Die Sphinx des digitalen Zeitalters - Rainer Patzlaff - E-Book

Die Sphinx des digitalen Zeitalters E-Book

Rainer Patzlaff

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Beschreibung

Eine tiefsinnige Analyse des Medienforschers Rainer Patzlaff, die das Thema der Digitalisierung in einen großen bewusstseinsgeschichtlichen Zusammenhang einbettet. Mit profunder Sachkenntnis schildert der Autor den Siegeszug der digitalen Technik und daneben ihre ungewollte Kehrseite, die uns vor völlig neue Aufgaben stellt. Eindringlich macht dieses Buch deutlich, dass die Aufgaben nicht zu bewältigen sind ohne den mutigen Schritt zu einer grundlegenden Verwandlung des eigenen Ich. "Die Digitalisierung bringt uns in eine scheinbar unauflösbare Zwickmühle: Einerseits beglückt sie uns mit großartigen technischen Möglichkeiten, andererseits zahlen wir dafür einen hohen, eigentlich unannehmbaren Preis – den Verlust der Freiheit und der Würde unserer Individualität. Wir stehen vor einer historischen Herausforderung, der wir nur gewachsen sein werden, wenn wir die digitale Technik als Aufgabe begreifen, die uns einen neuen Entwicklungsschritt abverlangt." Rainer Patzlaff

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RAINER PATZLAFF

Die Sphinx des digitalen Zeitalters

Aspekte einer Menschheitskrise

VERLAG FREIES GEISTESLEBEN

Inhalt

Cover

Titel

Geleitwortvon Edwin Hübner

Vorwort

Einführung: Vom Schöpferwort zum «Achten Schöpfungstag». Der Weg zur digitalen Technik

Telegraphie

Telephonie und Grammophon

Von der analogen zur digitalen Sprachübertragung

Das Ziel: Den Anschein von Echtheit erzeugen

Das geheime Potenzial digitaler Reproduktionen

Kritische Fragen

Teil I: Außenansicht der Menschheitskrise

1.An der Schwelle zu einem neuen Zeitalter

Vorzeichen eines welthistorischen Umschwungs in der Antike

Das Rätsel der Sphinx

Die Ausbildung des neuzeitlichen Denkens

Denkstrukturen, geronnen im Computer

Die Universalmaschine unserer Zeit

Eine Leere, die nicht leer bleibt

Die Neigung der Intelligenz zum Bösen

2.Schöne neue Welt der Medien

Fernsehen als Fenster zur Welt

Computergestützte Medien

Das Internet

Das Smartphone

Künstliche Intelligenz (KI)

Ein böses Erwachen

Überwachungskapitalismus und Enteignung der Menschenrechte

Internetnutzer in der Skinner-Box

Milliarden Menschen in den Fängen der Suchtmaschinen

Was ist der Preis, den ich zu zahlen habe?

3.Die unauflösliche Ambivalenz digitaler Medien

Der gutgläubige Nutzer wird zum «Nutzvieh»

Die lichte Seite des Smartphones: Werkzeug weltweiter Protestkultur

Die dunkle Seite des Smartphones: Das Ich im elektronischen Kokon

Das Sphinx-Rätsel der Gegenwart

Die Ohnmacht des überkommenen Denkens

Die Suche nach einem neuen Ansatz

Eine epochale Herausforderung. Was tun?

Teil II: Innenansicht der Menschheitskrise

4.Das Nadelöhr und der Hüter der Schwelle

Keine Entwicklung ohne Metamorphosen

Urbanisierung – ein Megatrend unserer Zeit

Die Folgen der Neolithischen Revolution

Wie kann die Entwicklung weitergehen?

Der Gang durchs Nadelöhr – nur eine Hypothese?

Ob bewusst oder unbewusst – die Schwelle wird überschritten

Das Zurückschrecken vor der Schwelle

Die Begegnung mit dem Doppelgänger

Die fortgesetzte Abkapselung und ihre Folgen

Die elektronische Lösung des Problems – bestechend elegant

Online-Kommunikation und virtuelle Freunde

Gregor Samsa und die Hikikomori

Einsamkeit wird zur Epidemie

Gemeinsam einsam – ein lukratives Geschäftsmodell

5.Ahrimanische Gegenbilder zum Schwellenübergang

Die Ausstülpung der seelisch-geistigen Kräfte als Zeitschicksal

Technikschöpfung in drei Schüben

Kraftmaschinen auf dem Weg zur Schwelle

Computertechnik auf dem Weg zur Schwelle

Medientechnik und die Aufhebung von Raum und Zeit

Ahrimanische Aporie

Erste Runde des Kampfes: Unentschieden

6.Die Gespenstergalerie

Scheinzugänge zur geistigen Welt

Der Weg zur neuen Imaginationsfähigkeit

Erwachender Hunger nach imaginativen Bildern

Von der literarischen zur digitalen Imagination

Das Kino und Platons Höhlengleichnis

Filme mit toten Personen

CGI – Computer Generated Imagery

«Morphing»: Wundersame Verwandlungen

Niemandsbilder aus der Retorte

Musik aus dem Nichts digitaler Schnipsel

Videorealistische Lippenbewegungen beim Sprechen

Geklonte Sprechstimmen

Der Präsident als Sprechmarionette

Der Präsident als Mimikmarionette

Wehe, wenn sie losgelassen …

Lügen, täuschen, verwirren – Signatur eines altbekannten Wesens

Souveränität gegenüber Ahrimans Weltmacht

7.Der Sog ins digitale Jenseits

«Total Immersion» – ein Quantensprung der Illusionserzeugung

Rendezvous im Cyberspace

Ein verräterisches Experiment

«Second Life» – Leben außerhalb des Lebens

Telepräsenz: Das Ich verlässt den Körper

Communio digitalis – Das Ich verschmilzt mit seinem Avatar

Der PC-Avatar – Exkarnation bis zum Exitus

Endstation Askaban?

Smartphone-Nutzer: Leibhaftig abwesend

Drohende Zerrüttung der Gesundheit

Smartphones richten mehr an als der Alkohol

Finale Fotosucht

Teil III: Der Drache erhebt sein Haupt

8.Die Büchse der Pandora

Die Tarnkappe, die den Doppelgänger sichtbar macht

Blicke ins Grauen

Im Bannkreis schwarzer Magie

Tauschbörsen für Verbrechen an Kindern

Cybermobbing unter Jugendlichen

Stalking unter Erwachsenen

Identitätsdiebstahl

Der perfekte Trojaner – Jeder betrügt jeden

Automatisierte Cyber-Kriminalität: Botnetze greifen an

900 Millionen Schadprogramme

Cyberangriffe auf öffentliche Institutionen

Das Schüren von Gewalt und Mord, Panik und Massenhysterie als Ziel

Der Kampf gegen das Ungeheuer

9.Digitale Technologie als Herrschaftsinstrument

Der digitale Zwilling – das gläserne Ego

Filterblasen und Echokammern – Isolationshaft des Geistes

Fernsteuerung der Nutzer in «industriellem Ausmaß»

Gefühle und Krankheiten – digital gescannt

Der Röntgenblick der Algorithmen auf das Selbst

Die Enteignung des Gesichts

Die Enteignung der Persönlichkeit

Ist der Wendepunkt erreicht?

Überwachungsstaat China

Eine ganze Nation in der digitalen Skinner-Box

Auf dem Wege zum maschinenlesbaren Menschen

Big Data breitet sein Spinnennetz aus

Der große Angriff auf das Ich hat begonnen

10.Humanoide Roboter und der Cyborg

Robotoide Menschen und humanoide Roboter

Die Kinderstube des humanoiden Roboters

Der Masterplan der ahrimanischen Geister

«Die Cyborg-Ära hat begonnen»

Vernetzte Gehirne – eine Zukunftsvision?

