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Als Lulu und Gerald sich wiederbegegnen, liegt ihre Ehe sechzig Jahre zurück. Geblieben ist nur Hass. Im Streit stürzt das einstige Liebespaar von den Klippen von Cala Marsopa. Peter Nichols’ Familiensaga schickt den Leser auf eine Reise rückwärts durch die Zeiten, auf ein betörend schönes, unentdecktes Mallorca. Die Villa Los Roques ist ein zeitloser Ort: Seit drei Generationen zieht das kleine Strandhotel im äußersten Osten Mallorcas Bohemiens und Lebenskünstler an. Als Lulu, die Besitzerin, inzwischen über achtzig Jahre alt, eines nachmittags zufällig auf ihren ersten Ehemann Gerald trifft, kommt es zum Handgemenge, und die einstigen Liebenden ertrinken im Meer. Entsetzt kehren Luc und Aegina, die Kinder aus den zweiten Ehen, auf die Insel zurück, um ein schweres Erbe anzutreten, immer der Frage nach: Was ist im Sommer 1948 passiert? Denn in der kleinen Inselgemeinschaft hat jede Intrige und jede Affäre ihren Ursprung in der Vergangenheit. Und die alten Enttäuschungen sind längst nicht vergeben.
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Seitenzahl: 706
PETER NICHOLS
DIE SOMMER MIT LULU
Roman
Aus dem Englischen von Dorothee Merkel
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Für meinen Sohn Gus
Und für David, Lizzie, Cynthia und Matt
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Rocks« im Verlag Heron Books, an imprint of Quercus Publishing Ltd, London
Copyright © 2015 by Peter Nichols
Für die deutsche Ausgabe
© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Umschlag: ANZINGER | WÜSCHNER | RASP, München
Unter Verwendung eines Fotos von © Condé Nast Archive/Corbis
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: 978-3-608-98310-4
E-Book: 978-3-608-10114-0
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Der Abdruck des Gedichts »Ithaka« in der Übersetzung von Wolfgang Josing (Konstantinos Kavafis: Brichst du auf gen Ithaka. Sämtliche Gedichte.Romiosini Verlag 1996) erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
2005Wieder vereint
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1995Golden Oldies
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1983Karussell
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1970Die Phönizier
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1966Perfidia
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1956Die Wellen
1951Der Weg nach Ithaka
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August 1948 Die Fahrt der Sterblichen
August 1948 Eine Woche zuvor Zyklopen
2005Alte Fotos
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2005Wieder vereint
Danksagung
Brichst du auf gen Ithaka,
wünsch dir eine lange Fahrt,
voller Abenteuer und Erkenntnisse.
Die Lästrygonen und Zyklopen,
den zornigen Poseidon fürchte nicht …
Immer halte Ithaka im Sinn.
Dort anzukommen ist dir vorbestimmt.
Doch beeile nur nicht deine Reise.
Besser ist, sie dauere viele Jahre;
Und alt geworden lege auf der Insel an,
reich an dem, was du auf deiner Fahrt gewannst,
und hoffe nicht, dass Ithaka dir Reichtum gäbe.
Ithaka gab dir eine schöne Reise.
Du wärest ohne es nicht auf die Fahrt gegangen …
Konstantinos Kavafis, Ithaka
Ihre Gäste staunten immer, wie jung sie aussah.
»Lulu, Darling, sei doch nicht albern – du kannst unmöglich schon achtzig sein!«
Obwohl sie bereits in ihr neuntes Lebensjahrzehnt vorgerückt war, hatte Lulu Davenport noch immer den schlanken, biegsamen Körper einer sehr viel jüngeren Frau. Ihre dichten, glatten Haare, die sie auch jetzt noch lang trug, waren für gewöhnlich im Nacken zu einem losen Knoten zusammengeflochten, dem ständig ein paar bezaubernde Löckchen entwischten. Ihre Haarpracht gehörte zu den Gaben, die ihr die Natur im Überfluss geschenkt zu haben schien, und war bereits komplett weiß geworden, als sie kaum dreißig Jahre alt gewesen war. Lulu hatte sich nie Gedanken um ihre Gesundheit oder ihr Aussehen machen müssen. Das war eine dieser Zufälligkeiten der Natur – sie hatte eben einfach Glück gehabt. Sie ging überall zu Fuß hin, arbeitete regelmäßig im Garten und leitete die Villa Los Roques – »Die Klippen«, wie alle ihr kleines Hotel an der Ostküste der Insel Mallorca nannten. Dort gelang es ihr seit über fünfzig Jahren, ihre Gäste mit ihrem Charme zu bezaubern. All dies hatte dafür gesorgt, dass sie stets voller Energie war und sich glücklich fühlte, bis zu jenem Dezembernachmittag, als Vincente, ihr Faktotum, sie inmitten ihrer gelben Rosenbüsche fand, wie sie ausgestreckt in der Mittelmeersonne lag.
