Die Stärkste unter ihnen - Selina Seemann - E-Book

Die Stärkste unter ihnen E-Book

Selina Seemann

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Beschreibung

Zu jung für diese Beziehung. Stark genug für den Ausbruch. Das ist Milena. Am Anfang war es Magnetismus. Gleichzeitig der Blick in den Abgrund. Milena und Nick werden Jahre nicht voneinander loskommen und eine unmögliche Liebe leben.Selina Seemanns schonungsloses Debüt umkreist die Geschichte einer schmerzhaften Abhängigkeit und das Wachsen ihrer bewundernswerten Protagonistin daran. Der Roman geht mitten in das schmerzhafte Thema Grooming – mit einer denkwürdigen Protagonistin, die sich ihre Deutungshoheit nicht nehmen lässt."Ein Buch für alle, die Houellebecq lieben, aber Houellebecq hassen."Elias Hirschl

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Selina Seemann

DIE STÄRKSTE UNTER IHNEN

Roman

Kremayr & Scheriau

Inhalt

Heute

Josh: 2014 Sommer

Nick: 2008

Josh: 2014 Sommer

Nick: 2008

Nick: 2009

Nick: 2009

Nick: 2010

Nick: 2010

Nick: 2011

Nick: 2011

Nick: 2011

Iris: 2010

Nick: 2010

Josh: 2014 Sommer

Nick: 2012

Nick: 2012

Nick: 2012

Nick: 2012

David: 2012

Nick: 2012

Nick: 2012

David: 2013

David: 2013

David, Nick, Josh: 2014

Josh: 2014 Sommer

Josh: 2014 Sommer

Josh: 2014 Sommer

Nick: 2014 Frühjahr

Josh: 2014 Sommer

Josh: 2014 Sommer

David: 2014 Frühjahr

Nick: 2014 Frühjahr

Nick: 2014 Frühjahr

Nick: 2014 Sommer

David: 2014 Frühjahr

Nick: 2014 Sommer

2014 Sommer

Nick: 2014 Sommer

Nick: 2014 Sommer

Josh: 2014 Sommer

Nick: 2014 Sommer

Josh: 2014 Sommer

Nick: 2014 Herbst

Nick: 2014 Herbst

Lisa: 2014 Herbst

David: 2014 Herbst

Clara: 2014 Herbst

Josh: 2014 Winter

Heute

In einer Woche

Danksagung

Die Figuren in diesem Roman, ihre Eigenschaften, Handlungen und die geschilderten Ereignisse sind Fiktion. Eventuelle Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Heute

»Willst du lieber lieben oder geliebt werden?«, liest Antonia die erste Frage aus der Zeitschrift vor. »Lieben natürlich. Aus rein egoistischer Sicht. Wenn ich nur geliebt werde, fühle ich ja nichts dabei«, antworte ich. »Ich habe meiner Mutter die Frage auch vorgelesen, sie sagte, geliebt werden. Das hat mich überrascht. Ich würde auch lieber lieben. Hundert Prozent.«

Josh

2014 Sommer

Seine Arme hatten das Muster von Kellogg’s Smacks. Nie wieder habe ich einen Menschen mit so vielen Sommersprossen gesehen. Ich konnte mich nicht entsinnen, dass er so viele von ihnen hatte, vielleicht trug er bei unserem ersten Treffen ein langes Shirt.

Heute war der letzte Tag im Juli, ich hatte gestern eine fast sechsjährige Beziehung beendet, der Flug nach Dublin kostete zweihundertdreiundsiebzig Euro und ich hatte nur Handgepäck dabei. Josh war viel größer, als ich ihn in Erinnerung hatte. Wir trafen uns im Flughafenparkhaus, er ging sehr schnell. Die Situation war seltsam, natürlich war sie seltsam, er war aufgeregt. Wir hatten uns nur zweimal zuvor gesehen und das war über ein Jahr her. Er war Tontechniker und eine Freundin, die ich besuchte, machte bei ihm Gesangsaufnahmen. Am Abend des zweiten Tages, den ich mit ihm in dem schallisolierten, fensterlosen Raum in seinem Studio verbrachte, schrieb er mir eine SMS, ob ich ihn heiraten wolle. Ich sagte Ja, aber nur im Spaß. Jetzt war mein Freund, mit dem es damals schon nicht gut lief, nicht mehr da, und der Spaß war kein Spaß mehr. Ich hatte die Schwelle aus dem Raum der ständigen Andeutungen schon überschritten, indem ich den Flug buchte, im Garten meines Freundes Benjamin, mit der Kreditkarte der Mutter meiner besten Freundin Felicitas, weil ich selbst keine Kreditkarte hatte – ich war einundzwanzig in diesem Sommer.

Ich kam mir von Sekunde zu Sekunde deplatzierter vor, meine Zunge fühlte sich schwer an, ich wollte, dass er meine akzentfreie Aussprache bewunderte, und verwechselte das dunkle und helle l an Stellen, an denen ich es nie tat, damn, wir hatten doch so viel geskypt, ich wollte, dass er mich auch in echt noch mochte. Warum hatte ich geglaubt, eine halb ernst ausgesprochene Einladung wäre Basis für ein verlängertes Wochenende Eskapismus?

