Die Stunde, eh' du schlafen gehst - Hans Fallada - E-Book

Die Stunde, eh' du schlafen gehst E-Book

Hans Fallada

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Beschreibung

Die Klingel! Heilige Thalia! Beste Pinkpank! Könnt ihr mich denn nicht schlafen lassen? Neun Stunden habe ich gefilmt, und heute abend muß ich auftreten – und ihr laßt mich nicht schlafen! Oder doch? – Ihr laßt es nicht klingeln? Also klingelt es nicht, also schlafe ich, also träume ich nur vom Klingeln … Die Klingel!! Ist kein Traum gewesen, hat doch können sein! Aber ich wollt', ich wär', wo's nicht klingelt! Auf einer Insel, einer einsamen Insel! Wo's nie klingelt, nicht zum Auftreten, nicht am Telefon. Dort könnte ich schlafen, schlafen, schlafen … Und dann würde ich baden im Stillen Ozean, der nie klingelt … Ich würde Ananas pflücken und füllte mich mit Ananas, mit stiller, friedlicher Ananas, und würde wieder schlafen, schlafen … So einen Film sollten sie mal drehen; ein nie zur Ruhe kommender Schauspieler, der auf einer einsamen Insel ausschläft – das wär' noch ein Film! Da käm's mir auf ein paar hundert Drehtage nicht an – ohne Klingeln! Aber hier … Also denn! Im Namen des Erhabenen, des Nie-Klingelnden, gehe ich, unbeschützt von meiner Muse Thalia, verlassen von der sorglichen Schaffnerin Pinkpank – gehe ich die Tür öffnen einem Strizzi, der Geld von mir will, das ich ihm nicht gebe, der Briefe bringt, die ich nicht lese, der alte Kleider kauft, von denen ich mich nie trenne. Gute, treulose Pinkpank! Er riß die Tür auf und rief drohend: "Na?!!" Das junge Mädchen vor der Tür fuhr bei diesem lauten Anruf erschrocken zusammen. "Ich bitte um Entschuldigung, Herr Babendererde …" flüsterte es. Es war ein sehr junges Mädchen, stellte er, noch halb verschlafen, fest. Kaum achtzehn, blaß, zierlich. Kein Fähnchen, sondern ein Schneiderkostüm. Das blaue Hütlein nicht berlinisch ›verwegen‹ auf dem dunklen Haar, mehr Provinz, aber gute Provinz. Ein Mädchen aus der Fremde … Eine Verehrerin oder eine Autogrammjägerin … Eine von Hunderten, Tausenden, Zehntausenden … Sie saßen abends vor der Leinwand und bewunderten den fehlerlosen Helden, ohne Ahnung, daß dieser …

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Hans FalladaDIESTUNDE,EH’ DUSCHLAFENGEHST

1Der Schauspieler und das Mädchen aus der Fremde

Die Klingel!

Heilige Thalia! Beste Pinkpank! Könnt ihr mich denn nicht schlafen lassen? Neun Stunden habe ich gefilmt, und heute abend muß ich auftreten – und ihr laßt mich nicht schlafen! Oder doch? – Ihr laßt es nicht klingeln? Also klingelt es nicht, also schlafe ich, also träume ich nur vom Klingeln …

Die Klingel!!

Ist kein Traum gewesen, hat doch können sein! Aber ich wollt’, ich wär’, wo’s nicht klingelt! Auf einer Insel, einer einsamen Insel! Wo’s nie klingelt, nicht zum Auftreten, nicht am Telefon. Dort könnte ich schlafen, schlafen, schlafen … Und dann würde ich baden im Stillen Ozean, der nie klingelt … Ich würde Ananas pflücken und füllte mich mit Ananas, mit stiller, friedlicher Ananas, und würde wieder schlafen, schlafen … So einen Film sollten sie mal drehen; ein nie zur Ruhe kommender Schauspieler, der auf einer einsamen Insel ausschläft – das wär’ noch ein Film! Da käm’s mir auf ein paar hundert Drehtage nicht an – ohne Klingeln! Aber hier …

Also denn! Im Namen des Erhabenen, des Nie-Klingelnden, gehe ich, unbeschützt von meiner Muse Thalia, verlassen von der sorglichen Schaffnerin Pinkpank – gehe ich die Tür öffnen einem Strizzi, der Geld von mir will, das ich ihm nicht gebe, der Briefe bringt, die ich nicht lese, der alte Kleider kauft, von denen ich mich nie trenne. Gute, treulose Pinkpank!

Er riß die Tür auf und rief drohend: »Na?!!«

Das junge Mädchen vor der Tür fuhr bei diesem lauten Anruf erschrocken zusammen. »Ich bitte um Entschuldigung, Herr Babendererde …« flüsterte es.

Es war ein sehr junges Mädchen, stellte er, noch halb verschlafen, fest. Kaum achtzehn, blaß, zierlich. Kein Fähnchen, sondern ein Schneiderkostüm. Das blaue Hütlein nicht berlinisch ›verwegen‹ auf dem dunklen Haar, mehr Provinz, aber gute Provinz. Ein Mädchen aus der Fremde … Eine Verehrerin oder eine Autogrammjägerin … Eine von Hunderten, Tausenden, Zehntausenden … Sie saßen abends vor der Leinwand und bewunderten den fehlerlosen Helden, ohne Ahnung, daß dieser Held ein gehetztes Nervenbündel war, das alle Tage um seine sechs Stunden Schlaf kämpfte, die es nie bekam! Aber wenigstens seinen Namen betonte sie richtig: auf der zweiten Silbe!