Sie sah nach ihrem Schlaganfall nicht anders aus als vorher und hatte auch ihre erstaunliche Lebenskraft schon bald wiedergewonnen. In fast jeglicher Hinsicht schien sie vollkommen unverändert. Doch der winzige Dammbruch in ihren Blutbahnen hatte genügt, in Lulus Gehirn einen Schalter umzulegen. Sie begann zu fluchen. Ihr neues Vokabular klang wie aus einem Roman von D. H. Lawrence: Ficken, Fotze, Scheiße, Pisse. Der Inhalt dessen, was sie sagte, hatte sich nicht verändert, und auch Logik und Kontext blieben dem jeweiligen Thema angemessen, nur war eben ihre Sprache plötzlich mit lauter faszinierenden neuen Begriffen durchsetzt. Zunächst amüsierten sich ihre Freunde köstlich darüber, mit einer Person zusammenzusitzen und sich zu unterhalten, die sie in- und auswendig kannten, die über dieselben Dinge und Probleme sprach wie immer, nur eben in einer neuen, geradezu filmreifen Vulgarität. Doch nach einer Weile wurde die Sache irgendwie befremdlich. Es handelte sich schließlich um eine neurologische Störung. War das immer noch Lulu?
Die zweite Veränderung betraf ihren Tagesablauf. Er war nicht mehr so straff durchorganisiert wie früher. Es war nichts Dramatisches – sie stand nicht etwa mitten in der Nacht auf, um die Rosen zu schneiden oder spazieren zu gehen –, aber sie wurde sehr viel sprunghafter. Sie ging nach wie vor selbst in das Lädchen im Ort einkaufen, die Strohtasche über die Schulter geschwungen, aber nun zu ganz willkürlich gewählten Tageszeiten. So kam es auch, dass sie eines Nachmittags Ende März ihrem ersten Ehemann, Gerald Rutledge, begegnete. Nach ihrer Scheidung 1949 waren sie beide in dem kleinen Örtchen Cala Marsopa geblieben. Doch weil sie vollkommen entgegengesetzte Gewohnheiten entwickelt hatten, war es ihnen gelungen, einander ein halbes Jahrhundert fast gänzlich aus dem Weg zu gehen.
Obwohl sie beide im gleichen Alter waren, hatte die Natur Gerald längst nicht so großzügig bedacht wie Lulu. Er hatte sein Leben lang geraucht und litt nun unter einem Lungenemphysem. Seit Jahren schon machte ihm eine schwere Arthritis zu schaffen. Er brauchte eigentlich dringend eine Hüftprothese, hatte jedoch einen viel zu großen Horror vor Krankenhäusern, um sich einem solch schwerwiegenden Eingriff zu unterziehen. Deshalb konnte er nur sehr langsam gehen und musste sich dabei auf einen Stock stützen.
Er stand gebückt da, paffte eine Ducados und hielt mit zittriger Hand eine kleine Viererpackung Joghurt umklammert, als sie sich vor der tienda de comestibles begegneten. Seine braun gebrannten, runzligen, ausgemergelten Arme und Beine steckten in ausgebeulten Khaki-Shorts und einem kurzärmeligen blauen Hemd – billige Kleidungsstücke aus Polyester, die er im HiperSol in Manacor gekauft hatte. Unter seinen dünnen, grauen Haarsträhnen konnte man die von der Sonne verursachten, schorfigen Hautkrebsflecken sehen.