Das Böse in den Dienst des Guten stellen – Aufgabe unseres Zeitalters

11.Das Wort von Mensch zu Mensch – ein Mysterium

Das Gespräch mit der Maschine

Hoffnungszeichen

Ein Hören, das ins Innere dringt

Verständigung über die Sprache hinweg – spirituell oder digital?

Zwei Angriffe auf die frühe Kindheit

Embodiment – die große Wende der Kognitionsforschung

Welches Organ liegt dem neuen Hören zugrunde?

Am Quellort aller Sprachklänge der Welt

Die Kunst der Artikulation

Eine öffentlich-geheime Offenbarung realer geistiger Kräfte

Der entscheidende Punkt

Eine Inspiration für die ganze Menschheit steht bevor

12.Digitalisierung der Pädagogik – der falsche Weg zu einem wünschenswerten Ziel

Die Pandemie beschleunigt die Digitalisierung

«Ich kann nicht atmen»

Rudolf Steiners Stellung zur Technik

Bildungspolitik auf Abwegen

Was hat vermutete Zukunft in der Schule zu suchen?

Die ganz anderen Fundamente einer gelingenden Medienkompetenz

Medienpädagogik in der Waldorfschule

Zusammenfassung: Von der Sphinx zu Mephisto – die Signatur unseres Zeitalters

Anmerkungen und Quellennachweise

Literaturverzeichnis

Impressum

Geleitwort

Auf einer internen Tagung von Fachleuten für Künstliche Intelligenz (KI) Anfang 2018 wurde die gemeinsame Sorge formuliert, dass es in fünfzig Jahren keine Menschen mehr geben könne. 1 Die Teilnehmer befürchteten, dass die autonomen Technologien das Potenzial haben werden, alles Leben zu zerstören. Den Physiker Max Tegmark trieb einige Jahre vorher eine ähnliche Sorge um. Er wurde initiativ und gründete 2014 das Future of Life Institute (FLI). Mit dessen Arbeit will er dazu beitragen, dass sich eine KI-Sicherheitsforschung etabliert, die gefährlichen Fehlentwicklungen vorbeugt. Die Mitarbeiter des FLI organisierten im Januar 2017 eine Konferenz von KI-Ingenieuren, die am Ende Prinzipien für eine den Menschen gedeihlich werdende KI-Forschung aufstellten. Diese Erklärung wurde mittlerweile weltweit von mehr als 1600 KI-Forschern unterzeichnet.2 Dies ist eines von vielen Symptomen, die darauf hinweisen, dass die Menschheit mitten in einer existenziellen Krise steht.

Krisen haben immer auch einen positiven Aspekt, denn in der aktiven Auseinandersetzung mit einer Gefahr erwerben wir Menschen uns neue Einsichten und Fähigkeiten. Man denke nur an die ökologischen Probleme durch die Umweltverschmutzung. Als sie in den 1970er-Jahren allmählich wahrgenommen wurde, führte dies zu einem neuen Umweltbewusstsein. Uns ist heute sehr bewusst, dass wir die Natur schützen müssen und jeder Einzelne dazu seinen Beitrag zu leisten hat.

Bezüglich der Informationstechnologien steht der Menschheit eine ähnliche Leistung noch bevor. Gegenwärtig sind wir der Faszination durch die digitalen Möglichkeiten weitgehend erlegen. Man kann das mit der Entwicklung des Automobils im 20. Jahrhundert vergleichen. Die Freude an der räumlichen Unabhängigkeit, welche uns die Kfz-Technologie gab, ließ den Autoverkehr ins Maßlose steigen. Man kann mit Recht begeistert sein, welchen Komfort und welche Leistungsfähigkeit Automobile mittlerweile besitzen. Allerdings wird uns heute sehr deutlich, dass die Abgase der Fahrzeuge unser Klima zerstören. Genauso haben auch die Informationstechnologien ihre «Abgase», ihre schädlichen Nebenwirkungen.

Rainer Patzlaff macht mit vielen Phänomenen auf diese dunkle Seite des Digitalen aufmerksam. Es geht ihm um ein Bewusstmachen der gegenwärtigen Menschheitskrise, die nicht laut lärmend in unseren Alltag eintritt, sondern schleichend – und daher viel zu wenig gesehen wird. Er zeigt an aktuellen Beispielen auf, dass wir in unserem Alltag mit einer Technik umgehen, deren soziale Auswirkungen geeignet sind, die Menschheit in einen Abgrund des Kulturzerfalls zu ziehen. So wie das Klima der Erde umzukippen droht, steht die Kultur der Menschheit vor der Gefahr eines moralischen, wenn nicht gar physischen Kollapses.

Zugleich – und das sollte der Leser sehr aufmerksam registrieren – geht es Patzlaff überhaupt nicht um Technikfeindlichkeit, sondern er möchte die Krise als eine Herausforderung verstanden wissen, der wir begegnen können, indem wir starke Gegengewichte ausbilden. Wenn er beispielsweise beschreibt, wie das Sprechen per Smartphone oder mit scheinbar «sprechfähigen» Apparaten den Menschen tendenziell vereinsamt und seine sozialen Fähigkeiten verkümmern lässt, dann weist er damit auf die existenzielle Bedeutung der menschlichen Sprache und die Notwendigkeit ihrer Pflege hin. In seiner Monografie über die Sprache im Kindesalter hat er das bereits sehr detailliert und gründlich beschrieben.3

Das Buch, das er jetzt vorlegt, will aufwecken, sodass möglichst viele Menschen den Ernst der Zeit begreifen und sich individuell bemühen, der Krise in der eigenen Praxis etwas entgegenzusetzen. Denn jeder ist heute in den digitalen Alltag hineingestellt. Wie nutze ich Informationstechnologien? Wie gehe ich selbst mit meinem Smartphone um? Kein Smartphone zu haben oder sogar zu sagen «Ich nutze das Internet prinzipiell nicht» – solche Menschen gibt es tatsächlich – ist keine Alternative, sondern die ängstliche Flucht vor der Herausforderung, der die Menschheit in ihrem Entwicklungsgang notwendig begegnen muss.

Das vorliegende Buch beschreibt die Gegenwart vom anthroposophischen Standpunkt aus. Dieser liefert wichtige Aspekte, die Patzlaff klar benennt. Dabei liegt die grundsätzliche Auffassung zugrunde, auf die Rudolf Steiner in verschiedenen Formulierungen immer wieder hinwies: Die moderne Technik trägt zwar den Keim des Todes in sich, aber sie ist für die weitere Entwicklung der Menschheit notwendig: «(…) die moderne Technik trat in (…) Erscheinung gerade wegen ihres zum Tode führenden Charakters, weil nur dann, wenn der Mensch hineingestellt ist in eine tote, mechanische Kultur, er durch den Gegenschlag die Bewusstseinsseele entwickeln kann.»4

Am Gewahrwerden der Gefahr müssen wir aufwachen für das Geistige, das in der Welt wirkt, und in diesem Aufwachen zugleich damit beginnen, aus individueller Anstrengung den menschlichen Ausgleich zu schaffen, der in eine humane Zukunft führt.

Edwin Hübner

Hinweis:

Ich bitte meine Leserinnen und Leser um Verständnis, dass ich im Interesse eines mühelosen Leseflusses auf gendergerechte Doppelungen wie «derjenige, welcher und diejenige, welche», «jeder, der und jede, die», «Forscherinnen und Forscher» etc. verzichte und auch Grapheme wie Wissenschaftler*innen, Beobachter/innen vermeide. Wenn ich die maskuline Form benutze, ist sie stets genauso geschlechtsübergreifend gemeint, wie es bei den Wörtern Mensch, Person, Kind, Individualität von Natur aus der Fall ist.

