Sprache - das Lebenselixier des Kindes - Rainer Patzlaff - E-Book

Sprache - das Lebenselixier des Kindes E-Book

Rainer Patzlaff

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Beschreibung

Eine umfassende Darstellung der Sprachentwicklung des Kindes bis zum Schulalter – mit faszinierenden Einblicken in die neueren Forschungsergebnisse und konkreten Hinweisen zur Förderung der sprachlichen Fähigkeiten. Durch seinen ganzheitlichen Ansatz erschließt Rainer Patzlaff auch ein vertieftes Verständnis für das Wesen, die Entstehung und die Bedeutung von Sprache. Immer häufiger werden heute bei Kindern Störungen der Sprachentwicklung festgestellt; die Fähigkeiten, sich altersgerecht zu artikulieren, nehmen deutlich ab. Zudem treten diese Escheinungen oft mit motorischen und sensorischen Defiziten auf. Das zeigt, dass der Spracherwerb des Kindes in einem viel größeren Kontext der seelischen, geistigen und sensomotorischen Entwicklung gesehen werden muss. Rainer Patzlaff spannt daher in seiner anschaulichen Darstellung einen weiten Bogen der Sprachentwicklung – sowohl historisch als auch beim Individuum. Hier tun sich wichtige Fragen auf: Wie stellt das kleine Kind es eigentlich an, so leicht und perfekt in die Muttersprache hineinzuwachsen? Welche Bedingungen sind dafür notwendig? Was muss ich als Bezugsperson beachten? Wie muss die Interaktion aussehen und sich im Laufe der Zeit verändern? Dem Wesen des Kindes kommen wir nur näher, wenn sich unser informationsorientiertes Verhältnis zur Sprache wandelt. Der Autor richtet deshalb den Blick auch auf die wenig bekannten Tiefendimensionen der Sprache, die sich bis in die unbewussten Körperprozesse erstrecken. Erst durch sie wird das Wunder des kindlichen Spracherwerbs begreiflich.

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Rainer Patzlaff

Sprache –

das Lebenselixier des Kindes

Moderne Forschung und die Tiefendimensionen des gesprochenen Wortes

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Cover

Titel

Vorwort: Wozu dieses Buch?

Teil I

Signaturen der Zeit. Geschichtliche und methodische Ausgangspunkte für ein vertieftes Verständnis von Sprache

1Gefährdete Kindheit – Aufbruch zu einer Zukunftsaufgabe

Fortschritt und Rückschritt – Zwiespalt unserer Zeit

Geschwächte Gesundheit und Konstitution

Ein düsteres Gesamtbild

Das andere Gesicht der Katastrophe

Verstummende Schrift

Verstummende Sprache

Gestörte Sprachentwicklung

Eine Epidemie ohne Ende?

Auf der Suche nach den Ursachen

Ein unzureichender Erklärungsversuch

Die bequeme Lüge

Ungeahnte Spätfolgen

Das Fernsehen als Heilsbringer und Sprachförderer?

Spracherwerb am Bildschirm – ein Flop

Angriff auf die früheste Kindheit

Elektronisches Spielzeug hat Folgen für den Spracherwerb

Massenexperiment an Millionen Kindern

Das Bewusstseinszeitalter hat begonnen

Sokratisch in die Zukunft

2Evolution – eine Revolution des Denkens

Konstanz oder Veränderung?

Der Entwicklungsbegriff entwickelt sich

Goethes Metamorphosenlehre

Vorläufer der Vergleichenden Sprachwissenschaft

Eine einzige Familie von Indien bis zum Atlantik

Sprachen als lebendige Wesen in Entwicklung

Grimms Gesetz der Lautverschiebung

Die Zweite Lautverschiebung – Entstehung des Althochdeutschen

Sprachendifferenzierung bereitet die Individualisierung des Menschen vor

3Menschheitsgut Sprache – einst und jetzt

Das Altern der Sprachen – wie ist es zu deuten?

Evolution und Involution – Polaritäten des Lebens

Das Rätsel der Sprachentstehung

Der Logos – das weltenschaffende Wort

Der Logos und die Ursprache

Name ist Realität

Die Ursprache als magische Kraft

Das Wunder des kindlichen Spracherwerbs

Wer inspirierte die Einzelsprachen?

Exkurs: Welt- und Menschheitsentwicklung nach Rudolf Steiner

Das Erzengelwirken in den Völkern

Sprachschöpfer mit gewaltigen Formkräften

Warum wir die Sprache lieben sollten

4Maschinelle Spracherzeugung und ihr Gegenbild

Sprache – degradiert zum Transportsystem für Informationen

Mehrabians Formel 7 – 38 – 55

Drei Schichten der Sprache

Silent Messages– Wünschelruten der Begegnungssuche

Begegnung mit dem Maschinenmenschen

Der Android als Pädagoge?

Es spricht der ganze Mensch

Teil II

Grundlagen der Sprachentwicklung bis zum dritten Lebensjahr

5Im Anfang ist das Hören

Wann beginnt die Sprachentwicklung des Kindes?

Was hört das Ungeborene im Mutterleib?

Prosodie – das Eingangstor zur Sprache

Der Fötus – ein Genie des Hörens

Musik für die Ungeborenen

Musik als Brücke zwischen geistiger und physischer Welt

Weltenmusik und Leibesbildung

Der Mensch ganz Ohr – das Ohr ganz Mensch

Das Weltenwort wird Mensch – empfangen durch das Ohr

6Im Anfang ist die Bewegung – ein Exkurs in die Wissenschaft

Das Ohr ist ein muskuläres Sinnesorgan

Vom Kopf bis zum Fuß spricht der Muskelmensch mit

Sprache lässt den Körper des Hörers tanzen

Noch einmal: Das Hören des Fötus

Rudolf Steiner vs. René Descartes

Embodiment – die große Wende der Kognitionsforschung

Die Entdeckung der Spiegelneuronen

Spiegelneurone und Sprache

Spracherwerb – vom Konkreten zum Abstrakten

7Die Schwangerschaft der Sprache

Grundlagenarbeit: Das Ergreifen des Leibes

Der erste Schrei

Basisarbeit vor dem Sprechenlernen

Die Aufrichtung: Der Mensch wird frei für die Sprache

Die Ich-Signatur der Aufrichtung

Der Sprechwille nimmt Vitalprozesse in seinen Dienst

Erste Phase der Sprachschwangerschaft

Zweite Phase der Sprachschwangerschaft

Der Resonanzraum für die Sprache bildet sich

Baby-Monolog: Tausendfältige Klänge werden erprobt

Baby-Dialog: Die globale Ammensprache der Erwachsenen

Babys Mimikforschung

Lesen, was die Lippen sagen

Der Baby-Dialog – weit mehr als eine sprachliche Förderung

Wo bleibt die Nachahmung?

Unglaublich, aber wahr: Sensibel für alle Sprachen der Welt

Zuhause im Klangkosmos der Sprachen

Die Zunge hört mit

Ein Nachklang aus der Frühzeit der Menschheit

Dritte Phase der Sprachschwangerschaft

Wie erkennt das Baby die einzelnen Wörter?

Babys als Wahrscheinlichkeitsrechner?

Unbewusste Gedächtniskräfte für die Struktur-Erkennung

Vertiefende Aspekte zur Sprachschwangerschaft

Von der musikalischen zur plastischen Komponente der Sprache

Gemeinsamkeit mit den sprachgebenden Archangeloi

8Einzug in das Haus der Muttersprache

Die Sprachgeburt

Die Gebärde – das ungesprochene Wort des Leibes

Mit den Zeigegesten fängt es an

Die Hände bahnen den Wörtern den Weg

Von der Geste zum Sprechen – eine offene Frage der Wissenschaft

These: Die Ursprache der Menschheit war gestisch

Gesten unterstützen kognitive Lernvorgänge

Welche Kräfte wirken in den Gesten?

Die Gebärdensprache der Gehörlosen

Das Besondere der Lautsprache

9Die Kunst der Artikulation

Wie kommen artikulierte Sprachlaute zustande?

Einblicke in die Black Box des Sprechvorgangs

Die menschliche Zunge – eine einzigartige Muskulatur

Die verborgene Tätigkeit des Stimmtrakts

Die Morphologie der Sprachlaute –Forschung am Scheidewege

Artikulation und Koartikulation – höchste Bewegungskunst

Eine Meisterleistung, an die sich niemand erinnern kann

Fataler Vorwitz – ein Lehrstück aus Köln

10Luftgebärden und die Ursprungskräfte der Sprache

Steiners Ansatz zur Entwicklung der Eurythmie

Luftgebärden sichtbar gemacht – eine Pionierleistung

Die geheime Ich-Botschaft von Mund zu Ohr

Lautformen im Blut des Menschen

Sprache verändert die Chemie des Blutes – und mehr

11Die magische Phase des Kindes

Die Ursprünge der Magie

Menschheitserbe: Die Magie der Laute

Das gesprochene Wort gilt

Sprache, die das Weltvertrauen stärkt, schafft Gesundheit

Kinder brauchen gültige Worte! Ein Appell an die Eltern

Keine Ironie bitte!

Ab wann verstehen Kinder Ironie?

Die «verlorene Sprache» – tief eingeprägt

12Aspekte zum Umgang mit Mehrsprachigkeit

Was geschieht, wenn Kinder mehrsprachig aufwachsen?

Mehrsprachigkeit im Kindesalter braucht feste Regeln

Künstliche Lernsituationen bringen nichts

Eine Regel, die Enttäuschungen bewirken kann

Mehrsprachigkeit kann auch Nachteile haben

Heimatlosigkeit – ein modernes Schicksal

Mehrsprachigkeit in der Waldorfpädagogik

Teil III

Die weitere Entwicklung bis zum siebten Lebensjahr

13Die große Wende – Beginn der Kindergartenzeit

Das Ende der magischen Phase

Das dritte Lebensjahr im Spiegel der Hirnforschung

Sprachexplosion ab dem dritten Jahr

Übergeneralisierung: Fehler, die Sinn machen

In der Werkstatt des Sprachgenius

Lustig sprudelt der Sprachquell

14Die Ausbildung der Imaginationsfähigkeit

Unbekannte Wörter – sofort verstanden

Sprachzauber: Aus den Lauten schlüpfen Bilder

Erfrischende Erstbegegnungen mit Altbekanntem

Märchen und Geschichten – ein Faszinosum. Aber warum?

Bildekräfte werden Bildkräfte

Geistige Wahrbilder – der Ursprung der Märchen

Warum Kinder Märchen brauchen

Mögliche Missverständnisse und Befürchtungen bei Erwachsenen

US-Raumfahrttechniker fordern bildschaffende Sprache für Kinder

Was man beim Vortragen von Märchen beachten sollte

Märchen auswendig erzählen – eine Herausforderung

15Entfaltung der Phantasiekräfte

Das Symbolspiel nach Piaget

Die lebendige Hüllschicht

Vom Einzelspiel zum Gruppenspiel

Was tragen Als-ob-Spiele zur Entwicklung des Kindes bei?