»Meine Güte, Gerald, du siehst ja total beschissen aus«, sagte Lulu. »Was machst du überhaupt hier, du verdammter Wichser?«
Geralds Mund öffnete sich zu einer Antwort, aber seine Gedanken entglitten ihm und gerieten völlig durcheinander. Sein Verstand war in letzter Zeit ohnehin recht unzuverlässig geworden, doch Lulus derbe Begrüßung brachte ihn nun vollends aus dem Gleichgewicht. Die Erinnerungen, die er an sie hatte – und die fast alle aus den wenigen glücklichen Wochen ihrer Ehe vor fast sechzig Jahren stammten –, ließen sich unmöglich mit solch krasser Unflätigkeit und Gehässigkeit in Einklang bringen. Während sein Kiefer sich öffnete und er versuchte Wörter hervorzubringen, fanden seine Augen die kleine weiße Narbe, die immer noch auf ihrem Kinn zu sehen war.
Lulus Blick wurde indessen magisch von einem Stapel herrlicher blauschwarzer Auberginen angezogen. Sie wollte schon hinübergehen, als Geralds Hand hervorschoss und sie am Oberarm packte.
Sie drehte sich um. »Verpiss dich, du elender Scheißkerl.« Lulu riss sich los. Während sie zu den Auberginen ging, freute sie sich über die Gelegenheit, Gerald wie Luft zu behandeln – und auch darüber, wie altersschwach und klapprig er aussah. Sie hatte ihren Schlaganfall als schrecklich demütigend empfunden; so etwas passierte jemandem wie ihr einfach nicht. Und während sie sich mit dem beunruhigenden Beweis ihrer eigenen Sterblichkeit auseinandergesetzt hatte, war ihr der Gedanke gekommen, Gerald könne sie womöglich überdauern. Ganz plötzlich war es ihr dringendster Wunsch, er möge als Erster sterben.
Sie nahm eine Aubergine in die Hand und rieb den Daumen mit einem quietschenden Geräusch über die Schale. Danach erledigte sie zügig, aber konzentriert ihre restlichen Einkäufe und war bald schon wieder auf der Straße.
Gerald starrte ihr nach. Einen Moment später spürte er etwas in seiner Hand. Er schaute hinunter und musste feststellen, dass er die Joghurtbecher zu fest zusammengedrückt hatte. Von seinen Fingern tropften die cremigen Stückchen der frutas del bosque.
Ein Regenschauer nach dem anderen war über die Insel gezogen, doch nun verschwanden die Wolken, als hätten auch sie nur darauf gewartet, dass sich das Wetter besserte. Sie segelten gen Osten übers Meer, wie eine Flotte aus rosafarbenen und violetten Galeonen. Lulu lief über den sandigen, unbefestigten, noch von zahlreichen Pfützen durchsetzten Weg nach Hause, der hinter dem Hafen begann. Er führte an der Küste aus Kalkstein entlang, zwischen weißen Villen und Gärten voller Obstbäume und Bougainvilleen hindurch und wurde hauptsächlich von Fußgängern und Mopeds benutzt. Im Sommer war er ein beliebter, etwas abseits gelegener Spazierweg, doch den Rest des Jahres über war er menschenleer. Hier und da boten die rauen, beigefarbenen, porösen Klippen, die das Meer von der Straße trennten, ein paar flache Stellen am Rand der Felskante. Lulu war jahrelang mit den Hotelgästen hierhergekommen, die keine Lust hatten, den weiten Weg zum Strand zu laufen. Sie hatten ihre Handtücher in der Sonne ausgebreitet, waren ab und zu ins kühle Wasser gesprungen und von dort wieder die Klippen hinaufgeklettert.
Lulu schlenderte langsam und vergnügt den Weg entlang. Sie genoss die warmen Sonnenstrahlen – es war für mallorquinische Verhältnisse ein ungewöhnlich kalter und regnerischer Winter gewesen. Die vertrauten Konturen der Felsen und das sanfte, saugende Geräusch des Meeres, das an ihnen emporstieg, gaben ihr ein Gefühl von Sicherheit.