Vorwort

Als ich im Sommer 2019 mit dem Manuskript zu diesem Buch begann, ahnte noch niemand, dass im Jahr darauf ein bis dahin unbekanntes Virus der Digitalisierung einen großen Triumph bescheren würde. Als sich nämlich Covid-19 weltweit verbreitete und die Bevölkerung unter dem Zwang von Quarantänen und Lockdowns litt, boten digitale Hightech-Geräte die einzige Möglichkeit, den Arbeits- und Gesprächskontakt mit anderen Menschen einschließlich des Unterrichts an Schulen und Hochschulen virusfrei aufrechtzuerhalten. Die Folge war, dass die kurz zuvor noch hitzig geführten Debatten über die Missbrauchsmöglichkeiten digitaler Technik in den Hintergrund traten und Industrie und Politik die Gelegenheit ergriffen, die Digitalisierung weiter Bereiche unseres Lebens voranzutreiben. Ohne Digitalisierung keine Zukunft – so lautete das Mantra, mit dem alle Bedenken beiseitegewischt wurden.

Das bestärkte mich in meinem Bemühen, ohne einer Technikfeindlichkeit das Wort zu reden, doch darauf aufmerksam zu machen, dass mit der Digitalisierung längst schon Gefahren verbunden sind, die denen der Corona-Seuche nicht nachstehen, sondern uns im Gegenteil in noch viel tieferer Weise bedrohen. Wir stehen durch sie vor einer historischen Herausforderung, der wir nur dann gewachsen sein werden, wenn wir sie positiv als eine Aufgabe begreifen, die der Menschheit einen neuen Entwicklungsschritt abverlangt.

Die Notwendigkeit dazu ergibt sich aus der Tatsache, dass uns die Digitalisierung so, wie sie bisher gehandhabt wurde, in eine Zwickmühle bringt, die unauflösbar zu sein scheint: Auf der einen Seite beglückt sie uns mit großartigen technischen Möglichkeiten, auf die niemand mehr verzichten möchte und denen man sich in der Praxis auch kaum mehr entziehen kann. Auf der anderen Seite jedoch hat sich im Laufe der jüngsten Entwicklung in zunehmender Schärfe gezeigt, dass wir für diese Errungenschaften, wenn sich am bisherigen Kurs nichts ändert, einen hohen, eigentlich unannehmbaren Preis zu zahlen haben: den Verlust der Freiheit und Würde unserer Individualität. Das mag maßlos übertrieben klingen, wird aber inzwischen selbst von führenden Persönlichkeiten aus dem innersten Kreis der Technikentwickler im Silicon Valley mit guten Gründen so vertreten und lässt sich auch eindrücklich belegen.

Für diese tückische Ambivalenz unser Bewusstsein zu schärfen, darum geht es. Nimmt man sie ernst, dann erhebt sich unausweichlich die Frage: Woher rührt sie und was können wir tun? Wer sich um eine sachgemäße Antwort bemüht, muss zuerst ein Rätsel lösen, auf das heute jeder aufmerksame Beobachter stößt: Je komplexer die Möglichkeiten der digitalen Technologien werden, desto mehr schwillt im Internet die Zahl der Attacken an, hinter denen die Absicht steht, Menschen systematisch zu betrügen, ihre Identität zu stehlen, sie abhängig zu machen, sie seelisch zu verwunden, sie geistig zu verwirren, zu kontrollieren und aufzuhetzen, durch Falschmeldungen Hass zu verbreiten, Kindesmisshandlungen zu organisieren, wichtige Institutionen lahmzulegen und vieles mehr – Angriffe also, die eindeutig böswilliger Natur sind.

Wie kommt es zu einer solchen Flut krimineller Energien? Lässt die technische Möglichkeit, völlig anonym aus der Ferne andere Menschen zu schädigen, die übelsten Neigungen hervorbrechen, die in den Abgründen der Seele lauern? Steckt das Böse in den Menschen und kommt jetzt zutage, oder ist es die Technik, die die Menschen zum Bösen verführt?

Zugegeben: Es ist problematisch, hier mit dem Begriff des Bösen zu operieren. Wer aber z.B. die grausigen Berichte über den massenhaften internetgestützten Kindesmissbrauch liest und nicht davon ausgehen möchte, dass die Menschen von Natur aus völlig verdorben sind, dem drängt sich die Frage auf, welche Macht da am Werke ist. In welchem Wirklichkeitsbereich ist sie zu suchen?

Die Antwort hängt davon ab, wie weit oder eng unser geistiger Horizont gespannt ist: Eine materialistische Weltsicht wird nichts Außermaterielles als Ursache gelten lassen, sondern es für Hirngespinste erklären. Die alte Menschheit indessen lebte mit der Gewissheit, dass es eine geistige Welt gibt, deren Wesen nicht minder real sind als die irdischen Wesen, und dass es unter ihnen auch solche gibt, die sich als Widersacher den guten Mächten entgegenstellen. Man unterschied dabei zwei gegensätzliche Gruppen: Die eine unterstand einem Wesen, das wegen seiner hohen Bedeutung für die menschliche Kultur als «Lichtbringer» (lateinisch Luzifer) bezeichnet wurde. Die treibende Kraft der anderen Gruppe sah man in einem Wesen der Finsternis, das im Altpersischen Ahriman hieß, im Althebräischen Satanas, im Griechischen Diabolos.

Das alles wird heute als Aberglaube abgetan, weil wir solche Wesen mit unseren leiblichen Sinnen nicht wahrnehmen. Aber ist das denn ein Beweis, dass es sie nicht gibt? Elektrizität und Magnetismus können wir auch nicht mit unseren Sinnen wahrnehmen, und doch steht ihre Existenz für uns außer Frage, weil wir ihre Wirkungen genau beobachten können. Was spricht also dagegen, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass die Phänomene des «Bösen» die Wirkungen realer übersinnlicher Mächte sind, deren Bestreben sich präzise beschreiben lässt?

Wir können dazu die von Rudolf Steiner geschaffene reiche Phänomenologie des Widersacherwirkens nutzen, denn er hatte die Fähigkeit, in der übersinnlichen Welt forschend tätig zu sein und die geistigen Tatsachen aufzusuchen, die den antiken Überlieferungen zugrunde lagen. Er ging mit außerordentlicher Differenziertheit an das Problem des sogenannten Bösen heran und zeigte auf, wie das Böse sogar zum Unterstützer des Guten werden kann. In anderen Zusammenhängen legte er ausführlich dar, dass wir ohne die luziferischen und ahrimanischen Mächte gar nicht zu unserem Menschsein kommen könnten. Sie gehören mit ihren Gestaltungskräften bis in Krankheits- und Gesundheitsdispositionen hinein unabdingbar zum menschlichen Leben. Unsere Aufgabe kann folglich nicht sein, sie zu hassen und zu bekämpfen, sondern die Balance zwischen ihnen zu finden.

Um sich einer solchen Freiheit anzunähern, sollte man die von mir im Verlauf des Buches zitierten Sätze aus Steiners Werk nicht als abschließende Feststellungen ansehen, bei denen man es belassen könnte, sondern als Augenöffner, um die Vielschichtigkeit und Ambivalenz der Phänomene eigenständig zu durchdringen. Steiners Ziel waren ja nicht mystische Spekulationen oder gar Verschwörungstheorien, sondern eine echte Wissenschaft auf geistigem Felde, und so forderte er wiederholt, dass seine Forschungsergebnisse nicht geglaubt und nachgebetet werden, sondern an den äußeren, für uns wahrnehmbaren Tatsachen geprüft werden. Zu einer solchen Prüfung bietet das vorliegende Buch vielfältiges Material, indem neben eigenen Recherchen zeitgenössische Beobachter zu Wort kommen sowie Presseberichte und weniger bekannte Nachrichten, die zur eigenen Urteilsbildung beitragen.

