Die Sprache des Terrors - Philippe-Joseph Salazar - E-Book

Die Sprache des Terrors E-Book

Philippe-Joseph Salazar

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Beschreibung

Der Mann, der die Sprache des IS spricht

Worte können unzählige Menschen zu Taten antreiben, wie man an der Propaganda der Dschihadisten sehen kann. Wer sind die, lautet eine von Salazars Ausgangsfragen, die er sogleich selbst beantwortet: ein Feind, dem wir noch nicht einmal einen einheitlichen Namen geben können. Und das ist nicht das geringste unserer Probleme. Solange wir uns weigern zuzuhören und zu sehen, wen wir hier vor uns haben, werden wir weiterhin auf den Straßen und öffentlichen Plätzen unserer eigenen Städte angegriffen werden – wie es in Paris, Brüssel und andernorts geschehen ist. Der Dschihadismus bedient sich einer schlagenden Redekunst, die jedoch nichts mit dem zu tun hat, was wir in der Politik für logisch, vernünftig und überzeugend halten, so Salazars Analyse. Wollen wir den Kampf mit dem IS aufnehmen, müssen wir verstehen, worin die Wortgewalt und Überzeugungskraft seiner Sprache besteht. Und – falls man es bei den Waffen der Worte belassen will – islamisch denken, sprechen und argumentieren.

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Zum Buch

Worte können unzählige Menschen zu Taten antreiben, wie man an der Propaganda der Dschihadisten sehen kann. Zwei Jahre lang hat der Philosoph und Rhetorikprofessor Philippe-Joseph Salazar alle Äußerungen des IS einer genauen Untersuchung unterzogen. Denn, so seine Botschaft, wenn wir den Kampf mit ihm aufnehmen wollen, müssen wir verstehen, worin die Wortgewalt und Überzeugungskraft seiner Sprache besteht. Und – falls man es bei den Waffen der Worte belassen will – islamisch denken, sprechen und argumentieren.

Zum Autor

PHILIPPE-JOSEPH SALAZAR, 1955 in Casablanca geboren, hat an der Ecole Normale Supérieure Philosophie studiert und ist Schüler von Jacques Derrida, Roland Barthes und Emmanuel Levinas. Seine Arbeiten und Publikationen zum Thema politische Versöhnung haben ihm internationale Anerkennung verschafft. Von 1998 bis 2004 war er Programmdirektor für Rhetorik und Demokratie am renommierten Collège International de Philosophie in Paris, seit 2004 ist er Professor für Rhetorik an der Universität Kapstadt. Für Die Sprache des Terrors erhielt er 2015 den Prix Bristol des Lumières.

PHILIPPE-JOSEPH SALAZAR

DIE SPRACHE DES TERRORS

Warum wir die Propaganda des IS verstehen müssen, um ihn bekämpfen zu können

Aus dem Französischen von Christiane Seiler

Pantheon

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Paroles Armées. Comprendre et combattre la propagande terroriste bei Lemieux Éditeur, Paris. Die deutsche Ausgabe beruht auf der 2., aktualisierten und erweiterten Auflage.

Erste AuflageAugust 2016

Copyright © 2015 Lemieux Éditeur

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe bei Pantheon Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-19978-4V001

www.pantheon-verlag.de

Für Erik Doxtader; er hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ISIS eine Verdopplung des englischen Verbs für »sein« in der dritten Person Singular ist (is, is).

INHALT

PROLOGDIE RHETORISCHE MACHT DES KALIFATS

»Allahu akbar«

Die Macht der rednerischen Arabeske

Die logische Waffe der Analogie

Kalifat und wörtliche Lektüre des Korans

KAPITEL IDER KALIF SPRICHT

Eine Strategie der symbolischen Aktion

Die Machtergreifung durch das Wort

KAPITEL IIDAS TERRITORIUM DES TERRORS BENENNEN

Der edle und schützende Terror

Das idealisierte Territorium des Terrorismus

Das vielgestaltige Territorium des Kalifats

KAPITEL III»TERRORISMUS« – EINE LINGUISTISCHE UNTERWANDERUNG

Was genau meinen Sie mit dem Wort »Terrorist«?