Sie bemerkte nicht, dass Gerald ihr folgte. Er hatte ein für ihn ungewöhnlich hohes Tempo angeschlagen, auch wenn es sich dabei eigentlich um eine ganz normale Gehgeschwindigkeit handelte. Seine Beine funktionierten nicht mehr richtig. Die einzelnen Teile, aus denen sie sich zusammensetzten, waren sämtlich zerschlissen, und ihr Bewegungsmechanismus war so unzuverlässig geworden, dass sie drohten, jeden Moment in die falsche Richtung wegzuklappen und unter ihm zusammenzubrechen. Seine Hüften schmerzten fürchterlich. Der Schweiß perlte auf seiner Stirn, seinem Hals und seiner Oberlippe. Sein Gesicht wurde immer blasser, weil der verbrauchte Sauerstoff sich aus seinen Blutbahnen in Herz und Lunge drängte. Er kam nur keuchend und heftig schnaufend voran und wäre schrecklich gern stehen geblieben, um sich eine Zigarette anzuzünden, aber dann hätte er sie aus den Augen verloren. Also schleppte er sich grimmig weiter voran, wie jemand, der unter Wasser geht.
Er holte Lulu ein, als sie ihr Hotel schon fast erreicht hatte. Erneut packte er sie am Arm, diesmal mit wutentbrannter Kraft, und wirbelte sie zu sich herum.
»Du hast nie –«, begann er mit dem brodelnden Knurren eines Kettenrauchers, aber in seiner krampfhaft bebenden Brust war nicht mehr genug Luft, um den Satz zu beenden.
Wieder schüttelte Lulu seine Hand ab. Sie war überrascht und äußerst erfreut darüber, welche Anstrengungen Gerald auf sich genommen hatte, und auch darüber, in welch erschöpftem, atemlosem und elendem Zustand er sich befand. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie ihn womöglich nur leicht anzustupsen brauchte, und schon würde er direkt vor ihren Augen an einem Herzanfall sterben. »Du bist jämmerlich, Gerald. Nur noch eine leere, hinkende Hülle von einem Mann.« Die alte Wut flackerte in ihr auf. »Du bist einfach abgehauen, du feiger Arsch! Du bist ein armseliger, elender, verfickter Scheiß –«
»Du hast den Film nie entwickeln lassen! Oder?« Die wütenden, abgewürgten Wörter barsten feucht rasselnd aus Geralds Brust. Sein Körper kippte nach vorn. »Ich habe sie weggelockt! Verstehst du? Ich habe dafür gesorgt, dass sie verschwunden sind! Ich habe –« Sein blaugraues, schweißglänzendes Gesicht drängte sich nah an das ihre, aber ihm war der Atem ausgegangen.
Lulu lehnte vor Ekel unwillkürlich den Oberkörper zurück. Doch sie richtete sich wieder auf – oder war zumindest im Begriff dazu –, als ihre mit Auberginen, Zitronen, Käse und Wein schwer beladene Schultertasche rückwärts schwang und mit bleiernem Gewicht an ihr zerrte. Sie verlor das Gleichgewicht.
Gerald griff nach ihrem Arm, jedoch dieses Mal – mit sicherem Instinkt –, um sie aufzufangen. Lulu krallte ihre Hand in sein Hemd, aber sie waren beide schon zu weit über dem Abgrund, um sich noch fangen zu können. Unaufhaltsam begannen sie, in die Tiefe zu fallen. Während sie fielen, war Lulu der Anblick von Geralds Gesicht, das dem ihren so nah war, mit seinen dünnen, gummiartigen Lippen und der Spucke, die sich in den Mundwinkeln gesammelt hatte, derart widerwärtig, dass sie ihren Kopf ruckartig zur Seite warf. Bei der Landung schlug sie mit der Schläfe auf einen scharfkantigen Felsvorsprung.
Geralds Knie wurden bei dem Aufprall auf dem zerklüfteten Kalkstein zertrümmert. Er schrie – ein kurzes, hohles Keuchen –, krümmte sich und zuckte mit dem Oberkörper und den qualvoll schmerzenden Hüften nach vorn.