Es war heiß draußen, er war nervös, der Innenraum seines Autos war so dreckig und voller alter McDonald’s Tüten, dass ich beim Einsteigen umknickte, aber er versicherte mir, dass es nur so aussah, als verschwänden darin ab und zu Mädchen, und ich entspannte mich und sagte, dass es mir nichts ausmachte.

Sein Heuschnupfen schien besonders schlimm zu sein in dieser Jahreszeit, er vollführte eine kleine Choreografie aus Nase hochziehen und gleichzeitig mit dem Handrücken die Brille hochschieben, die sich genauso in meinem Gedächtnis eingebrannt hatte wie der exakte Klang seiner Stimme. Songs, die ich oft gehört hatte, waren in meinem Kopf abgespeichert, ich konnte sie fast hören, ohne dass sie liefen, und auf die gleiche Art und Weise war seine Stimme in meinen Gedanken verankert. Ich konnte mir jeden Satz vorstellen, egal, ob er ihn tatsächlich gesagt hatte oder nicht. Ich konnte mir vorstellen, wie er »I love you, too« sagte, obwohl ich diesen Satz nie von ihm gehört hatte.

Ich wandte mich ihm zu, beobachtete, wie er mit links schaltete, und mochte, wie der Sicherheitsgurt auf meine Hüfte drückte. Die Mieten seien so hoch, nur deshalb wohne er noch bei seiner Mutter, sagte er entschuldigend, sie sei ja, wie ich wisse, Journalistin und werde ab morgen ein paar Tage wegfahren, wir würden sie wahrscheinlich gar nicht treffen.

Er parkte den Wagen vor einem weißen Haus mit blauen Fensterrahmen und unkontrolliert wucherndem Efeu an der Fassade. Sein Hund war sehr ruhelos, er sprang an mir hoch, nachdem Josh die Tür aufgeschlossen hatte. Die Unterschiede lagen immer in den Details. Die Türknöpfe sahen hier anders aus und dort, wo ich aufgewachsen war, würde niemals jemand einen solchen Handlauf an eine Treppe montieren und sie mit Teppich überziehen. Das Haus war klein, aber eigentlich schön, es war nur ziemlich heruntergekommen. Es war deutlich die Abwesenheit eines Menschen zu spüren, der Dinge sagte wie: »Das kann man selbst reparieren« und Fußleisten in einem Baumarkt kaufte. Mir fiel ein, dass ich hier noch keinen Baumarkt gesehen hatte, und hatte wieder etwas zu sagen, was ein Gespräch am Laufen hielt. Wir gingen die Treppe hoch und er zeigte mir sein Zimmer, das die nächsten Tage mein Zimmer sein sollte, das unser Zimmer sein würde, und es sah aus wie die vergrößerte Version seines Fußraumes im Auto. Die Wände waren blau, umrandet von einer Raketenbordüre. Er hatte ein Hochbett, dessen obere Etage vollgestellt war mit Kartons, über einem Bass hing eine Flagge, der Schreibtisch stand als Hypotenuse eines traurigen Dreiecks in der Ecke. Es gab einen Fernseher, eine Xbox, keine PlayStation, auf dem Boden lagen Zettel, Kleingeld, Socken, Krümel und an der Fensterscheibe klebten Reste von Window Color. Überall lagen getragene T-Shirts herum. »Are you okay if we go to the studio now?«, fragte er und natürlich war ich das. Wir kauften auf dem Weg an der Tankstelle einen Energydrink und zwei Schokoriegel, er bezahlte kontaktlos und ich sprach mit ihm über Datenschutz.

Im Studio sah ich ihm bei der Arbeit zu, er vermietete seine Proberäume stundenweise an Bands. Er stellte mich als eine Freundin aus Deutschland vor. Ich wusste nicht, ob ich mehr erwartet hatte, aber ich wusste immer weniger, was ich hier eigentlich machte. Wir ließen die Band, die heute gebucht hatte, proben, schlossen die Tür und gingen in den Nebenraum. Im Türrahmen berührte er meine Schulter. Sein Kuss auf das Stück freie Haut zwischen meiner Strickjacke und dem Träger meines Kleides kam überraschend. »Is that okay?«, fragte er. Ich mochte dort sehr gern berührt werden.

Ich war schon immer davon überzeugt, dass der Moment, kurz bevor man jemanden zum ersten Mal küsste, der einzig lebenswerte war. Es war nie der Kuss selbst, es war immer die Sekunde, in der der Magen kurz zog, der Moment, in dem man ein Feuerzeug an eine Flamme hielt und den Gashebel runterdrückte, der halbe Atemzug vorher. Dieser hier war okay, es war der drittbeste erste Kuss, den ich je hatte. Ich war irritiert davon, dass es ein wenig süßlich schmeckte, als wir uns küssten. Mir waren die Umstände dieses Kusses bewusst, als lägen sie auf einem Tisch und Flutlicht schiene darauf. Ich wusste, dass es erst siebzehn Uhr war, also für mich eigentlich achtzehn Uhr, dass ich vor nicht einmal zweiundzwanzig Stunden noch meinen Freund*innen dabei zusah, wie sie Sachen aus meiner Wohnung auf die Straße trugen, weil dort mein tobender Ex-Freund Nick wie Rumpelstilzchen neben seinem Kleinbus stand und alles zurückverlangte, was er jemals mit in die Beziehung gebracht hatte. Jede DVD wollte er wiederhaben, den Fernsehtisch, sogar die Drecks-Jamie-Oliver-Bratpfanne und, nur um mich zu demütigen, die Kiste mit dem Sexspielzeug. Aber weil er nie verstanden hatte, was Liebe ist, hatte er auch nicht begriffen, dass meine Freund*innen in dieser Situation nicht mich lächerlich fanden, sondern ihn. Benjamin wechselte noch am selben Abend mein Türschloss und Marta nahm mich lange in den Arm, dann packte ich meine Sporttasche.