Irrealis und Metakommunikation

Figürliche Darstellungen unterstützen Phantasie und Sprache

16Seelenbildung durch die Musik der Sprache

Im dritten Jahr beginnt die große Zeit für Sprache und Gesang

Die Freude an Klangspielen – Sprache als Musik

Die stille Mission des Endreims im frühen Christentum

Von der Assonanz zum reinen Reim

Was ist und woher kommt der Endreim?

Die Regulierung der Verslänge durch den Endreim

Der Vers, der Mensch und Kosmos verbindet

Sprache bringt im Kind die Welt zum Klingen

Sprache, Bewegung und Musik: die pädagogische Trias

17Gedächtnis und Gedankenkraft – zwei Geschwister

Der Trick der Mnemotechniker

Eselsbrücken, Politik und Werbesprüche

Warum-Fragen und kein Ende

Vom Kettengedicht zur dialektischen Struktur

Das Lambertusspiel in Münster

Teil IV

Sprache in der Kindes- und Menschheitsentwicklung

18Entwicklung im dreifachen Dreiklang

Die vier Geburten

Die Dreigliederung des menschlichen Organismus

Die drei Stufen des ersten Jahrsiebts

Wie im Großen, so im Kleinen

19Sprache in der Menschheitsentwicklung

Erste Stufe: Sprache, die aus den Willenskräften erwächst

Zweite Stufe: Sprache, die von der Empfindung bestimmt wird

Die Entdeckung der Metapher

Dritte Stufe: Sprache, die das Denkvermögen freisetzt

Logisches Denken – ein zweischneidiges Schwert

Die Phrasendreschmaschine – Rückzug aus der Sprache

Die Phrase – Weltmacht des Chaos und der Zerstörung

20Der umgekehrte Spracherwerb

Was kommt nach der Abstraktion?

Vom Wortgeklingel zum Gedankenlesen

Die Sprache durchhören – ein Weg zum anderen Menschen

Entleerte Worte und die Imagination

Imaginatives Vorstellen – eine Zeitnotwendigkeit

Das Sphinx-Rätsel unserer Zeit

Der Sprachgenius – Begegnung mit einem realen Wesen

Der Sprachgeist wusste es besser

Das konkrete Bild im Wort – eine erste Umschau

Zweite Stufe: Bildsuche unter erschwerten Bedingungen

Das Erleben der Wortbilder fördert die Völkerverständigung

Dritte Stufe: Wortbilder in archaischen Schichten der Sprache

Vom Logos zur Logik – Menschheitsgang im Spiegel der Sprache

Der verborgene Name des Wortes

Anmerkungen

Verzeichnis der verwendeten Literatur

Impressum

Vorwort: Wozu dieses Buch?

Der heutige Mensch empfindet das gesprochene Wort als ein Mittel, mit dem er seine Beziehung zu anderen Menschen gestaltet. Dass aber der Sprechvorgang auch ihn selbst gestaltet, und zwar bis in die neurologischen und physiologischen Prozesse seines Körpers hinein, davon herrscht gegenwärtig noch wenig Bewusstsein. Neuere Wissenschaftszweige haben in den letzten Jahrzehnten dazu und speziell zur Sprachentwicklung im Kindesalter faszinierende Entdeckungen gemacht, die das Potenzial hätten, das überkommene reduktionistische Menschenbild zu revidieren und Perspektiven zu eröffnen für eine Pädagogik, die das volle Menschenwesen umfasst. Die Voraussetzung wäre allerdings, dass die verstreuten Einzelbefunde im Sinne einer erweiterten Anthropologie in eine ganzheitliche Betrachtung eingebettet würden, die den Fokus nicht isoliert auf die naturwissenschaftlich beobachtbaren Fakten richtet, sondern auch und ganz besonders auf deren Zusammenhang mit den seelischen und geistigen Prozessen des heranwachsenden Menschen.

Zu einer solchen Zusammenschau möchte ich mit dem vorliegenden Buch beitragen. Als Waldorfpädagoge versuche ich das auf dem Hintergrund der Anthroposophie, nicht um Steiner zu «beweisen», sondern um einen unbefangenen Austausch zwischen allen pädagogisch interessierten Menschen anzuregen. Studiert man nämlich die mit neuester Technik errungenen Einblicke heutiger Forschung in tief verborgene leibliche Vorgänge beim Sprechen und beim Spracherwerb, dann erweist sich entgegen allen Vorurteilen die Koinzidenz dieser Ergebnisse mit längst vorhandenen Angaben Rudolf Steiners zur Menschenkunde und Pädagogik. Seine Aussagen werden durch die neuen Befunde überraschend konkret und aktuell, sodass ein umfassendes Bild möglich wird, in welchem sich die naturwissenschaftlichen Ergebnisse widerspruchsfrei verbinden mit den Erkenntnissen der Anthroposophie über die seelischen und geistigen Dimensionen des Menschseins.

Mir geht es um einen Brückenschlag zwischen den Disziplinen, der über die Fachkreise hinausdringt. Deshalb habe ich mich um eine Darstellungsform bemüht, die nicht nur Insidern der «Waldorf-Szene» verständlich ist. Ich halte es für zeitnotwendig, dass weltweit eine Zusammenarbeit aller derer entsteht, die durch ihr elterliches, pädagogisches, ärztliches und therapeutisches Bemühen die Kinder stärken möchten für die großen Aufgaben, die in der Zukunft auf sie zukommen. Für dieses Ziel wären abstrakte Theorien oder wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich motivierte Zielvorgaben keine geeignete Grundlage. Fruchtbar und menschenverbindend sind allein Erkenntnisse über die objektiven Entwicklungsnotwendigkeiten, die am Kind selbst abgelesen sind, und dazu leistet die heutige Wissenschaft wertvolle Beiträge, die immer deutlicher werden lassen, was für unfassbar große Leistungen ein Kind vollbringt, das sich die Sprache und das Sprechen erwirbt. Solche Befunde wirken inspirierend und begeisternd, und sie werden in den Nöten des heutigen pädagogischen Alltags dringend gebraucht, wie ich an drei Beispielen zeigen möchte.

In den letzten Jahren ist die Arbeit in Kinderkrippen und anderen frühkindlichen Betreuungseinrichtungen immer wichtiger geworden, und für diese höchst anspruchsvolle und verantwortungsreiche Aufgabe müssen alle Erzieherinnen und Erzieher – auch diejenigen in Waldorfeinrichtungen – eine zusätzliche Ausbildung machen, denn in der frühen Kindheit werden, wie die Forschung eindrucksvoll belegen konnte, die Fundamente für die spätere Entwicklung gelegt. Dazu gehört nicht zuletzt die Anlage einer gesunden Sprachentwicklung, deren Gelingen ja nicht mehr selbstverständlich ist, wie die epidemisch um sich greifenden Sprachentwicklungsstörungen im Vorschulalter beweisen. Daraus ergeben sich Aufgaben, zu deren Bewältigung gesicherte Erkenntnisse notwendig sind. Was eine ältere Menschheit noch aus dem Instinkt heraus praktizierte, muss sich die heutige bewusst erarbeiten, um es erfolgreich anwenden zu können.

Ein zweiter Anlass ergibt sich aus der Tatsache, dass seit einiger Zeit in allen deutschen Bundesländern die Erzieherinnen und Erzieher in Kindertagesstätten von Staats wegen dazu angehalten werden, die Sprachentwicklung der Kinder ab deren Eintritt in die Einrichtung zu beobachten, zu dokumentieren und zu fördern. Auch das ist ein neues Arbeitsfeld für den heutigen Erzieherberuf – Waldorfeinrichtungen nicht ausgenommen. Nach meinen Erfahrungen als Hochschullehrer mit angehenden Kindheitspädagogen hege ich die Hoffnung, mit diesem Buch junge Menschen nicht nur über die Sprachentwicklung des Kindes zu informieren, sondern sie durch die intime Kenntnis der tieferen Zusammenhänge sogar begeistern zu können für das Wunder des Spracherwerbs. Erst wenn das gelingt, werden die staatlich geforderten Aufgaben nicht mehr eine lästige und ärgerliche Pflicht sein, sondern eine gern geleistete Mühe im Dienst am Kind.

Mein drittes Anliegen gilt den Eltern kleiner Kinder, anknüpfend an die schon erwähnten Sprachentwicklungsstörungen, deren Vermeidung nicht allein die Aufgabe der Kindertagesstätten sein kann, sondern wesentlich von den Eltern als den ersten Bezugspersonen mit beeinflusst wird. Auch sie müssen erfahren, wie komplex, aber auch voller Wunder die Sprachentwicklung ihrer Kinder ist, und mit welch geringem Aufwand Großes für ihre Förderung geleistet werden kann, wenn man das Richtige weiß und regelmäßig praktiziert.

Herzlich danken möchte ich abschließend den Freunden, die mich bei der Abfassung des Buches mit wertvollen Hinweisen und Anregungen unterstützt haben, allen voran Dr. Serge Maintier und Alain Denjean, aber auch Dr. med. Armin Husemann, Marco Bindelli und Dr. med. Jan Vagedes. Der Fotografin Charlotte Fischer gilt ein besonderer Dank für die stimmungsvollen Kinderbilder.

Stuttgart, im März 2017

Dr. Rainer Patzlaff

Heute wird allenthalben «gendersensible Sprache» gefordert. Konsequent praktiziert führt sie zu Doppelnennungen wie «derjenige, welcher und diejenige, welche», «jeder, der und jede, die», «Forscherinnen und Forscher», «Erzieherinnen und Erzieher» oder zu Ausweichpartizipien wie etwa «Betreuende, Forschende, Erziehende, Lesende» oder zu nicht sprechbaren Graphemen wie «Wissenschaftler*innen, Beobachter/innen, Begleiter_innen, FreundInnen» und dergleichen mehr.

Ich bitte meine Leserinnen und Leser herzlich um Verständnis, dass ich im Interesse eines mühelosen Leseflusses auf solche Mittel verzichte und durchweg die maskuline Form benutze, die meinerseits stets genauso geschlechtsübergreifend gemeint ist, wie es bei den Wörtern Mensch, Person, Kind, Individualität, Eltern von Natur aus der Fall ist. Aus Erfahrung habe ich die größte Hochachtung vor den Leistungen der Frauen auf allen sozialen Gebieten, möchte aber mit meinen Ausführungen ausdrücklich auch die Männer angesprochen wissen.