Auf diese Weise hoffe ich von zwei Seiten her die verwirrende Zwiespältigkeit digitaler Technik in einen großen weltgeschichtlichen Zusammenhang stellen zu können, der jenseits von Furcht und Euphorie die fundamentale Aufgabe sichtbar werden lässt, vor der die ganze Menschheit derzeit steht.

Abschließend möchte ich dem Verlag und besonders seinem Lektor danken für die sorgfältige Betreuung dieser Publikation. Ein herzlicher Dank gilt auch meinem Kollegen Prof. Dr. Edwin Hübner, der mir nach der Durchsicht meines Manuskripts wertvolle Hinweise und Korrekturen zukommen ließ. Sein fast zeitgleich entstandenes Buch über den Transhumanismus5 bildet unverabredet das notwendige Pendant zu der hier vorgelegten Studie.

Michaeli 2020

Dr. Rainer Patzlaff

Einführung: Vom Schöpferwort zum «Achten Schöpfungstag». Der Weg zur digitalen Technik

Sprache ist seit Urzeiten das wichtigste Medium der Menschheit. Gleichwohl unterliegt auch sie den Veränderungen, welche die Menschheit im Laufe der Entwicklung durchmacht. Schon eine oberflächliche Betrachtung zeigt, dass Sprache heute vollkommen anders erlebt wird als in den Jahrtausenden zuvor. Denn wie war es früher?

Die Menschen hatten noch ein sicheres Empfinden, dass in der Sprache Kräfte wirksam sind, die nicht vom Menschen stammen und auch nicht aus der irdischen Welt. Je weiter wir historisch zurückblicken, desto stärker tritt dieses Empfinden in den vorhandenen Dokumenten hervor. Allbekannt ist der Beginn des Alten Testaments, wo Gottvater spricht: «Es werde Licht». Das galt der frühen Menschheit nicht als ein Wunsch, sondern als eine Schöpfungstat, als das Erschaffen einer Wirklichkeit, wie die anschließende Feststellung «Und es ward Licht» bezeugt. Im Neuen Testament finden wir das Entsprechende in den Krankenheilungen, die Christus vornahm; sie geschahen durch nichts anderes als durch sein Wort.

Noch bis weit ins Mittelalter hinein wurde dem Wort magische Kraft zugeschrieben, und das nicht nur im göttlichen Bereich, sondern auch unter den Menschen. Im Reich Karls des Großen z. B. waren im einfachen Volk zahlreiche, rein mündlich tradierte Zaubersprüche im Schwange, die zu einem großen Teil noch aus vorchristlicher Zeit stammten. (Wir kennen die Texte durch die Aufzeichnungen der Mönche in den Klöstern.)

Für den modernen Menschen freilich ist das alles Phantasterei. Er weist mit einigem Recht auf die Tatsache hin, dass heutzutage niemand mehr in der Sprache übernatürliche Kräfte wahrnimmt; und was man nicht wahrnehmen kann, so die Schlussfolgerung, das existiert nicht. Wenn aber in der Sprache nichts Übernatürliches zu finden ist, dann gebührt ihr auch keine besondere Ehrfurcht mehr. Folglich darf man nach Belieben mit ihr umgehen. Führende Köpfe sahen im 19. Jahrhundert sogar einen Fortschritt darin, die menschliche Sprache auf ein Zeichensystem zu reduzieren, das sich in technische Signale umwandeln lässt und dadurch der maschinellen Verarbeitung zugänglich wird.

Telegraphie

Den Weg dazu ebnete die am Beginn der Neuzeit einsetzende praktische Anwendung der Elektrizität. (Bekannt war sie schon seit dem Altertum.) Aufbauend auf dem neu entdeckten Elektromagnetismus entwickelte Samuel Morse 1837 seinen Schreibtelegraphen, der folgendermaßen funktionierte: Über einem langsam fortlaufenden Papierstreifen war ein Schreibstift angebracht, der mit einem Elektromagneten auf das Papier heruntergezogen wurde und dort je nach Dauer der Stromzufuhr kurze oder lange Striche zeichnete. Die elektrischen Impulse dazu kamen durch Metalldrähte von einer weit entfernten Person, und zwar nach einem von Morse erfundenen Code, der für jede Zahl und jeden Buchstaben des Alphabets eine bestimmte Abfolge von langen und kurzen Strichen festlegte, die am Empfangsort von geschulten Kräften decodiert werden mussten (siehe Abb. 1). Dieser Code wurde zum internationalen Standard der Telegraphie.

Abb. 1: Der internationale Morse-Code

Als sich zeigte, dass Nachrichten, die früher mühsam von der Briefpost an den gewünschten Ort gebracht werden mussten, jetzt wie von Zauberhand in Minutenschnelle ankamen, wurde die Öffentlichkeit von einem Fieber der Begeisterung gepackt: Immer mehr und immer längere elektrische Kabel wurden verlegt, überall entstanden «Telegraphenämter», die eine ständig wachsende Flut von Telegrammen zu bewältigen hatten, und schon gegen 1870 überzogen Kabelnetze weite Teile der Erde; Tiefseekabel verknüpften sogar die Kontinente miteinander. Ab dem 20. Jahrhundert konnten die Morsezeichen dann auch akustisch per Kurzwellenfunk in alle Winkel der Welt gelangen und wurden besonders im Schiffs- und Flugzeugverkehr eingesetzt. Eine erste, die ganze Menschheit überspannende Kommunikationstechnik war geschaffen – und mit ihr ein früher Vorläufer des heutigen Internets.

Dass die Sprache durch den Morsetelegraphen in einen Wust kurzer und langer Striche verwandelt wurde, die mit dem grafischen Bild der Buchstaben nicht mehr die geringste Verwandtschaft zeigten – daran nahm niemand Anstoß, denn so wie die Sprache hier behandelt wurde, so empfand man sie auch in der Realität des Alltags: als ein System von Zeichen zur Informationsübermittlung und nichts sonst.

Die Faszination, die von dem elektrischen Telegraphennetz ausging, bewirkte, dass deren Technik unreflektiert auf die gesprochene Sprache übertragen wurde, indem man den Sprecher als «Sender» bezeichnete und die von ihm geformten Sprachlaute als «codierte Schallwellen», die der Empfänger decodiert. Ein durch und durch mechanistisches Bild von Sprache entstand, das sich in den grassierenden Materialismus des Zeitalters einfügte.

Telephonie und Grammophon

Rückblickend ist zu bemerken, dass beim Morsealphabet bereits ein wesentliches Merkmal digitaler Technik zur Anwendung kam: Sämtliche Codezeichen bestehen aus einer geregelten Abfolge immer derselben zwei gegensätzlichen Elemente, in diesem Falle Kurz und Lang bzw. Punkt und Strich. Bei der heutigen Digitaltechnik wird dafür der sogenannte Binärcode eingesetzt, der mit nichts anderem als den Werten 0 und 1 die gesamte Datenübermittlung bestreitet (Näheres dazu später). Das bedeutet allerdings nicht, dass damals bereits die «Digitalisierung» einsetzte, von der heute die Rede ist. Dazu waren noch weitere Entwicklungsschritte notwendig, die im Folgenden skizziert werden sollen.

Nach der Etablierung der Telegraphie bemühten sich zahlreiche Forscher um eine praxistaugliche Technik zur Übermittlung auch der gesprochenen Sprache und der Musik. Viele verschiedene Möglichkeiten wurden untersucht. Der Durchbruch gelang Philipp Reis 1861 durch die Erfindung eines Kontaktmikrophons, aus dem in den 1870er-Jahren das Kohlemikrophon entwickelt wurde, das sogar noch in der Frühzeit des Rundfunks Verwendung fand.