Ich wusste nicht, was jetzt richtig war, wie ich jetzt noch etwas langsam angehen sollte, ich war unglaublich müde vom Flug, von fast sechs Jahren Beziehung, von meiner halb leeren Wohnung, von dem Staub, der sich unter den ausgeräumten Möbeln gesammelt hatte. Ich sagte »I wanted to do this for a long time« und das war gelogen, ich hatte den Flug erst vor ein paar Tagen gebucht, weil ich eine Deadline brauchte, um mich endgültig von Nick zu trennen, aber ich küsste Josh noch einmal und schob meine Hand zwischen seine Beine, weil es mir unhöflich vorkam, es nicht zu tun. Nebenan probte die Metalband und ich legte meine Hand auf seinen Gürtel. Ich musste das Lederband straff nach hinten ziehen, um den silbernen Metallstift aus ihm zu lösen, um ihn aufzubekommen, er übernahm für mich, ich machte mir Gedanken darüber, ob ich das th richtig aussprach, als ich »thanks« sagte; ich war nicht im Geringsten erregt. Er hatte viel Schamhaar, das konnte ich durch den Stoff fühlen, seine Boxershorts war blau mit schwarzen Streifen und ich spürte, dass sie feucht war, er schien wirklich aufgeregt zu sein, er ließ es sich nur nicht anmerken. Er tat nichts, er wartete ab und dass er nicht die Initiative übernahm, verunsicherte mich. Er hatte doch meine Schulter geküsst.

Ich sah die schwarze Wand, auf die er mit silberner Farbe einen Union Jack gemalt hatte, und sann darüber nach, wie ironisch das war und dass ich in den letzten sechs Jahren ziemlich treu gewesen war. Nur zweimal hatte ich mit David geschlafen und dass das zwangsläufig geschehen würde, sobald er wieder in mein Leben träte, war mir immer klar, schon seit er mich kurz nach meinem fünfzehnten Geburtstag verlassen hatte. Die ganzen Schwänze, die ich in den widerlichen Pornokinos auf der Reeperbahn und an Autobahnraststätten in den Mund genommen hatte, um Nick zu gefallen, zählte ich natürlich nicht, das hier war erst der dritte offizielle Penis, den ich in wenigen Sekunden zu Gesicht bekommen würde. Nur fünf Stunden nach meiner Landung saß ein neuer Mann nackt vor mir, und das, ohne dass er viel dafür getan hatte.

Sein Penis war klein, das Gesamtbild erregte nur Mitleid in mir. Josh saß da und konnte nicht glauben, wie ihm geschah. Ich tat, was ich in dieser Situation immer tat, ich nahm seinen Penis in den Mund, in der Hoffnung, etwas Leben in ihn zu bekommen, eine Reaktion. Ich hatte befürchtet, dass er seltsam riechen würde, fand ihn aber nicht angenehmer oder abstoßender als andere Penisse, er war absolut durchschnittlich im Geschmack und unterdurchschnittlich in der Größe, aber das war mir letztendlich egal. An diesem Punkt war ich schon davon überzeugt, dass er es nicht schaffen würde, irgendeine Art von Regung aus mir herauszubekommen, die über das Geistige hinausging; ich hatte die Angewohnheit, Witz und Klugheit anziehend genug zu finden, um mich beim Sexuellen mit einer reinen Dienstleistung meinerseits zu arrangieren.

Ich träumte von erfüllter Sexualität, von dem Rausch der Erregung, aber nur David hatte es geschafft, dass ich ihn wirklich körperlich wollte, seine Berührungen waren die einzigen, die mich je in diesen Zustand versetzt hatten, der mich sogar dazu bewegen konnte, untreu zu werden, der Einzige, der es schaffte, dass mein Hirn begann, träge zu werden, und meine Haut dazu, fühlen zu wollen. Aber auch nur bis zur Penetration, ab da verließ mich jedes Mal die Magie, die ich verspürt hatte; Orgasmen hatte ich mit ihm sehr selten, was denke ich vor allem daran lag, dass er nicht gern küsste und seine Zunge beim Cunnilingus zu spitz war. Er steckte gern seine schönen Finger in meine Vagina und ich hatte nicht das Herz, ihm zu sagen, dass ich dort absolut nichts spürte.

Nick hatte im letzten Drittel unserer Beziehung raus, dass ich an der Klitoris nur Bewegungen von links nach rechts mochte und es hasste, wenn man sie von oben nach unten berührte, weil mir das weh tat, zum Schluss hatte er wirklich eine ganz befriedigende Technik drauf und ich kam regelmäßig, wenn er mich leckte. Es waren jedoch oberflächliche Orgasmen, fast technische, und leider war er danach noch nicht fertig und ich hielt ihm, Lust und Spaß vorspielend, meine Geschlechtsteile weiter hin, dabei war ich schon lange durch.

