Falsche Versprechen - Florian Wacker - E-Book

Falsche Versprechen E-Book

Florian Wacker

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Beschreibung

Ein Mord im Frankfurter Westend, ein geständiger Täter ohne Motiv, ein mächtiger Energiekonzern – und ein eigenwilliger Ermittler alter Schule. »Falsche Versprechen« ist ein packender Fall für Kommissar Uwe Fähndrich. Ein Unternehmensberater, erschossen in seiner Villa – Uwe Fähndrich hat eine Leiche und einen geständigen Täter. Trotzdem scheint in diesem Fall nichts zusammenzupassen. Bis er bei seinen Recherchen auf den Arbeitgeber des Ermordeten stößt: Liquid Lights. Ein Energieriese und Vorreiter bei der Produktion von Wasserstoff, der wegen seiner Geschäftspraktiken immer wieder in der Kritik steht – und ausgerechnet in diesen Tagen die große Politik zum Wasserstoffgipfel in Frankfurt lädt. Fähndrich wittert einen Zusammenhang und wendet sich an Staatsanwältin Vogelsang. Gemeinsam wird ihnen klar, dass der Fall viel größer ist als gedacht – und bis in die Hinterzimmer der Mächtigen reicht. Als kurz darauf in der JVA ein Anschlag auf den vermeintlichen Täter verübt wird, spitzt sich die Situation dramatisch zu. Und Fähndrich muss sich entscheiden, wie weit er in diesem Fall zu gehen bereit ist.

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Seitenzahl: 322

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Florian Wacker

Falsche Versprechen

Ein Mord, ein Geständnis – und eine Lüge, die alles verändert

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Florian Wacker

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Florian Wacker

Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, studierte Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Seine Romane, Erzählungen und Theaterstücke wurden mehrfach ausgezeichnet. 2024 stand sein Roman »Zebras im Schnee« auf der Spiegel-Bestsellerliste. Bei Kiepenheuer & Witsch erschienen die beiden Krimis »Die Spur der Aale« und »Der goldene Tod«. Wacker lebt mit seiner Familie in Frankfurt am Main und schreibt Prosa, Dramatik und Code.

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Über dieses Buch

Ein Mord im Frankfurter Westend. Ein Täter ohne Motiv. Und ein mächtiger Gegenspieler. Für die Wahrheit muss Kommissar Uwe Fähndrich in »Falsche Versprechen« alles aufs Spiel setzen.

Ein Unternehmensberater, erschossen in seiner Villa – Kommissar Uwe Fähndrich hat eine Leiche und einen geständigen Täter. Trotzdem scheint in diesem Fall nichts zusammenzupassen. Bis er bei seinen Recherchen auf den Arbeitgeber des Ermordeten stößt: Liquid Lights. Ein international agierender Energieriese und Vorreiter bei der Produktion von Wasserstoff.

Fähndrich wird bald klar, dass sein Fall bis in die Schaltzentralen von Politik und Wirtschaft reicht und wendet sich an Staatsanwältin Vogelsang. Als kurz darauf in der JVA ein Anschlag auf den vermeintlichen Täter verübt wird, spitzt sich die Situation dramatisch zu. Und Fähndrich muss sich entscheiden, wie weit er zu gehen bereit ist …

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Impressum

Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln

© 2025, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com

Covermotiv: © iammotos - stock.adobe.com, © Pakhnyushchyy - stock.adobe.com

 

ISBN978-3-462-31330-7

 

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

1

Schota

Die Nacht hat tausend Augen. Die Nacht hat hundert Münder und Ohren, Arme und Beine. Er schaut nicht auf, blickt die Nacht nicht an; er hört nicht hin, stellt sich taub. Ich habe keinen Namen, ich bin gar nicht da, bloß nicht auffallen, nicht hinsehen, nicht hinhören, denn aus allen Ecken und Winkeln flüstert es, flüstern sie seinen Namen. Er weiß, dass sie hinter ihm her sind.

 

Da lag einer, mit verdrehten Armen und Beinen, er konnte ihn sehen, sein Gesicht, seine weit aufgerissenen Augen, er konnte ihn schreien hören, seinen weit aufgerissenen Mund. Seitdem sieht er den Fremden überall, in den dunklen Ecken und Winkeln dieser Stadt sieht er ihn, in Hofeinfahrten und zwischen den geparkten Autos, da sieht er das Gesicht, blutüberströmt und seltsam verformt. Er weiß, er hätte dort nie auftauchen dürfen, aber jetzt ist es zu spät, er hätte das Gesicht nie sehen, nie in die Augen blicken dürfen, denn er weiß, dass sie ihn erkannt haben.

 

Er weiß, dass er verschwinden muss. Aber zuerst muss er Gabriel finden, wo ist dieser Wichser, dieser verdammte Bastard, Gabriel. Wenn der keinen Stress gemacht hätte, wäre das alles nicht so gekommen. Wenn der Typ sich nicht so aufgespielt hätte, als wäre er ein ganz Großer, aber das ist er nicht, Gabriel ist auch nur einer, der herumrennt und das Maul aufreißt. Der Typ hat sich aus dem Staub gemacht, hat Schiss, weiß genau, was passieren wird, und egal, wo er ihn sucht, er ist nicht da, nicht am Bahnhof, nicht am Ostpark, auf zwei Baustellen war er auch schon, aber da hat keiner Gabriel gesehen.

 

Er weiß nicht genau, wo er ist. Er kennt die Stadt nur wie ein scheues Tier, kennt nur die ausgetretenen Wege, die andere schon vor ihm gegangen sind, ein für andere unsichtbares Netz aus Pfaden, die entlang der großen Straßen führen, zu den Plätzen, in die Parks, an den Bahnhof, zu den Baustellen. Mehr kennt er nicht, es könnte jede andere Stadt sein, Frankfurt am Main, nie gehört, der Zug hat gehalten, er stieg aus und folgte den anderen, dorthin, wo es was zu tun, wo es was zu holen gab. Jetzt ist er allein. Er vergräbt die Hände in den Taschen seiner Jacke, wechselt die Straßenseite, er darf nicht stehen bleiben. Augen und Ohren, Füße und Hände. Sie wollen ihn, sie suchen ihn.

 

Und überall Blut. Er versucht sich auf das zu konzentrieren, was um ihn ist, die Schatten, die Lichter, das helle Aufblitzen von Scheinwerfern, und trotzdem sieht er das Gesicht, sieht das Blut. Er muss weiter. Überall klebt das Blut an ihm, und obwohl er es nicht sehen kann, weiß er, dass es da ist, überall, aber er bekommt es nicht weg. Er zieht den Reißverschluss der Jacke bis unters Kinn, zieht sich die Basecap tief in die Stirn.

 

Verdammter Gabriel! Vielleicht ist er jetzt in der Bude, vielleicht gibt es da was zu essen, er hat Hunger, ganz übel ist ihm schon, manchmal wird ihm schwindelig, und alles beginnt sich zu drehen. Er weiß nicht genau, wie lange er schon unterwegs ist, Stunden, bald wird es hell. Er weiß, dass er sich irgendwo verkriechen muss. Er ist ganz zittrig, und wenn er stehen bleibt, dann bleibt alles um ihn trotzdem in Bewegung. Er will schlafen, das fremde Gesicht vergessen, das Blut, überall Blut, diese grässlich weißen Augen.

 

Er hockt sich in ein Haltestellenhäuschen, sieht an sich herunter, seine Hände zittern. Ist da Blut? An seinen Händen, an seiner Jacke? Er reibt seine Finger an der Hose, wie verrückt rubbelt er über den Stoff, nichts darf ihn verraten, er hat mit der Sache nichts zu tun. Früher, da hat es ihn doch auch nie gejuckt, wenn einer ankam und ihm irgendwas sagen wollte, da hat er ihm eine mitgegeben. Aber jetzt gibt es die Augen, die Münder.

 

Er ballt eine Hand zur Faust und drückt sie sich auf den Oberschenkel, bis endlich der Schmerz einsetzt. Er denkt an Nia, an ihre schönen Augen und die langen Wimpern, warum gerade jetzt? Vielleicht, weil sie es war, die ihn beruhigen konnte, die ihn runterholte, ganz sanft, sie musste gar nicht brüllen, musste ihn nur ansehen, ihm eine ihrer kühlen Hände auf die Wange legen und fragen, ob er noch bei Verstand sei, er solle sie anschauen, schau mich an, du, schau mich an, jetzt krieg dich wieder ein!

 

Er lächelt, steht auf. Die können mich alle mal! Er wird zu Gabriel gehen, er wird sich Geld besorgen, der Typ schuldet ihm noch was, und dann wird er verschwinden. Er sieht sich um, so leicht lässt er sich nicht kriegen. Er steigt in die einfahrende Tram Nummer 11 und lässt sich durch die Dunkelheit tragen, irgendwo dahinten muss der Fluss sein, sein Blick streift das riesenhafte Gebäude der EZB. Hier ist die Kohle, hatte Gabriel zu ihm gesagt, immer wieder hatte er es zu ihm gesagt, als sie nach einem endlos langen Tag irgendwo in der Nähe herumsaßen und auf die Nacht warteten, darauf, dass sie endlich loslegen konnten. Dadrin wird die Kohle gemacht, hatte Gabriel gesagt und mit seiner Flasche auf dieses verglaste Monster gezeigt. Das müssen irgendwelche Aliens sein, hatte er da gedacht, die so was bauen, die sich so was ausdenken, kommt wieder zurück und holt euer scheiß Raumschiff ab, hatte er gedacht.

 

Irgendwo läuft leise Musik, sonst ist nichts zu hören. Die Werkstatt ist zu, im Dunkeln kann er die Karosserien schwach schimmern sehen, irgendwelche alten Karren, Schrottkisten, wo sie noch irgendwas ausbauen, um es dann zu verkaufen. Manchmal denkt er, dass er es auch mal so versuchen sollte, mit einem normalen Job. Hat er ja auch schon, Nia zuliebe, aber er ist einfach zu ungeduldig, er will nicht warten, er kann es nicht ertragen, dass da einer ist, der ihn herumkommandiert, dass er auch noch betteln muss, um am Monatsende seine Kohle zu bekommen, dass er aufpassen muss, nicht beschissen zu werden, da kann er es auch gleich lassen.

 

Unter seinen Sohlen knirscht Kies, er nähert sich der Werkstatt. Alles ist dunkel. Wahrscheinlich schläft Gabriel schon, hat sich aufs Ohr gehauen, dieser Wichser. Er schiebt die schwere Stahltür auf, schmale Treppen führen hinauf. Keine Ahnung, wie Gabriel an diese Bude gekommen ist, ein Drecksloch, für das er auch noch zahlen muss, aber Gabriel ist stolz drauf. Er muss nicht mehr draußen pennen, nicht mehr auf den Baustellen, sondern hat es warm, vor allem im Winter. Da ist was dran, auch wenn er sich was anderes vorstellt, eine richtige Wohnung in einem der neuen Blocks, die sie gerade überall in der Gegend hochziehen, schön sauber und groß, mit Whirlpool, einer riesigen Küche und Dachterrasse.

 

Langsam steigt er die Treppen hoch. Kurz glaubt er, von oben Stimmen zu hören, aber zwei Schritte weiter ist alles wieder still. Er bleibt stehen. Ist Gabriel wach? Ist da jemand bei ihm, einer von den Jungs, Malik oder Luka? Langsam geht er weiter. Die Tür ist nur angelehnt, dabei achtet Gabriel immer darauf, sie zuzumachen, oft schließt er ab. Soll ja nicht jeder Idiot reinkommen. Er bleibt stehen, lauscht, legt eine Hand an die Tür und schiebt sie vorsichtig auf. Vielleicht glaubt Gabriel, er sei von den Bullen oder jemand, der ihn abzocken will, und steht hinter der Tür mit einer Eisenstange.

 

»Gabriel?« Seine Stimme klingt rau, so, als hätte er seit Tagen nicht mehr gesprochen. »Ich bin’s, Schota.« Nicht, dass der ihm gleich eins überzieht. Er hört jetzt eine Bewegung aus dem Gang vor sich, er sieht einen Schatten. Er drückt die Tür noch weiter auf, und da steht einer, aber es ist nicht Gabriel. Scheiße! Sie haben auf ihn gewartet. Sie haben gewusst, dass er kommen wird.

 

Er denkt nicht nach, nimmt drei Stufen auf einmal, reißt die Werkstatttür auf und rennt. Hinter sich kann er jetzt Stimmen hören, Schritte. Er rennt nicht vor zur Straße, sondern windet sich zwischen den Autowracks durch, da ist Gebüsch, dahinter die Gleise, das weiß er. Zwei helle Geräusche sind zu hören, kurz hintereinander, laut und peitschend. Die schießen auf mich! Er duckt sich, aber widersteht dem Drang, sich hinzuwerfen, stolpert vorwärts, erreicht das Gebüsch und wirft sich mitten rein. Zweige schlagen ihm ins Gesicht, er taumelt über irgendwelchen Müll, wendet sich nach links, rutscht einen Hang hinunter und hetzt weiter. Er sieht sich nicht um, nicht umsehen. Die Augen der Nacht sind auf ihn gerichtet. Unter seinen Sohlen knirschen Steine, da leuchten die Gleisanlagen im orangefarbenen Licht riesiger Leuchtmasten.

 

Er bewegt sich im Zickzack zwischen den Waggons, an einem zieht er sich hinauf und kauert sich auf die Trittstufe eines Containers. Er lauscht. Sein Herz schlägt wie verrückt, in seinen Ohren rauscht es. Er rührt sich nicht vom Fleck, macht sich ganz klein. Er weiß jetzt, dass sie ihn überall finden können. Vielleicht gehört Gabriel zu ihnen, hat ihn verraten. Er ballt eine Hand zur Faust. Und plötzlich weiß er, dass da niemand mehr ist, der ihn jetzt noch beschützt, der ihm helfen wird. Keinen interessiert es, ob er lebt oder verreckt, keinen einzigen.

 

Tränen laufen ihm die Wangen runter, er hat seit Ewigkeiten nicht mehr geweint, aber jetzt kann er es nicht mehr zurückhalten. Hastig wischt er sich übers Gesicht, zieht den Rotz hoch. Er denkt wieder an Nia, er denkt auch an Großmutter und Großvater, Bauba und Bebia, denkt an die runzligen Hände der beiden, an das Haus und den Garten, die Hühner und das Schwein, das er immer mit Steinen bewarf, denkt auch an den kleinen Hund und sein helles Kläffen, denkt daran, wie er Nia zum ersten Mal küsste, wie sie am Abend beim alten Kieswerk herumsaßen, er hatte vom Bauba etwas Tabak geklaut und drehte eine Zigarette, dann rauchten sie, und beiden wurde erst übel, aber dann ganz wolkig, und Nia sagte, los, fass sie mal an, mach schon, und schob seine Hände unter ihr Shirt, und es war das erste Mal, dass er einen Menschen irgendwie mochte.

 

Er zittert, die Zähne schlagen aufeinander, er kann gar nicht aufhören, kann nichts dagegen tun. Er kann nicht hierbleiben, nirgends kann er bleiben, es gibt keinen Ort mehr für ihn. Sie werden ihn finden, und wenn sie ihn gefunden haben, werden sie ihm die Zähne ausschlagen und die Augen ausstechen. Er lehnt den Kopf gegen das kalte Metall, er will schlafen, aber er darf nicht, er muss wach bleiben, am Leben bleiben. Also schaut er sich vorsichtig um. Niemand ist zu sehen. Er springt hinunter ins Gleisbett und geht weiter, an einer schier endlos langen Schlange von Containerwaggons entlang. Er hat das Gefühl, jeden Moment in den Knien einzubrechen, keinen Schritt kann er mehr gehen, aber er muss. Er erreicht eine Straße, noch mehr Container, schwingt sich mit letzter Kraft über ein geschlossenes Rolltor und trottet weiter, im körnigen Licht der Laternen. Es muss zu regnen begonnen haben, denn plötzlich spürt er die feinen Tropfen im Gesicht. Er bleibt stehen.

 

Dort hinten leuchtet ein Schild, er geht drauf zu. Er kennt es. Er weiß jetzt, was er tun muss. Alles geschieht wie von selbst. Er drückt auf die Klingel, die Tür summt auf, und er tritt in einen grell erleuchteten Gang, geht weiter zu einem Schalter. Zwei Augen schauen ihn an, eine Frau in Uniform, sie sieht müde aus. Er versteht sie nicht.

»What do you want?« Ihre Stimme klingt ein bisschen wie die Stimme von Nia, und für einen kurzen Moment ist da so etwas wie eine Zukunft, ist da eine Art Zuversicht, die warm in seine Brust ausstrahlt.

»Please arrest me«, sagt er. »I’ve killed someone.«

2

Uwe Fähndrich hatte sich die Schuhe ausgezogen und machte einen Triple Step nach vorn, machte noch einen weiteren Schritt mit dem rechten Fuß, fiel zurück auf den linken und bewegte sich wieder drei kleine Schritte nach hinten; er tat es ohne größere Anstrengung, wie beiläufig, noch einmal von vorn, aufs Fenster zu. Dort hielt er inne und sah hinunter in den Innenhof des Polizeipräsidiums. Nichts regte sich dort unten. Also drehte er sich wieder um, machte die Schrittfolge wieder in den Raum hinein und blieb dann vor seinem Schreibtisch stehen. Manchmal halfen ihm die Schritte, nicht dazu, sich besser konzentrieren zu können, vielmehr nutzte er sie als kurze Entspannung, als Auflockerung, wenn der Rücken zu schmerzen begann, was in letzter Zeit immer öfter passierte, oder wenn er nach dem Mittagessen in ein Tief fiel und ständig gähnen musste. Er hatte das Fenster auf Kipp gestellt, spürte einen feinen Luftzug im Nacken und drehte sich wieder um, runzelte die Stirn.

Das passt doch nicht zusammen, dachte er, warum sollte jemand so was tun?

Er sah auf seine Socken, verlagerte sein Gewicht von der Ferse auf die Ballen und wieder zurück, der Teppich unter seinen Füßen hatte genau die richtige Beschaffenheit, man sank nicht ein, rutschte aber auch nicht zu sehr, ein angenehmes Dahingleiten war möglich. Sein Büro war nicht besonders groß, Standardmaße, mit Schreibtisch, Aktenschrank und Computer, neben dem Bildschirm stand eine Aloe-vera-Pflanze, die ihm Dora geschenkt hatte und bei der er sich alle Mühe gab, sie nicht vertrocknen zu lassen; er war sogar schon einige Male an seinen freien Wochenendtagen ins Büro gekommen, um die Pflanze zu gießen. Dabei hatte Dora ihm eingeschärft, die Pflanze ja nicht zu übergießen, sonst faule sie, er müsse es mit Bedacht tun, im Herbst und Winter weniger, im Frühjahr und Sommer etwas mehr, und er gab sich Mühe.

Uwe setzte sich wieder in seinen Bürostuhl, griff nach seiner Tasse mit dem inzwischen kalten Grüntee und trank den letzten Schluck. Er nahm den neongelben Antistressball, lehnte sich zurück, und während er den kleinen Ball in seiner rechten Hand knetete, dachte er über diesen seltsamen Fall nach und fragte sich erneut, ob er hier nicht einem Wichtigtuer aufsaß, ob der Mann nicht psychische Probleme hatte und nicht in eine Zelle, sondern in ein Krankenzimmer gehörte.

 

Gestern Abend, kurz vor Dienstschluss, hatte er einen Anruf der Kollegen aus dem 5. Polizeirevier bekommen, drüben an der Hanauer Landstraße, sie hätten gerade einen Mann in Gewahrsam genommen, der behauptete, jemanden ermordet zu haben. Also hatte sich Uwe in den Dienstwagen gesetzt und war rübergefahren, er musste es zumindest überprüfen, auch wenn er glaubte, dass sich da bloß einer wichtigmachen wollte, einen warmen Schlafplatz suchte oder einfach nur jemanden zum Reden brauchte. Die Kollegin hatte ihn mit einem müden Lächeln begrüßt, und er hatte ebenso müde zurückgelächelt.

Der Mann sei in einer der Gewahrsamszellen, kein Ausweisdokument, nichts, was irgendeine Auskunft über ihn gebe. Seinen Namen nenne er auch nicht, aber sie vermute anhand der paar Sätze, die er gesagt habe, dass er kein Deutscher sei, vermutlich Osteuropäer. Erkennungsdienstlich behandelt sei er bereits. Uwe hörte zu und nickte. Ob er auch einen Kaffee wolle? Wieder nickte Uwe, obwohl er sich das Kaffeetrinken eigentlich abgewöhnen wollte, nein, abgewöhnen war nicht das richtige Wort, etwas reduzieren wollte er es. Der Amtsarzt hatte ihm bei seinem letzten Besuch vor einigen Wochen aufgrund seines hohen Blutdrucks geraten, weniger Kaffee zu trinken und weniger zu rauchen, hatte ihm mit ernster Miene ins Gewissen geredet: Er müsse mehr auf seine Gesundheit achten, ob er denn regelmäßig zum Urologen gehe, er dürfe das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Und tatsächlich fühlte sich Uwe in letzter Zeit nicht besonders wohl in seiner Haut, was er vor allem dann spürte, wenn er mit Dora tanzte und dabei immer öfter um eine kurze Pause bitten musste, um zu Atem zu kommen. Also hatte er beschlossen, nach den obligatorischen zwei Tassen am Morgen über den Tag hinweg nur noch grünen Tee zu trinken, der im Gegensatz zu Kaffee auch kalt noch erstaunlich gut schmeckte.

Er trank eine halbe Tasse Kaffee, dann brachte ihn die Beamtin zum Verhörraum. Uwe warf einen ersten, schnellen Blick auf den Mann. Einer dieser Typen, schmal, die Haare kurz geschoren, die Augen starr auf den Tisch vor sich gerichtet, die Hände in die Taschen seiner Trainingsjacke geschoben. Eine dieser hoffnungslosen, durch die Stadt taumelnden Gestalten, immer auf der Suche, nach dem nächsten Dealer, dem nächsten kleinen, miesen Job, irgendwie zu Geld kommen, um es gleich wieder zu verlieren, einer im Strom der Herumtreiber, die immer mal wieder stolperten, der Länge nach hinschlugen, sich aber wieder aufrappelten und weitermachten.

Der Mann hob den Kopf, als Uwe eintrat, zog eine Hand aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Uwe fiel sofort auf, dass der Mann nervös blinzelte, seine Hand zitterte.

»Wollen Sie was trinken?«

Der Mann schüttelte den Kopf, schob die Hand zurück in die Tasche.

Uwe zog sich den Stuhl heran und setzte sich.

»Fähndrich von der Kriminalpolizei«, sagte er. »Sie können mich verstehen?«

Der Mann nickte.

»Also gut«, Uwe lehnte sich vor, faltete die Hände und sah den Mann an. »Sie sagen, Sie haben jemanden ermordet?«

»Ja, hab ich.« Die Stimme des Mannes war weich, fast wie die Stimme eines Kindes. Uwe wartete, aber der Mann sagte nichts mehr.

»Und weiter? Wo, warum, was ist passiert?«

Der Mann zog die Schultern hoch. Seine Augen waren dunkel und unruhig, sprangen hin und her, wie ein Tier, das man in die Enge getrieben hatte, ein junger Fuchs, der verzweifelt versuchte zu entkommen. Der Mann hatte nichts Wahnhaftes an sich, nicht die überdrehte Selbstsicherheit, nicht die planlose Panik eines Menschen, der gerade einen anderen getötet hatte. Er saß dort, weder aufrecht noch zusammengesunken, und musterte Uwe interessiert.

»Ich war im Haus«, sagte er, etwas stockend, als müsste er erst nach den passenden Worten suchen, »in einem großen Haus.«

»Wo genau?«

Der Mann zuckte mit den Schultern.

»Weiß nicht. Ein großes Haus und Garten, da war ich, da bin ich rein. Und dann war da dieser Typ.«

»Sie sind dort eingebrochen?«

»Da war der Typ«, fuhr der Mann fort, ohne auf Uwes Frage einzugehen, »der stand da, hat gebrüllt.«

Er hielt kurz inne, dann erzählte er weiter, stockend, mit einfachen Worten: Er habe den Hausbesitzer geschlagen, mit seiner Waffe, habe ihn gezwungen, ins Arbeitszimmer zu gehen und sich dort auf einen Stuhl zu setzen, wo er ihn dann mit Klebeband gefesselt habe. Er habe den Hausbesitzer nach Geld und Wertsachen gefragt, nach einem Safe, aber der habe nichts gesagt, nur herumgeschrien, er habe ihn angespuckt, und dann, ja, dann habe er ihm in den Kopf geschossen.

Der Mann schwieg, auch Uwe sagte nichts.

Heimtückischer Raubmord? Wäre jetzt keine Seltenheit. Trotzdem passte für Uwe die Geschichte nicht. Warum saß ihm der Mann jetzt gegenüber und war nicht längst über alle Berge, warum hatte er sich gestellt? Uwe stand auf, fragte ihn danach, einmal, zweimal, fragte nach der Tatwaffe, und jedes Mal sah ihn der Mann mit seinen schmalen, dunklen Fuchsaugen an und antwortete nicht. Uwe spürte, wie er wütend wurde.

»Warum sitzt du hier?«, fragte er, die Stimme lauter, als er beabsichtigt hatte. »Du wolltest ihn gar nicht töten, oder? Eine Affekthandlung. Und jetzt hast du Schiss, jetzt hast du Panik.«

Der Mann schwieg.

Uwe blies die Backen auf und ließ die Luft entweichen, dann verließ er den Verhörraum und ging zurück ins Dienstzimmer zu den Kollegen.

»Mit dem stimmt was nicht«, sagte er, und alle nickten.

Und trotzdem wollte Uwe die Geschichte nicht auf die leichte Schulter nehmen, dafür war er zu erfahren, dafür war ihm während seiner langen Dienstzeit zu viel Absonderliches, Abstruses untergekommen. Er wusste, dass man auch den unglaubwürdigsten Geschichten nachgehen musste, zumindest ein Stück weit.

»Wir schauen uns die Sache mal etwas genauer an, er hat die Tat recht detailliert beschrieben. Ich vermute, dass er im Westend unterwegs war, um dort nach einem geeigneten Ort für einen Bruch zu suchen. Eine Streife fährt bitte einmal das Westend ab, vom Palmengarten bis runter zur Messe, vielleicht gibt es ja was Auffälliges.« Uwe gähnte und entschuldigte sich, alle im Raum lächelten wissend. »Ich versuche, einen Richter ans Telefon zu kriegen, und beantrage U-Haft. Und nehmt bitte noch eine Probe von seinen Händen wegen Schmauchspuren für die KTU.«

 

Uwe warf den Ball gegen die Wand, konnte ihn aber nicht fangen und hatte keine Lust, sich danach zu bücken, also ließ er ihn liegen. Er rollte mit dem Stuhl an den Schreibtisch und fuhr sich übers Gesicht. Was mache ich jetzt mit dem Fuchs? So nannte er seit gestern Abend den namenlosen Mann. Mit dem Richter hatte er vereinbart, dass der ihn bis heute Abend weiter in Haft belassen würde, ja, der Fall sei merkwürdig, aber schließlich habe der Mann gestanden, jetzt müssten sie nur noch den Toten zur Tat finden. Der Richter hatte kehlig gelacht und ihm noch einen schönen Abend gewünscht.

Uwe sah auf die Uhr, kurz nach zehn am Vormittag. Er war müde, und die Tanzschritte hatten ihn nicht entspannt, im Gegenteil, er spürte ein Ziehen im Nacken. Der Fuchs spielte sich doch nur auf. Vielleicht hatte er zu viele Filme gesehen, zu ausgedacht klang die Beschreibung seiner angeblichen Tat, als habe er sie ein paarmal auf einer Kinoleinwand gesehen und sie sich gut eingeprägt. Wenn der Hausbesitzer ihn überrascht hatte, warum sollte er ihn dann an einen Stuhl fesseln, wäre es nicht vielmehr sofort zum Kampf gekommen? Woher hatte er das Klebeband, lag das einfach so herum oder hatte er es dabei, für alle Fälle? Und was war mit der Tatwaffe? Zwei Streifen waren gestern Abend noch durchs Westend gefahren, hatten dabei sogar ein paar späte Fußgänger angesprochen, ob ihnen etwas aufgefallen sei, aber niemand hatte etwas zu berichten gewusst, sich nur über Gehwegparker beschwert und dass die Polizei sowieso nichts tue, das übliche Palaver.

Vielleicht aber hatte der Fuchs auch Angst, überlegte Uwe, vielleicht war er nur das Bauernopfer in einer größeren Sache. Hatte man ihm Geld versprochen, wenn er sich stellte und die Sache auf sich nahm? Uwe bückte sich nach seinen Schuhen und schlüpfte wieder hinein. Das Gegrübel brachte ihn nicht weiter. Er würde noch einmal ins Revier fahren, mit dem Fuchs sprechen und ihn dann, wenn es keine neuen Erkenntnisse gab, am Abend aus dem Gewahrsam entlassen. Er hasste es, wenn Leute seine Zeit verschwendeten, wenn sie ihn sinnlos herumtigern ließen, während sich der ganze schwerfällige Apparat langsam in Bewegung setzte – ein möglicher Mord sorgte in allen Abteilungen immer für einen gewissen Adrenalinschub –, nur um kurz darauf abrupt gestoppt zu werden: alles nur Fake.