Teil I

Signaturen der Zeit. Geschichtliche und methodische Ausgangspunkte für ein vertieftes Verständnis von Sprache

1  Gefährdete Kindheit – Aufbruch zu einer Zukunftsaufgabe

Fortschritt und Rückschritt – Zwiespalt unserer Zeit

Gestützt auf Funk und Satelliten, auf das «World Wide Web» und ein weltweit agierendes Transport- und Verkehrswesen fließen heute die Ströme der Waren und Finanzen, der Daten, Nachrichten und Informationen rund um den Globus an nahezu jeden beliebigen Ort. Das hat dazu geführt, dass die einzelnen Regionen der Welt – ungeachtet aller politischen, religiösen und kulturellen Verschiedenheiten – wirtschaftlich und finanziell immer stärker miteinander verflochten sind. Diese sogenannte Globalisierung wird trotz aller Probleme, die sie mit sich bringt, allenthalben als eine bedeutende Errungenschaft unserer Zeit angesehen, die uns dazu aufruft, global zu denken und global zu handeln.

Nun gehört es aber zur besonderen Signatur unserer Zeit, dass dem ungeheuren Fortschritt, den wir der modernen Technik und Naturwissenschaft verdanken, nicht weniger ungeheure Rückschritte gegenüberstehen. Der bekannteste davon ist die zunehmende Störung und Zerstörung der Natur und damit letzten Endes unserer Lebensgrundlagen auf diesem Planeten. Vorbei ist die Zeit, wo man noch ungestraft glauben konnte, «Mutter Natur» werde die Schädigungen schon irgendwie verkraften. Mit dem galoppierenden Artensterben im Pflanzen- und Tierreich, mit der Kontamination der Weltmeere und der Atmosphäre, mit der Versteppung riesiger Landstriche durch Raubbau, mit der atomaren Bedrohung und vielem mehr schlagen die Resultate egozentrischen Handelns auf uns selbst zurück.

Geschwächte Gesundheit und Konstitution

Einem zweiten Phänomen der Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Rückschritt begegnen wir im Bereich der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: Einerseits hat die moderne Medizin die Kindersterblichkeit auf ein früher nie gekanntes Maß reduziert, hat die klassischen Kinderkrankheiten fast ausgerottet, sichert immer besser das Überleben zu früh geborener Föten, das System der Vorsorgeuntersuchungen ist bestens ausgebaut, gute Ernährung steht zur Verfügung, Einrichtungen zur Bildung und Betreuung vom frühesten Alter an werden flächendeckend angeboten – um nur einiges zu nennen. Man kann also mit einem gewissen Recht sagen, dass es (zumindest in den westlichen Wohlstandsgesellschaften) Kindern noch nie so gut ging wie heute.

Und doch ist ebenso wahr, auch wenn das in der Öffentlichkeit gerne verdrängt wird, dass die Kindheit heute auf eine neue, bisher nicht bekannte Weise bedroht ist. Zwar wurden die klassischen Kinderkrankheiten durch weltweite Impfaktionen annähernd beseitigt. Dafür aber treten nun immer mehr chronische Krankheiten auf. Der Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann konstatierte bereits 2003:

« Im historischen Vergleich fällt auf, dass die Infektionskrankheiten und die jahrhundertelang mit Kindheit und Jugend verbundenen Epidemien und Mangelkrankheiten in den westlichen Gesellschaften heute weitgehend zurückgedrängt sind. (...) Das Krankheitsspektrum wird bei Kindern heute durch die ‹chronischen Krankheiten› beherrscht, die nicht wirklich heilbar sind, sondern fast wie eine Behinderung wirken. (...) Im Kindesalter treten heute vor allem die folgenden chronischen Krankheiten auf: Krebs, Diabetes mellitus, Rheuma, Epilepsie, Allergien, Endogenes Ekzem (= Neurodermitis), Asthma bronchiale, Adipositas und Magersucht, Auffälligkeiten im Wahrnehmungsbereich, ADHS, Lese-Rechtschreib-Schwäche, Rechenschwäche, psychosomatische und affektive Störungen, Angst- und Affektsyndrome, depressive Syndrome, Fehlernährung und Bewegungsmangel als Schlüsselprobleme.1»

So erschreckend diese Liste chronischer Krankheiten auch sein mag – sie gibt noch längst nicht das volle Ausmaß der Bedrohung wieder. Die von Hurrelmann als «Schlüsselprobleme» bezeichneten Faktoren Fehlernährung und Bewegungsmangel zeitigen seit Jahrzehnten ein wachsendes Bündel pathologischer Phänomene, das die Kinderärzte, Schulärzte und Sportwissenschaftler im Laufe der Jahre zu immer dringlicheren Alarmrufen veranlasste, ohne freilich die Situation grundlegend zu verändern. Ich greife hier einige Beispiele heraus:

•Im Jahr 2000 stießen die Gesundheitsämter des Bundeslandes Hessen bei den rund 63.000 Schulanfängern auf 56,2 Prozent mit einem behandlungsbedürftigen Befund. Sie überwiesen jedes zweite Kind zur Behandlung an Ärzte oder Therapeuten.2

•2002 meldeten Sportwissenschaftler und Ärzte: «Noch nie waren so viele Kinder motorisch auffällig wie heute. Viele haben schon Probleme mit Grundfertigkeiten wie Laufen, Klettern, Werfen, Springen. Kinder bewegen sich heute im Schnitt nur noch 30 Minuten täglich intensiv – das ist eine Katastrophe.» Gelenk- und Skelettveränderungen seien die Folge, häufigere Unfälle wegen schlechter Körperbeherrschung, erhöhtes Infarktrisiko durch Übergewicht, und die Fettsucht (Adipositas) führe teilweise schon in jungen Jahren zum Ausbrechen von Altersdiabetes (Diabetes Typ 2). Das sei «hochgradig pathologisch für eine Gesellschaft».3 2003 äußerte die Bewegungsexpertin Renate Zimmer: «Einen Ball auffangen, auf einer schmalen Mauer balancieren, auf einen Baum klettern – das können viele Kinder heute nicht mehr.» Der Deutsche Sportbund und die AOK stellten fest, dass allein zwischen 1995 und 2002 hinsichtlich Ausdauer, Kraft und Koordinationsfähigkeit die Leistungen um bis zu 25 Prozent gesunken waren.4 Der Zustand unseres Nachwuchses sei alarmierend schlecht.5

•2005 warnte der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, jedes fünfte Kind in Deutschland sei entwicklungsgestört und damit praktisch krank und behandlungsbedürftig. Die kommende Generation werde «durch Krankheit und Leistungsschwäche gekennzeichnet» sein.6

•2010 diagnostizierten die Gesundheitsämter in Schleswig-Holstein bei den Schulanfängern trotz Präventionsmaßnahmen 25,2 % Verhaltensauffälligkeiten, 25 % Sprachauffälligkeiten, 17,2 % motorische Auffälligkeiten.7

•Ein Gesundheitsbericht aus dem Jahre 2013 stellte fest, dass in den letzten 40 Jahren chronische Erkrankungen im Kindesalter erheblich zugenommen haben, an der Spitze Adipositas, Asthma und ADHS. Laut amtlichen Daten aus dem Bundesland Brandenburg fanden die Ärzte schon bei 16 Prozent der Zweijährigen und bei 45 Prozent der Schulanfänger medizinisch relevante Befunde. Es sei nicht plausibel anzunehmen, dass die Ursache in einer massiven Veränderung des Genpools zu suchen sei; verantwortlich seien Veränderungen äußerer Art (Umwelt, Lebensgewohnheiten, sozioökonomische Verhältnisse), die eine bedeutende Rolle spielten.8

•Ein anderer Bericht aus demselben Jahr sah Diabetes Typ 1 als häufigste chronische Krankheit, von der in Deutschland rund 25.000 Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren betroffen seien. «Die Zahl der Neuerkrankungen hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt und wird sich – wenn die Prognosen zutreffen – in den kommenden 20 Jahren noch einmal verdoppeln. Dabei erkranken immer mehr jüngere Kinder. Insbesondere in der Altersgruppe null bis vier Jahre nimmt die Erkrankung zu.» Der Diabetes Typ 2 werde zwar Altersdiabetes genannt, aber das sei heute nicht mehr zutreffend, weil er immer häufiger auch im Kindes- und Jugendalter auftrete.9

•2014 hieß es in einem Bericht über neue Kinderkrankheiten: Diabetes Typ 2 (Altersdiabetes) «steigt bei Kindern rapide an und kann als eine neue Epidemie betrachtet werden». Er steht im Zusammenhang mit Adipositas, und dort sei seit den 1980er-Jahren eine fünfzigprozentige Zunahme zu verzeichnen.10

Ein düsteres Gesamtbild

Die Skizze der Problemfelder ist damit nicht zu Ende. Drei weitere Bereiche kommen hinzu:

•Ein großer Teil der angesprochenen Fehlentwicklungen durch Bewegungsmangel und Fehlernährung steht in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit dem überbordenden Bildschirmkonsum, dessen Brisanz für die Entwicklung des Kindes ich schon an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe.11 Hinzuweisen ist dabei auch auf die materialreichen Bücher von Manfred Spitzer.12

•Sorgen bereiten im Blick auf Kinder und Jugendliche nicht nur die chronischen Erkrankungen und die diversen motorischen Defizite mit ihren weitreichenden Folgen von der Anatomie und Physiologie bis hin zur kognitiven Entwicklung. Beunruhigend ist darüber hinaus das gehäufte Auftreten psychosomatischer Beschwerden und – schlimmer noch – sogar psychiatrischer Auffälligkeiten. Zu den Letzteren hier zwei exemplarische Meldungen: Die Universitätsklinik Aachen untersuchte 2002 Jugendliche zwischen 11 und 18 Jahren und stellte fest, dass 15 Prozent von ihnen psychiatrisch auffällig seien.13 Die KIGGS-Studie von 2013 stellte sogar bei jedem fünften Kind (20,2  %) zwischen 3 und 13 Jahren Hinweise auf psychische Störungen fest.14

•Einen ganz anderen, aber nicht weniger beunruhigenden Bereich betreten wir mit den epidemisch aufgetretenen Sprachentwicklungsstörungen im Vorschulalter, von denen noch weit mehr Kinder betroffen sind als von den bisher genannten Schwierigkeiten. Näheres dazu werde ich weiter unten ausführen.

Die angeführte Nachrichtensammlung über mehr als ein Jahrzehnt hinweg möge genügen, um zu belegen, dass die Kindheit heute trotz grandioser Fortschritte auf eine neue, bisher nicht bekannte Weise bedroht ist, und mit ihr die Zukunft unserer Gesellschaft. Wer Jahr um Jahr die einschlägigen Berichte in der Presse und in Fachzeitschriften liest, von denen hier einige Kostproben gegeben wurden, und sie ernst nimmt, dem ergibt sich ein düsteres Bild, das sich unabweisbar zu dem Eindruck verdichtet: Wir stehen vor einer Katastrophe.