Im Kohlemikrophon erzeugen die vom Schall bewirkten Schwingungen der Membran in den darunterliegenden Graphitteilchen Druckschwankungen, durch die der angelegte Gleichstrom moduliert wird. Die daraus resultierenden elektrischen Schwingungen werden zum Hörgerät weitergeleitet und bringen dessen Membran elektromagnetisch zum Schwingen, sodass eine Reproduktion des Schallereignisses entsteht. Da die vom Mikrophon kommenden elektrischen Schwingungen genau analog zu den ursprünglichen Schallschwingungen verlaufen, wird diese Technik im Unterschied zur späteren Digitaltechnik als Analogtechnik bezeichnet.

1877 stellte der Erfinder Thomas Edison ein Gerät vor, mit dem man Schallwellen aufzeichnen und reproduzieren konnte. Er nannte es Phonograph. An der Membran eines Schalltrichters hatte er eine Nadel befestigt, die in eine mit Stanniol überzogene drehbare Walze die Schallschwingungen einritzte. Zur Wiedergabe der Aufnahme wurde die Walze an den Ausgangspunkt zurückgedreht und dort die Nadel eingesetzt; diese wurde dann durch die bewegte Tonspur in Schwingungen versetzt, die sich auf die Membran übertrugen und somit hörbar wurden. Auch hier wurde das analoge Verfahren angewandt, nur dass dabei zunächst noch keine Elektrizität im Spiele war. Daraus entstand später die Schallplatte, die auf dem Grammophon abgespielt werden konnte.

Von der analogen zur digitalen Sprachübertragung

Für Radio und Telefon, Fernsehen und Schallplatten wurde das Analogverfahren noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts und teilweise sogar darüber hinaus beibehalten. In der Bundesrepublik Deutschland wurde erst 1989 bis 1993 das gesamte Festnetz der damaligen Bundespost auf das digitale Netz ISDN umgestellt, wobei die Nutzung analoger Telefonapparate noch viele Jahre möglich blieb. Die Umstellung provozierte naturgemäß die Frage: Wozu dieser ungeheure technische und finanzielle Aufwand, wenn ich doch am Telefon die Stimme meines Partners genauso höre wie zuvor? Die Antwort ist nicht mit einem einzigen Satz zu geben, denn hier kommt eine neue Technik ins Spiel, die sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts rasant entwickelt hat: die Technik der elektronischen Rechner (Computer). Ohne sie wäre die Digitaltechnik unserer Zeit nicht realisierbar geworden.

Um ihr Grundprinzip zu verstehen, kann uns als Beispiel wiederum die Übertragung von Musik und Sprache dienen. Die einfachste analoge Technik praktizierten wir als Kinder mit zwei leeren Pappdosen, deren Böden durch einen langen Faden verbunden sind. Ist der Faden straff gespannt, kann der eine die Dose als Mikrophon benutzen und der andere als Hörer, denn beide Membranen schwingen in völligem Gleichtakt. Diesem Faden entspricht bei der elektrischen Analogübertragung die Stromleitung, in der die Schallereignisse in Form elektrischer Schwingungen weitergeleitet und am Ende wieder in Schallschwingungen zurückverwandelt werden.

Bei einer digitalen Übertragung hingegen werden überhaupt keine Schwingungen transportiert; der Faden zwischen den Pappdosen, bildlich gesprochen, entfällt. Stattdessen wird an den analogen Schwingungen in kurzen Abständen das Maß der positiven und negativen Amplitudenausschläge gemessen («abgetastet» nennt das die Fachsprache), und nur diese Messwerte werden weitergeleitet. Im Empfangsgerät wird aus den übermittelten Messwerten der ursprüngliche Schwingungsverlauf künstlich wieder aufgebaut und steuert dann wie beim alten Telefon eine Hörer- oder Lautsprechermembran. Abbildung 2 veranschaulicht das.

Abb. 2: Digitale Übertragung von Schallschwingungen. Oben: Analoges Signal mit Amplitudenabtastung; unten: Abtastergebnisse, die codiert übertragen werden

In der oberen Hälfte sieht man, wie die vom Originalton analog abgenommenen elektrischen Schwingungen in kurzen Intervallen abgetastet werden, um das Maß ihres Amplitudenausschlags nach oben oder unten festzustellen (symbolisiert durch die eingezeichneten senkrechten Striche). In der unteren Hälfte sieht man nur noch das, was nach dem Abtasten weitergeleitet wird: nicht das Analogsignal, sondern allein die Messergebnisse der Abtastung, die hier vereinfacht ohne Zahlwerte dargestellt sind. In der Realität werden sie als positive oder negative Zahlwerte weitergegeben, und zwar in codierter Form.

Das Ziel: Den Anschein von Echtheit erzeugen

Der Laie wird sich beim Blick auf Abbildung 2 fragen: Wie soll denn nach diesem Vorgang der ankommende Ton noch dem Originalklang gleichen, wenn von dem Original nur Stichproben übermittelt werden, zwischen denen sich ein Nichts auftut? Bedeutet das nicht ein völliges Zerfetzen des Originals, das sich auch im Klang bemerkbar machen müsste?

Die Antwort des Technikers lautet: Wenn die Abtastungen häufig genug geschehen, wird es beim rekonstruierten Klang keine Einbußen geben; er wird sich nicht oder höchstens geringfügig von dem Klang einer analogen Wiedergabe unterscheiden. Um diesen Effekt zu erreichen, genügen für eine normale Sprechstimme am Telefon 8.000 Abtastungen pro Sekunde; bei deutlich höheren Frequenzen, z.B. bei Musik, erhöhen wir die Abtastfrequenz entsprechend; das ist technisch überhaupt kein Problem. Im Übrigen sorgt im Empfangsgerät ein Kondensator dafür, dass die zwischen den Abtastungen real vorhandenen Lücken überbrückt werden und so der Eindruck eines durchgehenden Klangs erzeugt wird.

Mag die Klangqualität auch noch so echt erscheinen, so ist doch nicht zu leugnen, dass es sich um eine bewusst herbeigeführte Illusion handelt. Folglich ist die Frage erlaubt, was dieser Umstand auf Dauer im Menschen bewirkt. Aber die Frage wird kaum je gestellt geschweige denn untersucht. Das Publikum nimmt die Illusion wie selbstverständlich hin und erfreut sich daran, nicht anders als beim Kinofilm, der dem Auge durch die schnelle Abfolge von Momentaufnahmen eine flüssig strömende Bewegung vorgaukelt, die nicht vorhanden ist.

Das digitale Verfahren wird auch für optische Aufzeichnungen eingesetzt, stark abweichend vom natürlichen Sehen. Die Augen des Menschen nehmen jedes Objekt und jede Landschaft, die sich ihnen darbietet, als eine in sich konsistente Ganzheit wahr, über die die Blicke nach Belieben schweifen können. Die klassische Fotografie fixiert den momentanen Eindruck in Form eines Bildes, das immer noch eine in sich geschlossene Einheit darstellt. Die Digitalkamera hingegen kann mit dieser Ganzheit nichts anfangen. Sie bemächtigt sich des optischen Eindrucks in der Weise, dass sie das mit der Linse eingefangene Bild in Abertausende kleine Splitter zerlegt.

Genauer gesagt überzieht sie das Bild mit einem Raster aus winzigen Messpunkten, die in ungeheurer Geschwindigkeit nach Lichtstärke, Farbe usw. abgetastet werden. Die Messergebnisse gelangen binär codiert in den Computer, der dann auf dem Screen das ursprüngliche Bild Punkt für Punkt wieder aufbaut und so die Wirklichkeit gerastert vor Augen rückt (ähnlich den Bildern aus der Druckerpresse) – mit dem Anspruch, die Wirklichkeit exakt reproduziert zu haben. Dass sie in Wahrheit fragmentiert ist in Einzelpunkte, sieht jeder, der mit einer starken Lupe an den Screen heranrückt.

