. Das nehme ich ihr wirklich übel. Nicht dir, Dora, hörst du. Dir nehme ich es nicht übel. Dir nehme ich nichts übel. Aber ich spüre es, wenn du unkonzentriert und unruhig bist. Das ist nun einmal so. Es ist, als wäre ich selbst unkonzentriert. Und wenn du keine Medikamente nimmst, dann nehme gewissermaßen auch ich diese Medikamente nicht. Deshalb geht es mich etwas an, wenn es dir schlechtgeht.

Und es darf uns nicht schlechtgehen.

Es geht schon dem Laden schlecht.

Schweigen.

Wir gehen pleite, Dora, hihi, dir kann ich es ja sagen.

DORA Ooch.

CHEF Und Mutter krepiert, wenn wir pleite gehen. Garantiert. Das überlebt sie nicht. Aber zum Glück weiß sie nichts.

DIE FRAU Was weiß ich nicht.

CHEF Nichts, Mama, nichts weißt du nicht.

DIE FRAU Mit wem unterhältst du dich die ganze Zeit.

CHEF Mit Dora, Mama, ich unterhalte mich mit Dora.

DIE FRAU Laß das Kind einmal fünf Minuten in Ruhe.

CHEF Ich habe ihr eine wichtige Sache zu erklären.

DIE FRAU Laß das Mädchen in Frieden.

Haben wir keine Kundschaft.

CHEF Selbstverständlich haben wir Kundschaft, Mama, selbstverständlich. Zu Dora: Sie wäre innerhalb einer Woche unter der Erde, mit Sicherheit, wahrscheinlich schon nach drei Tagen. Dann könnte sie uns nicht mehr stören. Aber dann.

Was dann, Dora. Was würde dann aus dir. Was würde aus uns. Es gäbe keinen Laden mehr. Und ohne den Laden können wir uns nicht sehen, aber wir können nicht zusammenkommen. Du kennst den Grund.

Weißt du, Dora, wir zwei, das geht nicht, wir sind zu verschieden, das geht nicht, nicht in diesem Leben, nicht in dieser Welt.

Und darum brauchen wir den Laden. Darum mußt du dich konzentrieren, mit oder ohne Medikamente.

Wir dürfen nicht pleite gehen.

Lieber gehen wir kaputt, als daß wir pleite gehen.

Also los, zurück an die Arbeit.

Schon Feierabend.

Dann gib mir einen Kuß.

3. ZU HAUSE. AM BETT. EIN NACHTLICHT GLIMMT FRIEDLICH, UND VOR DEM FENSTER LAUERT DUNKEL DIE NACHT.

Mutter. Dora.

MUTTERliest aus einem Buch: