Die Spur der Aale - Florian Wacker - E-Book
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Die Spur der Aale E-Book

Florian Wacker

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Beschreibung

Ein toter Zollfahnder im Main. Ein kleiner Fisch von verdammt großem Wert. Und eine ungewöhnliche Ermittlerin mit eigenem Kopf und brisanter Vergangenheit. »Die Spur der Aale« ist der packende erste Fall für die Frankfurter Staatsanwältin Greta Vogelsang vom Dezernat für Umweltverbrechen und Artenschutzdelikte. Frankfurt im Hochsommer. Staatsanwältin Vogelsang wird während eines Bereitschaftsdienstes an den Main gerufen. Die Polizei hat eine Wasserleiche geborgen. Es handelt sich um Lars Mathissen, Zollfahnder am Frankfurter Flughafen. Die Abteilung für Kapitalverbrechen übernimmt vorerst, doch Vogelsang lässt der Fall nicht los. Immerhin legte ihr Mathissen Hinweise auf ein Schmuggelnetzwerk vor, das von Frankfurt aus mit wertvollen Glasaalen handeln soll, und drängte sie zu Ermittlungen. Jetzt ist er tot. Und Vogelsang plagen Zweifel: Hätte sie seinen Hinweisen intensiver nachgehen müssen? Sie beginnt, auf eigene Faust und gegen Widerstände aus den eigenen Reihen zu ermitteln, und stößt dabei tatsächlich auf Indizien, die Mathissens Verdacht zu belegen scheinen. Doch ihre Kolleg:innen bleiben skeptisch. Erst als eine zweite Leiche gefunden wird und Vogelsang selbst in die Schusslinie gerät, wird allen klar, dass das Netzwerk der Schmuggler weitaus gefährlicher, und ihre Ware heißer ist, als sie dachten. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse – und Vogelsang holt ein lang verdrängtes Trauma ein …

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Florian Wacker

Die Spur der Aale

Ein Fall für Greta Vogelsang

Kriminalroman

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Florian Wacker

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

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Über Florian Wacker

Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, studierte Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Bisherige Veröffentlichungen: Albuquerque, Dahlenberger und Stromland. Für seinen Roman Weiße Finsternis (2021) wurde er mit dem Robert Gernhardt Preis ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Frankfurt am Main und schreibt Prosa, Dramatik und Code.

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Über dieses Buch

Ein toter Zollfahnder im Main. Ein kleiner Fisch von verdammt großem Wert. Und eine ungewöhnliche Ermittlerin mit eigenem Kopf und brisanter Vergangenheit. Die Spur der Aale ist der packende erste Fall für die Frankfurter Staatsanwältin Greta Vogelsang vom Dezernat für Umweltverbrechen und Artenschutzdelikte.

Frankfurt im Hochsommer. Staatsanwältin Vogelsang wird während eines Bereitschaftsdienstes an den Main gerufen. Die Polizei hat eine Wasserleiche geborgen. Es handelt sich um Lars Mathissen, Zollfahnder am Frankfurter Flughafen.

Die Abteilung für Kapitalverbrechen übernimmt vorerst, doch Vogelsang lässt der Fall nicht los. Immerhin legte ihr Mathissen Hinweise auf ein Schmuggelnetzwerk vor, das von Frankfurt aus mit wertvollen Glasaalen handeln soll, und drängte sie zu Ermittlungen. Jetzt ist er tot. Und Vogelsang plagen Zweifel: Hätte sie seinen Hinweisen intensiver nachgehen müssen?

Sie beginnt, auf eigene Faust und gegen Widerstände aus den eigenen Reihen zu ermitteln, und stößt dabei tatsächlich auf Indizien, die Mathissens Verdacht zu belegen scheinen. Doch ihre Kolleg:innen bleiben skeptisch. Erst als eine zweite Leiche gefunden wird und Vogelsang selbst in die Schusslinie gerät, wird allen klar, dass das Netzwerk der Schmuggler weitaus gefährlicher, und ihre Ware heißer ist als sie dachten. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse – und Vogelsang holt ein lang verdrängtes Trauma ein …

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

*

Der Fluss war spiegelglatt und unbewegt, kein Wind ging. Von der gegenüberliegenden Uferseite waren Stimmen zu hören, lautes Lachen, Rufe, immer wieder blitzten Lichter auf und brachen sich im Wasser. Er streckte die Beine aus und behielt die Leine der Angel im Auge. Der Duft von Gegrilltem zog zu ihm herüber, und er merkte, wie hungrig er war. Er hatte seit dem Nudelauflauf am Mittag nichts mehr gegessen. Er zog die Kühltruhe zu sich und langte nach einem der Sandwiches, die er sich zu Hause gemacht hatte. Er biss hinein, kaute genüsslich und schaute aufs Wasser. Es war seine Zeit, und er merkte, wie der Tag von ihm abfiel, die Anforderungen und Pflichten, die überwache Aufmerksamkeit. Seit ein paar Wochen kam er nur noch allein hierher, seit Weihrauch zum zweiten Mal Opa geworden war und die Nachmittage lieber mit seinen Enkeln verbrachte, anstatt mit ihm am Wasser zu sitzen.

Die Angelleine zuckte, und er hörte zu kauen auf. Jetzt, während der Dämmerung, musste er besonders wachsam sein. Doch die Leine beruhigte sich wieder. Keiner konnte auch nur ansatzweise nachvollziehen, wie es ihm die letzten Monate ergangen war, nicht mal Franziska hatte eine Ahnung, wie es wirklich um ihn stand. Dieser verdammte Krebs. Und trotz der ersten Erleichterung darüber, dass seine Frau es nun endlich geschafft hatte, dass sie nun hoffentlich an einem Ort war, an dem es keine Schmerzen mehr gab, und er wieder Zeit hatte, Atem zu holen – trotz alldem wünschte er sich wieder an ihr Krankenbett, wünschte er sich, ihre Hand noch einmal halten zu können. Erst nach und nach begriff er die Leere, die sie hinterlassen hatte.

Er war in seinem Campingstuhl nach unten gerutscht und richtete sich jetzt wieder auf, streckte die Beine aus. Immer, wenn ihn das Vergangene zu überwältigen drohte, versuchte er sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, auf seine Angel, das Zurichten der Köder, die Arbeit. Er schluckte den letzten Bissen hinunter und wischte sich die Hände an seiner Hose ab, stand auf. Der Fluss schien wie tot. Er glaubte, irgendwo da draußen doch eine Bewegung wahrzunehmen, aber es waren wohl nur Spiegelungen. Irgendwo im Gebüsch raschelte es. Er ging ein paar Schritte und blickte vor sich, dorthin, wo das Wasser flach war und er im Licht seiner Stirnlampe die von grünen Algen bewachsenen Steine erkennen konnte. In den letzten Nächten hatten sie nicht mehr gebissen. Gestern hatte er nur einen kleinen Gründling aus dem Fluss geholt und ihn ärgerlich zurückgeworfen, heute versuchte er es daher mit einer Pose statt dem Grundblei. Er wusste ja, dass sie da waren, die Räuber, Zander, Wels, Barsch. Aber es war, als ob die Fische seine flirrende Unruhe bemerkten. Natürlich war es die Arbeit, die ihn nicht in Ruhe ließ, auch jetzt nicht, da konnte er noch so lang in seinem Stuhl sitzen und aufs Wasser starren. Irgendwann kehrten seine Gedanken unweigerlich zu den Koffern zurück, zu den versteckten Behältern, Beuteln und Taschen. Er bekam leichtes Sodbrennen und stieß auf. Er blickte sich um, der Kegel der Lampe strich über seine Ausrüstung. Schwach war der Verkehr auf der Autobahnbrücke zu hören. Er setzte sich wieder.

Er war sich sicher, dass er recht hatte.

Er war sich sicher, dass es da mehr gab als nur ein paar harmlose Touristen, die aus Versehen das Falsche in ihre Koffer gepackt hatten.

Die ganze Sache war größer, als er gedacht hatte, und er brauchte jetzt Hilfe. Ihre Hilfe.

Im Betreff seiner Mail hatte er das Wort »Dringend« in Versalien geschrieben. Er wollte unbedingt, dass Vogelsang die Mail sofort sah, sie las und nicht wegsortierte. Er würde sich mit ihr treffen und ihr seine Erkenntnisse vorlegen, alles fein säuberlich aufgeschrieben, sortiert, abgeheftet. Sie würde dann gar nicht anders können, als ein Verfahren zu eröffnen, ein Team zusammenzustellen, Ermittlungen einzuleiten.

Er atmete hörbar aus, zog das kleine Notizbuch aus seiner Hosentasche und blätterte durch die Seiten, überflog das Geschriebene: erste Vermutungen, Indizien, ein gezeichneter Plan mit der Lage des Restaurants, verschiedene Adressen. Staatsanwältin Vogelsang konnte ihn jetzt einfach nicht mehr ignorieren. Mit dem, was er hatte, würde er sich nicht noch einmal abwimmeln lassen wie noch vor ein paar Wochen, als sie den verhafteten Hongkong-Chinesen gegen eine Sicherheitsleistung sofort wieder laufen ließ, keine U-Haft, nichts.

Er spürte, wie ihm die Wut in den Magen fuhr.

Man gab nicht besonders viel auf seine Arbeit. Lange hatte er sich das nicht eingestehen wollen, lange hatte er einfach stur weitergemacht, aber nach ihrem Begräbnis, nach den ersten Tagen allein in der Wohnung, hatte es ihn mit voller Wucht erwischt: Man hatte ihn schon vor Jahren aufs Abstellgleis geschoben. Dort konnte er noch ein bisschen vor sich hinwursteln, ein bisschen Zollfahndung spielen, aber die wirklich wichtigen Dinge passierten woanders. Immer mehr Leute waren über die Jahre abgezogen worden oder hatten sich versetzen lassen. Wer noch etwas vorhatte, wer Karriere machen wollte, der brauchte die großen Nummern: Drogen, Waffen, Menschenhandel. Wer interessierte sich denn schon für ein paar geschmuggelte Schildkröten, für Schlangenfleisch oder einige verendete Rassekatzen? Er wusste, dass die Kollegen über ihn redeten, über ihn, den komischen Kauz, der nachts am Main neben seiner Angel saß und über den Fällen brütete, während sie bei der Tagesschau einnickten oder noch eine Runde durch den Stadtwald joggten und die nächste Beförderung im Auge hatten.

Aber er würde nicht klein beigeben. Er hatte genug Beweise zusammengetragen, die für ihn ein eindeutiges Bild ergaben. Und es war ihm egal, wenn sie ihn in der Abteilung für seltsam hielten, er musste die Staatsanwaltschaft überzeugen!

Er steckte das Notizbuch ein, stand wieder auf und ging vor an den Fluss. Seine Wut verschwand langsam, der Blick aufs Wasser half ihm, half immer, die kleinen und großen Strudel, das sanfte Vorübergleiten der Schiffe, das gleichförmige Strömen, es beruhigte ihn, er lächelte sogar.

Mathissen, der Meisterdetektiv. Schon als Kind hatten ihn die Geschichten von Kalle Blomquist, von Emil und später von Sherlock Holmes in ihren Bann gezogen. Er hatte den Nachbarn nachspioniert, versucht, Spuren und Gerüche zuzuordnen, Verbindungen herzustellen, wo scheinbar keine waren. Später in der Ausbildung hatte sich dann sein Gespür bewiesen, er sah es den Leuten an, wenn sie etwas zu verbergen hatten, er konnte es förmlich riechen, den stechenden Schweiß, den Alkohol, die Mischung aus Anspannung und Müdigkeit nach einem Zwölfstundenflug, sodass er nach ein paar Jahren als einfacher Zollbeamter zur Zollfahndung gekommen war.

Er kontrollierte die Angel, schüttelte dabei leicht den Kopf. Eigentlich kamen sie in der Dämmerung näher ans Ufer, wagten sich dann von der Flussmitte in die sandigen Niederungen. Er überlegte, ob er es in den nächsten Tagen doch wieder an den Spots entlang der Nidda versuchen sollte, aber er mochte den Main, gerade weil es hier nicht so einfach war, weil es die Hafenanlagen, Kräne und Binnenschiffe gab, Zuglärm, den Gestank der Kläranlage in Niederrad.

Er sah auf die Uhr. Kurz vor zehn. Ein letzter Streifen Licht glomm hinter den Kuppen des Taunus. Wieder war da ein Rascheln im Gebüsch, und dann glaubte er, Stimmen zu hören. Er sah auf. Der Lichtkegel seiner Lampe glitt übers Ufergestrüpp, hinauf zum Weg. Niemand war zu sehen. Mit einem leisen Seufzer setzte er sich.

Die Sache mit dem Aalkopf, den er gestern Abend vor seiner Tür gefunden hatte, beunruhigte ihn etwas, bestärkte ihn aber noch mal mehr darin, dass er auf der richtigen Spur war. Klar, sie wollten ihm drohen, versuchten ihn einzuschüchtern, weil er ihnen immer näherkam und das Geschäft störte. Aber das würde er aushalten. Wenn nötig, würde er mit dem Aalkopf direkt zu Köster marschieren, ihr das Ding auf den Schreibtisch werfen und sie fragen, was für Beweise sie denn noch brauche, um endlich etwas zu unternehmen.

Köster hatte ihn immer wieder gewarnt, er solle die Nachforscherei in seiner Freizeit lassen, das ständige Grübeln, er müsse auch mal runterkommen und sich erholen, er sehe manchmal aus wie ein Geist. Er fuhr sich übers Gesicht, rieb sich die Augen. Tina Köster. Seit sie vor gut einem Jahr die Abteilung Artenschutz beim Zoll übernommen hatte, war es endgültig mit ihm bergab gegangen. Eigentlich wollte sie nur das Beste für ihn. Sie hatte ihm nahegelegt, kürzerzutreten, weniger zu arbeiten, um Zeit für sich und die Trauer zu haben. Aber er hatte davon nichts wissen wollen, hatte zwar brav genickt, aber dann weitergemacht wie schon die Jahre zuvor. Auf eigene Faust, dem eigenen Gespür folgend. Köster ignorierte seine Ermittlungen größtenteils, und er war sich ziemlich sicher, dass das nichts mit der Qualität seiner Arbeit zu tun hatte, sondern damit, dass er sich nicht an Dienstwege, Hierarchien und interne Kommunikationsregeln hielt. Mehr als einmal hatte Köster ihm zu verstehen gegeben, dass er nicht ohne Rücksprache Kontakt zur Staatsanwaltschaft aufnehmen könne, dass es Spielregeln gebe und er mit seiner Sturheit das gesamte Team gegen sich aufbringe und sogar Ermittlungen gefährde. Natürlich waren das Ausreden gewesen. Sie wollte nicht von ihm vorgeführt werden und ließ ihn das auch spüren. Sie zog ihn von Ermittlungen ab, setzte ihn stattdessen an den Schreibtisch. Abstellgleis. Vorruhestand.

Ein heiseres Husten riss Mathissen aus seinen Gedanken.

Er fuhr herum, stand auf.

In der Dunkelheit glaubte er die Glut einer Zigarette aufleuchten zu sehen. Stand dort jemand? Er schaltete seine Stirnlampe aus, blinzelte. Da auf dem Weg zeichneten sich tatsächlich die Umrisse einer Gestalt ab. Der Uferweg war beliebt bei Radfahrern und Joggern, manchmal ging nach Sonnenuntergang auch noch jemand spazieren. Waren es Angler, die nach einem guten Platz suchten? Er wäre lieber für sich geblieben, aber konnte natürlich keinen alleinigen Anspruch auf diese Stelle erheben. Er sah jetzt, wie sich die Gestalt aus der Dunkelheit löste und langsam auf ihn zukam.

Unwillkürlich ging Mathissen einen Schritt zurück. Die Gestalt blieb einige Meter vor ihm stehen. Er konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht richtig erkennen.

Eine zweite Gestalt erschien im Hintergrund, blieb stehen. Etwas sagte Mathissen, dass die beiden nicht zum Angeln hier waren. Er hatte in letzter Zeit immer mal wieder das Gefühl gehabt, jemand würde ihn verfolgen, sich beim Vereinsheim herumtreiben, aber es war immer nur bei einer Ahnung geblieben, nie hatte er jemanden gesehen.

Mathissen ging vor zu seiner Angel. Er hatte kein gutes Gefühl, musste wieder an den Aalkopf denken, an die toten, glasigen Augen. Er merkte, wie seine rechte Hand leicht zu zittern begann, ballte sie zur Faust. Vielleicht war er doch zu unvorsichtig gewesen.

»Schon was gefangen?« Die Stimme klang etwas verwaschen, der Fremde sprach mit Akzent.

»Nein, noch nicht.«

»Was gibt’s denn hier so?«

»Zander, Barsch, Wels, Hecht. Wollen Sie angeln?«

»Du weißt, warum wir da sind.«

Mathissen sah kurz nach rechts, nach links. Durchs Gestrüpp würde er nicht besonders gut wegkommen. Sein Messer steckte in seiner Hosentasche, es würde zu lange dauern, es aufzuklappen.

»Große Fische und kleine Fische«, sagte die Gestalt. »Die Großen fressen die Kleinen, so ist das doch, oder? Immer fressen die Großen die Kleinen.«

Plötzlich wusste Mathissen, dass er die ganze Zeit über recht gehabt hatte, dass es keinen Grund gab zu zweifeln. Die Frage war nur, ob er noch die Zeit haben würde, sein Wissen mit jemandem zu teilen.

»Kannst du schwimmen?«, fragte der eine, und der andere kicherte.

1

Ihr Smartphone vibrierte. Die feinen Erschütterungen schienen aufs Bett überzugehen, krochen ihr unter die Haut, in die Knochen. Sie öffnete die Augen und starrte an die Decke, zu den Mustern, die das Dämmerlicht zeichnete. Verdammt. Vogelsang drehte sich um, sah auf den Radiowecker. Kurz nach sieben. Sie tastete nach ihrem Smartphone und versuchte, auf dem Display etwas zu erkennen. Sie musste wieder eingeschlafen sein seit dem letzten Anruf, obwohl sie überlegt hatte aufzustehen. Sie nahm ab und richtete sich auf.

»Ja, hallo?«

Die Stimme am anderen Ende kannte sie, es war derselbe Polizist, der sie vor gut einer Stunde schon mal angerufen hatte. Die Sache am Main, jemand war ertrunken. Sie versuchte, einen Fuß aus dem Bett zu bekommen, blieb aber in der Decke hängen.

»Scheiße … nein, sorry, ich meine nicht Sie, ich … diese verdammte Decke. Was gibt es?«

Der Mann am anderen Ende räusperte sich, hustete. Es sei wohl doch besser, sie würde vorbeikommen. Man habe … wieder ein Räuspern, also an der Leiche seien Spuren eines möglichen Kampfes festgestellt worden, eine klaffende Wunde am Hinterkopf. Außerdem handele es sich wahrscheinlich um einen Kollegen. Sie atmete aus. Fuck, dachte sie.

»Ich bin in einer halben Stunde da, schicken Sie mir noch die Adresse.«

Sie legte auf, sah zum Fenster. Hinter den Ritzen des Rollladens glomm schon der Tag. Neben ihr rührte sich Mika. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm und flüsterte, dass sie jetzt doch noch losmüsse. Mika brummte nur und drehte sich zur Seite.

Vogelsang setzte beide Füße auf den Teppich und wartete einige Augenblicke. Sie erinnerte sich bruchstückhaft an ihren Traum kurz vor dem Aufwachen: Eine enge Kammer, der Geruch nach Reinigungsmitteln und etwas anderem, schwer, feucht, und draußen im Gang die dröhnenden Schritte, Schritte überall, der Boden bebte, dann die Wände, alles um sie geriet in Bewegung, sie kauerte sich zusammen, aber die Schreie kamen immer näher, kamen aus den Wänden – dann war sie erwacht.

Benommen fuhr sie sich übers Gesicht. In letzter Zeit kamen die Bilder wieder öfter, nachdem sie für Jahre fast vollständig verschwunden waren. Sie sah die Tage in Genua deutlich vor sich, die Fahrt mit dem Zug, die Versammlungen in der Stadt. Das war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Sie tappte ins Bad, kämmte sich die Haare und schlüpfte in ihre Klamotten. Duschen würde sie später.

Warum hatten sie ihn nicht erst um neun finden können, dachte sie, während sie mit ihrer Zahnbürste vor dem Spiegel stand. Aber das war eben das Problem mit den Bereitschaftsdiensten im Sommer, da waren die ersten Jogger und Hundehalter schon kurz nach Sonnenaufgang unterwegs, während man im Winter die Toten erst am Mittag fand.

Sie ging in die Küche und trank ein Glas Milch. Engels strich ihr um die Beine, und sie tätschelte ihm den Rücken. Von Marx keine Spur. »Wo hast du deinen Bruder wieder gelassen?« Sie füllte Engels’ Schälchen mit einer Handvoll Trockenfutter und schlüpfte in ihre Sneakers. Der Kater saß vor seinem Napf, sein Blick drückte Bedauern aus.

Vogelsang steckte ihr Smartphone ein und griff nach den Schlüsseln, nahm ihren Kapuzenpulli von der Garderobe und verließ die Wohnung. Auf den Gartenmöbeln lag ein feiner Film Feuchtigkeit. Weitere Mohnblüten waren aufgegangen, und über den Stauden lag ein irrsinniges Summen und Brummen. Einen Augenblick lang sah sie zu dem kleinen Idyll aus Kornblumen, Margeriten und Mohn und spürte eine seltsame Wehmut in sich aufsteigen, plötzliche Gerüche, der Muff der über den Winter eingelagerten Gartenliegen, die Füße schwarz, die Knie verschorft, ein nie enden wollender Sommer. Sie atmete durch und ging zu ihrem Wagen, einem alten Corsa. Ein Lenkrad, Bremsen und vier Räder, kein Schnickschnack. Auf dem Gehweg lief ihr Marx vor die Füße. Sie begrüßte den Kater, kraulte ihn kurz und sagte ihm, dass sie jetzt losmüsse, Engels sei schon drin und warte mit dem Essen auf ihn.