Das geheime Potenzial digitaler Reproduktionen

Wäre das Ziel der Digitaltechnik lediglich dieses, möglichst perfekt den Anschein echter Wirklichkeit zu erzeugen, dann wäre sie nichts weiter als eine Alternative zu den längst vorhandenen Reproduktionstechniken, von denen Film und Fernsehen, Radio und Grammophon erfolgreich Gebrauch machten; sie wäre keine besondere Attraktion. Ihr eigentlicher Reiz jedoch liegt in der Tatsache, dass sie die sichtbare und hörbare Realität verwandelt in elektronische Daten, die durch den Computer gehen, ehe aus ihnen die Abbilder generiert werden. Und das bedeutet: Der Mensch bekommt am Computer eine Verfügungsgewalt über den Wiederaufbau des Bildes, den er bei den herkömmlichen Verfahren nicht oder nur in sehr geringem Maße hatte. Er kann die Daten unverändert so weiterleiten, wie sie eingegangen sind; er kann sie aber auch, wenn er das möchte, nach Belieben verändern, indem er in den binären Code der Einzeldaten eingreift und die Zahlwerte ein wenig erhöht oder verringert. In der Masse Abertausender Rasterpunkte fallen solche Eingriffe nicht als Verfälschung auf, vielmehr bleibt der Eindruck eines echten Bildes weiterhin bestehen.

Praktisch gesprochen: Man kann Bilder unbemerkt manipulieren, kann Farben und Kontraste verändern, kann missliebige Objekte herausschneiden oder neue hineinbringen, die im Original gar nicht vorhanden waren, kann Gesichter verändern usw. Das dient oft nur dem «Aufhübschen» der Bilder, kann aber auch in böswilliger oder betrügerischer Absicht geschehen. Ebenso bei digitalen Sprach- und Musikaufnahmen: Störgeräusche kann man löschen, einzelne Orchesterstimmen hervorheben oder abschwächen, den Klang eines Instruments schärfer oder weicher machen, die Stimme des Sängers mit Halleffekt versehen usw. Die Zeit ist endgültig vorbei, in der Filme und Tonaufnahmen als ein getreuer Spiegel der Wirklichkeit gelten konnten. Fotos in der Presse oder im Fernsehen beweisen keineswegs mehr unwiderleglich, «wie es wirklich war». Überall ist mit der Möglichkeit einer Fälschung zu rechnen, sodass man seinen Augen und Ohren buchstäblich nicht mehr trauen kann.

Was sich für Fälschungen aller Art verwenden lässt, ist andererseits aber auch geeignet zum Aufbau einer virtuellen Realität, also zu Szenarien, in denen nichts mehr das Abbild einer äußeren Wirklichkeit ist, sondern alles von Anfang bis Ende am Computer konstruiert wurde. Architekten beispielsweise können das künftige Haus schon detailgetreu auf dem Bildschirm erscheinen lassen, von allen Seiten betrachtbar, ja sogar in den Innenräumen begehbar – und vor allem: jederzeit nach Wunsch veränderbar, bevor man es gebaut und eingerichtet hat. Jeder wird darin einen großen Nutzen sehen.

Wie ist es aber, wenn virtuelle Räume für Computerspiele aufgebaut werden, in denen Monster oder Aliens, Krieger von fremden Sternen, Zauberer und Hexen bekämpft werden können oder in denen monströse Kriegsszenen die Sinne gefangen nehmen, Spiele, in denen der Spieler mit einer eigenen Waffe Personen töten kann, jedwede Gewalt ausüben darf und dabei nicht die geringste menschliche Empathie zeigt, sondern nur die Sucht nach Punktegewinn auslebt?

Kritische Fragen

Die vorangegangenen Passagen konnten einen ersten Eindruck von den Möglichkeiten digitaler Technik vermitteln; viele weitere Bereiche sind noch zu besprechen. Doch dürfte schon deutlich geworden sein, dass wir es mit einem zweischneidigen Schwert zu tun haben: Auf der einen Seite sehen wir großartige Erfindungen, auf der anderen Seite öffnet sich zunehmend die Büchse der Pandora mit fragwürdigen oder sogar kriminellen Anwendungen, befeuert von Machtgelüsten und Allmachtsphantasien. Nicht zufällig sprachen Digital-Freaks schon vor Jahren vom «Achten Schöpfungstag», der erreicht sei, weil die Menschheit sich ab jetzt mit einer Sinneswelt umgeben könne, die nicht von Mutter Natur oder irgendwelchen Göttern erschaffen wurde, sondern vollständig des Menschen eigenes Werk sei, bis in jede Einzelheit seinem Geist entsprungen und mit höchster Intelligenz verwirklicht.

Was ist von einer solchen Auffassung zu halten? Erfüllt sich jetzt tatsächlich ein alter Menschheitstraum, den schon Prometheus träumte? Oder droht ein Menschheitswahn, der sich bitter rächen könnte? Berechtigte Fragen brechen auf:

Dürfen wir achtlos darüber hinwegsehen, dass die Sprache eines Menschen während der digitalen Übertragung abgetötet wird zu einem milliardenfachen Wechsel von «Strom an» und «Strom aus», aus dem dann ein Schallgebilde konstruiert wird, das nicht mehr eine vollmenschliche Realität darstellt, sondern ein technisches Scheingebilde, eine Art Gespenst?

Kann es uns gleichgültig sein, dass diese Technik bei Musik und Sprache wie auch bei visuellen Vorgängen von Anfang an auf Sinnestäuschung angelegt ist und wir uns schleichend daran gewöhnen, keinen Unterschied mehr zu sehen zwischen Original und Imitat?

Wohin führt es, wenn wir die Bilder von irgendwelchen Ereignissen noch immer ungeprüft als getreue Abbildungen der Wirklichkeit auffassen und in der Folge unser Urteil auf Fälschungen gründen? Wollen wir uns in einer Welt der Fake-News einrichten? Zugegeben, meistens können wir die Echtheit nicht prüfen. Aber dann müssten wir auch unser Urteil zurückhalten, uns nach anderen Quellen umschauen und die entstandenen Fragen bis zu einer möglichen Klärung offenlassen. Sind wir bereit, uns diese strenge Disziplin aufzuerlegen?

Ein sachgemäßes Urteil zu diesen und vielen weiteren Fragen wird nicht zu erreichen sein, wenn man die Digitaltechnik einfach euphorisch in den Himmel hebt und sie unkritisch als immensen Menschheitsfortschritt preist. Ebenso wenig angemessen wäre es, sie schlichtweg zu verteufeln und möglichst von sich fernzuhalten, denn sie schafft schon jetzt Realitäten, denen wir uns gar nicht mehr entziehen können. Wir müssen sie nicht um jeden Preis in jedem Detail akzeptieren; eines aber ist in jedem Falle gefordert: begründet Stellung zu beziehen, um verantwortlich handeln zu können.

Damit stehen wir vor einer Aufgabe, zu der wir uns Grundlagen verschaffen sollten, indem wir einerseits die geistesgeschichtlichen Hintergründe digitaler Technik erkunden, andererseits ihre konkreten Realisierungen kennenlernen und drittens deren soziale Auswirkungen zu beobachten versuchen. Dazu möchte dieses Buch einen bescheidenen Beitrag leisten.

Teil I Außenansicht der Menschheitskrise

1. An der Schwelle zu einem neuen Zeitalter

Das Zeitalter der Digitalisierung hat begonnen – so lautet das Mantra der Industrie, der Wirtschaft und Politik, das uns täglich entgegentönt. «Digitalisierung» ist zum Leitbegriff unserer Epoche geworden. Viele wissen zwar gar nicht, was er genau beinhaltet, doch meint man sicher zu wissen, dass in ihm der Schlüssel für die Zukunft der Menschheit liege. Nicht anders als die Industrielle Revolution, die vor mehr als 200 Jahren die moderne Industriegesellschaft heraufführte, werde jetzt die Digitale Revolution eine umwälzende Veränderung des gesamten Lebens auf der Erde bewirken, so die allgemeine Erwartung.

In der Tat: Atemberaubend schnell sind in den letzten Jahrzehnten auf der Grundlage der Digitaltechnik elektronische Geräte und Systeme erfunden worden, die für unsere Großeltern noch jenseits des Vorstellbaren gewesen wären. Die Entwicklung schreitet derartig rasant voran, dass mit Recht von einem tiefgreifenden Wandel gesprochen wird, dessen Dimensionen gewaltig sein werden. Jedoch ist dieser Wandel – wie jeder große Umbruch in der Menschheitsgeschichte – nicht nur von Hoffnungen getragen, sondern auch von Ängsten begleitet. Begeisterung und Euphorie paaren sich zunehmend mit Furcht und Sorge. Paradoxerweise aber wirken im Falle der Digitaltechnik Angst und Sorge bisher nicht hemmend auf den Fortschritt, sondern sind selbst zu Triebfedern der Entwicklung geworden. Dieser überraschende Befund ergibt sich bereits bei einem Blick auf die Anfänge.

Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA die Computertechnik zu etablieren begann, waren Forscher und Wissenschaftler fasziniert von den Möglichkeiten, die sich durch den Einsatz elektronisch gesteuerter Rechner eröffneten. Gefördert von der ARPA, einer Forschungsagentur des US-Verteidigungsministeriums, verbanden sie ab 1969 die Großcomputer mehrerer US-Universitäten zu einem Netz, das unter dem Akronym ARPANET bekannt wurde. Dahinter stand zunächst nur der Wunsch der Wissenschaftler, die Ressourcen dieser Rechner durch einen landesweiten Datenaustausch besser zu nutzen. Die US Air Force indes verfolgte damit noch ein ganz anderes Interesse, das sich nicht aus der Begeisterung für die neue Technik speiste, sondern aus der Angst vor einer drohenden militärischen Gefahr, die sich abzuzeichnen begann:

Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten befanden sich zu jener Zeit im Kalten Krieg mit der Sowjetunion und ihren Vasallen und bangten nach dem Sputnik-Schock von 1957 sowohl um ihre globale technische und wirtschaftliche Überlegenheit wie auch um ihre nationale Sicherheit. Dass die Sowjets als Erste über eine Rakete verfügten, mit der man Satelliten in den Weltraum befördern konnte, bedeutete, dass sie künftig auch in der Lage sein würden, atomar bestückte Raketen auf das Gebiet der USA zu richten. Hätte man dort das militärische Computernetz zentral strukturiert, hätte ein Raketentreffer es möglicherweise auf einen Schlag vernichten können, mit verheerenden Folgen für die gesamte Kriegsführung der USA. Deshalb setzte die US Air Force auf die dezentrale Struktur, die ihr Forscher Paul Baran bereits zu Beginn der 1960er-Jahre zum Schutz gegen einen vernichtenden Atomschlag vorgeschlagen hatte, und eben dadurch wurde das ARPANET unbeabsichtigt zum Vorläufer des heutigen Internets.

Schon bald aber entdeckte der US-Geheimdienst NSA (National Security Agency), dass die viel größere Gefahr in den Computern selbst lauerte, weil sie statt von außen auch von innen attackiert und zerstört werden konnten: Daniel J. Edwards, ein NSA-Mitarbeiter, stellte 1972 eine Studie vor, der zufolge es trotz oder gerade wegen der Dezentralisierung möglich sei, in den bestehenden elektronischen Datenverkehr ein feindliches Computerprogramm einzuschleusen, das sich hinter einem unverfänglich erscheinenden Dokument verbirgt, beim Herunterladen nicht bemerkt wird und sich sofort in die befallene Festplatte einnistet, um von dort aus je nach Absicht des Absenders wirksam zu werden.

Das war anfangs eine rein theoretische Überlegung, doch mit ihr war eine Idee geboren, die bald darauf weltweit zu einer realen Bedrohung wurde. Sie bereitet bis heute allen Benutzern digitaler Geräte Sorge, denn wer sein Gerät mit dem Netz verbindet, muss damit rechnen, dass er sich ungewollt ein Schadprogramm einfängt, das schrittweise oder auch schlagartig die Herrschaft über seinen Computer übernimmt, indem es heimlich Daten abfängt, Passwörter ausspioniert, Programme manipuliert oder den Zugang zu allen Dateien blockiert und sie im schlimmsten Falle sogar zerstört. Diese Gefahr wiederum führte einerseits zur Entwicklung ständig aktualisierter Antivirenprogramme, die den Computer schützen sollen, und andererseits bei Kriminellen zur Entwicklung immer neuer Schadprogramme zur Überwindung ebenjener Abwehr. Ein nicht endender Wettlauf entstand, wie der zwischen Igel und Hase im Märchen.

Doch zurück zu Edwards: Auf der Suche nach einem einprägsamen Titel für seine Studie besann er sich auf den griechischen Mythos von der Stadt Troja, die nicht auf reguläre Weise durch eine militärische Niederlage unterging, sondern durch das sorglose Hereinholen eines hölzernen Pferdes in die Stadt, in dem feindliche Soldaten versteckt waren. Nach diesem Vorbild taufte er das unbemerkt in den Computer gelangte Schadprogramm auf den Namen «Trojanisches Pferd» (meist abgekürzt «Trojaner» genannt).

Vorzeichen eines welthistorischen Umschwungs in der Antike

Das mythische Bild, das Edwards da in die Computerwelt einführte, hat in unserer Zeit eine unvorhergesehene Aktualität gewonnen, die weit über das Problem der Schadprogramme hinausgeht. Das Trojanische Pferd kann heute als Allegorie gelten für eine umfassende Gefährdung und Herausforderung der Menschheit, die Thema dieses Buches sein wird, zu Edwards’ Zeit aber noch nicht gegeben war. Für ihn handelte es sich lediglich um eine Metapher, die er als vermutlich humanistisch gebildeter Mensch aus Homers Epos Ilias entnahm. Blickt man jedoch auf unsere gegenwärtige Situation, dann lohnt es sich, die fragliche Passage der Ilias genauer anzuschauen, denn in ihr steckt zugleich eine Botschaft, die uns auf die Spur zu den geistesgeschichtlichen Wurzeln des Computerzeitalters führen kann.

Homer erzählt, wie die vereinten Heere der Griechen zehn Jahre lang vergeblich versuchten, die an der kleinasiatischen Küste gelegene Stadt Troja zu erobern. Nach zahllosen verlustreichen Kämpfen griffen sie schließlich auf den Rat des Odysseus zu einer List: Sie zogen eines Abends im Schutz der Dunkelheit geräuschlos ab und hinterließen auf dem geräumten Strand ein riesiges, aus Holz gefertigtes Pferd, in dem Krieger versteckt waren. Die Trojaner sahen am nächsten Morgen mit Erstaunen die leere Ebene vor ihrer Stadt und betrachteten das Pferd als ein Geschenk der Götter. Ungeachtet der dringenden Warnung der Seherin Kassandra zogen sie es triumphierend in die Stadt und feierten dort ihren «Sieg». Spät in der Nacht kletterten die versteckten Griechen heraus, öffneten die Stadttore und ließen die Heere herein, die inzwischen zurückgekehrt waren und nun mühelos alles niedermachten.