»Na?« fragte er noch einmal, aber es klang milder.

»Ich bin gekommen …« sagte sie fast atemlos, als wäre sie den Weg zu ihm gelaufen. »Ich muß Sie sprechen! Ich heiße Ilse, Ilse van Reep …«

»van Reep …« meinte er überlegend, »van Reep? Ich muß den Namen schon gehört haben. Da war doch mal …«

»Sie haben den Namen noch nie gehört, Herr Babendererde«, sagte sie bestimmt, nicht mehr so ängstlich wie bisher. Und eilig, als wollte sie ihn ablenken: »Meine Mutter nennt mich aber nur Ilsebill, wissen Sie, nach dem Märchen vom Fischer und seiner Frau.« Sie lächelte, als sie den Vers sagte: »Mine Fru, de Ilsebill, will nich so, as ick wol will!«

Ihr Lächeln kam ihm schön vor.

»Und was will sie denn?« fragte er gegen seine ursprüngliche Absicht, denn eigentlich war er entschlossen, seinen Schlaf zu verteidigen und sie hier, zwischen Tür und Angel, abzufertigen.

»Ich will Sie um ihren Rat fragen, Sie müssen mir helfen! Keiner bei uns daheim kann mir sagen, was ich wissen will, auch Mama nicht! Ich bin Mama einfach davongelaufen, ich habe ihr einen Zettel hingelegt, daß ich nach Berlin fahre …«

»Und zweifelsohne werden Sie erst als eine zweite Garbo in Ihr Städtchen heimkehren«, sagte er trocken. »Und ich soll Sie entdecken – sehr liebenswürdig! Wie alt sind Sie?«

»Einundzwanzig! Ich bin schon mündig!«

»Sie schwindeln! Sie sind höchstens achtzehn. Sehen Sie, wie rot Sie werden! Sie können sich so wenig verstellen, daß Sie nicht einmal solch kleine Lüge glaubhaft vorbringen!«

Bei diesen spöttischen Worten wurde das Mädchen blaß. Ihr Mund zuckte. Sie sagte leise: »Ja, ich habe gelogen, ich bin erst neunzehn.«

Milder meinte er: »Sehen Sie!« Noch einmal betrachtete er sie prüfend, dann beschloß er, sie endgültig abzufertigen.

»Aber mein liebes Kind«, sagte er, »Sie stehen an der falschen Tür. Ich bin Schauspieler, ich spiele die Rolle, die mir gegeben wird, und ich spiele sie so, wie mein Regisseur sagt. Ich verstehe nichts davon, wer sich für Film oder für Bühne eignet. Ich spiele nur. Es gibt so viele Lehrer der Schauspielkunst, es gibt Schulen, Prüfungsstellen, was weiß ich! An die müssen Sie sich wenden. Ich kann Sie nicht prüfen, und ich will es auch nicht.« Bei sich setzte er hinzu: Ich will nur schlafen. Es sind knappe zwei Stunden bis zum Theater. Ich muß schlafen!

»Ich bin zu Ihnen gefahren«, wiederholte sie, noch immer sehr blaß. »Sie sollen mich nur zehn, nur fünf Minuten hören. Sie sollen gar nichts sagen müssen, ich werde fühlen, was Sie denken, Sie sollen mir keine Empfehlung geben. Nur einen Augenblick sollen Sie mich hören, nur drei Minuten.«

»Ich werde Sie nicht anhören!« sagte er entschlossen. »Sehen Sie dort das Tischchen, sehen Sie die Briefe, Fräulein? Ein ziemlich dicker Stoß, nicht wahr? Das ist die Nachmittagspost, und es sind fast nur Briefe mit Anliegen ähnlich wie das Ihre. Ich lehne alles ab, das heißt, mein Sekretär tut das. Denn ich bin nur Schauspieler, ich will auf der Bühne stehen und wirken, ich will vor der Kamera zehn Stunden aushalten, das ist meine Arbeit, dafür bin ich da! Aber ich will mich nicht zu jeder Stunde überfallen lassen, um euch einen Rat zu geben, den jeder Schauspiellehrer besser geben kann! Ich bin für alle da, nicht für einzelne mit ihren Privatwünschen.«

Er sah das Mädchen böse an, dann schaute er nach der Treppe, um noch deutlicher zu machen, daß jetzt alles gesagt sei und sie zu gehen habe.

Aber sie ging nicht. Im Gegenteil, sie machte einen Schritt auf ihn zu. Ihre Augen, ihr Mund verrieten eine solche Entschlossenheit, daß Babendererde begriff, nicht umsonst wurde sie Ilsebill, die nicht so wollte wie die Mama, genannt.

»Wenn ich aber nur Vertrauen zu Ihnen habe!« sagte sie. »Immer, wenn ich Sie daheim in Lübeck auf der Leinwand sah, habe ich gefühlt, der Herr Babendererde spielt nicht nur die anständigen Menschen, er ist auch einer. Sie würden sich auch nicht besinnen, einen Menschen aus dem Wasser zu holen, selbst wenn Sie auf dem Wege ins Theater sind. Ich bin ratlos, ich bin wirklich ganz ratlos …«

Aber hier wurde das Mädchen unterbrochen. Babendererde hatte schon den schweren Schritt und das ächzende Schnaufen seiner Hausbesorgerin auf der Treppe gehört. Nun trat Frau Pinkpank selbst in Erscheinung. Mit zürnendem Blick sah sie auf das Mädchen aus der Fremde.

»Als wenn ick mir det nich jedacht hätte!« sagte sie, noch keuchend vom Treppensteigen. »Seit jestern abend seh’ ick ihr schon immer ums Haus rumstreichen, Herr Babendererde! Ick habe mir jleich jedacht, det is wieder so eene! Und als ick eben wegging – ick habe Ihnen woll jesehn, Frollein –, habe ick jedacht, Herr Babendererde schläft, der hat seine zehn Stunden Arbeit hinter sich, der pooft ohne und mit Klingel. Und nu ham Se ihr doch uffjemacht!«

Jetzt hätte er gehen und die weitere Auseinandersetzung der erfahrenen Pinkpank überlassen können, die noch mit jeder Zudringlichen fertig geworden war. Aber etwas in der Haltung dieses Mädchens ließ ihn noch zögern. Vielleicht war es nur dies Hilflose, vielleicht war es auch etwas anderes …

Die Pinkpank richtete jetzt ihren Angriff direkt gegen die Besucherin. »Aber Se sollten sich wat schämen, Frollein«, sagte sie, »einem Mann so nachzuloofen! Jlooben Se denn, Herr Babendererde braucht Se?! Zehne wie Sie könnt’ er haben, hundert! Aber der is nich so, dem machen Se vajebens süße Oogen! Ja, funkeln Se mir nur an, ick hab’ keene Bange nich, ich schlag’ mir alle Tage mit euch Kroppzeug rum …«

»Jetzt ist es genug, Frau Pinkpank«, sagte Babendererde, selbst etwas erschreckt durch diesen kräftigen Ton. »Also dann Lebewohl, mein Fräulein!« Und er wandte sich zum Gehen.

»Sie werden mich anhören!« sagte sie mit einer so entschlossenen Stimme, daß er unwillkürlich wieder stehenblieb. »Heute, morgen, in zehn Tagen – aber Sie werden mich hören! Ich gebe nicht nach! Ich bin neunzehn Jahre alt, ich lasse mich nicht enttäuschen! Ich glaube an Sie!«

»Also in Teufels Namen, so singen Sie!« rief er in zorniger Ungeduld. »Singen Sie – denn Sie wollen doch singen?! – und lassen Sie mich dann schlafen!«

»Det is doch einfach unerhört!« ließ sich die Pinkpank vernehmen. »Singen sagt se, aber se meent …«

»Ruhe, Pinkpank!« befahl er. »Also singen Sie, mein Fräulein, los, singen Sie meinen Schlager, den ganz Berlin singt …«

»Hier?« fragte sie verwirrt. »Hier soll ich singen? Hier auf der Treppe, vor ihrer Tür?«

»Nun, und was ist weiter dabei?« entgegnete er, immer zorniger, und wußte doch, daß er sich zu schämen hatte, daß er ohne Recht zornig war. »Die Bühne ist noch sehr viel öffentlicher, und Sie haben dort auch etwas mehr Publikum als meine gute Pinkpank und mich. Singen Sie, mein Fräulein, oder ich gehe sofort und überlasse Sie der Frau Pinkpank!«

»Gut, ich werde hier singen«, sagte sie. »Ihren Schlager, nicht wahr?« Er nickte ungeduldig. »Einen Augenblick, bitte.« Und mit dem Versuch eines Lächelns: »Ich bin ein wenig aufgeregt.«

»Ich verstehe«, erwiderte er trocken und beantwortete das Lächeln nicht, sah sie nur kühl prüfend an.

Wie sie da jetzt mit geschlossenen Augen an dem Türrahmen lehnte, unruhig atmend, wollte Mitleid ihn überkommen. Ich sollte sie doch wenigstens in die Wohnung lassen, dachte er. Aber er hatte schon soviel Unangenehmes mit sogenannten Verehrerinnen erlebt, manche waren nur durch äußerste Grobheit loszuwerden. Vielleicht, wahrscheinlich tat er dieser unrecht, sie sah nicht danach aus. Aber, dachte er mit einem plötzlichen Gedankensprung und umging die Frage nach Recht und Unrecht, aber ich muß meinen Schlaf retten, ich muß in anderthalb Stunden frisch sein!

»Ich singe«, sagte sie und schlug die Augen zu ihm auf, sah ihn fest an. »Ich singe Ihr Lied …«

Und nun sang sie dieses Lied – das er allabendlich zur Begeisterung seiner Hörer sang, das ganz Berlin summte, sang, tanzte –, sang dies:

Die Stunde, eh’ du schlafen gehst,Die schenk du mir, die schenk’ ich dir,Und wenn du mich dann recht verstehst,So bleibe ich bei dir.Die Nacht verrinnt, der Tag bricht an,Die Sonne steigt. – Nun sieh mich an.Jetzt wohnt das Glück bei mir!

Welch überraschend tiefe Stimme! dachte er. In diesem zarten Körper! Es wäre damit etwas anzufangen, nur ein wenig Schule noch. Obwohl sie schon gute Schule hat, sie muß bei einer ausgezeichneten Lehrerin sein! Wo sagte sie doch? In Lübeck, richtig, ja. – Sie ist jetzt befangen, aber die Atemtechnik ist gut – das eben hätte die Marielen nicht besser machen können …

Sie sang immer weiter, alle Strophen, den Kopf gegen den Rahmen gelehnt, ihn ansehend. Das Gesicht der Pinkpank hatte sich geglättet, sie war ein alter Theaterhase, sie hörte, wer was konnte. Diese kleine Wiehießsiedoch konnte was!