Sie schaltete das Radio an und checkte die Adresse, die ihr der Kollege geschickt hatte. Andere Mainseite, Niederräder Ufer. Kurz überlegte sie, ob sie das Rad nehmen sollte, aber sie wusste, dass es dringend war, und startete den Motor.

 

Die Fähnchen, mit denen der Fundort großräumig abgesteckt wurde, erinnerten sie manchmal an eine Minigolfanlage. Sie war den vorgegebenen Pfaden ans Wasser gefolgt und stand nun da, sah auf den Fluss und hörte hinter sich vereinzelt Stimmen. Die Taucherstaffel der Feuerwehr war gerade dabei, ihre Ausrüstung wieder einzupacken, Sauerstoffflaschen, Seile, ein Paar Flossen. Der Morgen war wolkenlos, es würde wieder einer dieser unerträglich heißen Tage werden, aber jetzt, hier am Wasser, ging noch ein leichter Wind.

Der Tote lag bereits im Leichensack. Sie warf nur kurz einen Blick auf ihn. Er trug eine Anglerweste und dunkle Funktionshosen. Der KTUler sagte irgendetwas von Wachshautbildung und Abschleifungen, etwas von ante mortem, wahrscheinlich ein Unfall, aber auch Fremdverschulden sei nicht auszuschließen. Dann blickte er sie erwartungsvoll an, als hoffe er auf ein Lob für seine Ausführungen. Sie nickte nur und fragte nach dem Namen des Opfers. Der KTUler zuckte mit den Schultern. Es war nicht ihre erste Leiche, trotzdem hatte sie ein flaues Gefühl im Magen und entfernte sich einige Schritte, um die Dinge zu ordnen. Sie musste die Obduktion anordnen und den Fall dann an die Kollegen für Kapitalverbrechen weitergeben.

Vogelsang ging ein Stück am Wasser entlang. Eine kleine Gruppe Polizisten stand zusammen, sie lachten über irgendetwas, in ihren schweren, dunklen Uniformen. Seit die Sache mit den Drohmails an die Anwältin bekannt geworden war und Kreise zog, seit man fast jeden Tag dazu etwas in der Presse lesen konnte, spürte sie eine Art Beklemmung, wenn sie die volluniformierten Beamten sah. Die meisten von ihnen waren sicher aufrechte Kollegen, aber sie wusste, dass es da auch schwarze Schafe gab, Leute, die glaubten, über dem Gesetz zu stehen, die ihre Position ausnutzten. Etwas, das sie am eigenen Leib erfahren hatte, früher, in ihrer Zeit in der Szene, noch bevor sie sich dann doch für den Staatsdienst entschieden hatte, in dem Glauben, das System von innen heraus verändern zu können. Einen Scheiß konnte sie.

»Morgen, Greta.«

Sie erkannte die Stimme, ohne dass sie sich umdrehen musste: Uwe Fähndrich vom K11. Sie wartete noch einen Moment, betrachtete die beiden Kräne auf der gegenüberliegenden Uferseite, die dort wie riesige Insekten in der aufgehenden Sonne hockten, dann wandte sie sich um.

»Morgen, Uwe.«

War er dicker geworden oder gewachsen? Wahrscheinlich Ersteres. Sie hatten sich das letzte Mal im Februar oder März gesehen.

»So sieht man sich wieder«, sagte er.

Kaffeeatem, müder Blick.

»Hätte mir einen schöneren Ort gewünscht«, sagte sie.

»Wieso? Ist doch idyllisch hier. Jetzt noch eine Picknickdecke und einen Merlot und es wäre das perfekte Date.«

Uwe lächelte. Er war seit über dreißig Jahren im Dienst, und es gab so gut wie nichts, was er nicht gesehen hatte oder was ihn noch beeindrucken konnte. Er hatte als junger Polizist die 90er-Jahre im Bahnhofsviertel erlebt, die Schießereien und Kämpfe rivalisierender Gruppen um Straßenzüge und Clubs, war beim harten Vorgehen gegen die Drogenszene in der Taunusanlage und am Hauptbahnhof dabei gewesen, ein Beamter, der überall hohes Ansehen genoss, weil er gute Polizeiarbeit machte und auch nicht davor zurückschreckte, gegen Kollegen zu stänkern, die ihm zu behäbig waren und nicht sauber ermittelten. Er besaß kein Smartphone, sondern ein altes Nokia, mit dem er zur Not auch jemanden erschlagen konnte, er rasierte sich unregelmäßig und trug abgewetzte Adidas-Treter, mit denen er am Abend auch auf den Bolzplatz ging. Vogelsang mochte ihn, vielleicht gerade deshalb, weil er auf sympathische Weise altmodisch war. Sein Revier war die Straße, und er wollte nichts davon wissen, dass die wirklich großen Dinger schon längst nicht mehr dort, sondern in den oberen Etagen der Hochhäuser, in Edelrestaurants und beim Golfen gedreht wurden. Uwe machte weiter wie früher: Er trieb sich nach wie vor in den Nebengassen und Parks herum, spann an seinem Netz aus Informanten, Kleinkriminellen und Boten, die ihm die verschlüsselten Nachrichten aus den Nächten, aus den Kellerwohnungen und Tiefgaragen überbrachten und übersetzten, war Teil des Spiels, Räuber und Gendarm, geben und nehmen.

»Rauchst du noch?« Uwe kramte in seiner Tasche und hielt Vogelsang eine Packung Marlboro hin.