Die Koranisierung der Sprache

Inwiefern unsere Sprache falsch ist

KAPITEL IVDAS DIGITALE KALIFAT

Das Werkzeug Internet

Der Videoclip Stop-Djihadisme oder der Irrweg

Ästhetisierung des Terrorismus

Eine asymmetrische Rhetorik

KAPITEL VSTARKE REDE GEGEN SCHWACHE REDE

Das rhetorische Ultimatum

Der alles beherrschende Dialog

Die Macht des Appells

Predigt und Ansprache

Eine verlorene Generation

KAPITEL VIDIE DSCHIHADISTISCHE ÄSTHETIK

Über den Einfluss

Über den Gehorsam

KAPITEL VIIKALIFAT UND FEMINISMUS

Feministische Codes

Feminismus im Kalifat

KAPITEL VIIIKRIEGERISCHE MÄNNLICHKEIT

Ethik der Zurschaustellung

Der Nahkampf

KAPITEL IXISLAMISCHE PORNO-POLITIK

Wie »das da« benennen?

Opferriten der Porno-Politik

Von der Beleidigung zur Verstümmelung

KAPITEL XUNERKLÄRLICHER TERRORIST?

Erklärungen zur Beruhigung der Bevölkerung

Die terroristische Begründungskette

KAPITEL XIWIE UNSER DISKURS KONTROLLIERT WIRD

Die Fabrik des Realen: Töne und Bilder

Die Diskurskontrollen

KAPITEL XIIDAS DSCHIHADISTISCHE VOLK

Der dschihadistische Voluntarismus

Was den dschihadistischen Populismus charakterisiert

KAPITEL XIIIRADIKALE FEINDSCHAFT

Die Partisanenguerilla

Ein globaler politischer Krieg

Ein radikaler Widerstreit

Neun Annäherungen an den Dschihadismus

EPILOGPARIS, 13. NOVEMBER 2015

Die Methodologie des Kalifats

Der mediale Anschlag, Phase 1: Die Siegesmeldung

Der mediale Anschlag, Phase 2: Die Propaganda

Die Macht der Literatur

ANMERKUNGEN

PROLOGDIE RHETORISCHE MACHT DES KALIFATS

Cedant arma togae. In dieser Redewendung wird pazifistisches Wunschdenken gerne auf den Punkt gebracht: Die Waffen mögen dem Wort weichen. Aber das ist eine Illusion. Waffen lieben Worte. Und aus den Worten werden neue Waffen.

Während die Öffentlichkeit der westlichen Welt in der Regel ignoriert, wenn in den vom Kalifat kontrollierten Wilayat tagtäglich Terroranschläge gegen Menschen verübt werden, musste sie nach den Blutbädern der vergangenen Monate (Enthauptungen von Journalisten, humanitären Helfern und unvorsichtigen Reisenden vor laufender Kamera, Verfolgung von Minderheiten, die sich weigerten, zum Islam zu konvertieren, sowie zahlreichen erfolgreichen oder vereitelten Attentaten in Europa) und nach der Zerstörung antiker Stätten doch zur Kenntnis nehmen, dass sowohl die Aktionen der Soldaten des Kalifats im Kampfgebiet als auch die Blutbäder, die seine Anhänger in unseren Ländern anrichten, von Worten begleitet werden.1 Nach der blutigen Strafaktion gegen die Zeitschrift Charlie Hebdo feuerte das Kalifat eine zweite Salve ab, diesmal mit Worten; vor dem Hintergrund des Eiffelturms rief es seine Anhänger zu neuen Angriffen auf, auf dem »verfluchten« Boden dieser Nation:

Für alles gibt es eine Zeit, eine Zeit zu leben und eine Zeit zu sterben, eine Zeit zu weinen und eine Zeit zu lachen, eine Zeit zu lieben und eine Zeit zu hassen. Jetzt ist die Zeit zum Handeln gekommen, die Zeit, der Religion beizustehen: mit der Sprache, dem Herzen, den Gliedern, der Feder und dem Säbel.2

Tatsächlich Feder und Säbel. Diese Beschimpfungen und Attacken haben uns überrascht. Und dann kam der 13. November 2015.