Sie rollten weiter, jedoch nicht in Richtung der flachen Stellen, an denen die Gäste sonst immer ihre Badetücher ausbreiteten. Zusammen stürzten sie über den Felsvorsprung hinunter ins Meer.
»Dem Bericht des Gerichtsmediziners zufolge war es Tod durch Ertrinken«, sagte der Polizeikommissar und blätterte in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Er war jung und schlank, hatte ein sicheres Auftreten und kurz geschorene, mit Gel stachelförmig nach oben frisierte schwarze Haare. Er sah aus wie ein Detektiv in einer Telenovela. »Die Lungen beider Personen waren mit Wasser gefüllt. Aber es waren auch äußerliche Verletzungen vorhanden, bei Señora Davenport hauptsächlich am Kopf, bei Señor Rutledge an den Knien … Und es gibt noch weitere Hautabschürfungen …« Er schaute hoch, auf die beiden Personen mittleren Alters, die ihm gegenüber am Schreibtisch saßen. »Es scheint jedoch nichts entwendet worden zu sein. Wir haben Señora Davenports Portemonnaie in ihrer Tasche gefunden und Geld in der Hosentasche von Señor Rutledge. Es wurde ihnen nichts gestohlen, also gehen wir nicht davon aus, dass es ein tätlicher Angriff beziehungsweise ein Diebstahl war. Die erwähnten Verletzungen stammen höchstwahrscheinlich von ihrem Sturz ins Wasser.«
Er sprach Spanisch. Luc Franklin, der Sohn der Davenport-Frau, und Aegina Rutledge, die Tochter des Rutledge-Mannes – beide ingleses, wie ja die Verstorbenen auch –, hatten ihm, als sie ihm vorgestellt wurden, in fließendem Spanisch geantwortet. Die Rutledge-Frau machte auf den Kommissar den Eindruck, als sei sie auch tatsächlich durch und durch spanisch. Dunkle Haare, dunkle Augen, olivenfarbener Teint, alt genug, um seine Mutter sein, aber immer noch eine sehr attraktive Frau – mit einem gewissen Schliff, den sie vermutlich der englischen Hälfte ihrer Abstammung verdankte. Der Mann, Franklin, sprach ebenfalls ziemlich gut Spanisch, auch wenn seine Aussprache nicht ganz so perfekt war wie die der Frau. Er sah wie ein ganz normaler, ergrauender inglés mittleren Alters aus. Keiner von ihnen ließ eine Gefühlsregung erkennen, während er vom Tod ihrer Eltern sprach und die Verletzungen in allen Einzelheiten schilderte, die man an den Leichen gefunden hatte. Aber der Kommissar ließ sich dadurch nicht täuschen. Es war ihm aufgefallen, dass sie sich kaum angeschaut hatten. Sie vermieden jeden Anflug von Wärme und Trost, alles, was vielleicht zu Tränenausbrüchen hätte führen können. Nicht einmal eine Umarmung oder ein Händedruck zwischen alten Freunden, keinerlei Anzeichen von Trauer, die der Situation angemessen gewesen wären und für die der Kommissar bewährte Worte des Trostes parat gehabt hätte.
Diese beiden Personen konnten sich nicht ausstehen.
Der Kommissar fuhr fort. »Es bleibt nur die eine Frage, nämlich, warum sie überhaupt gestürzt sind.«
»Meine Mutter hatte im Dezember einen Schlaganfall«, sagte Luc Franklin. »Vielleicht ist das ja wieder passiert, und Gerald – Señor Rutledge – hat versucht, ihr zu helfen.«
»Sie waren sehr alte Freunde«, sagte die Rutledge-Frau zur Bekräftigung dieser Theorie. »Wenn sie irgendwelche Schwierigkeiten hatte, dann hätte mein Vater sicher versucht ihr zu helfen, auch wenn es ihm selbst nicht besonders gut ging.«
»Claro«, sagte der Kommissar. »Das scheint mir die wahrscheinlichste Erklärung zu sein. Señora Davenport hatte hier eine Kopfverletzung«, er berührte seine Schläfe, »die höchstwahrscheinlich von ihrem Sturz auf die Felsen herrührte, der wiederum vielleicht, wie Sie sagen, von einem zweiten Schlaganfall verursacht wurde, oder«, er sah den Franklin-Mann an und sagte behutsam, »vielleicht ist sie auch einfach nur gestürzt. Sie war ja schon recht alt und trug eine schwere Tasche. So etwas passiert.«
»Schon möglich«, sagte Luc Franklin. Er machte einen seltsam desinteressierten Eindruck. Der Kommissar hatte so etwas schon öfter gesehen: Trauer, die sich in Distanziertheit ausdrückte. Die Toten waren nun tot. Wie es dazu gekommen war, schien nicht weiter wichtig.
