Späte Rache auf Usedom - Elke Pupke - E-Book
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Späte Rache auf Usedom E-Book

Elke Pupke

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Beschreibung

An der idyllischen Strandpromenade Bansins steht ein historisches Holzhaus, das Zentrum eines erbitterten Kampfes um Gerechtigkeit, Rache und dunkler Familiengeheimnisse wird. Eine junge Frau, getrieben von der Ungerechtigkeit, die einst ihrer Familie widerfahren ist, begibt sich auf eine gefährliche Rache-Mission. Eine Serie verstörender Ereignisse beginnt. Innerhalb des beschaulichen Umfelds der Pension Kehr kreuzen sich die Wege von drei jungen Frauen, jede von ihnen könnte die mysteriöse Rächerin sein. Während die Ermittlungen voranschreiten und die Spannung in der schwülen Sommerluft brodelt, muss in einem Rennen gegen die Zeit aufgedeckt werden, wer hinter den Grausamkeiten steckt, bevor noch mehr Unschuldige in das Netz aus Rache gezogen werden.

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Seitenzahl: 361

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Elke Pupke

SPÄTE RACHE AUFUSEDOM

Prolog, 22. Juni

Es ist eine laue Sommernacht. So schön, wie sie zu dieser Jahreszeit nur hier an der Ostsee ist. Eine leichte Brise streift über das Meer und vertreibt die Schwüle des Tages.

Obwohl es auf Mitternacht zugeht, herrscht auf der Strandpromenade noch reger Betrieb. Ein Konzert im Musikpavillon ist gerade beendet, die Musiker packen ihre Instrumente ein, die Zuhörer verteilen sich langsam. Eine Nacht, zu schön, um schon nach Hause zu gehen. Eine Nacht für Verliebte.

Wer es gern ein wenig einsamer und dunkler hat, geht zum Strand hinunter. Hier riecht es nach Salz und nach Tang. Kleine Wellen plätschern leise ans Ufer, die wenigen Strandspaziergänger reden leise miteinander, bleiben manchmal stehen und blicken zu den hell erleuchteten Schiffen am Horizont.

Plötzlich wird die Stille von lautem Sirenengeheul unterbrochen. Erschrocken drehen sich die Leute um. Da, im Osten, direkt an der Strandpromenade lodern Flammen auf. Stehen dort nicht die schönen Holzhäuser? O Gott, das wäre so schade – hoffentlich sind keine Menschen mehr drin.

Die Flammen schlagen aus allen Fenstern, gerade bricht das Dach zusammen, der Lärm ist ohrenbetäubend, die Zurufe der Feuerwehrleute kaum zu verstehen.

Die Nachbarhäuser werden evakuiert. Ein Mann versucht, mit einem Gartenschlauch seine Büsche an der Grundstücksgrenze zu durchnässen.

Die Strandpromenade ist weiträumig abgesperrt, brennende Holzteile und Dachschindeln fliegen durch die riesigen Qualmwolken.

Die Feuerwehr ist von der Straße her auf das Grundstück gefahren. Die Männer halten die Schläuche auf die Kiefern, aus den Kronen der hohen Bäume tropft bereits das Wasser. Auch die Hecke und die kleinen Schuppen auf dem betroffenen Grundstück werden durchnässt.

Das mehr als hundert Jahre alte Holzhaus ist nicht mehr zu retten.

Viele der Bansiner, die am Absperrband stehen und dem Schauspiel fassungslos zusehen, haben Tränen in den Augen. Dann ein Aufschrei. Zwei Feuerwehrmänner kommen in Schutzkleidung aus dem Souterrain. Sie taumeln. Einer reißt sich die Atemschutzmaske vom Kopf und beugt sich vor, ein Kamerad zieht ihn vom Haus weg, sie können gerade noch einem brennenden Balken ausweichen. Der andere wird von zwei Männern gestützt. Er blickt zurück in die Flammen und schüttelt den Kopf.

»Da ist noch jemand drin«, hört man eine entsetzte Stimme aus der Menge.

Am nächsten Tag steht es in der Ostseezeitung: ›In der Nacht zum Mittwoch wurde in Bansin ein historisches Holzhaus zerstört. Die Feuerwehr geht von Brandstiftung aus. Es gab einen noch nicht sicher identifizierten Toten, einen schwer und mehrere leicht Verletzte.‹

Dienstag, 19. März

Das Jahr hatte gut angefangen. Schon im Januar haben viele Reiseunternehmen ihre Gäste auf die Insel gebracht, vielleicht unterbreiteten ihnen die Hotels günstige Angebote für Gruppen. Eine Maßnahme, um die Häuser auszulasten, Arbeitskräfte über Winter zu halten, die im Sommer dringend gebraucht werden.