Zwar findet man in offiziellen Gesundheitsstatistiken den Eindruck der Katastrophe relativiert durch den Hinweis, dass ja nur ein kleiner Teil der Kinder und Jugendlichen betroffen sei (und hier vor allem Kinder aus dem Prekariat), während der überwiegende Teil sich guter Gesundheit erfreue. Das Statistische Bundesamt in Bonn beispielsweise meldete 2015, gestützt auf die schon erwähnte KIGGS-Studie: «93,7 % der Eltern schätzen die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen als gut oder sehr gut ein.»15 Aber solche Angaben erweisen sich als trügerisch, da die oben genannten motorischen, sensorischen und sprachlichen Defizite in den allgemeinen Gesundheitsstudien gar nicht erfasst werden. Ferner wird übergangen, dass sich die ermittelten Werte in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten nicht wesentlich verbessert haben, sondern eher stagnieren oder sogar angestiegen sind. Daraus folgt: Selbst wenn «nur» 10 Prozent eines Jahrgangs mit schweren Belastungen zu kämpfen hätten, jedes Jahr aber erneut 10 Prozent dazukommen, dann summiert sich die Zahl der Betroffenen allein in Deutschland auf Hunderttausende von Kindern, und das kann nicht mehr als vernachlässigbares Randphänomen abgetan werden, sondern wächst sich zu einer ernsten Belastung für die gesamte Gesellschaft aus. Es gibt also gute Gründe, allen Beschwichtigungen zum Trotz von einer drohenden Katastrophe zu sprechen, nicht anders als bei der eingangs erwähnten ökologischen Situation.

Das andere Gesicht der Katastrophe

Damit stehen wir nun an dem Punkt, den ich als Reifeprüfung der Menschheit bezeichnen möchte: Wer sich der Katastrophe in ihrem ganzen Ausmaß stellt und sie nicht zu verdrängen sucht, der spürt die lähmende Wirkung, die von der Fülle beängstigender Nachrichten ausgeht. Überlässt er sich diesem Eindruck, dann ist der Weg nicht weit zu Resignation oder sogar Depression. Jedoch bedürfte es nur eines kleinen Bewusstseinsrucks, um sich klarzumachen, dass weder eine feindliche Macht ihr grausames Spiel mit uns treibt noch ein gottgegebenes Schicksal uns überkommt, in das wir uns ergeben müssten, sondern dass wir vor den Konsequenzen unseres eigenen Handelns stehen. Wir selbst sind es, die das Desaster bewirkten. Zwar geschah das nicht mit Absicht, gleichwohl haben wir es zu verantworten.

Wenn aber die Ursachen des Desasters rein «zivilisatorischer Art» sind, wie Wissenschaftler es ausdrücken würden, wir selbst also die Urheber sind, dann haben wir auch die Möglichkeit, das Steuer herumzureißen und der negativen Entwicklung entgegenzuwirken. Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Die Aufgabe, die wir uns damit stellen, ist von so gewaltiger Dimension, dass es schon eines tragfähigen geistigen Hintergrunds bedarf, um an ihr nicht zu verzweifeln. Mut ist vonnöten, und der wächst am ehesten durch ein tieferes Verständnis der Situation, in der wir uns als Menschheit gegenwärtig befinden. Worum es da geht, das zeichnet sich bei der ökologischen Frage schon recht deutlich ab:

Wenn unser Umgang mit den begrenzten Ressourcen der Erde vom bisherigen Raubbau auf eine echte, über lange Zeiträume wirksame Nachhaltigkeit umgestellt werden soll, dann kann die Ökologie nicht umhin, bestimmte unabweisbare Forderungen zu stellen. Eine davon ist die Notwendigkeit, jede moderne Errungenschaft auf ihre globalen Auswirkungen hin zu prüfen. Erdumspannende Technik und Wirtschaft werden nur dann heilsam wirken können, wenn sie mit einem erdumspannenden, die Zusammenhänge überschauenden Bewusstsein gehandhabt werden.

Dieses Bewusstsein zu entwickeln scheint eine Menschheitsaufgabe für Jahrhunderte zu sein, denn das suchtartige Streben nach dem eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf die Folgen ist tief eingewurzelt. Indessen duldet der labile Zustand des Ökosystems Erde, der zu kippen droht, keinen Aufschub mehr, und da kommt uns eine Macht entgegen, die mit ihrer elementaren Gewalt beschleunigend wirkt: die drohende oder schon eingetretene Katastrophe. Sie bewirkt den notwendigen Bewusstseinsruck.

Auf den kommt es an, um zu begreifen, dass wir heute als ganze Menschheit an einem Wendepunkt stehen: Mochten sich frühere Generationen noch im großen Weltzusammenhang als ein kleines Glied empfinden, das niemals die Macht hatte, an den Fundamenten der Welt zu rütteln, so müssen wir heute erkennen, dass der Bestand des Ökosystems der Erde nicht mehr durch irgendeine unsichtbare Macht, genannt Gott oder Mutter Natur, oder durch irgendeinen vermeintlichen Reparaturmechanismus gewährleistet wird, sondern ab jetzt vom Verhalten der Menschheit abhängt. Was früher höhere Mächte weisheitsvoll geschaffen und dem Menschen selbstlos zur Verfügung gestellt haben, wie es die Bibel schildert, das obliegt jetzt seiner Verantwortung. Oder anders gesagt: Die Menschheit ist mündig geworden.

Selbst ein Materialist und Atheist, der keinerlei göttliche Mächte gelten lässt, wird sich aus Gründen des Selbsterhalts genötigt sehen, die Verantwortung für das weitere Schicksal der Erde in die eigene Hand zu nehmen. Er kann sich aber auch dagegen entscheiden. Der Mensch ist in die Freiheit entlassen, keine Macht zwingt ihn, die gewaltige neue Aufgabe zu ergreifen. Für die Zukunft indessen zählen nur noch freie Taten, die nicht mehr aus Egoismus geschehen, sondern aus Einsicht in die Notwendigkeiten des Weltganzen.

Wir sind im Zeitalter der Bewusstseinsseele angekommen, wie Rudolf Steiner es nannte, und diese in der Menschheit neu zu entwickelnde Kraft erwacht aus innerer Notwendigkeit am stärksten in der Konfrontation mit Todesprozessen und Erscheinungen des Niedergangs. Das ist zunächst ein höchst schmerzlicher Prozess, der mit vollem Recht negativ erlebt wird. Er kann uns seelisch niederschmettern, wenn es uns nicht gelingt zu erkennen, dass wir eigentlich nur auf die Vorderseite einer Münze blicken, die auf ihrer Rückseite etwas ganz anderes zeigt: Vorne sehen wir unbestreitbar die Katastrophe. Die Rückseite indes enthüllt, dass wir auf der Vorderseite in Wahrheit den eigenen Begierden, Schwächen und Unvollkommenheiten begegnet sind, die es jetzt in positiver Weise zu verwandeln gilt.

Ähnlich wie es nach Rudolf Steiners Schilderung der Einweihungsschüler individuell an der Schwelle zur geistigen Welt erlebt, so scheint heute die äußere Welt der ganzen Menschheit ihr dunkles Alter Ego zu spiegeln, den furchterregenden Doppelgänger, der die noch nicht vom höheren Ich durchdrungenen, tief unbewussten Neigungen und Triebe der eigenen Seele als Schreckensbild vor uns hinstellt, uns dazu aufrufend, sie in das volle Licht der Bewusstheit heraufzuheben und in harter Arbeit umzuschmelzen. Schrecken wir davor zurück, entfalten die unbearbeitet gebliebenen Seelenelemente eine gewaltige zerstörerische Wirkung.

Es liegt also durchaus in unserer gegenwärtigen Situation begründet, dass wir mit Katastrophen konfrontiert werden. Sie können als lähmende Schreckensbilder erscheinen, die uns in Untätigkeit versinken lassen; sie können aber auch als das verstanden werden, was sie in Wahrheit sind: als Entwicklungshelfer der Menschheit, die uns die anstehende Aufgabe in ihrer ganzen Größe vor Augen stellen, damit wir an ihr arbeiten können und damit zugleich uns selbst verwandeln und als Menschen weiterentwickeln.

Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.

Albert Einstein

Verstummende Schrift

In den vorangegangenen Abschnitten haben wir auf die zwiespältige Signatur unserer technikdominierten Zeit geblickt, die uns mit der Rasanz ihrer Entwicklung Fortschritte ungeahnten Ausmaßes gebracht hat und im gleichen Zuge Krisen ungeahnten Ausmaßes, die den scheinbar unaufhaltsamen Fortschritt der Menschheit infrage stellen. Nun gibt es aber nicht nur im Bereich der Wirtschaft und Finanzen, der Ökologie und der Gesundheit bedrohliche Szenarien. Mit ungläubigem Staunen, ja sogar Erschrecken musste die Öffentlichkeit wahrnehmen, dass wir auch auf kulturellem Gebiet vor Phänomenen eines Niedergangs stehen, die zuvor niemand für möglich gehalten hätte.

Eines davon wird seit den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts in den hoch entwickelten Industriestaaten beobachtet: Immer größere Teile der Bevölkerung verlieren die Fähigkeit, schriftliche Informationen überhaupt noch aufzunehmen, geschweige denn zu verarbeiten. Der kalifornische Literaturwissenschaftler Barry Sanders bezeichnete 1994 in einem aufsehenerregenden Buch16 diese neue Form von Analphabetismus, die trotz Schulbesuch eintritt, als Postanalphabetismus. (In Europa hat sich dafür der Begriff funktionaler Analphabetismus eingebürgert.) «Fast siebzig Millionen Amerikaner», so diagnostizierte er, seien davon betroffen, und mehrheitlich nicht etwa Schwarze oder Zugewanderte aus anderen Nationen, sondern im Lande geborene Weiße. Sie seien «nicht in der Lage, die aufgedruckte Warnung auf dem Etikett einer Arzneiflasche zu entziffern oder durch einen Zeitungsartikel hindurchzufinden». Dass ihnen diese Sprache verschlossen bleibt, so warnte er, werde dazu führen, dass die Betroffenen sich eine andere Sprache suchen, um sich zu artikulieren, nämlich die der Gewalt.17 «Die Pistole ist das Schreibgerät der Analphabeten», lautete der Subtitel der deutschen Ausgabe.