Ich fand ihn attraktiv, obwohl sein Oberkörper eigentlich hässlich war, mochte sein Gesicht mit dem Muttermal auf der Stirn und auch die Hände, er hatte eine schöne Nase und tolle Augenbrauen. Ich hasste die Ohrlöcher, in denen er keine Ohrringe mehr trug. Er war nicht sehr groß, aber ich passte perfekt in seine Arme. Seine Beine waren wunderschön, oben kräftig, sie liefen zum Knie schmal zusammen, dann schwangen sie an den Waden wieder leicht nach außen, ich hätte gern solche Beine gehabt. Sein Hintern war glaube ich alt. Ich fand es eitel von ihm, dass er sich am Bauch Fett hatte absaugen lassen, die kleinen Narben an den Punkten, in denen die Schläuche gesteckt hatten, blickten mich rosa an und stießen mich ab. Nicht, weil sie Narben waren, sondern weil ich Eitelkeit verachtete. Die Narbe von einer Operation auf seinem Rücken hatte er mit einem Tiger übertätowieren lassen, ich hätte es besser gefunden, wenn er einfach mit ihr gelebt hätte. Seine Arme waren komplett tätowiert und mir gefielen die Tattoos. Ich hatte tagelang mit ihm im Studio gesessen, hatte die Entstehung der Old-School-Zeichnungen verfolgt, mit denen er die alten schwarz-grauen Tribaltattoos verdecken wollte. Ich berührte die Stellen, die verheilten, fühlte die Erhabenheit der Linien, ihre raue Oberfläche, ich cremte seine Schultern für ihn ein, wenn er es schaffte, sich von zu Hause abzusetzen, und bei mir übernachtete. Ich liebte ihn, ich liebte ihn sehr, aber ich fand ihn gleichzeitig peinlich und ich hasste, was er geil fand. Sein Bauch war faltig, er hatte irgendwann in kurzer Zeit viel Gewicht verloren, davor war er richtig dick gewesen. Das war wohl, als er noch bei einer Versicherung gearbeitet hatte, ich weiß nicht einmal, ob ich da schon geboren war, aber ich glaube schon. Die Haut sammelte sich an seinem Bauch, sie war so weich, wie ausgeleiert. Sie fühlte sich angenehm an, im Dunkeln, aber sie sah kaputt aus.

»Someone might come in«, sagte Josh und deutete auf die Tür. Ja gut, was sollte ich machen, ich hatte angefangen und mittendrin aufzuhören, hätte ich als Zeitverschwendung empfunden. Ich flüsterte ihm zu: »Do you wanna go over there?«, und zeigte auf den Fußboden vor dem Union Jack, dort wären wir etwas verborgen, sollte jemand reinkommen, ich war außerdem immer noch komplett angezogen, außer verschmiertem Mascara konnte man mir nichts vorwerfen. God blow the Queen, dachte ich und er nickte. Hielt die Hose am Gürtel fest und strampelte durch den Raum, sein Penis ragte leuchtend aus dem Schamhaar hervor, es wurde immer absurder. Ich empfand die Verachtung, die ich immer für Männer empfunden hatte, wenn sie erregt waren, so erregt, dass sie überhaupt nicht mehr mitbekamen, dass ich schon lange das Interesse verloren hatte, und das war schade, Josh hatte mich so oft zum Lachen gebracht, er hatte solches Potenzial, ich wollte ihn so sehr mögen.

In ihrer Erregung wurden sie alle gleich, gleich dumm, gleich leer, in den Blicken selbst der klügsten Männer lag dann nur noch Stille, man konnte ihnen das Rauschen im Hirn direkt ansehen, es war ein Stillstand, der sie verletzlich machte. Sie waren schutzlos wie Neugeborene. Ich fragte mich dann oft, was sie täten, wenn ich ihnen die Eichel abbisse, in diesem einen Moment, in dem sie mir körperlich unterlegen waren, ich tat es aber nie, weil ich ihre dämliche Ergebenheit mit etwas Liebenswertem verwechselte.

Es war sehr leicht, Josh zum Kommen zu bringen, ich war mir sicher, dass es eine Weile her war, dass irgendjemand ihn berührt hatte, und er mich mochte. Ich schluckte sein Sperma, obwohl ich den Geschmack verabscheute, wobei es eher die Temperatur war, die bei mir jedes Mal einen Würgereiz auslöste, aber ich wusste genau, wann es passierte. Es war so vorhersehbar langweilend. Die Hoden zogen sich kurz zusammen, eine Verzögerung im Rhythmus, wie wenn man eine Toilettenspülung drückte, im Hirn der Männer explodierten die Synapsen, sie pressten meinen Kopf tiefer, als könnten sie sich daran festhalten, und dann kam der entscheidende Moment, ich musste ausatmen und die Zunge nach hinten nehmen, damit ich das Ejakulat so wenig wie möglich schmeckte.