Jetzt im Frühjahr stehen überall Busse vor den Hotels, für die älteren Leute ist es eine bequeme und günstige Art zu reisen. Anne Wiesner ist zufrieden, sie hat gut zu tun. Sie fährt mit den Gästen über die Insel, steigt aus dem Bus, wo es schön oder interessant ist, erzählt zwischendurch möglichst unterhaltsam aus Geschichte und Gegenwart. Die meisten Leute sind nett, manche nerven, das steckt sie mit einem Lächeln weg. Sie muss sich mit den Nörglern und den Besserwissern, den immer Unzufriedenen nicht auseinandersetzen. Es lohnt sich nicht. Manchmal reagiert sie gereizt, aber das kommt später, im Herbst, nach einer anstrengenden Saison. Noch ist sie erholt und ausgeglichen, lächelt freundlich und gibt nur in Gedanken eine passende Antwort.

Heute ist sie zu Fuß unterwegs. Das Wetter ist angenehm, nicht zu warm, und es regnet auch mal nicht. Es riecht nach Frühling, die Natur grünt und blüht, zwitschert und duftet. Die Forsythien erblühen, überall stehen noch Krokusse und Schneeglöckchen.

Der Bus hat sie heute Vormittag nach Heringsdorf gebracht, dort haben sie sich die Seebrücke angesehen und wandern nun auf der Strandpromenade zurück nach Bansin. Ein eher seltener Spaziergang, sonst führt Anne die Gäste auf der Kaisermeile entlang, der zwei Kilometer langen Promenade zwischen der Heringsdorfer und der Ahlbecker Seebrücke. Das ist der geschichtsträchtige Teil, dort stehen die schönen alten Villen, in denen sich vor hundert Jahren die prominenten Besucher aufhielten.

Heute sind sie in die entgegengesetzte Richtung gegangen.

Sie muss immer wieder stehen bleiben, am besten dort, wo es Bänke gibt, ihre Zuhörer sind nicht die Jüngsten. Für den ersten Kilometer, von der Seebrücke bis zum Fischerstrand hat sie schon fast eine Stunde gebraucht.

Anne überlegt, ob sie hier etwas über die Fischer erzählt, aber die Gruppe ist schon sehr weit auseinandergezogen, die ersten werden ungeduldig, das langsame Gehen nervt sie. Andere sind weit zurückgefallen, machen aber nicht den Eindruck, als wollten sie sich beeilen. Gut, dass Anne so groß ist, sie überragt mit ihrem roten Lockenkopf sogar die meisten Männer. So ist sie immer zu sehen und sie selbst behält die Übersicht.

»Ich geh mal da auf die Toilette«, ruft eine Frau. »Warten Sie so lange?«

»Natürlich«, erwidert die Gästeführerin resigniert und zuckt zusammen, als ein Mann sie mit seinem Stock anstößt.

»He, Sie!«, krächzt er. »Sie haben gesagt, wir machen einen Spaziergang. Zwei Kilometer haben Sie gesagt! Jetzt rennen wir hier wie angestochen durch die Gegend und das schon mindestens drei Kilometer! Was soll das? Wir sind alte Leute, keine Leistungssportler! Ich gehe keinen Schritt weiter. Holen Sie sofort den Bus hierher! Oder ein Taxi, das bezahlen Sie aber.«

Anne weicht dem Stock aus, der drohend auf sie gerichtet ist. »Stützen Sie sich lieber auf«, rät sie. »Nicht, dass Sie noch hinfallen.«

Sie überlegt. »Sind Sie allein oder ist Ihre Frau dabei?«

»Das fehlte noch! Mit euch Weibern hat man doch nur Ärger. Außerdem geht Sie das gar nichts an.«

»Richtig.« Anne mustert den hageren Alten. Er wirkt sehr wacklig, sogar die Enden seines hochgezwirbelten Schnurrbartes zittern. Ob vor Schwäche oder vor Wut ist nicht feststellbar. Letzteres wäre besser.

Die blassen Augen sind trüb. Allein zurücklassen kann sie ihn nicht. Eigentlich kann man sich hier nicht verlaufen, aber vermutlich würde er genau das tun.

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, erklärt sie, ohne auf seine Forderungen einzugehen. »Bis nach Bansin ist es noch ungefähr einen Kilometer weit. Vielleicht eineinhalb bis zum Hotel. Schaffen Sie das?«

Er antwortetet nicht, starrt sie nur wütend an. »Oder Sie fahren mit dem Linienbus. Der fährt alle zwanzig Minuten. Gleich da unten ist die Haltestelle. Die Fahrt ist kostenlos, Sie müssen nur Ihre Kurkarte zeigen.«

»Hab ich nicht«, behauptet er.

»Hast du doch, brauchst du aber nicht«, mischt sich eine Frau ein. Sie stellt ihren Rollator neben den Mann. »Da setz dich rauf, ich schieb dich.«

Zweifelnd blickt Anne die zierliche alte Dame an.

»Meinen Sie -?«

»Na klar. Ich kann noch ganz gut laufen, das Ding brauche ich nur, weil mir manchmal schwindlig wird, zum Festhalten.«

»Okay.« Anne ist erleichtert. »Ich kann ja schieben und Sie halten sich an mir fest«, schlägt sie vor.

Inzwischen hat sich die ganze Gruppe um sie herum versammelt. Schnell finden sich ein Mann, der den Rollator schiebt, und zwei Frauen, die die Besitzerin desselben in die Mitte nehmen.

Endlich geht es etwas zügiger weiter.

Dieser Teil der Strandpromenade ist ruhiger, es sind weniger Leute unterwegs. Das Meer kann man nicht sehen, hohe Dünen und Bäume, hauptsächlich Kiefern, trennen den Spazierweg vom Strand. Die Grundstücke auf der linken Seite liegen tiefer, Treppen führen zu den Gebäuden hinab. Das meiste sind Ferienwohnanlagen, trist und einfallslos, in den letzten zwanzig Jahren einzig zu dem Zweck erbaut, schnell viel Geld zu verdienen. Nur wenige der schönen alten Häuser, die diesem Abschnitt einst den besonderen Charme verliehen haben, sind noch erhalten.

Anne weiß hier nicht viel zu erzählen. Manchmal denkt sie sich einfach etwas aus, es wird schon ungefähr stimmen, sie weiß ja, welche Gäste früher hier waren und was die so getrieben haben. Die Leute wollen unterhalten werden.

Hinter sich hört Anne den Alten immer noch schimpfen – er wird sich über sie beschweren, das sind doch mindestens zehn Kilometer, die sie schon gelaufen sind, vom Hotel hat er auch mehr erwartet, auf dem Frühstücksbüfett war nicht mal Räucherlachs und an den Rühreiern fehlte Salz. Er wird sein Geld für die Reise zurückverlangen. Anne wird er verklagen wegen Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung. Die anderen Gäste nehmen es mit Humor, sie scheinen ihn schon länger zu kennen.

Nun sind sie schon im östlichen Teil von Bansin. Hier gibt es einen leichten Anstieg, sie hilft einer Frau, die ihren Mann im Rollstuhl schiebt. Eine sehr dicke Frau setzt sich auf ihren Rollator und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ein alter Mann stützt sich an einem Zaun ab. Hier gibt es keine Bank, aber Anne wird einfach einen Moment stehen bleiben, damit ihre Gäste noch einmal durchatmen und Kraft schöpfen können für die letzten 500 Meter bis zum Hotel. Während sie auf die Nachzügler wartet, betrachtet die Gästeführerin das Haus hinter der niedrigen Hecke. Unten ist es weiß verputzt, darüber befinden sich zwei Etagen aus dunklem Holz. Ein hausbreiter Balkon überdacht die offene Veranda im Erdgeschoss. An dem kleinen Fenster unter dem spitzen Giebeldach erscheint kurz ein Gesicht.

Ganz sicher ist sie nicht, vermutet aber, dass es ein Fertigteilhaus ist, erbaut am Ende des 19. Jahrhunderts von der ›Wolgaster Actiengesellschaft für Holzbearbeitung‹.

»Vermutlich gehörte es zu den ersten Fertigteilhäusern die überhaupt in Deutschland gebaut wurden«, erzählt sie ihren Gästen. »Ganz individuell, nach Wünschen der Bauherren angefertigt, mit Schnitzereien und Malereien -«

»Willst du gleich ins Hotel oder trinken wir erst noch irgendwo einen Kaffee?«, fragt der Mann neben ihr seine Frau.

Der Alte mit dem gezwirbelten Schnauzbart wird herangeschoben und erhebt sich dann endlich von dem Rollator. »Morgen komme ich nicht mit«, erklärt er, »das ist mir zu anstrengend mit Ihnen und ich werde mich über Sie beschweren.«

»Ach ja? Bei wem denn?«

»Bei Ihrem Vorgesetzten.«

»Gut. Wenn Sie einen gefunden haben, zeigen Sie ihn mir«, bittet die Gästeführerin freundlich. Sie arbeitet seit 20 Jahren selbstständig und ist einmal mehr froh darüber.

»Wollten Sie zu dem Haus hier noch etwas sagen?«, unterbricht die freundliche Frau das Gespräch und nimmt ihr Gefährt wieder in Besitz. »Das ist sehr hübsch, erinnert mich an die Grunewaldvillen. Diese Schweizerhäuser waren ja um 1900 in vielen Regionen Deutschlands verbreitet.«

Die kleine alte Dame ist wirklich nett und Anne weiß selbst nicht, weshalb sie sich über diese Erklärung ärgert. Aber schließlich ist sie ja wohl die Gästeführerin, oder? Schweizer Villa – pah!

»Ja, aber dieses Haus entspricht dem nordischen Stil«, behauptet sie. »Auch der war am Ende des 19. Jahrhunderts beliebt. Der Kaiser war auf Nordlandfahrten, skandinavische Lebensart und Bauweise wurden gern nachgeahmt.«

Sehr interessiert wirken die alten Leute nicht, einige gehen bereits weiter. Dabei ist das Haus doch wirklich einen zweiten Blick wert.

»Dieses Haus hat ein Kapitän in Stockholm fertig gekauft.« Anne erhebt ihre Stimme etwas. »Er war durch Handelsschifffahrt wohlhabend geworden und wollte sich zur Ruhe setzen. Aber nicht hier in Bansin bei seiner Familie, sondern in Stockholm. Dort gefiel es ihm nämlich besser als in Deutschland, außerdem hatte er da eine junge Geliebte. Was seine Frau davon hielt, war ihm wohl ziemlich egal. Aber er hatte ein schlechtes Gewissen seinem Sohn gegenüber, immerhin sein einziges Kind. Deshalb ließ er dieses Fertigteilhaus in Schweden anfertigen. Er kaufte das Grundstück, ein Schiff brachte das Haus nach Swinemünde und von da aus per Pferdefuhrwerk hierher. Der Sockel wurde gemauert und die Teile darauf aufgestellt.«

Mäßiges Interesse, einige Gäste sehen sich das Haus genauer an. Leiser und in geheimnisvollem Tonfall spricht Anne weiter.

»Der Sohn ist dann mit seiner Mutter eingezogen, aber die Frau hat dem alten Schwerenöter nie verziehen. Er hat seinen Entschluss bereut und vor allem hat er seinen Heimatort Bansin furchtbar vermisst. Aber als er zurückkam und sie um Vergebung bat, hat sie ihn nicht in das Haus gelassen und gesagt, sein Sohn wolle ihn nicht sehen. Das hat ihm fast das Herz gebrochen. Er fuhr weiterhin zur See, war als tollkühner Kapitän berühmt und berüchtigt.

Vielleicht wollte er auf dem Meer sterben, aber er überlebte schwere Stürme und alle Kämpfe mit Piraten und einer rebellischen Crew.

Erst viele Jahre später, nach dem Tod seiner Frau, kam er wieder her. Er war schon alt und sehr krank. Mit letzter Kraft überstand er die Reise. Er hat sich mit seinem Sohn ausgesprochen und seine Enkel zum ersten und letzten Mal gesehen. Am nächsten Tag ist er in diesem Haus friedlich, mit sich und der Welt und vor allem mit seiner Familie versöhnt, eingeschlafen. Seinem letzten Wunsch entsprechend wurde seine Urne direkt vor Bansin in der Ostsee versenkt.«

Jetzt waren doch wieder alle stehengeblieben und betrachteten die kleine Holzvilla.

»Ist es noch im Familienbesitz?«, fragt ein dicker Mann und hält sich schwer atmend am Zaun fest.

»Ja -« Anne blickt zu der Frau, die gerade auf die Veranda tritt und korrigiert sich schnell. »Nein, nicht mehr. War es aber, bis vor zwanzig Jahren ungefähr, glaub ich.«

»Also gibt es hier keine Nachkommen von dem alten Kapitän mehr?«

»Nein, soweit ich weiß, nicht. Aber gehen wir doch weiter.«

›Du weißt eben nicht alles‹, denkt die junge Frau, die am Rande der Gruppe am Zaun steht. Der Gästeführerin ist sie nicht aufgefallen. Sie trägt einen breitkrempigen Sonnenhut und dreht Anne den Rücken zu, als die an ihr vorbeigeht. Über den Rand ihrer großen dunklen Brille hinweg blickt sie zu dem Giebelfenster hinauf. Auch sie hat das Gesicht dahinter gesehen.

Der Mann tritt unwillkürlich einen Schritt zurück, als hätte er den Blick gespürt. Was ist los mit ihm? Diese unerklärliche Angst. Ständig hat er das Gefühl, er wird beobachtet, belauert wie von einem Raubtier. Er spürt etwas Böses, Bedrohliches.

Ist das sein schlechtes Gewissen? Er ist jetzt in dem Alter, in dem der Vorbesitzer das Haus verloren hat. An ihn verloren. Warum muss er jetzt so oft daran denken, was er den Leuten angetan hat? Früher dachte er selten darüber nach. Und wenn, dann war er stolz auf sein schlaues, strategisches Vorgehen. Und schließlich hat er es für seine Kinder getan. Es musste sein.

»Bernhard?« Die Stimme seiner Frau klingt ungeduldig. »Was machst du dauernd da oben? Hast du wieder jemanden im Garten gesehen, der gar nicht da ist? Komm runter, das Essen ist fertig.« Kopfschüttelnd geht sie zurück in die Küche. Er ist seltsam geworden in letzter Zeit. Oft in Gedanken versunken und schreckhaft, beinahe ängstlich. Er wird doch nicht etwa dement? Das fehlte gerade noch. Sie hat mit sich selbst genug zu tun.

Berta Kelling sitzt am Stammtisch in der Pension Kehr wieder und liest die Ostseezeitung. So wie an jedem Morgen seit mehr als dreißig Jahren. Außer am Sonntag, da kommt keine Zeitung, dafür zelebriert sie ein ausgiebiges Frühstück mit Sophie und deren Freundin Anne. Auch dabei erfährt sie manchmal Neuigkeiten.

Früher musste sie dazu nur die Treppe hinuntergehen, doch seit einigen Jahren wohnt sie nicht mehr im Haus. Der kleine Spaziergang vor dem Frühstück von ihrer Wohnung zur Pension tut ihr gut.

Die Pension Kehr wieder, die Berta damals gehörte, wird jetzt von ihrer Nichte Sophie betrieben. Der zierlichen Frau mit den rot gefärbten Haaren und den strahlend blauen Augen sieht man ihre 58 Jahre nicht an. Flink räumt sie gebrauchtes Geschirr ab, wechselt Tischtücher, rückt Stühle zurecht und bringt Kaffee und Tee an die Tische. Dabei unterhält sie sich lächelnd mit ihren Gästen. Die wirken zufrieden. Warum auch nicht? Sie haben schöne Zimmer, ein gutes Frühstück und dazu den Blick auf die Ostsee. Zum Baden ist es noch zu kalt, aber man kann einen Strandspaziergang machen, vielleicht durch Heringsdorf bis nach Ahlbeck. Oder zur anderen Seite, auf der Steilküste entlang durch den Wald. Sophie gibt Tipps. Dann kontrolliert sie das Büfett, es ist noch von allem genügend da und die meisten Gäste haben bereits gefrühstückt. Sie rückt ein paar Platten zurecht und sieht auf die Uhr. Endlich holt sie sich eine Tasse Kaffee und geht damit zu ihrer Tante an den Stammtisch.

»Hat die neue Kellnerin schon wieder frei?«, murrt die. »Sie hat doch gerade erst angefangen.«

»Sie hat heute Vormittag einen Arzttermin. Mir macht das nichts aus, ich mach gern die Frühschicht. Beim Frühstück kann man sich gut mit den Gästen unterhalten.«

»Aber ein bisschen mehr Schlaf würde dir auch guttun.« Sie lässt die Zeitung sinken und die Brille auf die Nasenspitze rutschen. Über deren Rand hinweg blickt sie zu einer Familie am Frühstücksbüfett.

»Du solltest dir eine Gleitsichtbrille zulegen«, rät Sophie. »Dann fällt es nicht so auf, wie du die Leute beobachtest.«

»Ja, ja.« Berta hat eine Gleitsichtbrille, die sehr teuer war, zu Hause in der Nachttischschublade liegen. Sie kommt damit nicht zurecht. Einmal wäre sie beinahe die Treppe damit heruntergefallen und ihr fehlt die Geduld, sich an die neue Brille zu gewöhnen.