Uwe wollte gerade aufstehen, um sich auf den Weg zu machen, als es klopfte. Also fiel er wieder in den Stuhl zurück, da ging schon die Tür auf und Anne Seiferts Kopf erschien.

»Uwe?«

Ihr Pferdeschwanz fiel ihr auf die Schulter, und da er nichts sagte, öffnete sie die Tür noch weiter und trat ein. Sie lächelte, als sie ihn erblickte.

»Du suchst doch nach einer Leiche, oder?«

Anne war seit etwa einem Jahr im K11, engagiert, selbstbewusst. Manchmal dachte Uwe, sie könnte die kleine Schwester von Greta Vogelsang sein; die beiden ähnelten sich nicht nur im Aussehen, sondern auch in ihrem Auftreten, in der Selbstverständlichkeit, wie sie sich den Platz nahmen, den sie brauchten.

»Hast du eine für mich?«

Anne kam näher, nickte.

»Leichenfund im Westend. Kam gerade rein. Ich dachte, das könnte dich interessieren.«

Uwe war jetzt hellwach.

»Ja, das tut es.«

»Westend-Süd. Genaueres weiß ich noch nicht. Aber ich nehme dich mit, wenn du willst.«

 

Das Haus befand sich in der Schumannstraße, eines dieser wuchtigen Gebäude mit sandsteinfarbener Fassade und ornamentalen Verzierungen um die hohen Fenster in weißen Rahmen, hinter denen sich die Büros von Rechtsanwälten, Unternehmensberatungen und Privatärzten ausbreiteten. Vor dem Haus stand eine ausgreifende Magnolie, an der schon ein paar Knospen zu erkennen waren. Uwe stieg aus und blinzelte ins Sonnenlicht. Es war schon gut was los, zwei Polizeifahrzeuge, der Notarzt, der Wagen der KTU. Der Eingang zum Grundstück war mit Flatterband gesichert, Uwe nickte dem davor postierten Beamten zu und folgte Anne zur Haustür.

Auf der Fahrt hatte er ihr in aller Kürze von der Sache mit dem namenlosen Verdächtigen erzählt, von seinem Geständnis ohne jegliche Beweise, kein Motiv, keine Tatwaffe, keinen Toten, wobei sie jetzt zumindest einen Toten hätten, was aber genauer betrachtet auch noch gar nichts beweise – und dann hatte Uwe mit einem Schulterzucken aus dem Fenster gesehen.

»Die Reinigungskraft hat den Toten gefunden«, sagte Anne, während sie den Flur betraten. Fischgrätparkett, das unter ihren Schritten sanft nachgab und dabei leise knackte, ein Zeichen gleichermaßen von Wohlstand und Heimeligkeit. Sie streiften sich Plastiküberzieher über ihre Schuhe und zogen sich Einweghandschuhe an. Uwe folgte Anne ins Arbeitszimmer, das am Ende des Flurs lag, er nahm einen strengen Geruch wahr, süß und zugleich doch fremd, und ihm war klar, dass der Tote schon länger dort liegen musste. Zwei Kriminaltechniker in weißen Ganzkörperanzügen und Masken über Mund und Nase waren bei der Arbeit und nickten Anne und Uwe zu. Der Tote saß im Bürostuhl, die Arme waren mit Klebeband an die Stuhllehnen gefesselt, der Kopf nach vorn gesackt, trotzdem war das kleine Einschussloch in der Stirn deutlich zu erkennen. Uwe ging in die Knie, besah sich den Toten genauer. Auf seinem Gesicht zeichneten sich dunkel verfärbte Hämatome ab, unter beiden Augen, auf der rechten Wange.

»Der ist ganz schön verprügelt worden«, sagte Uwe und richtete sich wieder auf. Anne kam zu ihm, sah sich ebenfalls das Gesicht an und nickte.

»Leif Andresen«, sagte sie und sah auf ihr Smartphone. »Selbstständiger Unternehmensberater.«

Uwe sah sich im Raum um. Die Einrichtung war modern und minimalistisch gehalten, ein eleganter Schreibtisch, Regale mit Ordnern, zwei Zimmerpflanzen. An einer Wand hingen zwei Masken nebeneinander, die Uwe kurz verstörten: Es waren realistische Nachbildungen von Gesichtern, wahrscheinlich eine Frau und ein Mann, mit starkem Ausdruck, hervorstehenden Falten, die Augen verengt, die Lippen rot, vom Kinn des Mannes hing ein langer, schmaler Zopf. Uwe beugte sich etwas nach vorn. Wahrscheinlich asiatisch, dachte er.

Auf dem Schreibtisch stand neben zwei Monitoren und einem Telefon auch eine in einen schlichten Rahmen gefasste Fotografie, die den Toten neben einer Frau und zwei Kindern zeigte, wahrscheinlich die Familie Andresen. Sie schienen glücklich, lächelten, das Foto war irgendwo am Meer aufgenommen worden, im Hintergrund waren Wellen zu erahnen, ein weiter Himmel.

»Er hat Familie«, sagte Uwe und deutete auf das Foto. »Wissen wir was von der Frau oder den Kindern?«

»Laut Aussage der Reinigungskraft war sonst niemand im Haus.«

Uwe kratzte sich. In den Einweghandschuhen wurden seine Hände feucht. Es stimmte alles, was ihm der Fuchs erzählt hatte, der gefesselte Tote, das Einschussloch in der Stirn. Ein paar Ordner lagen aufgeschlagen auf dem Boden, zwei Schubladen einer Konsole unter dem Schreibtisch waren herausgezogen worden.