Siebzig Millionen: das waren damals 28 Prozent der US-Bevölkerung! 1995 bestätigte ein Gutachten der OECD, dass gerade in den reichsten Ländern der Erde teilweise mehr als 20 Prozent der Erwachsenen nur über dürftigste Schreib- und Rechenfähigkeiten verfügte.18 In Deutschland stufte 2001 die erste PISA-Studie 10 Prozent der fünfzehnjährigen Schüler als funktionale Analphabeten ein, und bei weiteren 13 Prozent war die Lesefähigkeit nicht über Grundschulniveau hinausgekommen.19 Neuere Studien präsentierten 2014 belastbare Daten, denen zufolge in Deutschland 14,5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung bzw. 7,5 Millionen Menschen funktionale Analphabeten sind, also mehr Menschen als in den fünf bevölkerungsreichsten Städten Deutschlands zusammen.20 Es gibt derzeit keine sicheren Anhaltspunkte, dass der bisherige Trend nachhaltig gestoppt oder gar rückgängig gemacht werden konnte. Dass diese Entwicklung nicht nur Fachleuten, sondern auch Politikern und Wirtschaftsführern Sorgen bereiten muss, versteht sich von selbst, weil in einer heutigen Industriegesellschaft die fehlende «Schlüsselqualifikation Lesen» fast unvermeidlich zu sozialem Abstieg und Ausgrenzung führt.

Verstummende Sprache

Die massenhafte Unfähigkeit, Geschriebenes oder Gedrucktes zu verstehen und gedanklich zu verarbeiten, war noch kaum ins Problembewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen, da bahnte sich schon eine weitere, noch tiefer gehende Rückentwicklung menschlicher Kulturfähigkeiten an: Nicht nur die Schriftsprache wurde weiten Kreisen der Bevölkerung trotz Schulbildung fremd, sondern allmählich auch der Umgang mit dem gesprochenen Wort. Was war geschehen?

Im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts stießen Kulturbeobachter auf das seltsame Phänomen, dass die gesprochene Sprache, dieses bisher so selbstverständliche Kommunikationsmedium der Menschen, im alltäglichen Umgang mit den Kindern immer rudimentärer auftrat und regelrecht zu verstummen begann. So berichtete beispielsweise Konrad Adam in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18.6.1993:

« Seit einiger Zeit lässt eine ältere Grundschullehrerin den Unterricht in ihrer ersten Klasse mit einer sonderbaren Lektion beginnen. Sie verlangt von den Sechsjährigen, sich zu erheben, zum Fenster zu gehen, es zu öffnen, dann wieder zu schließen, an ihren Platz zurückzukehren und über das, was sie getan haben, kurz und verständlich zu berichten. Als einige Eltern sich verwundert und leicht vorwurfsvoll nach dem Sinn dieser Übung erkundigten, berief sich die Lehrerin auf neue, ungewohnte Erfahrungen. Die Kinder hätten große Schwierigkeiten, eine Anweisung zu verstehen, sie auszuführen und über das Geschehene Auskunft zu geben. Wer noch in heilen, inzwischen also untypischen Verhältnissen großgeworden sei, könne sich gar nicht vorstellen, in wie vielen Familien heute tage- und wochenlang kein Wort mehr gesprochen werde. Die Fähigkeit zu erzählen und zuzuhören, Argumente gegeneinander abzuwägen und rational zu entscheiden, gehe langsam verloren, von antiquierten Sprachformen wie Lied, Gebet und Zuspruch ganz zu schweigen.»

Dass es sich hier tatsächlich um eine allgemeine Zeiterscheinung handelte, die sich nicht auf Deutschland beschränkte, bewies ein grotesker Vorgang in Großbritannien: Dort nahm das Problem solche Ausmaße an, dass 1996 Notprogramme eingerichtet werden mussten, «mit denen Schulanfänger lernen, wie sie Leute begrüßen oder nach dem Weg fragen können».21

Gestörte Sprachentwicklung

In derselben Zeit wurden die Fachärzte für Stimm-, Sprach- und Hörstörungen im Kindesalter aufgeschreckt durch die Entdeckung, dass die Häufigkeit von Spezifischen Sprachentwicklungsstörungen (SSES), also solchen, die ihre Ursache nicht in organischen, sensorischen oder mentalen Defiziten haben, wie aus dem Nichts dramatisch zugenommen hatte: Man war gewohnt, bei der Untersuchung von Kindern im Kindergartenalter auf etwa 4 Prozent mit ernsthaften Störungen der Sprachentwicklung zu treffen. Als aber an der Universität Mainz Prof. Manfred Heinemann 1988 ein neues Testverfahren zur Früherkennung von Sprachentwicklungsstörungen entwickelt hatte und dieses an mehreren Mainzer Kindergärten bis 1992 erproben ließ, stieß er auf Werte zwischen 22 und 34 Prozent. Im Mittel waren es 25 Prozent, wobei die Störungen zur Hälfte als leicht und zu je einem Viertel als mittelschwer und schwer einzustufen waren.

Eine vergleichbare Studie aus den Jahren 1976 und 1977 war mit den gleichen diagnostischen Kriterien noch auf die gewohnten 4 Prozent gestoßen. Die Werte hatten sich also in rund zehn Jahren um mehr als 20 Prozent erhöht, das heißt: pro Jahr um 2 Prozent. Andere Untersuchungen wiesen in die gleiche Richtung. Das erschien den Fachleuten so unglaublich, dass Zweifel laut wurden, wie valide die ermittelten Werte wirklich seien. Manche Forscher vermuteten Hysterie und warfen die Frage auf, ob die Zunahme nicht schlicht aus der erhöhten Aufmerksamkeit resultiere, mit der solche Phänomene neuerdings beobachtet würden. Indessen riss die Serie ähnlicher Befunde national und international nicht ab,22 und angesichts der Fülle des Materials setzte sich die Einsicht durch, dass im Vergleich zu den Siebzigerjahren tatsächlich ein signifikanter Anstieg stattgefunden hatte.23

Strittig blieb indessen noch die Höhe des Anstiegs. Ob die von Heinemann in Mainz ermittelten 25 Prozent für die Gesamtpopulation als repräsentativ gelten konnten, erschien zu Beginn der Neunzigerjahre fraglich. Die vorsichtigsten Schätzungen gingen davon aus, dass in Deutschland im Durchschnitt bei 10 bis 15 Prozent der Vorschulkinder mit Sprachentwicklungsstörungen zu rechnen sei. Doch stand die bange Frage im Raum, ob es dabei bleiben würde oder ein weiterer Anstieg zu befürchten sei.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Gegen Ende des Jahrzehnts überschritten die meisten festgestellten Werte national und international bereits deutlich die 20-Prozent-Marke – mit steigender Tendenz. Allerdings gab es auffällige regionale Unterschiede. Besonderes Aufsehen erregte 2003 die Berliner Massenuntersuchung eines kompletten Einschulungsjahrgangs: Unter dem Codewort Aktion Bärenstark wurden 26.720 Kinder überprüft. Das Ergebnis war niederschmetternd: Nur 55,5 Prozent der Kinder konnten als sprachlich normal entwickelt gelten; bei 25,6 Prozent wurden leichtere Störungen festgestellt, bei 18,9 Prozent schwere Störungen, die unbedingt eine Behandlung erfordert hätten. Dem naheliegenden Einwand, dass in Berlin besonders viele Kinder mit Migrationshintergrund leben, begegneten die Forscher durch eine Datei der Kinder aus rein deutschsprachigen Familien: Darin zeigte sich ein Anteil von 28,5 Prozent mit Förderbedarf oder sogar erhöhtem Förderbedarf trotz deutscher Muttersprache.

Eine Epidemie ohne Ende?

Die Neigung mancher Skeptiker, in den Berliner Ergebnissen einen untypischen «Ausreißer» zu sehen, der für die meisten Regionen Deutschlands nicht repräsentativ sei, stieß in der Öffentlichkeit nicht unbedingt auf Widerhall, nachdem 2001 die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie mit ihren für Deutschland bedenklich schwachen Ergebnissen einen Schock ausgelöst hatte, der grundsätzliche Fragen aufwarf und in den folgenden Jahren in der Bildungslandschaft viel bewegte. Besonders nach der sogenannten Baby-PISA-Studie von 2004 wurde der Fokus der Bildungspolitik stark auf die frühe Kindheit gelenkt, und damit auch auf das Problem der Sprachentwicklungsstörungen im Vorschulalter. Diese hatten damals deutschlandweit bereits einen Stand von durchschnittlich 25 Prozent erreicht.

Nach und nach brachten daraufhin die Bundesländer mit viel Geld besondere Fördermaßnahmen auf den Weg. So anerkennenswert diese Bemühungen auch waren – einen spürbaren Erfolg hatten sie nicht: 2012 meldete der Arztreport der Krankenkasse Barmer GEK, dass die neuesten Untersuchungen im sechsten Lebensjahr im Mittel schon bei 34 Prozent bzw. bei jedem dritten Kind zur Diagnose «Sprachstörung» führten. 24 Damit habe sich, so betonten die Autoren, der Anteil gegenüber 2004 um 25 Prozent erhöht. Das bedeutet 3 Prozent pro Jahr! Inzwischen dürfte er noch weiter gestiegen sein, und man wagt sich kaum auszurechnen, wohin die Entwicklung noch führen wird, wenn ihr nicht Einhalt geboten werden kann.

Die anfänglichen Vermutungen, Sprachentwicklungsstörungen seien ein isoliertes Phänomen, das sich überwiegend bei Kindern aus sozial schwachen Familien und Familien mit Migrationshintergrund finde, haben sich nicht bestätigt. Zwar ist in der Tat in solchen Familien meist ein höherer Anteil sprachgestörter Kinder zu finden; aber es sind durchaus auch Kinder von Akademikern und aus der Mittelschicht davon betroffen, selbst wenn sie rein deutschsprachig aufgewachsen sind. Offensichtlich ist das Auftreten der Störungen nicht an bestimmte soziale Schichten oder Bildungsniveaus gebunden, sodass nach anderen Ursachen gesucht werden muss.

Auf der Suche nach den Ursachen

Die angeführten Fakten können niemanden gleichgültig lassen, der sich verantwortlich fühlt für eine gelingende Erziehung und Bildung der Kinder. Die gesamte Gesellschaft wird sich die Frage stellen müssen: Was können wir tun, um einer so katastrophalen Entwicklung zu begegnen? Wo liegen die Ursachen?

In welche Richtung wir für ein tieferes Verständnis des Problems zu blicken haben, zeigt uns die Beobachtung von Kinderärzten, dass frühkindliche Sprachentwicklungsstörungen in der Regel nicht isoliert auftreten, sondern zusammen mit einer ganzen Reihe weiterer Defizite, vor allem im Bereich der motorischen und sensorischen Fähigkeiten.25 Dieser Befund unterstreicht, dass der Spracherwerb des Kindes in dem viel größeren, umfassenderen Zusammenhang seiner sensomotorischen, seelischen und geistigen Entwicklung gesehen werden muss, und die wird maßgeblich beeinflusst durch die Einwirkungen der Umgebung, die es vorfindet.