»Die haben doch tatsächlich Tupperdosen oder so was dabei«, stellt sie fest. »Die nehmen sich jetzt Verpflegung für den ganzen Tag mit. Guck doch mal.«

Sophie guckt nicht. »Lass sie, es ist doch genug da«, sagt sie leise. »Die haben drei Kinder und ich glaub nicht, dass sie viel Geld haben. Sie sind sehr nett und genießen den Urlaub total. Also – alles gut.«

»Na dann.« Berta nickt und blättert ihre Zeitung um.

»Also, auf deinen Kellnern liegt wohl ein Fluch«, vermutet Berta drei Stunden später. »Ich möchte einmal erleben, dass einer oder eine länger als ein Jahr hier arbeitet. Mit der wird das doch auch wieder nichts. Sie hat noch gar nicht richtig angefangen und ist schon krankgeschrieben.«

»Sie hat sowieso nur einen Saisonvertrag, im Herbst will sie wieder in die Schweiz, da hat sie schon ein paar Mal über Winter gearbeitet. Und dass sie krank ist, dafür kann sie doch nichts«, verteidigt Sophie ihre Angestellte. »Nehme ich jedenfalls an. Also warten wir erst mal ab. Im Moment ist ja auch noch nicht so viel zu tun, das schaffe ich allein.«

Sie sieht zur Küchentür, aus der gerade eine große, vollschlanke Frau in weißem Kittel tritt, sich eine Tasse Kaffee aus der Maschine holt und damit an den Stammtisch kommt. »Solange wir Renate haben, kann uns gar nichts passieren«, stellt sie fest.

Die Köchin schiebt sich etwas mühsam auf die Bank hinter dem Stammtisch. Sie hat die Worte ihrer Chefin gehört und nickt zufrieden. »Na klar, ich hab mich gut erholt über Winter, von mir aus kann die Saison kommen. Und es läuft doch ganz gut an. So kann es weitergehen.« Sie blickt auf die Zeitung, die jetzt zusammengefaltet auf dem Tisch liegt. »Gibt es was Neues?«, fragt sie Berta.

»Nichts Gescheites. Alle sind sie am Jammern. Keine Arbeitskräfte, keine Wohnungen, kein Geld. Ich glaube, uns geht es noch richtig gut. Oder wir jammern eben nicht so viel.«

»Nein, uns geht es gut«, behauptet Anne energisch. Sie hat die Gäste zu ihrem Hotel gebracht und jetzt Feierabend. »Und wisst ihr, warum? Weil wir hier zusammensitzen und reden können.«

Berta ist gerührt. Solche Worte ist sie von der eher burschikosen Anne nicht gewohnt. Die erklärt: »Wenn ich Ärger habe, denke ich daran, dass ich euch das nachher erzähle und was ihr dazu sagt und dann ist es nur noch halb so schlimm. Es gibt so viele alte Leute, die ganz allein sind, ich sehe das jeden Tag. Die fressen alles in sich rein und man braucht sich nicht wundern, wenn die giftig werden.«

Die Köchin nickt. »Ich höre das auch oft von Finja.« Renates Tochter ist Altenpflegerin. »Und manche lassen das dann an den Pflegern aus, dabei haben die auch so schon genug Stress. Die meinen es doch nur gut und geben sich richtig Mühe – na ja, die meisten«, fügt sie hinzu, als ihr etwas einfällt.

Berta weiß sofort, was sie meint. »Du denkst gerade an Maike Kunze, stimmt's? Ich hab auch wieder Gerüchte über sie gehört. Hat deine Tochter was erzählt?«

»Na ja, Finja spricht nicht so gern über ihre Kolleginnen. Aber sie befürchtet, die Kunze bringt sie alle in Verruf. Sie arbeitet ja bei dem gleichen mobilen Pflegedienst. Und sie wechseln sich ab bei den Patienten. Aber viele der alten Leute sagen, sie wollen nicht, dass Frau Kunze zu ihnen kommt.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagt Anne. »Ich mag die auch nicht. Die wirkt schon so aggressiv, immer wie auf Krawall gebürstet. Und sie redet so laut. Die alten Leute haben wahrscheinlich Angst vor ihr.«

»Hat Finja mal was davon gesagt, dass etwas gestohlen wurde?«, fragt Berta vorsichtig.

»Äh – ja – aber sie meint, so etwas kommt öfter vor. Also nicht, dass was geklaut wird, um Gottes willen. Aber dass die Alten etwas verlegen, es nicht wiederfinden und dann behaupten, dass es ihnen jemand weggenommen hat.«

»Das ist wahrscheinlich ein heikles Thema.« Berta nickt verständnisvoll.