»Nicht mehr, nein.«

»Dafür ich wieder umso mehr, scheiße.«

Er gähnte und zündete sich eine Zigarette an.

»Und, gehst du noch zur Eintracht?« Sie sah ihn an.

»Ab und zu, ja. Aber irgendwie ist das alles anders geworden. Die Spieler, ich meine, ist denen doch egal, wo sie spielen, die bekommen ein Hotelzimmer oder eine schöne Eigentumswohnung und dann fahren sie in ihrem Sportwagen zum Training und wieder heim und das war’s.«

»Würdest du doch genauso machen. Für die Kohle, die die kriegen.«

»Früher habe ich noch mit dem Bindewald und dem Binz ein Bier getrunken, die standen nach dem Training einfach da, und wir haben gequatscht.«

»Die gute alte Zeit.«

»Ja, die gute alte Zeit.«

Sie sahen auf den Fluss. Sie wusste, dass das auch nur Geschichten aus dem Poesiealbum waren, mit Blümchen und Goldrand. Früher war alles besser, alles leichter, am Arsch. Auch damals war es um Kohle gegangen, um Ansehen und darum, das beste Stück vom Kuchen abzubekommen, man hatte es vielleicht nur eine Spur netter ausgedrückt.

Mit kräftigen Schlägen zog ein Ruderer vorbei.

»Wer hat den Toten gefunden?«, fragte Vogelsang.

»Einer vom Ruderverein. Die sind ja immer besonders früh dran.«

»Es soll ein Kollege sein?«

»Ja, leider. Lars Mathissen vom Zoll.« Sie sahen, wie der schwarze Wagen des Bestattungsinstituts rückwärts in die Einfahrt manövrierte. »Wir haben seinen Wagen und die Angelsachen ganz in der Nähe gefunden. Außerdem ein paar Kippenstummel, die wir jetzt analysieren lassen.«

Vogelsang war unwillkürlich zusammengezuckt, als Uwe den Namen genannt hatte. Mathissen. Lars Mathissen. Zollfahnder, einer von der hartnäckigen Sorte, einer, der sich festbiss und dann nicht mehr lockerließ, der einem auf die Nerven ging. Scheiße, dachte sie. Ihr wurde übel.

»Alles okay bei dir?«

»Mir fehlt der Kaffee«, sagte sie und versuchte zu lächeln. »Mathissen, sagst du?«

»Ja, kanntest du ihn?«

»Wir haben hier und da zusammengearbeitet. War einer der Guten, akribisch, konnte die Leute gut einschätzen, gutes Gespür für Situationen. Allerdings hatte er Probleme mit Hierarchien.«

»Erinnert mich an dich.«

»Vielleicht konnten wir deshalb gut miteinander.« Sie atmete aus und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Und jetzt das hier.«

Vogelsang sah wieder aufs Wasser, betrachtete die kleinen Wellen, auf denen sich blitzend das Licht brach.

Erst am Freitag hatte Mathissen ihr eine Mail geschickt, kurz vor Feierabend; »Dringend« hatte er in Versalien in die Betreffzeile geschrieben. Und jetzt lag er da drüben im schwarzen Leichensack und wurde eben in den Bergungssarg gehoben. Auf eine unheilvolle Art war die Welt aus den Fugen, mal wieder. Und für Augenblicke sehnte sie sich nach ihrem Bett, nach Mikas warmem Körper neben sich, dem schnurrenden Engels am Fußende.

Sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund.

»Ich muss in die Falle«, sagte Uwe und gähnte.

Vogelsang nickte.

»Ich setze die Obduktion für den Vormittag an«, sagte sie. »Alles Weitere dann von den Kollegen.«

Sie merkte, dass sie die Worte erleichterten. Sie konnte den Fall jetzt einfach abgeben und musste sich erst mal keinen Kopf mehr machen. Andererseits wusste sie, dass sie nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen würde; schon jetzt, da Uwe sich eine weitere Kippe anzündete und der Sargdeckel geschlossen wurde, begann es in ihr zu arbeiten, ein regelrechtes Geratter: Mathissens Mail, seine Beharrlichkeit, die Sache mit den Schuppentieren, an der er bis zuletzt gearbeitet hatte. Was, wenn es da einen Zusammenhang mit seinem Tod gab?

»War schön, dich zu sehen«, sagte Uwe, »trotz allem.«

»Ja. Vielleicht schaffen wir es mal wieder ins Stadion.«

»Würde mich freuen. Ich melde mich.«

»Tu das.«

Wirst eh alles wieder vergessen haben, wenn du später aufwachst, dachte Vogelsang, lächelte aber.

Uwe hob die Hand, stolperte, fing sich wieder und zuckte mit den Schultern. Im selben Augenblick verschwand der Bergungssarg im schwarzen Schlund des Wagens.

 

Vogelsang hatte abseits der Zapfsäulen geparkt, vor einem der Staubsauger, hatte die Tür geöffnet und schlürfte den heißen Kaffee. Sie mochte den feinen Geruch nach Benzin, der in der morgendlichen Luft lag. Er erinnerte sie an ihre Kindheit, daran, wie sich früher ihr Vater immer wieder in flammender Verzweiflung über den Motor des Rasenmähers gebeugt hatte, die Zündkerzen schrubbte, Benzin nachfüllte und am Anlasser riss, bis das Ding irgendwann tatsächlich stotternd ansprang und er sich mit einem müden, aber glücklichen Lächeln ans Mähen machte.

In kleinen Schlucken trank sie den Kaffee und dachte nach.