»Ich sehe mich mal etwas um«, sagte Uwe und verließ das Büro.

 

Küche, Schlafzimmer, die beiden Zimmer der Kinder, das Wohnzimmer, ein Gästezimmer, zwei Bäder – die Wohnung war geräumig, die Decken hoch, die Einrichtung modern und teuer. Vom Wohnzimmer aus gelangte man in den Garten, von dem man wiederum einen guten Blick in die Küche und das Arbeitszimmer hatte, in dem der Tote saß. In den anderen Zimmern deutete nichts auf einen Einbruch hin, nichts war herausgerissen, durchsucht worden, die Betten waren gerichtet, die Kinderzimmer in tadelloser Ordnung. Auch die Terrassentür wies keinerlei Spuren eines gewaltsamen Eindringens auf. Hatte Andresen den Täter ins Haus gelassen, hatten sich die beiden gekannt? Uwe merkte schon wieder, wie er abschweifte. Vielleicht gab es einen Keller, und der Fuchs war darüber ins Haus gelangt, durch ein Fenster, eine kleine Tür.

Uwe stand auf der Terrasse und sah zu den Tannen, die den Garten beschatteten, ein sanftes Rauschen war zu hören. Anne trat neben ihn.

»Und?«, sagte sie.

»Würde schon passen«, sagte Uwe. »Der Mann hat das alles ziemlich genau beschrieben, den Toten auf dem Stuhl, das Einschussloch in der Stirn.«

»Du hast aber keinen Namen, richtig?«

»Nein, auch kein Motiv.«

»Könnte es Raubmord gewesen sein?«

»Das sieht doch eher nach einer Hinrichtung aus. Warum sollte der Typ Andresen an den Stuhl fesseln, ihn schlagen?«

»Es gibt einen Safe im Büro. Vielleicht wollte er den Code dafür.«

»Schon möglich. Trotzdem sieht mir das hier zu professionell aus, das gesamte Vorgehen. Außer im Büro wurde anscheinend nichts angerührt, es sieht alles wie aus dem Ei gepellt aus. Keine Einbruchspuren an Tür oder Fenstern.«

»Deshalb sind wir ja hier, um das alles zu ordnen und plausibel zu machen«, sagte Anne.

Uwe sah sie an. Das klang ein bisschen zu sehr nach Polizeischule, aber trotzdem hatte er Anne vom ersten Tag an gemocht, ihre Art, die Dinge anzugehen, ihre positive Ausstrahlung, und einige Male hatte er sich gefragt, ob sie von ihm mehr erwartete als die Beantwortung dienstlicher Fragen, ob ihr häufiges Erscheinen in seinem Büro irgendein Zeichen sein sollte, das zu verstehen er sich weigerte, weil es mit einem seiner eisernen Grundsätze zu tun hatte: nie und nimmer ein irgendwie geartetes Verhältnis mit einer Kollegin zu beginnen, nicht einen Gedanken daran zu verschwenden. Er würde weiter geduldig ihre Fragen beantworten, eine Art Mentor für sie sein, weil er nicht wollte, dass sie der Apparat zu schnell verschliss, aber mehr würde es nicht werden.

»Also gut«, sagte Uwe. »Ich spreche mit der Staatsanwaltschaft, wir müssen die U-Haft verlängern. Die KTU soll alle Fingerabdrücke vom Tatort mit denen unseres Verdächtigen vergleichen. Zusammen mit der Untersuchung der Schmauchspuren haben wir dann hoffentlich schnell ein klares Bild. Und wir müssen die elektronischen Geräte von Andresen auswerten, Handy, Computer.«

Anne tippte etwas auf ihrem Smartphone.

»Ich kümmere mich um die Frau von Andresen«, sagte sie. »Die Aussage der Reinigungskraft haben wir schon.«

Die junge Frau saß in einem der Polizeiwagen und zitterte, als sich Uwe ihr gegenübersetzte. Er nickte ihr zu und versuchte ein freundliches Gesicht zu machen, eines, das ihr sagen sollte: Ich bin auf deiner Seite. Die Frau hatte dunkles Haar, sie war sehr schmal und trug eine Kette mit einem kleinen goldenen Kreuz um den Hals. Sie fühlte sich unwohl, das sah er.

»Wollen Sie etwas zu trinken?«, fragte Uwe.

Die Frau sah ihn an, schüttelte leicht den Kopf.

»Wann sind Sie heute gekommen?«

»Um halb zehn«, sie flüsterte fast, Uwe beugte sich etwas nach vorn.

»Und da haben Sie ihn gefunden?«

»Ich …«, die Frau sah an die Decke des Wagens, als suche sie dort nach einer Antwort auf die Frage. »Ich war in der Küche, weil ich dachte, es hat so gerochen … ich habe gedacht, der Müll, aber nein, dann habe ich im Bad geschaut, im Wohnzimmer und dann im Büro.«

Uwe nickte.

»Wissen Sie denn, wo die Familie ist, Frau Andresen und die Kinder?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Frau Andresen hat sie morgens immer in den Kindergarten gebracht und war dann oft weg, zur Gymnastik. Ich habe sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.«

Uwe bedankte sich, sagte, sie könne nach Hause gehen, wahrscheinlich müsse sie noch einmal aufs Revier, damit man ihre Aussage aufnehmen könne, man werde sie kontaktieren.

 

Der Vormittag war kühl, in der Nacht hatte es geregnet, und es gab noch ein paar Pfützen, in denen sich glasklar die Umgebung spiegelte, hohe Hecken, die Häuser, ein ausgewaschener Himmel. Uwe ging ein paar Schritte, lehnte sich gegen den Dienstwagen und sah zum Haus hin. Er klopfte auf seine Jacke, aber die Zigaretten lagen im Wagen; neuerdings wandte er diesen Trick an, um weniger zu rauchen, denn wenn er merkte, dass die Kippen noch im Auto waren, hatte er meist keine Lust, sie umständlich herauszuholen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und gähnte.