»Ja, wirklich. Vor allem, wenn etwas Wertvolles tatsächlich weg ist, eine goldene Kette oder eine Uhr oder so was. Dann geraten natürlich alle Pfleger in Verdacht, die mal da waren. Wieso, hast du was gehört?«

»Na ja, wie du sagst. Jemand meint, es wäre auffällig, dass so viele alte Leute Wertgegenstände vermissen, die gerade von diesem Pflegedienst betreut werden. Oft glaubt man ihnen nicht, viele sind auch schon dement. Aber inzwischen sind wohl einige Angehörige misstrauisch geworden. Sie tauschen sich untereinander aus. Aber wie gesagt – es ist ein heikles Thema. Ich weiß, wie schwer die Arbeit der Pflegekräfte ist, wie sie sich abrackern für wenig Geld und wie wichtig sie für die Alten sind. Und wenn sie dann noch in den Verdacht geraten zu stehlen, obwohl nichts dran ist -«

»Das wäre richtig gemein«, empört sich Sophie und Renate nickt.

»Maike Kunze ist doch die Schwägerin von Katja, stimmt's?«, überlegt Berta. »Die war schon lange nicht mehr hier. Wir sollten sie mal wieder zum Kaffee einladen oder zum Abendessen. Sie kann doch keinen Fisch zubereiten und ihr Mattis isst den so gern. Also – wer trifft sie mal?«

»Am besten du selbst«, schlägt Anne vor. »Sie arbeitet da unten in dem Klamottenladen. Geh einfach rein, sieh dir ein paar Sachen an, die passen dir zwar nicht, aber egal.«

Berta verzieht missbilligend das Gesicht, sagt aber nichts. Anne hat ja recht. Ihr Umfang steht in keinem günstigen Verhältnis zur Höhe, selbst T-Shirts in ihrer Größe sind in einer Boutique selten zu finden.

»Du kannst dir ja ein Tuch kaufen oder eine Sonnenbrille. Und dann kommst du mit ihr ins Gespräch und lädst sie ein.« Berta nickt, dann fällt Anne etwas ein. »Übrigens habe ich heute Vormittag vor dem Elternhaus der Kunze gestanden. Ich hab den Gästen was über das Haus erzählt – was nicht stimmt, ich hatte es mir ausgedacht, es könnte aber stimmen – und dann sah ich ihre Mutter auf der Veranda. Ein wirklich schönes Haus, das war mir gar nicht so bewusst. Ich gehe da auch selten vorbei. Hat Mattis nicht auch darin gewohnt?«

»Ja, natürlich. Es ist ja auch sein Elternhaus«, erklärt Berta. »Warum ist Katja denn da nicht mit eingezogen? Es sieht aus, als wäre da Platz genug drin. Für zwei alte Leute ist es viel zu groß, glaub ich.«

»Sie wird wohl ihre Gründe haben. Wir können sie ja fragen.«

Ina sitzt auf einer Bank an der Strandpromenade und denkt über Annes Geschichte nach. Den Hut hat sie abgenommen, er versperrt ihr die Sicht auf die Häuser. Sie schiebt die Brille in die Haare.

Ob das stimmt? War einer ihrer Vorfahren – sie überlegt, ›ihr Ur-Urgroßvater?‹ – wirklich Kapitän? Oder hat die Gästeführerin sich das einfach ausgedacht? Zuzutrauen wäre es ihr. Aber es kann auch wahr sein, warum nicht? Hat Opa mal so etwas erwähnt? Von der Seefahrt hat er gern erzählt. Von Piraten und vom Klabautermann.

Aber nie von einem Kapitän, der nach Schweden ausgewandert ist. Vielleicht hat er gemeint, eine Geschichte über einen untreuen Ehemann, der seine Familie verlässt, wäre nichts für Kinder. Oder er wollte nicht schlecht über seine Vorfahren sprechen.

Der arme alte Mann. Für den einen Fehler, sich in eine schöne Schwedin zu verlieben, musste er sein Leben lang büßen. Und dann noch in einem fremden Land. Er muss furchtbar unter Heimweh gelitten haben. Wie gut Ina das nachvollziehen kann!

Noch ein Grund mehr, sich das Haus zurückzuholen. Das hätte der alte Kapitän sicher gewollt. Es ist ein schönes Haus und es hat einmal guten Menschen gehört. Sie ist jetzt die letzte Nachfahrin, also bleibt es an ihr hängen. Es ist ihre Pflicht.