Seit knapp zwei Jahren war Vogelsang jetzt in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität und leitete dort als Oberstaatsanwältin das Team für Umweltstrafsachen, zu dem neben dem erfahrenen Kollegen Martin Abel auch die junge Staatsanwältin Sonja Wilms und Referendar Rafik Atashi zählten. Sie bearbeiteten Tier- und Artenschutzverfahren, Verstöße gegen das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch, Verfahren nach dem Strahlenschutzgesetz, Schmuggel, illegale Müllentsorgung, alle Sauereien, die die Menschen an und in der Natur begingen. Mit Mathissen hatte sie dabei schon öfter zu tun gehabt, zuletzt in einem Fall von geschmuggelten Schuppen asiatischer Pangoline; da waren Mathissen zwei Reisende aus Hongkong aufgefallen, er hatte ihre Koffer durchsuchen lassen und dabei die in Plastiktüten verpackten Schuppen gefunden. Es hatte sogar einen Pressetermin gegeben, und unter Vermischtes war ein Foto in der Zeitung erschienen, das Mathissen und seine Chefin Tina Köster vor dem aufgeklappten Koffer zeigte. Kollege Abel hatte Untersuchungshaft für die beiden Schmuggler angeordnet.

Vogelsang versuchte sich Mathissens Gesicht in Erinnerung zu rufen, aber es gelang ihr nicht, es schien wie hinter Milchglas. Sie zwang sich, ihre Gedanken nicht ins Kraut schießen zu lassen. Sie war nicht mehr für Tötungsdelikte und Leichenfunde zuständig, es würde nicht ihr Fall sein, sie war durch ihren Bereitschaftsdienst bloß hineingeschlittert, Zufall, Schicksal, sie wusste noch nicht, wie sie es nennen sollte.

Es war kurz vor halb acht. Sie würde zu Hause duschen und dann mit dem Rad ins Büro fahren. Beim Gedanken an Mathissens Mail in ihrem Posteingang wurde ihr wieder flau im Magen.

Ihr Smartphone vibrierte. Papa stand auf dem Display. Sie nahm ab.

»Hallo, Papa.«

Es rauschte und knackte in der Leitung. Ihr Vater hustete.

»Mama ist wieder unterwegs«, hörte sie ihn sagen. Seine Stimme war dünn.

»Seit wann?«

»Ich weiß nicht genau, halbe Stunde.«

»Die Tür?«

»Hab ich wohl vergessen.«

Vogelsang atmete aus.

»Ich fahre hin«, sagte sie.

»Danke dir.«

»Bis später.«

Sie stellte den Kaffeebecher in die Halterung und zog die Tür zu. Ein leuchtend schöner Morgen, genau richtig, um spazieren zu gehen.

2

Wie sie da saß in ihrem geblümten Morgenmantel, aufrecht, die gelockten Haare noch ungekämmt, erschien sie Vogelsang wie eine müde Königin. Wie eine Königin, die lange geherrscht hatte und nun, eine Tasse Kaffee vor sich, die Reste ihrer royalen Würde zu bewahren versuchte, einsam, aber nicht unglücklich. Die Bäckerei mit dem Café befand sich neben einem großen Supermarkt, Einkaufswägen klapperten, es roch nach Reinigungsmitteln. Vogelsang ging hinein, zum kleinen Tisch, an dem ihre Mutter saß, und zog einen Stuhl zur Seite.

»Darf ich mich setzen?«

Die müde Königin sah auf und lächelte.

»Greta«, sagte sie. »Meine liebe Greta.«

»Hallo, Mama.« Sie setzte sich. »Was tust du hier?«

»Das siehst du doch, ich trinke Kaffee. Gut, dass du jetzt da bist. Ich langweile mich zu Tode, musst du wissen. Sie sind sehr unzuverlässig geworden, vor allem Audrey.«

»Ich habe Clark draußen auf dem Parkplatz gesehen«, sagte Vogelsang.

»Dieser Lump. Was tut er da?«

»Er will lieber in den Garten, bei diesem Wetter.«

»Ich weiß nicht.«

Sie trank einen Schluck Kaffee. Vogelsang stand auf.

»Ich hole mir ein Wasser.«

Sie ging vor an die Theke. Die Verkäuferin erkannte sie und lächelte.

»Sie war sehr höflich«, sagte sie.

Vogelsang nickte und kramte einen Fünfeuroschein aus ihrer Tasche, legte ihn in die Schale.

»Für den Kaffee. Und geben Sie mir bitte vier Brötchen und ein Wasser.«

Zurück am Tisch setzte sie sich nicht mehr.

»Audrey wird auch im Garten sein«, sagte sie.

Die Königin seufzte und stand schwerfällig auf.

Während Vogelsang fuhr, schaute sie immer wieder zu ihrer Mutter. Die blickte aus dem Fenster und bewegte dabei die Lippen, einmal lächelte sie, und Vogelsang dachte, sie ist noch immer so schön, so voller Leben, und trotzdem war ihr klar, dass es so nicht weitergehen konnte.

Sie parkte in der Auffahrt. Ihr Vater stand schon in der Tür. Er kam die Stufen herunter und blieb auf der letzten stehen, hielt sich mit einer Hand am Geländer fest. Wirst immer älter, Papa, dachte Vogelsang. Ihre Mutter stieg aus, begann auf den Vater einzureden, dass sie nun augenblicklich aufbrechen müssten in den Garten, sie könne die anderen unter keinen Umständen warten lassen, Audrey würde einen Aufstand veranstalten, Clark beleidigt Zigarette rauchen. Vogelsang sah, wie ihr Vater die Königin die Stufen hinaufbegleitete und in der Tür stehen blieb. Vogelsang ging vor zur Treppe.