Josh zog seine Boxershorts wieder hoch und sah aus, als schämte er sich ein wenig, aber er legte einen Finger unter mein Kinn und küsste mich auf den Mund, immerhin, so viel Anstand hatte er. Die Geste versöhnte mich wieder mit der Version von ihm, die ich gerade in meinem Kopf erschaffen hatte. »Thanks«, sagte er und ich lachte, kämmte meine Haare mit den Fingern und wischte die Mascarareste, die ich unter den Augen vermutete, nach oben weg. Mir kamen immer Tränen, wenn ich einen Brechreiz unterdrücken musste. Den Rest des Abends im Studio saß ich eng neben ihm, wollte ihm nahe sein, ihn provozieren, dass er etwas sagte, was eindeutig wäre, aber er sprach wenig, überarbeitete ein Dokument, mit dem er sich um ein Visum für Kanada bewerben wollte. Er hatte das Angebot bekommen, mit einer Band auf Tour zu gehen, was nach einer ziemlich großen Sache klang, und ich spürte ein flaues Gefühl im Magen: Was war hier los? Warum wollte er, dass ich zu ihm kam, ließ mich seinen Schwanz lutschen und plante schon, das nächste halbe Jahr unterwegs zu sein? Warum glaubte ich, irgendeinen Anspruch auf ihn zu haben, obwohl ich erst seit diesem Nachmittag hier war? Immerhin dachte ich wenig an Nick, ich hatte ihn noch nicht bei Facebook und Instagram blockiert, aber ich hatte das Emoji hinter seinem Namen gelöscht und seine Nummer mit Vor- und Nachnamen eingespeichert, während ich im Flugzeug saß.

Die Band im Nebenraum packte ihre Sachen zusammen und verabschiedete sich, kurz darauf verließen auch Josh und ich das Studio. Draußen war es dunkel geworden, aber nur so dunkel, wie es im Sommer eben wurde, es war nicht kalt, aber meine Strickjacke trotzdem ein bisschen zu dünn. Im Auto war es gut. Ich traute mich nicht, meine Hand auf seine zu legen, das schien mir zu intim zu sein, ich wusste nicht, ob es okay war, mit jemandem Rituale anzufangen, obwohl die alten erst ein paar Stunden tot waren. Ich wusste nicht, was mit all den Spielen passierte, die sich zwischen zwei Menschen etablierten, wie lange man Totenruhe einzuhalten hatte bei den eingeübten Gesten, die man als Paar jeden Tag performte. Ist es nicht so, dass man Menschen erst eine Woche nach ihrem Tod begräbt, falls sie noch einmal aufwachen? Was passiert mit der Liebe, die man für jemanden empfunden hat, wenn man merkt, dass er sie nicht verdient? Ist Liebe wie Energie und kann nicht verloren gehen oder braucht man sie auf, jeden Tag ein bisschen, bis sie irgendwann leer ist? Wir kamen bei ihm zu Hause an, seine Mutter musste in der Zwischenzeit dagewesen sein, sie hatte eine Nachricht hinterlassen, dass sie schon mit dem Hund spazieren war und jetzt den Zug nehmen würde. Josh brachte mir die Bettdecke aus dem Gästezimmer und räumte sich selbst den Fußboden vor dem Bett frei. Seine Unbeholfenheit war fast albern, ich erinnerte ihn daran, dass ich erst vorhin seinen Penis im Mund hatte, und sagte, dass ich mich freuen würde, wenn er bei mir im Bett schlafen würde. Er sagte »okay« und begleitete mich ins Bad, als ich mir die Zähne putzen ging. Ich sah uns im Spiegel an, ich sah seinem Spiegelbild in die Augen. »What?«, fragte er und lachte nervös. Er sah schön aus, aber er war immer noch verschlossen. Das Waschbecken war typisch für irische Badezimmer, ein Hahn für heißes und einer für kaltes Wasser, aber kein Stöpsel, um es zu einer erträglichen Temperatur zu mischen. Kalkflecken und Seifenreste standen im harschen Gegensatz zu dem Drehknauf, der aus Hartplastik in Form eines Edelsteins gepresst war. Aus dem Überlauf kam Schimmel, die Seifenschale war aus der Wand gebrochen, zwei Dübel blickten traurig ins Nichts. Josh nahm seine Zahnbürste und stellte sich vor das WC. Als wäre es normal, pinkelte er im Stehen, spülte nicht und putzte sich dann weiter die Zähne. Das fand er also okay, mit mir in einem Bett zu schlafen nicht, ich schaute mit Minzgeschmack im Mund in die Toilette, in der sein Urin sich mit der Portion Spülwasser vermischt hatte, und fasste den Vorsatz, mich in ihn zu verlieben.

In meiner schwarzen Sporttasche waren vier T-Shirts, ein langärmliges Shirt, zwei Hosen, eine davon eine Jeans, eine aus Stoff, sechs Unterhosen und eine Kulturtasche, ich hatte außerdem ein Buch, eine Zeitschrift und Marzipan mit, weil ich mich bei seiner Mutter für den Aufenthalt bedanken wollte; in der Seitentasche aus Netzstoff steckten vier Kondome. Im Bett legte Josh sich mit dem Rücken an die Wand, ich lag auf der Seite vor ihm, er machte High Fidelity auf Netflix an. Ich war so müde, dass ich einige Szenen komplett verschlief, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, die Augen geschlossen zu haben. Beim Abspann sagte er, er sei lieber der kleine Löffel. Ich drehte mich auf die andere Seite und umarmte ihn, aber seine Schultern waren so breit, dass mein Arm einschlief beim Versuch, ihn festzuhalten. Ich hoffte, dass er mich in den Arm nehmen würde, wenn ich mich zurückdrehte, denn in meinen Ohren rauschte es.