Der Kommissar redete weiter, beschrieb eine Szene, die sich mehr oder weniger von selbst erklärte. »Ja. Und Señor Rutledge war da«, er sah zu der Tochter hinüber, während er versuchte, mit seinem Gesicht die selbstlose Güte zum Ausdruck zu bringen, die er ihrem Vater zuschrieb, »und wollte ihr helfen. Sie fielen, vielleicht zusammen, erst auf die Klippen, die die Straße säumen, und dann – sie sind nicht besonders breit, die Felsen dort, ich bin hingegangen und habe es mir angeschaut – sind sie hinunter ins Wasser gestürzt. Die Verletzungen stimmen mit einem derartigen Ablauf überein. Es sei denn, Sie hätten Grund zur Annahme, dass sie von jemandem angegriffen wurden –«
»Nein, nein, keineswegs«, sagte der Franklin-Mann, auf einmal ungeduldig.
»Ich bin mir sicher, dass es ein Unfall war«, sagte die Rutledge-Frau.
Der Kommissar nickte ernst. »Ein tragischer Unfall, bei solch alten Freunden.« Er stand auf. »Mein tief empfundenes Beileid.«
Sie fuhren zusammen im Aufzug hinunter zur Tiefgarage der Polizeidienststelle. Sie schwiegen. Schließlich sagte Aegina: »Luc, das mit deiner Mutter tut mir leid.«
»Und mir das mit deinem Vater«, sagte Luc und betrachtete ihr Spiegelbild auf der Oberfläche der Fahrstuhltüren aus gebürstetem Aluminium, genau in dem Augenblick, als sich die Türen öffneten und ihr Bild auslöschten.
Sie gingen in Richtung ihrer geparkten Autos.
»Luc.« Aegina blieb stehen. »Du glaubst doch nicht – ganz ehrlich –, dass sie sich in Wahrheit gestritten haben?«
»Aegina …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung.«
»Aber warum waren sie überhaupt zusammen? Sie haben sich seit … seit Algeciras nicht mehr gesehen.«
Als das Wort »Algeciras« fiel, wandte Luc den Blick ab und starrte in eine besonders trostlose Ecke der Tiefgarage. »Keine Ahnung.«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was er dort wollte, draußen, vor dem Hotel«, sagte Aegina. Aber während sie sprach, fielen ihr einige Vorkommnisse aus der Vergangenheit ein. Sie sah Luc an. »Wie fühlst du dich?«
»Wie betäubt«, sagte er. »So wie ich mich ihr gegenüber schon immer gefühlt habe.«
»Ich bin sicher, dass das nicht stimmt.«
»Ach, egal, was soll’s.« Er drehte sich wieder zu ihr. »Es tut mir wirklich leid mit deinem Vater. Ich mochte ihn.« Er machte kehrt und ging zu einem weißen Landrover. Lulus Auto. Als er auf den Funkschlüssel drückte, um die Türen zu öffnen, blinkten die Scheinwerfer des Autos kurz auf und es hupte einmal.
»Bleibst du länger hier?«, rief sie.
»Weiß nicht«, antwortete Luc und öffnete die Autotür. Er kletterte in den Wagen, schloss die Tür und ließ den Motor an. Aegina ging zur Seite, als der Landrover rückwärts aus der Parklücke fuhr. Dann sah sie zu, wie er in Richtung der Ausfahrt davonraste.