Dabei hat Frankreich praktisch seit seiner Gründungszeit eine Nähe zum Islam. Das Rolandslied, unser erstes Literaturdenkmal und das erste europäische Versepos überhaupt, erzählt, wie sich der Recke an Mariä Himmelfahrt, dem 15. August 778, opferte, um die vorrückenden Sarazenen aufzuhalten. Wir Franzosen haben von allen Ländern Europas wahrscheinlich die umfangreichste Literatur über Mohammed hervorgebracht:3 Der Benediktinermönch Pierre le Vénérable, im 12. Jahrhundert Abt von Cluny im Burgund, fertigte die erste Übersetzung des Korans in eine europäische Sprache an. Und dennoch erstaunt uns der muslimische Diskurs immer wieder aufs Neue, vergessen wir von Jahrhundert zu Jahrhundert die vielen Lehren aus dieser lang andauernden und schwierigen Beziehung.

Was uns besonders verwirrt, ist das »rhetorische Material« des Islam; und gerade über diesen Umweg wollen wir uns der Frage nähern, die dieses Buch aufwirft: Wie lassen sich die Wortgewalt und die Überzeugungskraft des Dschihadismus und vor allem des Kalifats nachvollziehen?

»Allahu akbar«

Zunächst sollten wir uns klarmachen, wie wichtig, rhetorisch gesehen, das muslimische Glaubensbekenntnis, die Schahada4, ist. Es ist beispielhaft (für die Gläubigen) und besonders (in der Beziehung zu anderen Glaubensrichtungen) zugleich: Der Islam ist eine Religion, zu der man gehört, sobald man eine kurze Formel ausspricht (oder direkt nach der Geburt hört): »Ich bezeuge: Es gibt keinen anderen Gott als Allah, und ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Allahs ist.« Der Beitritt zum Christentum erfordert hingegen eine Vorbereitung, das Studium des Katechismus, ein Gespräch mit dem Priester, die Taufe, kurzum, eine ganze Reihe freiwilliger Handlungen, die auch überprüft werden. Der Beitritt zum Islam besteht nur in diesem einen kraftvollen, schnellen Sprechakt.5 Wörtlich bedeutet das Wort »Koran« Rezitation: Die mündliche, laut vorgetragene Rede liegt in der Natur des muslimischen rhetorischen Modells.

Dieses schlichte muslimische Glaubensbekenntnis (das mit einer rituellen Waschung einhergeht) strukturiert alle Wortäußerungen des IS und des Dschihadismus.6 Seine Schlichtheit bildet die Basis jeder Handlung, denn sie zeugt von der Einzigartigkeit des muslimischen Gottes und von der Wahrhaftigkeit des prophetischen Wortes, das im Koran niedergeschrieben wurde. Bei Anschlägen der Stadtguerilla oder bei Kampfhandlungen konzentriert und bündelt sich die Schlichtheit in dem einen Ausruf »Gott ist groß«. Sie wird verstärkt und erläutert in den feierlichen Reden, die die Milizionäre des Kalifats während der Enthauptungen und anderen Hinrichtungen halten. Die Kürze des Glaubensbekenntnisses, zusammengefasst in dem einen gläubigen Aufschrei, und der Wortreichtum der Reden, die das Glaubensbekenntnis mit Argumenten untermauern, gehören also zusammen.

Wer sich die selbstverständliche Schlagkraft dieses Allahu akbar vergegenwärtigen will, der sehe sich Videos an, die Enthauptungen, Steinigungen, Fensterstürze und Kreuzigungen zeigen, begleitet allein von diesen beiden Wörtern; in Städten unter der Herrschaft des Kalifats werden solche Strafen gewöhnlich vor den Augen einer Menschenmenge vollstreckt, die beispielsweise gerade ihre Einkäufe erledigt oder im Stau steht.

Solche Tötungen sind tatsächlich erlaubt, ja sie gelten als Rechtshandlungen: Sie sind zugleich Beweis und Veranschaulichung dafür, dass das Glaubensbekenntnis bei der Hinrichtung des Opfers seine Wirkung entfaltet, genauso wie ein Selbstmordattentäter seinen Anschlag als Akt des Glaubens verübt. Sehr aufschlussreich für die Verwirrung, in der wir uns befinden, wenn wir solche Taten in Worte fassen sollen, ist die Tatsache, dass die Medien in diesem Zusammenhang fahrlässig das Wort »Märtyrer« gebrauchen: Ein islamischer Märtyrer stirbt, während er eine Gewalttat begeht, ein christlicher Märtyrer gebraucht keine Gewalt, er ist ein Gewaltopfer.

Man braucht sich nur in Internetforen und Blogs umzuschauen: Wer sich über das vermeintlich zwanghafte Allahu akbar der Soldaten und Partisanen lustig macht und den Ausruf als kehligen Ausdruck der Dummheit und des politischen Analphabetismus anprangert oder als Schrei von Wilden – knapp, monoton, mechanisch und bedeutungslos –, alle diese Leute begreifen nicht, dass die Formel gerade deshalb sich selbst genügt, weil sie das kurze, ursprüngliche Glaubensbekenntnis noch einmal bekräftigt, das den Dschihad im Zentrum der Welt verankert. In dem Kampf, den wir gegen die islamistische oder islamische Radikalisierung führen sollen, werden uns so lange die Waffen der Worte fehlen, wie wir eines nicht begriffen haben: Die Werte der Französischen Revolution haben nicht mehr die gleiche verkündende und kategorische Wirkung wie die muslimischen Glaubensformeln.7

Außer man besönne sich wieder auf die rhetorischen Quellen der bewaffneten Republik; aber wer wäre heute noch bereit, derartige Sätze überzeugend auszusprechen oder gar in die Tat umzusetzen: Saint-Justs »Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit«, Robespierres »Wer den Himmel anruft, will die Erde an sich reißen« oder Marats »Die Freiheit muss mit Gewalt errungen werden«. Heute will das niemand mehr. Nur noch das Kalifat.

Fest steht aber, dass man ein rhetorisches Modell nur dann bekämpfen kann, wenn man versteht, wie dieses gegnerische Modell funktioniert – falls man es denn bei den Waffen der Worte bewenden lassen will.

Die Macht der rednerischen Arabeske

Zweitens verbündet sich die durchschlagende Macht des kurzen Glaubensbekenntnisses mit der kultivierten Macht des politischen und militanten Schwulsts, dem man nicht nur in den Reden während der Hinrichtungen begegnet, sondern auch in den Zeitschriften und Videos, die um Gefolgschaft für das Kalifat werben.8

Die arabisch-islamische Redekunst unterscheidet sich von vielen anderen Redekulturen (indoeuropäisch, chinesisch-japanisch, indianisch, buddhistisch etc.) durch ihren blumigen Stil, ähnlich den Arabesken der Mosaike; dieser Stil fließt über von Allegorien, Verzierungen, weitschweifigen Formulierungen, Wiederholungen und Umschreibungen. Kurz, er schöpft aus einer Fülle von Redefiguren, der für unsere Ohren ins Übertriebene abgleitet.

Der Koran behauptet von sich selbst, er sei in »offenkundiger arabischer Zunge« (Sure XXVI, 195)9, also in leicht verständlichem Arabisch diktiert worden; nichtsdestoweniger ist die arabisch-islamische Rhetorik von moralischen Allegorien geprägt – angefangen bei den Titeln der Suren im Gründungstext des Islam (Die Biene, Die Spinne); der Stil des Korans durchdringt die ganze sprachliche Welt, die von ihm abhängt.

Khomeini hat in seiner wortmächtigen Ansprache »Abschiedsrede und Testament« (1983)10 von der großen Bedeutung der Rede in der islamischen Kultur Zeugnis abgelegt: Zum »größten Buch nach dem Koran« erklärt er die Sammlung militärischer Ansprachen und mahnender Predigten Alis, des Begründers der Schia. Damit stellt er einen Band, in dem Beispiele menschlicher Redekunst versammelt sind, neben die heilige Schrift11, die menschliche Kunst der Überredung neben das göttliche Wort; dahinter steht folgende Überlegung: Zweck der menschlichen Überredungskunst ist es, die göttliche Weisung zu konkretisieren. Die menschliche Überredungskunst macht das, was sonst Literatur oder Mystik bliebe, erst anwendbar.

Übertragen in die heutige Sprache klingt die arabisch-islamische Redekunst für unsere Ohren pompös und leicht veraltet:

Das Blut der Märtyrer, die Tränen der Frommen und die Tinte der Weisen sind nicht umsonst geflossen; eine kleine Gruppe von Gläubigen hat das Kalifat erneuert, und trotz Prüfungen, widrigen Winden und Verrat haben sie die Fahne hochgehalten.12

Ohne seinen kulturellen Kontext klingt dieser poetische Stil falsch. Aber er ist wahrheitsgetreu: Durch ihn lässt sich die Wahrheit sagen. Tatsächlich widmet sich ein wichtiger Traktat zur Rhetorik der islamischen Kultur in drei Vierteln seiner Einleitung solchen Stilfiguren wie Rätsel und Anspielung; sie dienen der Verfeinerung der Argumentation, sie verleihen ihr etwas Bestechendes und Systematisches zugleich.13

Die islamische Redekunst ist ausschmückend, aber diese Ausschmückung hat Methode und ein kognitives Ziel; ebenso verhält es sich mit der Arabeske, die dekorativ ist (durch gekonnte Zeichnung der geschwungenen Linien) und zugleich didaktisch (wenn sie ein Zitat aus dem Koran enthält). Die Arabeske dient dazu, logische Geschütze in Stellung zu bringen, der bildreiche Stil verbirgt unter seinen Blüten die Waffen der Dialektik. Das Ornament ist lehrreich.

In der islamischen Welt ist Philosophie also insofern didaktisch, als sie bereits sehr früh Rhetorik und Poetik in die aristotelische Logik integriert hat; sie hat sich einige Texte dieser Logik angeeignet und so angepasst, dass sie mit dem Koran vereinbar waren.14

Deshalb wurden die Rhetorik mit ihren Argumenten, gegründet auf Meinungen, die das Zusammenleben regeln (kurz, die Sphäre des Politischen), sowie die Poetik, die durch ihren anschaulichen Stil Überredungskraft besitzt (kurz, die Kultur), in das logische System wissenschaftlicher und rationaler Beweisführungen integriert.15

Anders gesagt, ein starkes Bild, eine mehrfache Wiederholung, ein lyrischer Gedankenflug gelten als logischer Beweis – und setzen sich dadurch radikal ab von der griechischen Rationalität, deren Erben wir sind: Sie helfen bei der Interpretation nicht nur der heiligen Schriften16 sondern auch der Bestimmungen für das tägliche Leben. Das christliche Europa hingegen widerstand dem Wunsch, Dichtkunst und Rhetorik mit logischer Beweisführung zu verbinden: Das ist eine der Quellen, aus denen der europäische Rationalismus und der Fortschritt der Wissenschaften resultieren.

Theologisch ist dieses logisch-rhetorisch-poetische Kontinuum im Islam darauf zurückzuführen, dass im Koran die Poesie so überaus präsent ist – der Koran ist ja, wie wir uns erinnern, ein Buch, das ein Engel Gottes diktiert hat, und gleichzeitig ein Rechtsbuch. Es bedurfte also einer Rechtfertigung, dass Gott rhetorisch und poetisch zugleich sprach. Hätte man Rhetorik und Poetik aus dem Zusammenleben und der gesprochenen Sprache der Muslime verbannt, hätte man damit auch den Stil des Korans abgelehnt und eine Häresie begangen. Es war also unabdingbar, Rhetorik und Poetik im Inneren der logischen Denkschemata anzusiedeln.

Was uns, unter anderem in den Reden während der Hinrichtungen, blumig, übertrieben, poetisch und schwülstig erscheint, ist dies nach Ansicht jener, die sich dieser Sprache bedienen, keinesfalls; und sicher noch weniger für all die, die zum Dschihad und der Unterwerfung unter das Kalifat aufrufen.

Gegen diesen Stil sind wir machtlos: Unsere politische Sprache ist vergleichsweise steril, rhetorisch banal und ohne jede Poesie.

In den Reden des Kalifats ist demnach eine Logik am Werk, die nichts mit dem zu tun hat, was wir in der Politik für logisch, vernünftig und überzeugend halten. Eine Logik ganz anderer Art, eine Logik, die uns folglich pervers oder verrückt erscheinen muss. Aber jenseits des Glaubensbekenntnisses und seiner poetischen Beschwörungskraft besitzt diese Logik dialektische Strenge – die Strenge der Beweisführung mit Analogien.