Seit ich herausgefunden hatte, wie oft Nick mich angelogen hatte, war mein Leben Stück für Stück in sich zusammengestürzt. Was ich jemals gefühlt hatte, wurde Stein für Stein, Lehmstückchen für Felsbrocken unter einer Schicht Schutt begraben, jeder Moment fühlte sich an wie das Einsetzen des Schmerzes nach einem Schlag in den Magen, aber quälend lang gezogen. Ein schrecklicher Song, der auf Repeat stand, zu dessen Text man immer wieder die Lippen stumm mitbewegte. »Come on, let me be the big spoon«, sagte Josh, küsste mich umständlich von hinten links auf die Wange und legte seinen Arm um mich. Ich fühlte, wie der Raum sich noch ein letztes Mal drehte, und glaubte zum ersten Mal seit langer Zeit, in Sicherheit zu sein.

Nick

2008

Ich war fünfzehn, als ich Nick kennenlernte. Es war Mitte November, wir begegneten uns auf einem Konzert, das die Kirchengemeinde der Stadt für Jugendliche aus dem Umland organisiert hatte. Marco, Diakon und Leiter der Pfadfindergruppe meines Heimatdorfes, hatte uns einander vorgestellt, Nick sei sein Kollege, er habe früher mit ihm in einer Band gespielt und jetzt leite er die Jugendgruppe in der Nachbargemeinde. Dass er mich aus dem Konfirmandenunterricht kenne und ich auch Interesse an Jugendarbeit hätte, sagte Marco und überließ Nick und mich einem Gespräch, in dem wir beschlossen, in Kontakt zu bleiben und Nummern auszutauschen. Er war viel älter als ich, aber ich spürte, dass zwischen uns etwas passieren würde. Magnetismus.

Das erste Mal, dass Nick und ich miteinander schliefen, war auf dem Rücksitz eines Mietwagens in meinen beiden Freistunden. Es war an einem Freitag, wir hatten nicht viel Zeit, weil ich zum Bio-Unterricht zurück sein musste, und wir mussten aus der Stadt raus, weil es nicht unsere Absicht war, entdeckt zu werden. Wir wollten nicht wie absurde Figuren in einer Schneekugel durch die ungetönten Scheiben des silbernen Opel Astra zu sehen sein. Nick suchte lange nach einer Abzweigung in einen Feldweg, meine Knie zitterten, er fand einen Platz nahe eines alten Flughafengeländes. Sieben Monate war es her, dass ich mit jemandem geschlafen hatte. Ich dachte, dass man es nicht verlernen konnte, doch es tat weh, als ich mich auf ihn setzte, es war ein stechender, brennender Schmerz, der den ganzen Tag nicht aufhören würde. Bei dem Gedanken daran, was ich getan hatte, würde es jedes Mal ziehen, irgendwo an der Grenze zwischen der Stelle, wo er mich berührt hatte, und meiner Magengegend, es war erregend, aber erst im Nachhinein. Es würde sich anfühlen wie nach einer Operation, als hätte er einen Stempel in meine Vagina gedrückt, als steckte die unsichtbare Hülle eines Stachels noch in mir. Heute weiß ich, dass niemand eine Chance hatte, mich vor ihm zu beschützen, ich wusste, was ich tat, ich tat es auf meine eigene Verantwortung, niemand konnte wissen, was geschah zwischen uns, weil ich alles in mir verschloss und weil ich in den Abgrund blicken wollte, weil ich das Verderben erahnte und weil ich sehen wollte, wohin dieser Strudel mich zog.

Ich fühlte außer Angst eigentlich nichts, aber der Reflex, so zu tun, als hätte ich das schon tausend Mal gemacht, als wäre ich abgebrüht und könnte schon richtig Sex haben, war stärker; ich ließ mir nicht anmerken, dass er ein schwarzes Loch zwischen meine Beine bohrte. Ich dachte in diesem Moment nicht an seine Ehefrau, mir war nur auf hyperrealistische Weise bewusst, wie sich die Haut an meinem Bauch in eine Falte legte, wenn ich mich nach vorn beugte, ich sah die einzelnen weißen Härchen, die über den Krater meines Bauchnabels wuchsen, und atmete flach, um sexy zu sein. Ich hätte meine Socken gern anbehalten. Wir küssten uns und diesmal fühlte es sich besser an, es schien mehr Spannung in seinen Lippen zu liegen, ich glaubte wirklich an die Möglichkeit, dass er sich in mich verliebt haben könnte, dass auch er sich fühlte, als wäre ich der einzige Mensch für ihn. Inzwischen weiß ich, dass dieser Schmerz, den ich für ihn aushielt, verschwendet war. Ich war mit Sicherheit nicht die Einzige, mit der er in dieser Woche schlief, ich war vielleicht nicht einmal die Einzige, mit der er an diesem Freitag schlief.