Aegina blickte sich in der farblosen Betonhöhle um und versuchte sich daran zu erinnern, was für ein Auto sie sich an diesem Morgen gemietet hatte. Sie war direkt vom Flughafen in Palma zu Pompas Fúnebres González gefahren, um die Leiche zu identifizieren, und von dort aus weiter zur Polizeistation.
Während sie den langen, nach wie vor ungeteerten Weg nach C’an Cabrer, dem Bauernhaus ihres Vaters, hinauffuhr, konnte Aegina nicht fassen, dass er nicht mehr dort sein würde. Jedes Mal war die Fahrt von Palma zum Haus mit der Erwartung, mit der Gewissheit verbunden gewesen, ihn am Ende zu sehen. Durch die Dörfer, oder mittlerweile meist auf irgendwelchen Umgehungstraßen um die Dörfer herum, an unzähligen neu gebauten kastenförmigen, kleinen Villen vorbei, bis sich endlich vor ihr das glitzernde Meer ausbreitete, dann nur noch den Hügel hinauf und zwischen den Olivenbäumen hindurch – jede Reise von London oder irgendeinem anderen Ort der Welt hierher war von dieser Erwartung erfüllt gewesen. Er war während ihres gesamten Lebens nur zweimal nach London gekommen. Ansonsten hatte sie ihn immer nur hier gesehen, an diesem einen Ort. Es hatte noch nie einen Moment gegeben, an dem sie im Haus war und ihr Vater nicht. Oder wenn, dann war er nur kurz unterwegs und würde jeden Augenblick zurückkommen. Diese Gewissheit war so beständig gewesen wie die Steine, aus denen das Haus gebaut war, oder wie das Land, das es umgab.
Hoch oben auf dem Hügel beschrieb die Auffahrt eine scharfe Kurve und führte an einer Reihe von Zitronenbäumen entlang zum alten Schweinestall – die Werkstatt ihres Vaters, die direkt neben dem Haus lag. Aegina hielt und stieg aus. Es war heiß, und die Luft war vom Summen der Zikaden erfüllt.
Sie stieg die Treppen an der Seite des Hauses hinauf, betrat die riesige Küche und blieb reglos stehen. In dem hölzernen Abtropfgestell über der großen, eckigen Keramikspüle lagen eine Teekanne mit Sieb und Deckel, eine alte Tasse mit Sprung, ein Porzellanteller und ein großes Tafelmesser mit Knochengriff säuberlich aufgereiht. Er hatte sie gespült und war dann fortgegangen und gestorben. Jetzt wusste sie, dass sie ihn nicht finden würde, weder hier, wie er Tee kochte, noch in seinem Büro noch lesend im Wohnzimmer noch wie er durch den Garten, die Oliven- oder Zitronenhaine spazierte, die oben auf dem Hügel über dem Haus wuchsen – zumindest das, was noch von ihnen übrig war.
Sie ging durch die mit Büchern vollgestellten Räume, bis sie zum Schlafzimmer ihres Vaters kam. Auch das Bett hatte er ordentlich gemacht – tadellos wie immer –, bevor er an jenem letzten Morgen zum Lebensmittelladen gegangen war.
Hier war sie gezeugt worden.
Neben dem Bett stand das kleine, grob gezimmerte alte Bücherregal aus einheimischem Kiefernholz, das den Kern der Bibliothek ihres Vaters enthielt, die Bücher, die er 1948 von seinem Boot mit an Land gebracht beziehungsweise daraus gerettet hatte, als es sank. Sie war sich nie ganz sicher, welche der beiden Versionen stimmte. John Bagnell Burys Geschichte des antiken Griechenland, Thomas Day Seymours Leben zu Zeiten Homers, verschiedenste Ausgaben der Odyssee und ein Buch mit Fotos der Ägäis, dem Meer, nach dem ihr Vater sie benannt hatte.