Die Stimme war immer voller und sicherer geworden, sie läutete jetzt wie eine tiefe, dunkle Glocke. Das Mädchen sang den letzten Vers:

Die Stunde, eh’ du schlafen gehst,Darf ich nun bei dir sein.Was dich erlöst, was mich erlöst,Wir wissen es allein,Die Nacht verrinnt, der Tag bricht an,Nun bin ich Frau, du bist der Mann –Jetzt sind wir stets zu zwei’n!

Aber so gut sie auch sang, ihm mißfiel nun die Sängerin. Der Blick, mit dem sie ihn selbstvergessen ansah – ach! Er hatte ihn so oft in den Augen anderer Verehrerinnen gesehen, die nicht so gut sangen, denen es aber auch gar nicht auf den Gesang ankam! Die Pinkpank hatte es auch gemerkt, ihr Gesicht war wieder säuerlich geworden.

»Schön, schön, mein Fräulein«, sagte er darum eilig, kaum daß sie geendet hatte. »Sie haben ein recht gutes Material. Seien Sie noch ein, zwei Jahre recht fleißig bei Ihrer vorzüglichen Lehrerin, und Sie werden eine erfreuliche Zukunft haben. Guten Abend!«

Und rasch, ehe ihn seine Wort noch reuen konnten, ging er in das Innere der Wohnung.

Sie war bei dieser bösen Abfertigung zusammengefahren, als hätte er sie geschlagen. Und er hatte sie ja wirklich geschlagen! Verzweifelt fragte sie die Haushälterin: »Habe ich denn so schlecht gesungen? Warum ist er so böse auf mich?«

»Nee, Se haben nicht jrade schlecht jesungen, Frollein«, antwortete die Pinkpank. »Aber denken Se bloß: alle wollen wat von ihm, und keene bringt ihm wat! Wenn der nich uff sich aufpaßt, is er gleich flöten. – Na, nu kucken Se man nich so traurig! Jehn Se lieber nach Haus und tun Se, wat er Sie jesagt hat!«

Damit schloß Frau Pinkpank die Tür, und das Mädchen aus der Fremde stand im Treppenhaus. Umsonst, alles vergeblich! Mama hatte recht behalten: ihre Kraft war nicht groß genug. Und sie hatte geglaubt, sie würde ihn sofort überzeugen …

Lange mußte Babendererde auf dem Balkon warten, bis er das Mädchen auf der Straße erscheinen sah. Schon empfand er bittere Reue wegen seiner Härte, und diese Reue wuchs, als er sie schlaff die Straße eher hinabschleichen als gehen sah. Am liebsten wäre er ihr nachgelaufen und hätte ihr mit ein paar Worten Mut gemacht. Aber, dachte er, aber wohin soll das führen?! Sie hätte mich nicht so ansehen dürfen – mit ein paar Worten ist es da nicht getan! All das zersplittert mich bloß. Ich muß mich zusammenhalten. Zwölfhundert Menschen haben ihr Geld dafür ausgegeben, um heute abend eine gute Leistung von mir zu sehen. Dafür muß ich frisch sein …

Er ging entschlossen auf den Gang. »Pinkpank«, rief er, »lassen Sie mir ein Bad ein, recht heiß! Mit dem Schlafen wird es doch nichts mehr.«

»Ick saje et ja!« seufzte die Pinkpank. »Immer die ollen Mächens!«

2Der Anruf und das Ei

Die Marielen, die große Marielen, wie sie von ihren Verehrern genannt wurde, saß in ihrer Theatergarderobe und schalt mit dem Friseur herum: »Ich habe es hundertmal gesagt, ich will das Haar an den Schläfen lockerer haben – ganz locker! Aber in diesem Theater tut noch der kleinste Statist alles, um mich zu ärgern!«

Die Tür öffnete sich, und eilig trat der Theaterarzt Doktor Altpeter ein. »Ich küsse dich, mein schönes Kind!« sagte er und sandte der Marielen durch den Spiegel einen leicht schnalzenden Kuß, den er von dem Rücken seiner fetten Hand fortschnellte. Dann warf er sich seufzend in einen Sessel. »Nun, wie ist hier die Stimmung, Marielen? Drüben« – er deutete mit dem Daumen zur Tür – »ist sie grauenvoll! Einfach grauenvoll!«

»Und das wundert dich, Doktor?« fragte die Marielen spöttisch. »Bedenke doch, heute abend geben wir seinen geliebten Schmarren zum letzten Mal! Mindestens vierzehn Tage werden der hohe Herr Babendererde unbeschäftigt sein! Unbeschäftigt – du lieber Gott! Ich glaube, er hat ›nur‹ an drei Filmen zu arbeiten!«

»Du tust ihm unrecht, Marielen!« versicherte Doktor Altpeter eifrig. Ihm, wie allen beim Theater, war bekannt, daß die Marielen von Ehrgeiz verzehrt war und daß sie es nie verwinden konnte, kein ›filmisches Gesicht‹ zu haben. Der Versuch, mit ihr einen Film zu drehen, war fehlgeschlagen – das verzieh sie keinem, der filmte! »Du tust ihm wirklich unrecht! Er hat seinen geliebten Schmarren genauso über wie du, mein Kind, und freut sich auf seine vierzehn Tage Spielfreiheit. Nur schlafen, Doktor, hat er mir noch gestern gesagt, schlafen und vergessen!« Ein wenig wichtigtuerisch setzte er hinzu: »Ich habe ihm ein neues Brompräparat verschrieben, von dem er keine Pickel bekommen wird.«