Eine der Bedingungen, die für das Kind unverzichtbar sind, ist die Sprache der Erwachsenen. Es ist seit dem Altertum bekannt, dass Kinder die Sprechfähigkeit nicht aus sich heraus lernen können, sondern nur, wenn sie mit sprechenden Erwachsenen zusammen sind. Deren Vorbild wird benötigt, ebenso wie sie das Vorbild aufrecht stehender und gehender Menschen benötigen, um ihren Körper gegen die Schwerkraft aufrichten zu können.

Wie steht es aber in unserer Zeit mit dem sprachlichen Vorbild für die Kinder?

Durch Jahrtausende hindurch umgab Sprache die Menschen so natürlich wie die Atemluft. Kinder wuchsen ganz von selbst in sie hinein, das Sprechenlernen schien eine Naturgabe zu sein. Hätte jemand Eltern belehren wollen, dass sie mit ihrem Kind genügend sprechen müssten, hätte man das für einen Witz gehalten, gerade so, als wäre man ermahnt worden zu atmen. Aber das einst so Selbstverständliche ist heute nicht mehr selbstverständlich, und es war kein Witz, als sich eine führende deutsche Krankenkasse dazu entschloss, unter dem Titel Sprich mit mir! ein Buch für Eltern herauszubringen, das nach einleitenden Informationen zur Sprachentwicklung die folgenden achtzig Seiten darauf verwendete, den Eltern Tipps und Vorschläge zu unterbreiten, was sie mit ihrem Kind sprechen könnten!26

Freilich geschah das nicht ganz uneigennützig: Es wäre für die Krankenkassen unbezahlbar, wenn jedes vierte oder dritte Kind Sprachheilschulen aufsuchen müsste, abgesehen davon, dass es gar nicht genügend Fachkräfte gäbe, um dem Ansturm gerecht zu werden. Prophylaxe schien angesagt. Dazu aber muss man die Ursachen genauer kennen, und hier machten es sich die Fachleute bei allem guten Willen zu einfach, indem sie sich mit einer monokausalen Erklärung zufriedengaben, die der Vielschichtigkeit des Problems nicht gerecht werden konnte.

Ein unzureichender Erklärungsversuch

Phoniater, Kinderärzte und Therapeuten waren sich von Anfang an darin einig, dass die Zunahme der Sprachentwicklungsstörungen nur in geringem Maße auf medizinische Faktoren (wie z. B. Hörstörungen) zurückzuführen ist. Sie machten in erster Linie die zunehmende Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Kind dafür verantwortlich, und die sei auf die veränderten soziokulturellen Bedingungen zurückzuführen: auf den rasanten gesellschaftlichen Wandel, Stress und Trennungskonflikte, unvollständige Familien und berufliche Probleme, erhöhten Wettbewerbsdruck und dergleichen mehr, sodass Eltern immer weniger Zeit für ihre Kinder hätten. «Durchschnittlich bleiben einer Mutter pro Tag nur etwa zwölf Minuten, um mit ihrem Sprössling ein richtiges Gespräch zu führen», behauptete der Sprachtherapeut Theo Borbonus schon 1997.27

Das Problem auf die Zeitnot der Eltern zurückzuführen, die von den Zwängen des modernen Lebens bedrängt seien, mag auf den ersten Blick einleuchtend sein, hält aber einer kritischen Prüfung nicht stand. Richtig ist zwar, dass sicherlich in vielen Familien die Alltagskommunikation zunehmend karg und rudimentär geworden ist, sodass den Kindern kein ausreichendes Vorbild für ihren Spracherwerb geboten wird. Dabei ist wohl hauptsächlich an Familien in prekären Lebenslagen zu denken. Richtig ist aber auch das Gegenteil: Immer häufiger trifft man in den letzten Jahren auf junge, pädagogisch ambitionierte Eltern, die mit ihren Kindern unendlich viel reden; und doch treten Sprachentwicklungsstörungen auch bei Kindern aus den wirtschaftlich besser gestellten Kreisen der Mittelschicht oder sogar aus akademischen Haushalten auf, wie schon erwähnt. Das ständig sprudelnde kopfig-intellektuelle Erklären und Belehren entspringt dort einer ernsthaften Bildungsabsicht, verfehlt aber die wirklichen Bedürfnisse des Kindes, wie in den späteren Kapiteln dieses Buches noch zu besprechen sein wird. Mehr mit den Kindern zu sprechen – dieses Rezept allein greift also noch nicht.

Fragwürdig ist an der zitierten Argumentation ferner die Tendenz, heutige Eltern als zwanghaft Getriebene eines härter und härter werdenden Arbeitslebens hinzustellen, die aus purer Not nur noch wenige Minuten am Tag für ein Gespräch mit ihrem Sprössling erübrigen könnten. Es lässt sich unschwer beweisen, dass heutzutage fast ausnahmslos jedem Elternteil im privaten Rahmen eine beträchtliche Zeitspanne zur Verfügung steht, deren Nutzung völlig in die Freiheit des Einzelnen gestellt ist, die aber geradezu zwanghaft zum Fernsehen verwendet wird, ergänzt durch Computer und Smartphone.

Welches Ausmaß allein schon der Fernsehkonsum im Laufe der Jahrzehnte angenommen hat, wird deutlich, wenn man sich den Anstieg der reinen Sehzeit28 vergegenwärtigt: Sie betrug 1964 im Gesamtschnitt der bundesdeutschen Bevölkerung 70 Minuten pro Tag. Die Sehzeit der Erwachsenen (ab 14 Jahre) stieg dann mit leichten Schwankungen kontinuierlich an und betrug 2016 unter Einschluss der Nichtfernseher bereits 239 Minuten (knapp 4 Stunden) und ohne die Nichtfernseher sogar 333 Minuten pro Tag, also 5 ½ Stunden!29 Gewiss, das ist ein Mittelwert, in den die exorbitanten Sehzeiten der Senioren mit eingegangen sind. Aber selbst wenn in der Realität der einzelnen Familie nur zwei oder drei Stunden ferngesehen wird, bliebe den Eltern ohne großen Verzicht immer noch ein Vielfaches der angeblichen 12 Minuten pro Tag für Gespräche mit dem Kind, wenn sie nur wollten.

Die bequeme Lüge

Ja, wenn sie nur wollten – das ist der Kern des Problems, der eine einfache Lösung verhindert. Warum sagen die besorgten Fachleute und die Krankenkassen nicht laut, dass der Grund für das Verstummen des Eltern-Kind-Gesprächs keineswegs ein sozioökonomischer ist, sondern ein Suchtproblem, das so alltäglich geworden ist, dass es schon als völlig normal gilt, die Dosis des Fernsehens fortlaufend zu erhöhen und dabei sich selbst zu belügen, man habe keine Zeit für das Kind? Wagt es niemand, öffentlich der Vielzahl von Eltern zu widersprechen, die den Verdacht der Süchtigkeit empört zurückweisen, obwohl es längst kein Geheimnis mehr ist, dass die elektronischen Medien ein erhebliches Suchtpotenzial besitzen und die Zahl der gefährdeten Nutzer mittlerweile in die Millionen geht?30

Warum gibt es keine breitenwirksame Aufklärung darüber, dass die Eltern ihre Kinder doppelt schädigen? Zum einen wird durch den ausgedehnten Fernsehkonsum der Eltern den Kindern die entwicklungsnotwendige sprachliche Zuwendung vorenthalten, und zum anderen vererbt man ihnen auch noch die eigene Sucht, indem man zulässt, dass sie sich Tag für Tag an einen nicht gerade geringen und womöglich auch noch unkontrollierten Fernsehkonsum gewöhnen – beste Voraussetzungen für die Veranlagung einer Abhängigkeit.31

Dass dies keine abstrakte Befürchtung ist, sondern eine reale Gefahr, zeigt sich schon an den jährlich erscheinenden Statistiken in Deutschland, die seit zwei Jahrzehnten für die Gruppe der Kleinsten (drei bis fünf Jahre) im Schnitt eine tägliche Verweildauer32 vor dem Fernseher von deutlich mehr als zwei Stunden ausweisen. Dass die Werte seit 2013 eine leicht sinkende Tendenz aufweisen, hat seinen Grund nicht in wachsender Einsicht der Eltern, sondern in der wachsenden Nutzung anderer Bildschirmmedien wie z. B. Internet.33

Schon 2012 endete ein Forschungsbericht im Handbuch für Internet- und Computersucht mit der Feststellung: «Das Freizeitverhalten der Kinder und Jugendlichen war noch nie in so hohem Maße von Bildschirmmedien dominiert.»34 Wen wundert es da, dass die Drogenbeauftragte der Bundesregierung 2015 der Presse mitteilen musste: «Viele Jugendliche und Erwachsene zeigen bereits heute Anzeichen einer Medienabhängigkeit. Computerspielsucht oder Internetabhängigkeiten werden zunehmend thematisiert.»35

Zu diesem Bild gehört auch noch die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche aus schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen besonders stark gefährdet sind, da paradoxerweise gerade die ärmsten Familien bestens mit Medien ausgestattet sind und die Nutzungsdauer dort Spitzenwerte erreicht.36 Hinsichtlich der schulischen Leistungen solcher Kinder stellte der Kriminologe Christian Pfeiffer fest: «Je mehr Zeit Schülerinnen und Schüler mit Medienkonsum verbringen und je brutaler dessen Inhalte sind, desto schlechter fallen die Schulnoten aus.»37 Die Verlierer bei der PISA-Studie seien eindeutig Opfer ihres Medienkonsums. – Die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich dürfte das Problem in Zukunft noch verschärfen, wenn immer größere Bevölkerungsteile in die Armut abgedrängt werden, wie es sich schon jetzt abzeichnet. Das Medienproblem ist also verquickt mit der problematischen Entwicklung unseres Wirtschafts- und Finanzsystems, was seine Lösung nur umso schwieriger macht.