Eigentlich durften sich die Trojaner zu Recht als Sieger empfinden, denn der Angriff der Griechen war objektiv gescheitert. Doch wiegten sie sich in Sicherheit und waren von der Gunst ihrer Götter so fest überzeugt, dass sie das vermeintliche Siegeszeichen, in dem die tödliche Gefahr lauerte, gar nicht untersuchten. Selbst die Warnung einer Wahrsagerin von untadeligem Ruf vermochte nicht ihr Vertrauen zu erschüttern. Arglos wie Kinder rechneten sie nicht mit einer so hinterhältigen Kriegstaktik. Wir Heutigen haben kein Recht, darüber zu spotten, denn das sorglose Nichtbeachten einer lebensbedrohenden Gefahr ist auch der modernen Menschheit nicht fremd, wie später zu besprechen sein wird.

Ob und inwieweit Homers Epen Ilias und Odyssee auf Wirklichkeit oder auf Fiktion beruhten, war unter den Fachgelehrten schon im Altertum heiß umstritten und ist es bis heute. Hinsichtlich der Erzählung vom Trojanischen Pferd jedoch ist der Gelehrtenstreit müßig; er geht am Kern der Sache vorbei. Denn ob Mythos oder nicht – Homers Darstellung greift statt in die Vergangenheit in die Zukunft: Wie ein Wetterleuchten am Horizont kündigt sich in der Gestalt des «listenreichen Odysseus», der das raffinierte Täuschungsmanöver mit dem Pferd ersann, das Heraufkommen eines künftigen Zeitalters an, zu dessen hervorstechenden Merkmalen das allgemeine Erwachen der Verstandeskräfte gehörte – ein Ereignis von ungeheurer Tragweite bis in die Gegenwart.

In Homers Epen steht der Held Odysseus unter dem Schutz der Göttin Athena, von der es hieß, sie sei direkt aus dem Haupt des Zeus geboren worden – ein symbolischer Hinweis auf die starke Gedankenkraft, die von ihr ausging. Entsprechend war Odysseus im Altertum für seine Klugheit und Redegewandtheit berühmt; mit seinem erfindungsreichen Verstand wusste er jeder Schwierigkeit zu begegnen und jedes Abenteuer zu bestehen. Mochten seine Listen moralisch mitunter auch angreifbar sein, wirkungsvoll waren sie immer.

Dieser souveräne, selbstbewusste Umgang mit den Möglichkeiten des verstandesmäßigen Denkens entfaltete sich in der etwa 500 v. Chr. einsetzenden griechischen Klassik in vielfältigen Facetten: Da agierten auf der einen Seite die wandernden Sophisten, die ihr Wissen und ihr ausgefeiltes rhetorisches und argumentatives Können zu Geld zu machen wussten. Ihnen gegenüber standen wahrheitssuchende Denker wie Sokrates, Platon und Aristoteles, die zu den Vätern der abendländischen Philosophie wurden. Selbst das einfache Volk in Athen diskutierte öffentlich über Politik und trieb – ein unerhörtes Novum – die Erprobung einer echten Volksherrschaft (Demokratie) voran. Gleichzeitig kam es zu einer Blüte der Wissenschaften, die das Fundament der abendländischen Bildung legte, und nicht zuletzt zu großartigen Werken der Dichtkunst, Architektur und bildenden Künste. Die durch Jahrtausende gepflegte Verehrung der Götter endete zwar noch nicht, doch machte sich auch im Volk mehr und mehr die Kraft des eigenen Denkens geltend. Diese umfassende Kulturströmung wirkte durch Alexander den Großen ostwärts bis weit nach Asien hinein und westwärts durch das Römerreich, zu dem Griechenland seit 146 v. Chr. politisch gehörte, in das gesamte Abendland.

Das Rätsel der Sphinx

Es wäre ein großes Missverständnis, wollte man aus den Errungenschaften der griechischen Kultur den Schluss ziehen, in der vorgriechischen Zeit habe es kein wirkliches Denken gegeben. Es gab es durchaus und sogar in reichem Maße. Jedoch hatte es einen gänzlich anderen Charakter als dasjenige Denken, das wir seit der griechisch-römischen Kulturepoche gewohnt sind. Und das hatte seinen guten Grund: Solange die Menschen noch über ein gewisses Maß an hellseherischen Fähigkeiten verfügten, beschränkte sich ihre Wahrnehmung der Welt nicht auf das rein Physisch-Materielle, wie es später der Regelfall wurde, sondern hinter dem Sinnlich-Äußeren nahmen sie (wenn auch in abnehmender Deutlichkeit) noch übersinnliche Kräfte und Wesenheiten der geistigen Welt wahr. Sie erlebten also in der Natur zwei Wirklichkeiten ineinandergewoben. Davon künden die kulturellen Zeugnisse aller alten Kulturen. Solche Erfahrungen aber konnte man nicht anders zum Ausdruck bringen als in Bildern (Imaginationen), deren Elemente zwar der Sinneswelt entnommen waren, sich aber auf eine übersinnliche Realität bezogen und insofern nicht im materiellen Sinne «wörtlich» zu nehmen waren. Ein solcherart bildhaftes, imaginatives Denken und Sprechen wird heute – oft herablassend oder sogar abwertend – als «mythisch» bezeichnet.

Mit dem zunehmenden Verblassen der übersinnlichen Wahrnehmung und dem Heraufkommen der nur noch äußerlich mit Götterverehrung verbundenen «Verstandesseelen-Kultur», wie Rudolf Steiner sie nennt, verlor das mythische Denken seine Berechtigung und musste sich grundlegend verändern. Das erwies sich, wie nicht anders zu erwarten, als äußerst schwierig. Und doch war der Wandel unabweisbar notwendig, um dem eigenständigen Denken zum Durchbruch zu verhelfen, mit dem der Mensch in Freiheit sich selbst bestimmen kann.

Den frühen Griechen war die Schwierigkeit des Übergangs bewusst. Sie brachten sie, wie es dem alten imaginativen Bewusstsein entsprach, in ein mythisches Bild, das Bild vom «Rätsel der Sphinx». Die schon aus der ägyptischen Kultur bekannte Gestalt der Sphinx wurde in der bildenden Kunst als ein verderbenbringendes Ungeheuer dargestellt, das auf einem geflügelten Löwenkörper mit Schlangenschwanz den Kopf einer Frau trug. Dieses Untier, so erzählt die antike Ödipus-Sage, versperrte den einzigen Zugangsweg zu der Stadt Theben und stellte jedem, der an ihr vorbeiwollte, ein Rätsel. Konnte er es nicht lösen, wurde er erwürgt und gefressen. Tausende fielen der Sphinx zum Opfer, bis endlich Ödipus des Weges kam und das Rätsel löste, woraufhin das Ungeheuer seine Macht verlor und sich selbst in den Abgrund stürzte. Theben war befreit. Wie aber lautete das Rätsel?

Was ist das?

Morgens geht es auf vier Beinen, mittags auf zwei und abends auf drei.

Und es ist am schwächsten, wenn es die meisten Beine hat.

Auf den ersten Blick erscheint der Spruch simpel: Jeder kann sofort erkennen, dass es sich um ein Lebewesen mit Beinen handelt. Verglichen aber mit der Alltagserfahrung ergibt sich kein stimmiges Gesamtbild. Verwirrende Widersprüche und Ungereimtheiten fallen auf: Lebewesen, die im Laufe ihres Lebens verschieden viele Beine haben, gibt es nirgends. Ferner ist der korrekten Abfolge von Morgen, Mittag und Abend die falsche Zahlenfolge 4 – 2 – 3 zugeordnet. Und wie soll es angehen, dass die wenigste Kraft hat, wer die meisten Beine hat?