»So!« sagte die Marielen, immer in dem gleichen spöttischen Ton, winkte dem Friseur Entlassung und fing an, ihr Gesicht einzufetten. »Er erzählt dir, er hat den Schmarren über, und du bist so naiv, es ihm zu glauben, Doktor? Dir kann man auch alles erzählen! Sag mal, mein Guter, hast du dir das Stück in letzter Zeit mal angesehen – vom Zuschauerraum aus, meine ich?«

»Die Wahrheit zu sagen, nein!« gestand Doktor Altpeter etwas verlegen. »Ich bin hinter der Bühne immer so beschäftigt …«

»Siehst du, mein Freund«, sagte die Schauspielerin triumphierend, »darum hast du auch nicht gemerkt, wie er mich immer mehr in den Hintergrund spielt. Dieser noch nicht dreißigjährige Knabe. Mich! Ich will dir ein Beispiel sagen: das Duett am Ende des zweiten Aufzuges. Du gibst doch zu, Doktor, daß es ein Duett ist?«

»Natürlich ist es ein Duett!«

»Und wie nennt er es? ›Mein Schlager‹ nennt er es! Seinen, des hohen Herrn Babendererde höchstpersönlichen Schlager! Als ob ich nur so mitträllerte! Und er hat’s so weit gebracht, daß niemand mehr etwas dabei findet! – Sei still, Doktor, laß mich erst ausreden! Zu Anfang, das mußt du noch wissen, haben wir beide das Duett ganz vorn an der Rampe gesungen, aber er hat so lange gebohrt, bis er jetzt allein vorne steht, und ich darf von der zweiten Kulisse aus seine Wirkung erhöhen! Ist das wahr, Doktor, oder bilde ich mir auch das nur ein?«

»Aber Marielen!« sagte der Arzt beschwichtigend. »Du warst doch selbst mit dieser Änderung einverstanden! Du fandest doch auch, es sähe bei einem solchen Volksstück mit Gesang gar zu opernmäßig aus, wenn ihr euer Liedchen wie eine große Arie an der Rampe schmettertet! Ihr seid schließlich beide keine Sänger, ihr seid Schauspieler, die auch ein bißchen singen …«

»Danke, Doktor!« sagte die Marielen pikiert. »Du machst mir ja heute fabelhafte Komplimente! Ja, zuerst war ich einverstanden. Ich behaupte gar nicht, so listig zu sein wie der Babendererde! Erst hinterher ist mir aufgegangen, was das ganze Gerede von der ›Großen Oper‹ sollte! Er wollte alleine vorne stehen und allen Beifall alleine einheimsen! – Aber ich sage dir, Doktor, wenn der gute Gerd schlau ist, so bin ich listig! Ich lasse mich nicht von ihm in den Hintergrund drücken! Wenn keiner meine Rechte wahrt, wahre ich sie selber! Ich spiele ihm heute einen Streich, Doktor, an den soll er noch lange denken!« Sie kicherte. »Er wird schon sehen, was er heute allein da vorn an der Rampe macht!«

»Liebes Kind!« sagte Doktor Altpeter, jetzt ernstlich besorgt. »Du wirst doch keine Stänkerei unter Kollegen anfangen?! Du hättest alle gegen dich!«

»Nochmals dankeschön, lieber Doktor! Du hast es wirklich nicht nötig, mich darauf aufmerksam zu machen, wie allein ich an diesem Theater stehe! Nein, mein Freund, das ist ausgemacht: heute bekommt er seinen Denkzettel! Du kannst ruhig hingehen und es ihm erzählen. Auf das, was ich vorhabe, kommt er doch nicht. Reg dich nur nicht auf, Doktor! Du bist ein schlichtes Herz, du kannst dir einfach nicht vorstellen, wie eifersüchtig Kollegen sein können!«

»Doch, doch, ich kann’s!« ächzte der Doktor.

»Aber einmal muß man sich zur Wehr setzen, sonst denken schließlich alle, man ist nur ein Schminklappen!«

Noch einmal wollte Doktor Altpeter zum Guten reden, da klingelte das Telefon. Marielen nahm den Hörer.

»Ja? – Gerade eben haben wir von dir geredet, der Altpeter und ich! Er wird dir gleich davon erzählen. Ich bereite dir einen glänzenden Abgang vor! – Nu! Nu! Nu! Die Stimmung scheint mir bei dir aber gar nicht rosig für eine letzte Vorstellung in solcher Erfolgsrolle! – Ich soll nicht schwätzen? Ich bin nur eine Frau, lieber Gerd, Frauen schwätzen immer, große Männer tun große Taten – das ist das Ei des Kolumbus. Merke dir das, Babendererde, du wirst heute abend noch an das Ei des Kolumbus denken! – Ich soll dir den Doktor schicken? Aber natürlich, sofort! Er ist schon auf dem Wege zu Euer Gnaden! Immer Ihre gehorsame Dienerin, Herr Babendererde!«

Sie legte den Hörer auf.

»Doktorchen!« flötete sie. »Unser großer Mime hat ein Wehwehchen und bittet dich zu sich. – Und, wie gesagt, Diskretion wird nicht verlangt …«

»Wie giftig du sein kannst, Marielen!« sagte der Arzt, schon unter der Tür, voll Bewunderung. »Aber man muß es dir lassen: du bist wundervoll in deinem Gift! In zwanzig Jahren wirst du mit deinen bösen Schwiegermüttern einen Welterfolg haben! – Ich bitte tausendmal um Verzeihung!« rief er, denn eine Puderquaste fuhr stäubend auf ihn zu. »Ich meinte, in fünfzig Jahren, Marielen!«

Damit entrann er; erst auf dem Gang nahm er sich die Zeit, die gröbsten Puderspuren abzuklopfen.