Ungeahnte Spätfolgen

Eltern finden es sehr bequem, wenn die Kinder längere Zeit nicht stören, weil der Bildschirm sie in den Bann zieht und ihre normale Umtriebigkeit eine Zeitlang blockiert. Dass dies aber kein harmloses Vergnügen ist, sondern eine allmählich sich aufbauende Blockade der gesamten Kindesentwicklung bewirkt und daher eine subtile Form von Kindesmisshandlung darstellt, davon will man nichts wissen, obwohl die seriöse Medienforschung eine Fülle von Indizien zusammengetragen hat, dass regelmäßiger Fernsehkonsum in der Kindheit ein erhebliches Risiko birgt.38 Beispielhaft sei hier ein Meilenstein der Forschung hervorgehoben: Die methodisch exzellente Langzeitstudie von Hancox, in der die Entwicklung von rund tausend Kindern bis zu deren 26. Lebensjahr beobachtet wurde, ergab nach dem Abschluss 2004/2005 ein hochsignifikantes Risiko für verschiedene gesundheitliche Gefährdungen bei denjenigen Probanden, die in ihrer Kindheit und Jugend im Schnitt mehr als zwei Stunden täglich ferngesehen hatten. (Zum Vergleich: In Deutschland betrug 2016 das Mittel bei Kindern bis 13 Jahren 150 Minuten täglich, also zweieinhalb Stunden.39) Ergänzend wies fünf Jahre später der bekannte amerikanische Forscher Dimitri Christakis einen signifikanten Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum in der Kindheit und dem Auftreten von Sprachdefiziten sowie Aufmerksamkeitsstörungen nach.40

Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Hancox-Studie, das man bildungsbeflissenen Eltern ins Stammbuch schreiben sollte, war: Die Probanden mit durchschnittlich mehr als dreistündigem Fernsehkonsum im Kindesalter erreichten nur geringe oder gar keine Schulabschlüsse, und zwar – notabene – unabhängig von ihrer Intelligenz und vom sozioökonomischen Status. Die Probanden mit dem niedrigsten Fernsehkonsum in der Kindheit hingegen hatten die höchste Zahl an Universitätsabschlüssen vorzuweisen, wiederum unabhängig von anderen Faktoren.41 Eine zusätzliche, 2013 publizierte Teilauswertung der in der Hancox-Studie erhobenen Daten führte zu einem Ergebnis, das jedes Elternteil betroffen machen müsste: Wer in der Kindheit und Jugend exzessiv dem Fernsehen gefrönt hatte, zeigte im Unterschied zu den Probanden mit geringerer Fernsehnutzung ein signifikant erhöhtes Risiko zu antisozialem Verhalten, Aggressionsneigungen und Kriminalität. Die Wahrscheinlichkeit, als junger Erwachsener strafrechtlich verurteilt zu werden, so die Zahlen, stieg mit jeder Stunde mehr Fernsehen (im Tagesschnitt der Kindheit und Jugend) um 30 Prozent, auch hier unabhängig von ihrer Intelligenz und vom sozioökonomischen Status. Die Autoren konnten zwar nicht ausschließen, dass auch noch andere Faktoren eine Rolle spielen, doch reichte ihnen die Beweislage, um die Empfehlung der American Academy of Pediatrics zu unterstützen, dass Kinder auf keinen Fall mehr als ein bis zwei Stunden pro Tag fernsehen sollten.42

Diese aufsehenerregenden, wissenschaftlich bestens gesicherten Befunde führen uns drastisch vor Augen, was auf dem Spiel steht. Es geht nicht isoliert um die Behebung sprachlicher Defizite; es geht um die Grundlagen der körperlichen, seelischen und geistigen Gesundheit und Leistungsfähigkeit junger Menschen für ein ganzes Leben! Aber davon ist noch wenig ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, zu wenig, um eine Wende herbeizuführen. Die Medienindustrie jedoch erkannte frühzeitig die Gefahr, die ihrem Geschäft drohte durch das allmähliche Bekanntwerden der immer krasseren Folgen des Bildschirmkonsums im Kinderzimmer. Und sie sorgte vor. Davon berichtet der folgende Abschnitt.

Das Fernsehen als Heilsbringer und Sprachförderer?

Es ist heute fast vergessen, dass der bedrohte Spracherwerb der Kinder vor rund einem halben Jahrhundert schon einmal Gegenstand öffentlicher Debatten war. Damals lautete das Stichwort «Bildungsbarrieren»: Man wies darauf hin, wie unsäglich schwierig es in den USA für Kinder sei, in ihrer Entwicklung ein annehmbares sprachliches Können zu erreichen, weil der «melting pot» der Vereinigten Staaten mit seinen Einwanderern aus aller Herren Länder und dem entsprechenden Sprachengemisch in großen Teilen der Bevölkerung zu einer Alltagssprache geführt habe, die mit ihrem erbärmlich niedrigen Niveau den Kindern kein geeignetes sprachliches Vorbild bieten könne. Ausgehend von der Tatsache, dass Kinder beim Erlernen der Sprache so sehr auf das Vorbild angewiesen sind, dass sie über das dort gebotene Niveau nicht hinauskommen, wurde die Befürchtung laut, dass unzähligen amerikanischen Kindern allein aus sprachlichen Gründen, unabhängig von ihrer Intelligenz, keine höhere Bildung möglich sei und damit ein gesellschaftlicher Aufstieg verhindert würde – ein Zustand, den sich eine moderne Industrienation gar nicht leisten könne. Auch in Deutschland wurde unter den Studenten während der sogenannten 68er-Revolution diskutiert, wie man diese menschenunwürdigen Bildungsbarrieren beseitigen könne.

Es dauerte aber nicht lange, da hatten die pragmatisch gesinnten Amerikaner eine, wie sie meinten, durchschlagende Lösung des Problems gefunden. Man könne jetzt, so hieß es, buchstäblich in jedem amerikanischen Haushalt den Kindern jeden Tag über viele Stunden eine Sprache von bester Qualität bieten, gesprochen von ausgebildeten Sprechern, grammatisch und syntaktisch korrekt, mit reichem Wortschatz und hohem Niveau – nämlich am Fernsehschirm. In den Siebzigerjahren hatten die USA eine fast hundertprozentige Versorgung aller Haushalte im Lande mit dem gefeierten neuen Medium «Television» erreicht, sodass das Versprechen einer flächendeckenden Bildungsoffensive auf einfache, billige und höchst effiziente Weise eingelöst werden konnte, wie man glaubte.

Hier stoßen wir auf einen bisher noch nicht behandelten Aspekt der Bildschirmnutzung, der für die Pädagogik von großer Bedeutung ist: Das Medium Fernsehen (und später auch der Computer) soll zum Zweck der Bildung und Erziehung genutzt werden. Ähnliches war zuvor mit jedem neuen Medium geschehen, sei es Radio, Film, Tonband oder Sprachlabor, die nach ihrer Einführung sogleich als pädagogisches Nonplusultra gepriesen wurden, das Besseres leisten werde als die traditionellen Lehrer. Der Medienwissenschaftler Edwin Hübner hat verschiedentlich dargelegt, wie sich das jedes Mal nach relativ kurzer Zeit als Illusion erwies und die hochgestochenen Erwartungen in nichts zerstoben.43

An das Fernsehen und seine weltweite Verbreitung wurden seinerzeit besonders viele Heilserwartungen geknüpft, die hier nicht weiter zu besprechen sind.44 Es ist jedoch nicht damit getan, rückblickend festzustellen, dass sich keine davon erfüllt hat. Denn eines ist geblieben: Für die Eltern kleiner Kinder wurde ein Gedanke in die Welt gesetzt, der zu verführerisch war, um ihn ernüchtert wieder aufzugeben: Wozu sollen wir uns mit der Bildung und Erziehung der Kinder plagen, wenn die Medien das viel besser können als wir?

Die Medienindustrie beeilte sich, diese von ihr geschürte Erwartung nicht zu enttäuschen, und warf sehr bald entsprechende Produkte auf den Markt. Mit aufwendiger Werbung wurden den Eltern kleiner Kinder bestimmte Fernsehsendungen oder spezielle DVDs und Videos schmackhaft gemacht, die förderlich seien für die Sprachentwicklung des Kindes. Um eventuelle Zweifel zu zerstreuen, wurden zu jedem Produkt wissenschaftliche «Studien» oder Gutachten angeführt, die den positiven Effekt bewiesen hätten. Als dann zusätzlich zum Fernseher auch noch der Computer in die Haushalte eingezogen war, boomte das Geschäft mit elektronischen Lernspielen und «Edutainment» aller Art.

Spracherwerb am Bildschirm – ein Flop

Ein perfides Muster wird hier sichtbar: Erst werden die Eltern an ausgiebiges Fernsehen gewöhnt und das Familiengespräch damit zum Verstummen gebracht, und wenn dann bekannt wird, dass die Gefahr von Sprachentwicklungsstörungen droht, bietet sich die Industrie als Retter aus der von ihr selbst verursachten Not an, appelliert an das Verantwortungsgefühl der Eltern und verkauft ihnen hilfreich Software zur Förderung des Kindes, wohlgemerkt mit derselben Technik, die das Problem erzeugte – für Geschäftemacher mit skrupellosem Gewinnstreben eine geniale Strategie.

Man brauchte nur nachzuforschen, wer die Studien und Gutachten finanziert hatte, die von den Herstellern als Beweise für die Wirksamkeit des Produkts angeführt wurden, um zu entdecken, dass bewusste Täuschung vorlag: Seriöse, von der Medienindustrie unabhängige Forscher, die den angeblich förderlichen Effekt solcher Produkte prüften, konnten keinerlei wissenschaftlich haltbare Beweise finden. Ihre eigenen Forschungen kamen übereinstimmend zu einem ganz anderen Ergebnis: Bildschirmmedien sind kein geeignetes Mittel, um den Spracherwerb des Kindes zu fördern. Sie können ihn sogar hemmen.

Dessen ungeachtet ließen sich die Eltern weiterhin von den verlockenden Versprechungen der Medienindustrie betören. Wurde ihnen hier doch vermeintlich die entlastende Möglichkeit eröffnet, ihrer pädagogischen Verantwortung nachzukommen, ohne den bisherigen Lebensstil ändern zu müssen. Erst als 2007 eine brisante Studie der angesehenen amerikanischen Medienforscher Frederick Zimmermann und Dimitri Christakis45 durch die Presse publik wurde, kam es zu einem bösen Erwachen. Die Forscher stellten fest: Die als Lernhilfe deklarierten DVDs und Programme für Kleinkinder (z. B. Baby Einstein, Brain Baby) führen zu keiner nachweisbaren Förderung, und schlimmer noch: sie können sogar die Sprachentwicklung behindern, und zwar besonders im Alter unter 17 Monaten – bei Kindern also, die sich in derjenigen Phase des Spracherwerbs befinden, in der die entscheidenden Grundlagen für die grammatischen und syntaktischen Strukturen gelegt werden.

Hierauf brach in den USA unter den Käufern solcher Lernhilfen ein Sturm der Entrüstung los. Tausende empörter Eltern verklagten z. B. den Walt-Disney-Konzern auf Schadenersatz wegen Schädigung der Bildungsbiografie ihrer Kinder.46 Der Konzern hatte in seiner Werbung vollmundig versprochen, dass sich das Baby bei täglichem Konsum der DVD «Baby Einstein» zu einem Sprachgenie entwickeln werde.