»Wir müssen was machen«, sagte sie leise.

Ihr Vater nickte nur.

»Was, wenn sie mal runter zum Main läuft?«

»Ich hab die Tür vergessen.«

»Ich weiß, Papa, aber das ändert doch nichts. Du kannst euch nicht ewig einsperren.«

»Wir reden ein andermal. Wir gehen jetzt in den Garten, da gefällt es ihr gut.«

»Ich muss auch los. Wir werden was machen, Papa. Wenn du nicht kannst, dann mach ich es.«

Er presste die Lippen aufeinander, es sah beinahe aus wie ein Lächeln. Dann hob er die Hand und verschwand im Haus, schloss die Tür.

Als sich Vogelsang wieder hinters Steuer setzte, war sie plötzlich unendlich müde. Erst der tote Mathissen im Main und jetzt Mama, die rastlose Königin. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Mathissen war nicht ihr Fall, und die Königin kam schon zurecht, kam sie immer.

 

Marx erwartete sie miauend im Flur. Sie kraulte ihm den Rücken, wie er es mochte, dann ging sie in die Küche. Mika stand neben dem Kühlschrank und schnitt Obst. Sie lehnte sich an ihn.

»Willst du auch?«, fragte er und deutete auf die Schale, in die er das Obst schnippelte.

Sie schüttelte den Kopf.

»War’s denn so wichtig?«

»War es.«

Sie hielt noch immer die Tüte mit den Brötchen in der Hand, wusste nicht, wohin damit. Marx strich um ihre Beine. Mika legte das Messer zur Seite und nahm sie in den Arm. Er roch noch nach Schlaf und ein bisschen nach morgendlichem Furz. Sie mochte das. Einige Momente standen sie so, keiner sagte etwas, Marx beäugte sie. Dann löste sie sich, sagte, sie müsse jetzt erst mal duschen.

»Es war Mathissen.« Sie blieb auf dem Weg ins Bad noch einmal stehen, drehte sich um. »Der Tote im Main.«

Mika sah sie fragend an.

»Ein Kollege vom Zoll.«

»Der Angler?«

Vogelsang nickte.

»Was ist passiert?«

»Wahrscheinlich ein Unfall, keine Ahnung. Mal die Obduktion abwarten.«

Während sie unter der Dusche stand und das Wasser auf ihren Rücken und Kopf trommelte, versuchte sie sich erneut Mathissens Gesicht vorzustellen; da waren blonde Haare und klare Augen, etwas Bart, aber das konnte genauso jemand anderes sein, jemand aus der Abteilung. Sie trocknete sich ab, betrachtete ihr gerötetes Gesicht im Spiegel. Wunderschöne Augenringe. Was hatte sie in ihrem letzten Telefonat mit Mathissen besprochen? Es war ein kurzes Gespräch gewesen, und sie konnte sich nicht mehr genau an den Inhalt erinnern, nur daran, dass sie ihm freundlich, aber bestimmt empfohlen hatte, die Ergebnisse seiner Ermittlungen über seine Vorgesetzte der Staatsanwaltschaft zukommen zu lassen, sich an den Dienstweg zu halten, um unnötigen Ärger und Verzögerungen zu vermeiden. Sie fuhr sich mit dem Handtuch übers Gesicht, zog sich ein frisches Shirt an und tappte zurück in die Küche. Ich hätte ihm vertrauen sollen, dachte sie dabei, schenkte sich Kaffee ein. Und während sie sich ein Brötchen aufschnitt und mit Käse belegte, dachte sie, dass sie auch nicht viel besser war als die ganzen anderen Prinzipienreiter, Dienstweg einhalten, keinen Ärger machen. Früher hätte sie einem wie Mathissen den roten Teppich ausgerollt, aber jetzt war sie selbst ja schon halbes Inventar, ein bisschen eingerostet, ein bisschen schwerfällig, wie alle anderen auch.

Sie nahm das Brötchen und den Kaffee und setzte sich zu Mika auf die Terrasse.

»Ich hab Mama wieder beim Rewe eingesammelt«, sagte sie kauend.

Mika sah sie an. Die letzten Male war er es gewesen, der sie nach Hause gebracht hatte.

»Haben sie Audrey und Clark wieder versetzt?«

Vogelsang lächelte, obwohl ihr nicht wirklich danach war. Aber manchmal ging es nicht anders.

»Ich hab zu Papa gesagt, dass wir was machen müssen. Dass es so nicht weitergeht. Ich meine«, sie stockte, starrte auf ihr Käsebrötchen, »ich will nicht eines Morgens aus dem Bett geholt werden, und dann komme ich ans Mainufer und da liegt sie dann.«

»Das wird nicht passieren.«

»Weil sie mit Clark eine Runde schwimmen wollte.«

Vogelsang kaute und sah in den Garten. Engels kam zwischen den Beeten hervor, hockte sich hin und blinzelte in die Sonne.

»Im Moment geht’s doch noch«, sagte Mika. »Besser, als sie irgendwohin zu geben.«

»Keiner will sie irgendwohin geben«, sagte Vogelsang eine Spur zu laut und zu gereizt.

»Ich meine ja nur«, entschuldigte sich Mika.

Nicht ihr Morgen. Sie stand auf, fasste Mika zärtlich in den Nacken, dann ging sie hinein. Sie würde das Rad nehmen, die Fahrt ins Büro würde den Kopf frei machen, sie runterholen.

Um kurz nach neun verließ sie das Haus, zurrte noch einmal den Helm fest, schwang sich auf ihr Rennrad und machte sich auf den Weg.