·     ·     ·

»Höre einmal!« sagte Babendererde zu dem eintretenden Arzt.

»Nein, höre erst du!« unterbrach ihn Doktor Altpeter. »Ich war eben bei der Marielen – sie hat mal wieder einen akuten Neidanfall, fühlt sich von dir an die Wand gespielt.«

»Laß sie! Wie gleichgültig mir das ist! Ich bin da eben von einem Krankenhaus angerufen …«

»Einen Augenblick noch, Gerd! Es ist diesmal nicht nur ein platonischer Anfall, sie hat ernstlich vor, dich heute abend irgendwie reinzulegen. Ich habe vergeblich versucht zu erfahren, was sie vorhat.«

»Soll sie tun, was sie will! Das ist unheilbar bei ihr! Mach dir keine Sorgen, Doktor, ich werde schon mit ihr fertig!«

»Paß lieber auf, Gerd! Diesmal beabsichtigt sie etwas Ernstliches. Sie scheint ihrer Sache ganz sicher zu sein.«

Einen Augenblick dachte Babendererde nach. »Und du hast keine Ahnung, in welcher Richtung sich die Gute betätigen will?«

Doktor Altpeter schüttelte den Kopf.

»Dann muß man es eben abwarten. Es wird schon schiefgehen. Hoffentlich schmeiße ich nicht ganz um. Nun«, setzte er, sich selbst beruhigend, hinzu, »das ist mir ja in meinem ganzen Leben noch nicht passiert. Aber heute ist ein Unglückstag, soweit ist alles richtig. Hör jetzt zu, Doktor. Ich bin eben von einem Krankenhaus angerufen worden – da ist ein junges Mädchen eingeliefert, das heute nachmittag bei mir war …«

»Das ist ja das erste Mal«, rief Doktor Altpeter verblüfft, »daß man so etwas von dir hört! Der Babendererde und hat was mit jungen Mädchen! Was ist denn mit ihr los, Gerd?«

»Du bist ein Vollidiot, Doktor!« sagte Babendererde ärgerlich. »Ich weiß gar nicht, warum ich dir Trottel überhaupt etwas erzähle. Die junge Dame – es ist eine völlig einwandfreie junge Dame, mein Herr Doktor Altpeter, die ich heute nachmittag übrigens zum ersten Mal gesehen habe –, also die junge Dame hat mir und meiner Pinkpank was vorgesungen, im Treppenhaus übrigens, damit du ganz beruhigt bist!«

»Das muß sie sehr ermutigt haben, Gerd«, sagte der Doktor maliziös.

»Ja, ich war ziemlich gemein zu ihr«, gab der Schauspieler reuig zu. »Ich bin eben völlig hinüber mit meinen Nerven, die ewige Schlaflosigkeit …«

»Du wolltest mir von der jungen Dame erzählen, ausnahmsweise mal nichts von dir!«

»Richtig, sie sang vor, und sie sang nicht einmal schlecht. Aber da war so ein Etwas, als wenn sie nicht nur vorsingen wollte, sondern, als wenn sie …, ich meine, es schien speziell mir zu gelten …, du verstehst doch, Doktor?«

»Ich verstehe schon! Und weil das arme Huhn das Unglück gehabt hat, sich in dich zu verlieben, warst du grob mit ihr?«

»Ja, ich fürchte, ich war ziemlich gemein. Sie ist noch blutjung und noch dazu aus der Provinz. Jedenfalls ist sie unseren etwas rauhen Ton nicht gewöhnt gewesen. Kurz und gut, eben erfahre ich, das Mädchen ist auf dem Wege von mir in einen Autobus gedammelt – ich hoffe, aus reiner Versunkenheit, nicht aus Absicht …«

»Peinlich!« sagte der Arzt und schob die Unterlippe nachdenklich vor. »Äußerst peinlich! – Ist sie schlimm verletzt?«

»Wie der Arzt mir eben sagte, so gut wie gar nicht. Der Wagen hat sie anscheinend nur zur Seite gestoßen. Ein paar Hautabschürfungen, ein etwas heftiger Fall …«

»Da hast du aber Glück gehabt, Gerd! Du bist manchmal nämlich reichlich rauh, wenn es um die Sicherung deiner heiligen Arbeit geht. Du solltest dann und wann auch an die Gefühle deiner Mitmenschen denken!«

»Ich weiß, Doktor, ich bin ein großer Egoist, ich bin gar nicht besser als die Marielen. Ich bin aber nicht so gewesen, ich bin erst so geworden. Aber sag selbst, muß man nicht so werden?! Wenn ich nur auf den zehnten Teil von all den Anliegen einginge, ich hätte nicht eine Minute frei für die Arbeit! – Die Leute scheinen zu denken, so ein Schauspieler geht einfach auf die Bühne und spielt los …«

»Du wolltest mir von dem jungen Mädchen erzählen«, unterbrach ihn der Arzt wieder. »Ich nehme wenigstens an, dein Bericht war noch nicht zu Ende?«

»Nein, natürlich nicht! Das junge Mädchen ist also körperlich nicht zu Schaden gekommen, aber sie hat eine Art Schock erlitten. Denke dir, Doktor, sie spricht kein Wort!«

»Das wird sich geben!« sagte beruhigend der Arzt. »So was kommt häufig nach einem starken Schrecken vor. Es gibt sich fast immer wieder, mal schneller, mal langsamer. – Aber ich wundere mich«, setzte er nachdenklich hinzu, »daß die im Krankenhaus ausgerechnet dich angerufen haben – wenn sie nicht sprechen kann?«