Sie setzte sich aufs Bett und zog einen verblichenen, blau eingebundenen Band der Oxford University Press aus dem Regal. Die Seiten hatten sich schon vor langer Zeit vor Feuchtigkeit gewellt. Auf dem Buchrücken stand der Titel: Homers Odyssee. In der Mitte des blauen Stoffs vorne auf dem Einband befand sich in verblichenem Gold die kreisrund eingeprägte Darstellung einer kleinen Galeere mit vierzehn Rudern. Die Gestalt eines bärtigen Mannes, Odysseus, war mit Stricken an den Mast gebunden. Aus dem Wasser schauten singend die Sirenen zu ihm auf. Sie verzauberten jeden, der so unglückselig war, ihnen zu nahe zu kommen und ihrem meeresdurchtränkten Lied zu lauschen – geflügelte Harpyien, die mit ihren Krallen menschliche Gebeine umklammert hielten und jeden Seefahrer gefangen nahmen und nicht mehr losließen, bis sich ihm das Fleisch von den Knochen löste und nur noch ein Skelett von ihm übrig blieb.
Aegina öffnete das Buch. Auf der ersten Seite, die ansonsten leer war, vergilbt und mit Feuchtigkeitsflecken gesprenkelt, stand in verblichener schwarzer Tinte:
Für Lulu. Eine Odyssee.
In ewiger Liebe, Gerald
20. Juli 1948
»Warum sollte ich denn nicht gehen? Es ist ihr siebzigster Geburtstag«, sagte Charlie. Er fläzte sich in einem Stuhl vor dem großen Eichentisch in der Mitte der Küche und naschte ab und zu von einem kleinen Haufen roher Mandeln, der vor ihm lag. Er aß jede Nuss einzeln, eine nach der anderen. »Nur weil du und Opa sie hasst wie die Pest –«
»Das stimmt nicht, Charlie«, sagte Aegina. Sie stand am anderen Ende des Tisches und bereitete das Abendessen vor, indem sie Zwiebeln, Knoblauch und Pinienkerne in kleine Stücke schnitt. »Ich hasse sie nicht. Ich denke überhaupt niemals an sie.«
»Tust du doch«, sagte der Junge.
»Ich habe gar nicht die Energie, um irgendjemanden zu hassen. Und ich gebe dir recht. Natürlich solltest du hingehen, wenn du möchtest. Aber bist du denn auch eingeladen?«
»Mama«, sagte er mit mitleidiger, entnervter Stimme. »Um zu den Klippen zu gehen, braucht man keine Einladung. Die Leute gehen einfach hin. Ich bin schon mein ganzes Leben lang hingegangen.«
»Ich weiß, aber wird das heute denn nicht so eine ganz große, wichtige Feier?«
»Das ist ja gerade der Sinn der Sache: Alle Welt wird hingehen. Aber wenn du’s genau wissen willst, Lulu hat mich eingeladen.«
»Sie hat was?«, schallte es aus dem Wohnzimmer.
Im nächsten Moment trat Gerald in den Türrahmen. »Warum hat sie dich eingeladen? Woher kennt sie dich überhaupt?« Er schaute seinen Enkelsohn über die Ränder seiner Lesebrille hinweg an. Der Junge war groß und gelenkig und hatte den gleichen dunklen spanischen Teint wie seine Mutter. Seit dem letzten Sommer, als Gerald ihn das letzte Mal gesehen hatte, schien er plötzlich die Grenze zwischen Kindheit und Jugend überschritten zu haben. Er war seitdem sicherlich mindestens dreißig Zentimeter gewachsen und musste sich bereits rasieren. Er sah wie ein draufgängerischer junger Matador aus, dachte Gerald. Gott steh’ ihm bei.
»Opa, ich geh da schon seit Jahren hin«, sagte Charlie. »Natürlich kennt sie mich. Sie hat mich sogar gebeten, bei ihrer Party der DJ zu sein. Das ist ein richtiger Job. Sie zahlt mir fünftausend Peseten.«
»Das ist ja nett«, sagte Aegina vorsichtig. »Und warum du, Schatz?«
»Sie mag die Musik, die ich mag. Und ich mag, was sie mag.«
»Und was wäre das so?«, fragte Aegina.
»Na ja, altes Zeug, aber auch neuere Sachen. Sie hat einen Plattenspieler und die ganzen alten Klassiker auf Vinyl. Du solltest echt mal mit runterkommen und es dir ansehen – falls du sie nicht hasst.«
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