Die logische Waffe der Analogie

Unser politischer Diskurs kommt gewöhnlich ohne Analogien aus: Sie dienen der Veranschaulichung, nicht der Argumentation. Die rhetorische Welt des Islam hat davon eine radikal andere Auffassung.

Die Macht der Analogie

In der Rechtstradition des Islam gehört die Analogie zu den Grundlagen der juristischen Beweisführung.

Beispiele aus dem Koran und den Hadithen (Erzählungen der Erlebnisse und Taten Mohammeds, auch Überlieferung genannt),17 die sehr bilderreich sein können, weil sie von Tatsachen und konkreten Taten erzählen, werden für die Lösung einer praktischen Frage herangezogen: Ein Beispiel aus der Überlieferung und die gestellte Frage werden durch die Analyse einer Analogie in Bezug zueinander gebracht. Aus dieser Analyse ergibt sich eine Lösung, die sich in einem Rechtsgutachten, der fatwa, niederschlägt.

Denkbar ist zum Beispiel folgende Szene: Ein Händler bemerkt, dass seine Geschäftspartner ihn betrügen und er dem Konkurs nahe ist. Er muss also entscheiden, von wem er sich trennen will, das heißt, er muss zunächst herausfinden, wie viel Verantwortung jeder Einzelne trägt. In einem solchen Fall von Korruption kann man eine Hadithe hinzuziehen, nämlich die Mohammed zugeschriebene Geschichte von der Maus, die in die Butter gefallen ist. Frage: Ist dann die ganze Butter verschmutzt? Mohammed antwortet: »Werft die Maus weg mit allem, was sie umgibt, und esst die Butter.«18 Konsultiert der Händler einen Religionsgelehrten, um zu erfahren, welchen der Verantwortlichen er beschuldigen soll, kann ihm der Gelehrte durch einen Analogieschluss mit der kurzen Geschichte folgenden Rat geben: Es genüge, diejenigen zu bestrafen, die tatsächlich den Konkurs verursacht haben, weil der Verschmutzungsgrad einer Flüssigkeit von ihrer Festigkeit abhänge (also von der Nähe zur Ursache der Verschmutzung).

Das ist nur ein Beispiel, aber die kleine Geschichte und die Analogie sind kanonisch – es handelt sich dabei um die Bestimmung dessen, was in Bezug auf ein Verbrauchsgut (wie die Butter), dessen Menge schwer zu berechnen ist, verboten ist.19 Durch diese Bildhaftigkeit der Erzählung funktioniert die Logik der Analogie und entfaltet ihre politische und öffentliche Macht.20

Auch die dschihadistische Politik gebraucht in ihrer Propaganda Analogien, bedient sich also aus einem rhetorischen Umfeld, das uns befremdlich oder irrational vorkommt (um zu sehen, wie der durchschnittliche Westler auf das Phänomen reagiert, braucht man nur die einschlägigen Blogs im Internet zu lesen); diese Rhetorik bildet aber eine machtvolle und allumfassende politische Form, die Dinge zu interpretieren:

Der Sinn von Interpretation ist: Das Herausholen der Bedeutung der Äußerung aus der eigentlichen Bedeutung in die übertragene Bedeutung – ohne dass dabei gegen den Gebrauch der arabischen Sprache bei der übertragenen Rede verstoßen wird – so wie bei der Benennung eines Dings durch etwas, das ihm ähnlich ist, oder das seine Ursache ist, oder das seine Folge ist …21

Diese Art der Interpretation heißt ijtihad22. So fügt sich alles zusammen: Sich dem Kalifat anzuschließen ist eine Form, die Welt zu interpretieren.

Die Analogie bestimmt, was erlaubt ist

Durch eine Argumentation mit Hilfe von Analogien lässt sich also entscheiden, was in der Politik erlaubt oder verboten ist,23 zum Beispiel, ob eine Enthauptung rechtmäßig ist bzw., genauer gesagt, erlaubt oder verboten. Erlaubtes und Verbotenes werden also nicht durch die Anwendung einer Rechtsnorm und eine kontroverse Debatte über die Tatsachen bestimmt (wie es unserer römischen Tradition entspricht), sondern durch eine Gegenüberstellung von Überlieferungen mittels Analogiebildung mit dem Ziel, zu einer Interpretation zu gelangen:

Wer ungläubig genannt wird, dessen Besitz ist den Muslimen erlaubt und sein Blut darf vergossen werden; sein Blut ist Hundeblut, wer es vergießt, begeht keine Sünde, er muss keinen Blutzoll bezahlen.24

Das kann erstaunliche politische Konsequenzen haben, wie etwa jener Kuss, den ein Henker seinem Opfer gab, einer Frau, die der Sodomie beschuldigt war, bevor er sie von einem Wohnhaus hinunterstieß und sie sterbend von der anwesenden Menge gesteinigt wurde:25 Westlichen Medien zufolge ein »perverser« Akt, und dennoch ein zulässiger Akt, weil die Strafe zwar nicht das Verbrechen ungeschehen macht, aber den Gesetzesbrecher in den Rahmen des Gesetzes und der Gemeinschaft zurückstellt:

Wenn deine Sünden auch die Wolken des Himmels erreichten, du Mich dann aber um Vergebung bittest, dann vergebe Ich dir.26

Kalifat und wörtliche Lektüre des Korans

Die Medien, einige westliche Politiker oder nichtreligiöse Muslime verbreiten sich gerne darüber, dass die Dschihadisten den Koran und die Schriften der Überlieferung »wörtlich lesen«. Sie führen das Argument an, es gebe eine gute und eine schlechte Lesart des Textes, lassen aber die Hauptsache außer Acht, nämlich die Analogie.27 Texte (seien es Zitate aus dem Koran oder aus der Überlieferung) müssen aber wörtlich genommen werden, damit sie als Analogie gelesen werden können, denn die Beweisführung mit Analogien geht immer von einem wörtlichen Faktum aus (etwa die Maus in der Butterschüssel).

Wer die »wörtliche Lesart« der Dschihadisten ablehnt und das Konzept eines humanistischen Korans28 vertritt, müsste uns eine eigene auf Analogien beruhende Interpretation der Suren oder Hadithen vorlegen; er müsste uns auch erklären, wie die Soldaten des Kalifats angesichts dieser Texte ihre eigene Interpretation rechtfertigen, aufgrund derer sie enthaupten, verbrennen, steinigen, kreuzigen und Krieg gegen die ganze Welt führen, und inwiefern sie sich zum Beispiel von der Interpretation unterscheidet, mit der in Saudi-Arabien – immerhin ein verbündetes Land – Auspeitschungen, Verstümmelungen, Steinigungen und Enthauptungen gerechtfertigt werden.

Wir haben es hier mit einer Kultur der analogischen Beweisführung zu tun, die uns fremd ist und die wir folglich auf einen Gegensatz reduzieren, der uns vertraut ist: wörtliche (also falsche) Interpretation und diskussionsoffene (also richtige) Interpretation. Sie versperrt uns den Blick für die Macht der Analogie, die in der Propaganda des Kalifats am Werk ist.

Die Macht der Analogie ergibt sich aus der bildlichen (phantasieanregenden), konkreten (problemgebundenen) und logischen (nicht abstrakten) Beziehung, die sie zwischen zwei Tatsachen herstellt, deren eine aus einer bekannten und verehrten Überlieferung und deren andere aus einer konkreten Situation stammt. Die Analogie erklärt, warum eine Menschenmenge bei einer Kreuzigung zuschaut. Diese Menge ist weder passiv noch grausam: Sie anerkennt, dass die Hinrichtungsart das Ergebnis eines auf Analogie gegründeten Urteils ist. Ähnlich wie wir anerkennen, dass ein Gerichtsurteil sich aus der Abwägung von Beweisen ergibt.

Das wären also die ersten Begriffe jener bewaffneten Worte, mit denen das Kalifat seine Rhetorik der Eroberung strukturiert.

Die europäische Leidenschaft für Rede und Gegenrede und die Kunst des Streitgesprächs, für einen Dialog zwischen Partnern und generell dafür, den Selbstausdruck an die erste Stelle zu setzen, stößt sich jedoch an dieser ganz anderen Art, die Waffen des Wortes zu führen.