»Das ist es ja gerade!« rief Babendererde verzweifelt. »In ihrer Handtasche hat man nichts gefunden als einen Zettel mit meiner Adresse! Nicht den geringsten Hinweis auf ihre Angehörigen!«

»Aber sie wird dir geschrieben, sich angemeldet haben? Du wirst ihren Namen wissen?«

»Nichts, gar nichts! Sie kam völlig wie das Mädchen aus der Fremde. Ich weiß nur, daß sie ihrer Mutter ausgekniffen ist, daß sie Ilsebill genannt wird, weil alles nach ihrem Kopf gehen soll, und daß sie wahrscheinlich aus Lübeck ist.«

»Und ihren Namen hat sie dir nicht genannt?«

»Doch, ja, aber ich Schafskopf habe ihn völlig vergessen! Ich weiß nur, es fiel mir etwas an dem Namen auf. Ich glaube, weil er etwas Seemännisches hatte wie Reling oder Vortopp oder Gangspill – ich habe keine Ahnung mehr.«

»Nun«, meinte Doktor Altpeter, »mit deinen Hinweisen wird die Mutter sich durch die Polizei in Lübeck unschwer ermitteln lassen.« Und er wiederholte: »Mädchen aus gutem Hause, blutjung. Der Mutter ausgerissen. Hang zur Bühne. Hört auf den Namen Ilsebill …«

»Hör auf, Doktor! Als wenn du einen weggelaufenen Foxköter beschriebest! Und auch du redest gleich von der Polizei! Genau wie die im Krankenhaus. Es muß dir doch klar sein, daß wir das junge Mädchen nicht kompromittieren dürfen!«

»Wir! Mit wir meinst du dich und mich?«

»Natürlich! Ich habe dem Arzt auch gleich gesagt, er darf sich in Lübeck höchstens erkundigen, ob dort jemand vermißt gemeldet ist. Keinesfalls mehr. Gibt’s dort keine Vermißtmeldung, so heißt das, die Angehörigen wünschen über die Ausreißerei Schweigen …«

»Und was dann?«

»Jedenfalls will ich erst einmal nach ihr sehen, heute abend noch, gleich nach der Vorstellung. Der Arzt erwartet uns.«

»Uns! Entschuldige Gerd, aber ich bin nachher mit einem Haufen Leute verabredet.«

»Ach, Unsinn mit deinem Haufen Leute! Denkst du, ein einziger wird dich vermissen? Du wirst an einem Krankenbett erwartet, ich habe Vertrauen zu dir, du mußt mir deine ärztliche Meinung sagen. Außerdem fahre ich dich hinterher zu deinem Haufen Leute hin!«

»Du bist die Liebenswürdigkeit selbst, Gerd! – Übrigens lädst du dir mit dem jungen Mädchen unter Umständen was Hübsches auf. Woher, frage ich mich, dieses bei dir so ungewohnte Interesse …?«

»Du hältst mich wohl für einen Egoisten?« fragte Babendererde fast empört. Er hatte schon wieder vergessen, was er eben erst von sich gesagt hatte. »Mein Lieber, da beurteilst du mich ganz falsch! Ich fühle mich einfach für das junge Ding verantwortlich. Wenn sie gedankenlos in das Auto gelaufen ist – schließlich: ich bin daran schuld! Sie hat an mich geglaubt wie an den lieben Herrgott, ich war gemein zu ihr – da paßte sie eben nicht auf! Du verstehst, wie ich es meine?«

»Ich verstehe, daß du entweder alt wirst oder dich verliebt hast, Babendererde! Ich weigere mich, bei dir an Gewissensbisse zu glauben. Für solchen Luxus hast du noch nie Zeit gehabt. Also verliebt – denn an Alter zu glauben würde mir deine ewige Feindschaft eintragen, und die riskiere ich nicht!«

»Kannst du denn nichts ernst nehmen, Doktor?! Ich glaube, du siehst uns Schauspieler alle wie Kinder an!«

»Gerade weil ich das tue, nehme ich dich verteufelt ernst! Ich bin nie ernster gewesen als in diesem Augenblick! Du Kind hast keine Ahnung, in was du dich da einläßt …«

»Doktor!« bat der Schauspieler flehentlich. »Rede nicht so geschwollen! Ich bin ein ganz einfacher Mensch, und wie der einfachste Mensch empfinde ich Reue über etwas Schlechtes, was ich getan habe! Daran gibt’s gar nichts Geschwollenes! Ich will bloß wissen: kommst du mit oder läßt du mich sitzen?«

»Ich muß wohl schon mitkommen und Kindermädchen spielen«, seufzte der Arzt. »Aber jetzt bitte ich dich, entlasse die schöne Unbekannte aus deinem Sinn – sie ist doch schön? Natürlich! – und denke ein bißchen an die wohlbekannte Marielen, die dir einen Streich spielen will. Du mußt gleich auf die Bühne, es hat schon zum zweiten Mal geklingelt …«

»Ach, die alte Marielen mit ihrem verruchten Ehrgeiz!« sagte Babendererde. »Die Arme mag noch so hoch steigen, sie wird es nie verwinden, daß sie nicht filmen kann! – Wetten, Doktor, daß ich sie zum Sprechen bringe?!«

»Die Marielen?«

»Das Mädchen aus der Fremde doch! Die Marielen ist mir völlig piepe!«

»Aha!« sagte der Arzt und folgte dem Schauspieler besorgt in die Kulisse.