Also hatte er doch den richtigen Mann in der Zelle sitzen. Auch wenn er immer noch seine Zweifel hatte und mehrere große Fragezeichen im Raum standen. Trotzdem würde er Brandt anrufen und mit ihr das weitere Vorgehen abstimmen, auf jeden Fall würden sie den Mann jetzt länger dabehalten. Anne kam aus dem Haus.

»Dachte, du wärst schon weg.«

»Ich bin auch gar nicht mehr da«, sagte er.

»Ach so, dann kann ich dich auch nicht fragen, ob wir gleich zusammen was essen wollen.«

»Du könntest es ja versuchen.«

»Hast du Hunger?«

»Wie spät ist es?«

»Gleich halb zwölf.«

»Fährst du?«, er reichte Anne die Schlüssel.

»Du wärst wirklich ohne mich gefahren?«, fragte sie, als sie einstiegen. »Du hättest mich hier einfach zurückgelassen?«

»Klar doch!«

Beide grinsten, dann startete Anne den Wagen.

 

»Also, was denkst du?«

Uwe schob sich einen Löffel Linsensuppe in den Mund und kaute einige Male auf den weichen Hülsenfrüchten herum, bevor er schluckte. Dann lehnte er sich zurück, nahm einen Schluck Mineralwasser und sah zu Anne. Sie saß ihm gegenüber, hatte sich für das Schnitzel entschieden (sie liebe Schnitzel, in allen Varianten, hatte sie ihm einmal verraten, natürlich den Klassiker mit Preiselbeeren und Meerrettich, aber fast noch besser sei es, ein Stück Schnitzel durch die Grüne Soße zu ziehen, da komme nichts gegen an) und kaute nachdenklich.

»Wenn wir alles schön plausibel haben wollen, dann müsste es ja eine Erklärung geben, irgendeinen nachvollziehbaren Ansatz«, sagte Uwe.

»Wir müssen die Frau und die Kinder finden«, sagte Anne. »Und dann alles durchleuchten, Familie, Geschäfte, Freunde. Ein Raubmord scheint auf der Hand zu liegen, aber da stimmen ein paar Sachen nicht. Der gefesselte und verprügelte Andresen, die fast unberührte Wohnung, die verschwundene Familie. Irgendwas ist da faul.«

Uwe lächelte und aß weiter. Ja, Anne würde ihren Weg machen, ganz sicher würde sie das. Auch sie schien dieses untrügliche Gespür zu haben, für das er keine Worte finden konnte – das Gespür dafür, dass etwas nicht stimmte, dass das offensichtlich Naheliegende gar nicht so naheliegend war.

»Ich spreche gleich mit der Staatsanwaltschaft«, sagte er. »Ich denke auch, dass uns die ganze Sache noch länger beschäftigen wird.«

 

Als Uwe wieder im Büro war, telefonierte er mit Staatsanwältin Sandra Brandt von der Abteilung für Kapitalverbrechen und schilderte ihr kurz die Sachlage. Sie stimmte ihm zu, dass der Mann in U-Haft gehöre, sie würde alles Nötige veranlassen, und sie vereinbarten, in engem Kontakt zu bleiben. Uwe legte auf. Am Nachmittag würde er in die JVA Preungesheim fahren, wohin man den Verdächtigen bringen würde, um ihn dort noch einmal zu vernehmen, jetzt, da er einen Toten hatte und alles scheinbar zueinanderpasste.

Uwe schüttete sich etwas Studentenfutter in die Hand und pickte nach einer Nuss, während er »Leif Andresen« ins Feld der Suchmaschine eingab. Der Mann hatte eine eigene Website, auf der er sich als Unternehmensberater vorstellte, jahrelange Expertise vor allem in den asiatischen Märkten, tätig für Energie- und Mobilitätskonzerne. Dann folgten die üblichen Fotos eines gut aussehenden, mittelalten Mannes mit dunklen Haaren und einem einnehmenden Lächeln; er blickte mit verschränkten Armen in die Kamera, eine teure Uhr war zu sehen; er saß an einem Schreibtisch und sprach anscheinend mit jemandem jenseits der Kamera; zeigte sich mit einem anderen Mann, wahrscheinlich ein Geschäftspartner. Worthülsen von Zukunft und Partnerschaft, von Strukturen und Komplexität. Andresen hatte für die ganz Großen gearbeitet, für Siemens und Bosch, für VW und die Deutsche Bahn, hatte die Konzerne bei ihren Geschäften in China und Südkorea, in Ägypten und auf der Arabischen Halbinsel unterstützt. Uwe richtete sich auf. Ein kompetenter Typ, der sich seine Dienste ganz sicher gut bezahlen ließ.

Dann gab er Leif Andresen ins System ein und erfuhr, dass der Mann tatsächlich einen Eintrag im Strafregister hatte. Keine Anklage, keine Verurteilung, es handelte sich nur um einen Vermerk. Es hatte eine Anzeige wegen Körperverletzung gegeben, von Silke Andresen, seiner Frau, die aber kurz darauf wieder zurückgezogen worden war. Uwe wechselte wieder zurück zur Website, betrachtete die Fotos. Doch nicht so ein Saubermann, kein so toller Papi, dachte er. Aber wo war Silke Andresen jetzt, wo waren die Kinder?

Bevor er sich auf den Weg nach Preungesheim machte, schaute Uwe bei Anne vorbei. Die fragte ihn, ob er Kaffee wolle, aber Uwe wehrte ab, sagte, er versuche gerade ohne das ganze Koffein auszukommen, was ihm von Anne ein respektvolles Lächeln einbrachte, dann fragte er sie, ob sie etwas von Silke Andresen gehört habe, erzählte ihr von der Anzeige.

»Nichts«, Anne lehnte sich ans Fenstersims und nippte an ihrem Kaffee. »Ich habe im Kindergarten angerufen, aber dort waren die Kinder seit zwei Tagen nicht mehr.«