Josh

2014 Sommer

Ich wachte von den Geräuschen auf, die sein Hund beim Eierlecken machte. Josh schlief noch, ich versuchte, mich verliebt zu fühlen, und eigentlich machte er es mir leicht: Er atmete gleichmäßig durch seine kleine, gerade Nase, er lag auf dem Bauch und sein Hund zwischen seinen Beinen. Zumindest eine gewisse Zärtlichkeit empfand ich ihm gegenüber, er brachte mich zum Lachen, ich mochte, wenn er zu Songs, die im Radio liefen, mitsang, und es war schön gewesen, gestern in seinem Arm zu liegen. Ich ging auf die Toilette und bemühte mich, leise zu pinkeln, aber es gelang mir nicht, ich war mir sicher, dass er es hörte und wach war, wenn ich zurück ins Zimmer kam. Zum Glück hatte ich meinen Kulturbeutel im Bad gelassen, ich putzte mir die Zähne, kämmte mich und drückte meine Wimpern mit den Fingern nach oben. Aus Neugier zog ich den Duschvorhang zur Seite, der unten Stockflecken hatte, und betrachtete den Schimmel in den Fugen zwischen der Wand und dem braunen Kunststoff der Badewanne. Mit Essig und einer alten Zahnbürste könnte man ihn wahrscheinlich wegbekommen, aber ich hatte gerade beides nicht hier und es war nicht meine Verantwortung. Ich nahm den Einwegrasierer, der auf dem Badewannenrand lag, und fuhr ein paar Mal nur zur Sicherheit über meine Beine, trocken, ohne Wasser. Ich bekam Gänsehaut und die Klingen rissen die Gipfel der kleinen Hautzellen ab. Ich legte den Rasierer genau so zurück, wie er vorher gelegen hatte, im Handgepäck durfte ich ja keinen mitnehmen, ich musste mir schon selbst zu helfen wissen, aber seine Mutter würde mir bestimmt verzeihen, dass ich ihren ausgeliehen hatte. Ich trug nur ein T-Shirt, keine Hose und kam mir unangebracht nackt vor. Ich wollte nicht, dass Josh mich so sah, nicht im Morgenlicht, in aller Deutlichkeit, wollte nicht, dass sein Hund mich so sah. Es kam mir schon immer seltsam vor, in Anwesenheit von Tieren keine Kleidung zu tragen, ich befürchtete besonders bei Hunden, dass sie mich anspringen würden, dass sie ihren roten Pimmel ausfahren und an meinen nackten Beinen reiben würden, ich hasste den Gedanken. Ich merkte, dass meine Füße leicht am Linoleumboden klebten, und ging zurück, leise. Entweder schlief Josh wirklich noch oder er verstand und war so höflich, sich schlafend zu stellen, ich rutschte unter die Bettdecke, nur der Hund blickte auf und klopfte mit dem Schwanz.

Nick

2008

Ich hatte schon immer ein Problem mit Religion. Mit der Kirche sowieso, aber vor allem mit religiösen Menschen. Ich konnte nicht nachvollziehen, dass Menschen das Christentum ernst nahmen, ich konnte nicht glauben, dass Menschen das alles ernsthaft glaubten. Religiöse Gefühle waren mir fremd, nicht einmal in den Momenten, in denen ich Todesangst hatte, kam ich auf den Gedanken, die Existenz eines Gottes in Betracht zu ziehen oder die Arroganz zu besitzen, mich an ihn zu wenden. Ich glaubte schon als Kind nicht an Gott, ich begriff nicht, warum Gott und Jesus heilig sein sollten, ob Jesus jetzt tot oder doch lebendig war, ob er unter uns lebte oder zurückkommen würde und was genau eigentlich das Christkind war und wie sich das zu allem verhielt.

Verschiedenen Quellen zufolge sah Gott alles, aber das tat Mama auch. Weiterhin glaubte ich nicht, dass er durch die Dachpfannen sehen konnte, wenn ich in meinem Bett lag, und unter die Bettdecke konnte er ganz sicher nicht gucken, also versteckte ich mich darunter, wenn ich Sachen vorhatte, die einen Gott nichts angingen. Ich wusste nur, dass ich die Tür wieder zumachen sollte, wenn Menschen klingelten und sagten, dass sie von den Zeugen Jehovas waren. Die seien nicht ganz dicht, die glaubten zu sehr an Gott, hieß es dann. In meiner Erziehung wurde nie Druck ausgeübt, an irgendetwas zu glauben, und meine Eltern machten es mir auch nicht vor, sie vertrauten auf den Zettel mit dem Ablauf, wenn wir selten zu Hochzeiten oder Beerdigungen gingen, aktiv wurde nur an den Osterhasen, das Wegpusten von Wimpern und Sternschnuppen geglaubt. Ich las die Kinderbibel mit der gleichen kritischen Distanz wie Enid Blytons Fünf Freunde.

Dass sie sich nicht sicher war, aber dass ich, wenn ich etwas auf dem Herzen hätte, beten und es Gott sagen könnte, erklärte mir meine Mutter, als ich sie fragte, ob es Gott gebe. Dazu müsse ich die Hände falten und ganz doll dran denken, dann höre er das. Ich presste die Hände so fest zusammen, dass die Knöchel weiß wurden, aber außer meinen eigenen Gedanken hörte ich wiederum nichts, und die wären auch ohne Gott dagewesen. Ich trug meine Konflikte lieber aus, indem ich sie mit meinen Kuscheltieren nachspielte; ich hatte Gott schnell wieder vergessen. Nur ein einziges Mal legte ich ein gutes Wort bei ihm ein, nämlich als Jürgen Möllemann starb. Die Vorstellung, zu sterben, weil ein Fallschirm sich nicht öffnete, hielt ich kaum aus, auf den Fotos, die in der Tagesschau gezeigt wurden, hatte er so liebe Augen, ich betete einfach, dass es ihm jetzt gut ging.