Ob nun eine Militäroffensive auf dem Territorium des Kalifats Erfolg haben wird oder nicht, wir müssen die rhetorischen Begriffe dieses Einsatzes überdenken und einsehen, dass die Auseinandersetzung mit einem Krieg der Rhetorik beginnt. Unser Gegner verfügt vom Befehl bis zur Analogie über ein einheitliches Arsenal, bedient sich einer schlagenden Redekunst und untermauert das alles mit der mächtigen Logik einer juristischen Interpretation. Sollte es zu Verhandlungen kommen, wird man sich eingestehen müssen, dass es nicht reicht, einfach nur Diplomaten zu entsenden, die Arabisch sprechen. Man wird islamisch denken, sprechen und argumentieren und sich rhetorisch auf Augenhöhe mit dem Gegner begeben müssen.

KAPITEL IDER KALIF SPRICHT

Welch großer kultureller raum-zeitlicher Abstand uns vom Dschihadismus des Kalifats trennt, kam im Sommer 2014 ans Licht, als Europa alle Aufmerksamkeit den großen Sportereignissen widmete – Cricket in Lord’s, Tennis in Wimbledon, Fußball in Brasilien und die Tour de France. Genau zu dieser Zeit gründete sich das Kalifat.

In der großen Moschee von Mossul, vergleichbar der Kapelle von Aachen, wo im Mittelalter die Heiligen Römischen Kaiser gekrönt wurden, trat al-Baghdadi1 auf, stimmte eine Lobrede auf die Neugründung des Kalifats an und wurde zum Kalifen Ibrahim. Fern der Sportstadien vollzog sich eine muslimische Krönungszeremonie, sie hob den hergebrachten Dschihadismus aus den Angeln und stieß die Türen zu einem neuen Krieg weit auf.

Während im Mai 2015 Mad Max (eine von den aktuellen Ereignissen überholte Fiktion) beim Filmfestival von Cannes bejubelt wurde, hielt der Kalif Ibrahim seine zweite Rede urbi et orbi und rief zur Hidschra auf, zur Emigration aller guten Muslime in den »schützenden Schatten des Kalifats«2.

Nach al-Baghdadis erstem Auftritt machten sich die Medien von Le Monde bis zum Wall Street Journal über die von ihm verkündete Wiederherstellung des Kalifats lustig; es sei eine »Maskerade«, eine »Inszenierung«3. Seitdem ist man kleinlaut geworden. Als Antwort auf Predigt und Krönung hatten wir nur die infantilste aller Rhetoriken zu bieten – den Sarkasmus.

Was geschah also an jenem 4. Juli 2014 in Mossul, nicht zufällig am amerikanischen Nationalfeiertag4?

Eine Strategie der symbolischen Aktion

Eine rhetorische Situation erschließt sich nicht ohne Weiteres. Will man ihre Triebfedern zu fassen bekommen, muss man sie in ihre Einzelteile zerlegen.

Der Auftritt des Kalifen

Gläubige jeglichen Alters und aller sozialen Schichten stehen in Reihen gegenüber der nach Mekka ausgerichteten Wand mit dem Mihrab. Schwarz gekleidet wie ein Benediktinermönch oder ein griechischer Pope steigt der Mann, der das Amt des Kalifen übernimmt, gemessenen Schrittes die Stufen zur Kanzel hinauf. Er setzt sich, das Gesicht den Gläubigen zugekehrt. Eine Wanduhr zeigt zwanzig Minuten nach zwölf. Um zwanzig vor eins wird seine erstaunliche Verkündung bereits beendet sein. Das Kalifat wird erneuert worden sein.

Keinerlei Theatralik, Inszenierung oder Effekthascherei. Im Gegenteil: Würdiges Auftreten und natürliche Haltung erinnern unmittelbar an die Erscheinung des Propheten in der Überlieferung seiner Worte und Taten. Dieser Auftritt ist ein Meisterwerk.

Es ist erst der Anfang einer strategischen symbolischen Handlung: Ein Mensch wird Kalif.

Das Leben des Kalifen ist bekannt, aber die Biographie dieses Mannes, bevor er zum Nachfolger Mohammeds aufstieg, ist nichts weiter als eine »Biographie«, also ein Lebenslauf.5 Durch die Ausrufung wird diese Biographie zu einer Hagiographie, zu einer Überlieferung von Worten und Taten, die von diesem Moment an in eine heilige Geschichte eingehen. Aus einem Lebenslauf wird eine Heiligenlegende.6

ENDE DER LESEPROBE