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Aber vorläufig schien zu irgendwelcher Besorgnis kein Anlaß vorzuliegen. Die siebenundachtzigste Aufführung des Stückleins ›Liebe geht auf sachten Sohlen‹ lief wie am Schnürchen. Es war eines jener schwankartigen Lustspiele, bei denen auch der unerfahrenste Theaterbesucher von der ersten Minute an weiß, daß das Liebespaar sich kriegen wird, so finster manchmal auch der Himmel dräuen mag. Trotzdem folgt er mit innigem Behagen den verschlungenen Pfaden, über die ein erfahrener Autor die Liebenden irren läßt, bis sie endlich unschlagbar als Sieger durchs Ziel gehen.

Die Handlung brachte es mit sich, daß ›er‹ (Herr Babendererde) die steile Wand eines Schlößchens erklimmt, um in ›ihr‹ (Fräulein Marielens) Zimmer zu schauen und dabei das Lied von der Stunde, eh’ du schlafen gehst, zu singen, teils allein, teils vereint mit ihr, während unten im nachtdunklen Park sowohl Nebenbuhler wie unzufriedene Verwandte auf den unbekümmerten Sänger lauern. Für diese Szene hatte der Architekt einen sehr wirkungsvollen Aufbau geschaffen: der Zuschauer sah sowohl in das wohlig erleuchtete Schlafgemach der Heldin wie in den nachtdunklen Park, über dessen Wipfeln Sterne funkelten, und konnte so den halsbrecherischen Aufstieg des Helden in allen Einzelheiten verfolgen.

An Babendererdes Kletterkünste wurden hohe Anforderungen gestellt; außerdem hatte er das Duett – oder ›seinen Schlager‹ – in einer etwas unbequemen Haltung zu singen: während seine Füße über dem Abgrund schwebten, hielt er sich mit seiner einen Hand am Fensterkreuz. Die andere konnte er gelegentlich aufs Fensterbrett stützen, er mußte sie aber auch, um die Hand der Heldin zur gemeinsamen Schlußstrophe zu ergreifen, frei machen können. All das hatte eine kräftige Portion Albernheit in sich, besaß in seiner Unbekümmertheit aber auch Frische und Reiz, wobei ungewiß blieb, wieviel davon Verdienst des Autors war und was das heitere Spiel der Mimen dazu tat.

Babendererde dachte schon längst nicht mehr an die Warnung des Theaterarztes oder überhaupt an die Marielen. Je näher ›sein Schlager‹ gekommen war, um so unruhiger war er geworden. Für Augenblicke vergaß er ganz, daß er auf der Bühne war. Dann dachte er an das dunkle, blasse Mädchen, das diese Zeilen vor ein paar Stunden noch für ihn gesungen hatte und das nun, stumm geworden, in einem Krankenhausbett lag. Er mußte an ihre schöne Stimme denken, die wie eine tiefe Glocke geläutet hatte, und dann war das Mädchen schlaff die Straße hinuntergeschlichen, und die Glocke hatte ausgeläutet, vielleicht für immer!

Er erwachte aus seinen Gedanken von einem unruhigen Rauschen, das durch den Zuschauerraum ging. Wie weit war er? Welche Strophe hatte er eben gesungen? Er wußte es nicht! Lieber Himmel, dachte er, ich muß mich zusammennehmen. Die Marielen ist noch beim Spiegel, es wird also wohl die dritte Strophe gewesen sein.

Und er begann wieder zu singen.

Aber kaum war er dabei, irrten seine Gedanken von neuem ab. Jetzt war eine andere Angst über ihn gekommen. Sie kann nicht mehr singen, mußte er denken. Und nun kann vielleicht ich auch nicht mehr singen! Weil ich ihr die Stimme genommen habe, nimmt sie mir meine!

Der Rest Aberglaube, von dem sich kaum ein Künstler ganz frei machen kann, überwältigte ihn in einem plötzlichen Angriff. Er meinte zu spüren, wie es in seinem Halse zu kratzen anfing. Singe ich überhaupt noch? O Gott, nur noch diese vier Zeilen! Dann kommt der Schlußvers mit der Marielen, da fällt es nicht so auf! Ich darf doch nicht umschmeißen – ich habe noch nie in meinem Leben umgeschmissen – o dieses verdammte Mädchen!

Unten, endlich herbeigelockt von dem Gesang, sammeln sich die Mißgünstigen, die Verfolger. Noch schweigen sie, während das Paar oben gemeinsam den Schlußvers singt. Aber mit dem letzten Ton werden sie drohend herzudrängen, bereit, dem Hinabkletternden einen heißen Empfang zu bereiten. Ihm bleibt nur die Flucht in ihr Zimmer, er wird sich hineinschwingen, das Licht erlischt – und die Verfolger haben gegen ihren Willen die Liebenden vereint!

Langsam hat sich die Marielen an ihn herangespielt. Sie macht das prachtvoll, der Ton seiner Stimme scheint sie magnetisch anzuziehen, sachte, Schritt für Schritt, wie eine Schlafwandelnde, nähert sie sich dem Fenster.

Nun legt sie ihre Hand auf die seine. Mechanisch, wie er es Dutzende von Malen getan, verlagert er sein Gewicht so, daß es ganz von dem Arm am Fensterkreuz gehalten wird, und reicht ihr die andere Hand. – Sie nimmt sie, und er fühlt etwas in diese Hand hineingleiten, etwas Glattes, Rundes … Er wirft einen erschrockenen Blick darauf: es ist ein Ei, ein Hühnerei, das ihm dieses eifersüchtige Biest in die Hand gedrückt hat!