Angriff auf die früheste Kindheit

Da der Skandal aber nur die Lernhilfen betraf, sahen die meisten Menschen offenbar keinen Grund, an dem Fernsehkonsum ihrer Kinder etwas zu ändern. Im Gegenteil: Obwohl sich die amerikanische Akademie für Kinderheilkunde (American Academy of Pediatrics) seit 1999 immer wieder mit dringenden Appellen an die Öffentlichkeit wandte, Kinder unter zwei Jahren auf keinen Fall vor den Bildschirm zu setzen, geschah genau dies in zunehmendem Maße. Vier Jahre nach der zitierten Untersuchung von Zimmermann und Christakis erschien eine Studie, bei der 1.384 Eltern von Kleinkindern im Alter von 0 bis 8 Jahren nach der Bildschirmnutzung ihrer Sprösslinge gefragt worden waren.47 Hier die erschreckenden Befunde, zu denen noch beträchtliche weitere Zeiten für die Nutzung moderner Bildschirmmedien wie Spielekonsolen, Computer, Smartphone, iPod, iPad hinzuzurechnen sind, die ich hier nicht im Einzelnen aufführe:

•30 % der unter zweijährigen Kinder hatten ihr eigenes TV im Kinderzimmer (2005 waren es noch 19 %), bei den 2–4-Jährigen 44 %, bei den 5–8-Jährigen 47 %

•6–23 Monate alt: 40 % der Gruppe sahen täglich TV oder DVD/ Video, im Schnitt 114 Minuten (also fast 2 Stunden)

•6–23 Monate alt: 89 % sahen mit 9 Monaten erstmals TV, 85 % mit 11 Monaten erstmals DVDs oder Videos

•2–4 Jahre alt: Bildschirmnutzung (Nichtnutzer mitgerechnet) im Schnitt 138 Min./Tag

•5–8 Jahre alt: Bildschirmnutzung (Nichtnutzer mitgerechnet) im Schnitt 170 Min./Tag

Die Forscher unterstrichen mit Sorge, dass das TV-Gerät im Kinderschlafzimmer trotz der bekannten Warnungen von Fachleuten bei 42 Prozent aller 0–8-Jährigen und bei 30 % aller Kinder unter zwei Jahren angetroffen wurde. Ihr Kommentar dazu: «These data are a wake-up-call.»48 Aber wird dieser Weckruf wirklich gehört?49

Bei der Folgeuntersuchung im Jahre 2013 zeigte sich ein deutlicher Rückgang der Nutzung traditioneller Bildschirmmedien wie TV, DVD, Videospiele und Computer, dafür aber ein starker Anstieg in der Nutzung modernster Formen der Mediennutzung, wie etwa DVR-Recorder für Programmaufzeichnung zum zeitversetzten Anschauen, Downloads, Programme per Streaming oder «on demand», Apps auf dem Smartphone etc. «Unsere Kleinen sind eben clever», werden die Eltern vielleicht stolz sagen, aber Fakt ist, dass der Umfang der Bildschirmnutzung mit all seinen problematischen Folgewirkungen für das Kind sich nicht verringert hat und sogar eine steigende Tendenz erwarten lässt.

2017 wandte sich die Drogenbeauftragte der Bundesregierung mit einem dringenden Appell an die Öffentlichkeit, die gegenwärtig angestrebte Verstärkung der Digitalisierung in Deutschland nicht nur als Chance zu begreifen, sondern auch als eine akute Gefährdung von Kindern und Jugendlichen. Den Anlass dazu bot ihr die 2017 erschienene BLIKK-Studie, in der Kinder- und Jugendärzte bei den Routine-Untersuchungen U3 bis U9 zu alarmierenden Befunden im Kleinkindalter kamen. Als wesentliche Ergebnisse nannte die Presseerklärung vom 29.5.2017 im Fact-Sheet u. a. folgende «signifikante Zusammenhänge»:

•Fütter- und Einschlafstörung des Säuglings, wenn die Mutter während der Säuglingsbetreuung digitale Medien benutzt.

•Im Alter von 2 bis 5 Jahren: «Motorische Hyperakivität / Konzentrationsstörungen in Verbindung mit der Nutzung von digitalen Bildschirmmedien durch Kinder

•Im Alter von 2 bis 5 Jahren: Sprachentwicklungsstörungen in Verbindung mit täglicher digitaler Bildschirmnutzung der Kinder

•Im Alter von 2 bis 5 Jahren: 69,5 % können sich weniger als zwei Stunden selbständig beschäftigen ohne die Nutzung von digitalen Medien

Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, sei hier betont, dass es in meiner Darstellung nicht um eine grundsätzliche Medienfeindlichkeit geht. Es geht um Medienmündigkeit,50 die auf jeden Fall erreicht werden muss, wenn junge Menschen unter dem wachsenden Einfluss der Weltmacht Medien ihrer Gesundheit und Autonomie nicht verlustig gehen sollen. Medienmündigkeit kann jedoch nur gelingen, wenn ihr eine gelingende Kindheit vorausgeht. Das bedeutet: Wer in der Kindheit ungestört ein hohes Maß an Resilienz erwerben durfte, kann sich als Erwachsener dem gewaltigen Suchtpotenzial der elektronischen Medien gegenüber souverän behaupten.

Zu den Wesensmerkmalen des Kindesalters gehören aber nicht Distanz und kritisches Urteil, Selbstkontrolle und Autonomie, wie sie der Mediennutzer braucht, sondern genau das Gegenteil: Feste Bindung an die Bezugsperson, rückhaltlose Hingabe an die Sinneseindrücke, freudiges Eintauchen in die Phänomene und Ereignisse der Welt, Bereitschaft sich prägen zu lassen usw., und eben daraus speist sich das unerschöpfliche Lernpotenzial des Kindes, aber auch seine hohe Verwundbarkeit. Deshalb braucht die Kindheit Schutz vor dem zu frühen Einfluss der Medien, die vom Menschen ganz anderes fordern.

Es ist mir nicht erklärlich, warum es so schwer zu verstehen sein soll, dass die restlose Offenheit des Kindes seine Achillesferse ist, über die der Erwachsene zu wachen hat, damit das Fundament für seelische und geistige Gesundheit gelegt werden kann, was eben nur in den ersten Lebensjahren nachhaltig möglich ist. Medienkompetenz beginnt gesunderweise zunächst mit Medienabstinenz. Das klingt in den Ohren vieler Zeitgenossen antiquiert und weltfremd, erweist sich aber durch die fortschreitende wissenschaftliche Erforschung der kausalen Zusammenhänge zwischen Mediengebrauch und Gesundheitsentwicklung (oder besser gesagt: Krankheitsentwicklung) in Kindheit und Jugend immer mehr als richtig.51

Elektronisches Spielzeug hat Folgen für den Spracherwerb

In jüngster Zeit hat die Forschung überraschend einen weiteren Einflussfaktor ausgemacht, der die Sprachentwicklung schon in den ersten Anfängen negativ beeinflusst: das elektronische Spielzeug. 2016 wurden in den USA die Ergebnisse einer Studie publiziert, die das sprachliche Verhalten von Eltern beobachtet hatte während der Begleitung ihrer Kleinkinder (10 bis 16 Monate alt) beim Spiel mit drei verschiedenen Arten von Spielzeug: mit elektronischem Spielzeug, traditionellem Spielzeug und mit Bilderbüchern.52 Die Auswertung führte zu dem Resultat: Das Spielen mit elektronischem Spielzeug ist verbunden mit einer deutlich geringeren Quantität und Qualität des sprachlichen Inputs durch die Eltern als das Spiel mit Bilderbüchern oder traditionellem Spielzeug. Die Autorin schließt daher mit der Empfehlung: To promote early language development, play with electronic toys should be discouraged. Um die frühe Sprachentwicklung des Kindes zu fördern, sollte das Spielen mit elektronischem Spielzeug vermieden werden.

Das Interesse der Wissenschaft an der Frage, wie der Trend zu immer mehr elektronischem und digitalem Spielzeug das Spiel des Kindes beeinflusst und besonders auch die Interaktion der Eltern mit dem Kind während des Spiels, nimmt zu.53 In diesem Zusammenhang verdient die Entdeckung unterschwelliger Einflüsse auf das Kommunikationsverhalten der Eltern besondere Beachtung. Die zitierte Studie zeigt, dass die Quantität und die Qualität der elterlichen Äußerungen während des Umgangs ihres Kindes mit elektronischem Spielzeug nicht deshalb nachlassen, weil die Eltern nur halbherzig bei der Sache wären; der Effekt stellt sich paradoxerweise in einer Situation ein, in der sich die Eltern dem Kind bewusst zuwenden und sich bemühen, es zu fördern und anzuregen. Unbemerkt konterkariert das elektronische Spielzeug die gute Absicht. Dieser Umstand muss uns zu denken geben.

Was wir weiter oben als «Funkstille» zwischen Eltern und Kind beobachten konnten, nimmt hier schon seinen Anfang, ohne dass es den Eltern auffällt. Sie glauben im Gegenteil, dem Kind eine Freude zu machen durch ein modernes Spielzeug mit grellen Sinnesreizen, und ahnen nicht, dass sie damit dem Kind in Wirklichkeit ein fragwürdiges Geschenk machen (das übrigens nicht nur in sprachlicher Hinsicht Fragen aufwirft). So komplex also können die Ursachen der Sprachentwicklungsstörungen sein, und man darf gespannt sein, welche weiteren problematischen Einflüsse eine unabhängige Forschung künftig noch zutage fördern wird.

Massenexperiment an Millionen Kindern

Betrachten wir nun abschließend, wie sich die Lage insgesamt darstellt, so zeichnen sich im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte drei deutlich verfolgbare Entwicklungsstränge ab:

1. Seit den Neunzigerjahren setzt beobachtbar ein allmähliches Verstummen des Familiengesprächs zwischen Eltern und Kind ein. Die Fernsehzeiten der Eltern steigen kontinuierlich an.

2. Parallel dazu nimmt der tägliche Fernsehkonsum der Kinder zu, das Einstiegsalter sinkt. Mit fortschreitender Technik kommen weitere Bildschirmmedien hinzu.

3. Zeitgleich steigt das Ausmaß der Sprachentwicklungsstörungen von Kindern im Vorschulalter immens an.

Die Ursache für die grassierenden Sprachentwicklungsstörungen sahen die Fachleute in dem allmählichen Versiegen des sprachlichen Vorbilds der Erwachsenen. Mit Blick auf die oben referierten Durchschnittswerte im Fernsehkonsum der Erwachsenen leuchtet das ein. Nun ist es aber nicht so, dass den Kindern nur etwas weggenommen wurde; sie erhielten quasi als Ersatz dafür die Sprache, die ihnen in den Fernsehprogrammen entgegenkam. Was das aber menschheitsgeschichtlich bedeutete, ist meines Wissens in den öffentlichen Bildungsdebatten nie thematisiert worden:

Durch bald drei Jahrzehnte wurden Millionen von Kindern in Deutschland, in den USA und vielen anderen Ländern der Welt faktisch einem Massenexperiment