Mit dreizehn ließ ich mich trotzdem konfirmieren, weil das auf dem Dorf eben dazugehörte; weil ein Führerschein der einzige Ausweg aus der Dorflangeweile war und durch die Geldgeschenke zumindest in greifbarere Nähe rückte; weil ich meine Zweifel an der Religion im Allgemeinen und den kirchlichen Strukturen im Speziellen mit dreizehn überhaupt noch nicht ausreichend begründen konnte, weil sie viel mehr diffuses Gefühl als konkreter Gedanke waren in einer Zeit, in der ich den Großteil damit beschäftigt war, Liebesbriefe an den süßen Boy von gegenüber zu formulieren. Die evangelische Jugend stellte zudem das einzige Freizeitangebot neben der Jugendfeuerwehr dar und da gingen nur die großen Jungs hin, die, die mit ihren getunten Rollern zu schnell durch die Anliegerstraßen fuhren, mit Deo und Feuerzeugen an der Bushaltestelle die Mülleimer und Sitzbänke anzündeten und grausame Videos auf dem Handy hatten, auf denen Menschen und Tiere enthauptet, getötet oder so lange mit einem Handtuch gegen die Wand gepresst wurden, bis sie ohnmächtig wurden. Außerdem hatte ich von meinem Cousin gehört, dass er auf seiner Konfirmation zum ersten Mal Alkohol trinken durfte.

Der Dorfpastor hatte vermutlich irgendwann in den 1970er-Jahren mit Peter Burschs Gitarrenbuch die Akkorde gelernt, die er jetzt in der immer gleichen, ermüdenden Reihenfolge sauber auf seiner Gitarre aus dem mittleren Preissegment griff. Freude empfand er dabei wahrscheinlich ebenso wenig wie wir Dreizehn-, Vierzehnjährigen, die außer einer gemeinsamen Vergangenheit auf der örtlichen Grundschule und einem durch Waschen kaum zu übertönenden Körpergeruch nichts, aber auch absolut nichts gemeinsam hatten. Die Konfirmation verlief ohne weitere Komplikationen. Wenn ich später auf Jugendfahrten an Gottesdiensten teilnehmen musste, sprach ich das Glaubensbekenntnis nicht mit, sang die religiösen Liedtexte widerwillig oder bewegte nur die Lippen, ohne dem Herrn meine Stimme zu schenken, und ich fand es schade, dass Menschen sich ein unsichtbares, unbewiesenes, allmächtiges Wesen vorgaukeln mussten, um einen Grund zu haben, zusammenzukommen und nett zueinander zu sein. Meinetwegen hätte man sich auch um einen Haufen Teelichter herumsetzen können, ohne sie erst aufwendig in Kreuzform aufzustellen.

Am schlimmsten fand ich es, wenn Menschen, die sonst sehr weltgewandt waren, behaupteten, dass sie an Gott glaubten. Ich wartete dann darauf, dass sie sich zu mir drehten, mich nah zu sich heranwinkten und mir ins Ohr flüsterten: »In Wirklichkeit weiß ich doch, dass es Gott nicht gibt, aber es kommt gut an, wenn ich das behaupte.«

Nick kaufte ich seinen Glauben am allerwenigsten ab. Dass er mich von sich wegschob und meinte: »Nicht, wenn ich den Talar anhabe«, fand ich lächerlich in Anbetracht seiner Erektion, die er eben noch durch den Stoff an meiner Jeans gerieben hatte. Ich fragte ihn, ob er Angst habe, dass er dreckig werden könnte. Er ging zu seiner Bürotür und schloss sie leise ab, griff sich an den Kragen, zog den Talar über den Kopf und hängte ihn auf einem Bügel an den Griff des Aktenschranks. Dann drückte er mich an den Schultern auf die Knie und öffnete den Gürtel. Auf mehreren aneinandergereihten DIN-A4-Blättern, die an der Pinnwand hinter seinem Schreibtisch hingen, stand das Wort INTEGRITÄT, er kam in meinem Mund.

Nick

2009

Dass Nick verheiratet war, wusste ich, daraus hatte er kein Geheimnis gemacht, er hatte es mir schon gesagt, bevor wir uns das erste Mal küssten, auf der Rückbank des VW T5, mit dem er zur Arbeit fuhr. Er hatte mich am Busbahnhof abgeholt und einen ruhigen Parkplatz gesucht, im Industriegebiet der Stadt, in der ich zur Schule ging. Hier kam fast niemand hin, sobald es dunkel war, es war Ende November 2008 und im Winter ging die Sonne im Norden früh unter. Neun Tage war das Konzert her, auf dem wir uns kennengelernt hatten, seitdem hatten Nick und ich uns SMS geschrieben und auf seltsamen Portalen gechattet. Schweigerfan72 nannte er sich dort oder northernguy, er fragte mich Dinge zu meiner vorherigen Beziehung, welche Musik ich mochte, welche Serien ich sah, er schrieb, dass er gern bei mir wäre, dass er mir einen Tee machen und meinen Rücken streicheln würde. Zu unserem ersten richtigen Treffen brachte er mir eine CD mit, dieses Album müsse ich unbedingt haben und wenn ich ihm einen USB-Stick mitbringen würde, könne er mir die komplette neue Staffel von Desperate Housewives darauf abspeichern.