Mittwoch, 20. März

Berta geht langsam die Bergstraße hinunter. Die Brandruine auf der linken Seite ist nun endlich weg, aber die Fläche daneben, mit Blick auf die Ostsee und den Musikpavillon wird immer noch als Parkplatz genutzt. So eine Verschwendung! Hier stand eines der ersten Hotels in Bansin und eines der schönsten. Mit Freitreppen, Erkern, Balkonen und einer schönen Terrasse direkt an der Strandpromenade. An der Stelle gibt es jetzt ein paar schäbige Imbissstände. Aber nun hat der Besitzer der Fläche wohl endlich eine Baugenehmigung erhalten und wird dort im nächsten Jahr ein neues Hotel bauen. Berta war erleichtert, als sie das in der Ostseezeitung gelesen hatte. Ein Schandfleck weniger, lange genug hat es gedauert.

Die Terrasse vor dem Gosch-Restaurant ist gut besetzt. Die Leute wollen Fisch essen, wenn sie schon mal an der Ostsee sind. Dass der hier aus der Nordsee kommt, scheint nicht weiter zu stören, so genau nimmt man es nicht. Ist ja auch egal, das Angebot ist gut, das Essen lecker, die Gäste zufrieden. Darum geht es hier schließlich: um zufriedene Gäste, die gern wiederkommen. Die Zeiten, in denen es weitaus mehr Nachfragen nach Unterkünften gab als Angebote, als man jedes Loch vermieten konnte und die Urlauber vor den Gaststätten Schlange standen, sind nun endgültig vorbei. Gut so. Vor der Boutique bleibt Berta stehen und betrachtet die Kleidung, die auf den Ständern hängt. ›Das ist doch alles was für unterernährte Teenager‹, denkt sie missmutig und betritt zögernd den Laden. Aber dann tut sie gar nicht erst so, als würde sie sich die Ware ansehen, sondern geht direkt auf die Frau hinter der Kasse zu.

»Hallo Katja«, begrüßt sie sie freundlich. »Ich will nur mal nachfragen, wie es dir geht. Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen.«

Die hübsche dunkelhaarige Frau lächelt erfreut. »Hallo Tante Berta, wie schön, dass du mal reinkommst. Ich habe euch auch schon vermisst. Es ist nur gerade so viel zu tun, ich bin abends immer fix und fertig und froh, wenn ich nach Hause gehen und die Beine hochlegen kann. Ich hab auch wenig frei, eine Kollegin ist krank geworden, die andere im Urlaub – na ja, du weißt ja, wie das ist. Es fehlen überall Leute.«

»Ja, leider. Bist du denn ganz allein hier?«

»Im Moment schon. Über Mittag ist der Chef für eine Stunde eingesprungen, damit ich Pause machen konnte und gegen Abend, wenn mehr zu tun ist, kommt er auch noch mal für ein, zwei Stunden. Sonst komme ich schon allein klar. Aber wenn du mal was hörst – wir suchen dringend noch eine Verkäuferin.«

Berta verspricht, auf jeden Fall daran zu denken, hat aber wenig Hoffnung, helfen zu können.

Eine Kundin kommt an den Ladentisch und Berta tritt etwas zur Seite, um ihr Platz zu machen. Zufrieden beobachtet sie, wie Katja schnell und geschickt einige Oberteile aus den Regalen nimmt, sie ausbreitet und die etwas pummelige junge Frau freundlich berät. ›Warum haben wir sie eigentlich nicht überredet, bei uns als Kellnerin anzufangen, nachdem Kati gekündigt hatte?‹, überlegt sie. Aber im letzten Herbst wussten sie noch gar nicht, dass Katja in Bansin bleiben würde. Und sie war so schüchtern. Erstaunlich, wie selbstbewusst sie inzwischen geworden ist.

Berta, die normalerweise sehr pragmatisch denkt und aus der Erfahrung heraus eher an Berechnung und Lügen glaubt als an echte Gefühle, ist geneigt, hier eine Ausnahme zu erkennen. Vielleicht liegt es tatsächlich an der großen Liebe, vor allem an der Liebe ihres Mannes, dass Katja sich so verändert hat.

Im September letzten Jahres hatte sich die junge Frau mit ihrem damaligen Lebensgefährten für eine Woche im Kehr wieder einquartiert. Oder vielmehr er mit ihr, denn sie schien nur ein Anhängsel des älteren Mannes zu sein. Berta war er von Anfang an unsympathisch.

Auf eine primitive Art sah er gut aus, mit schwarzen, gegelten Haaren, dunklen Augen und gebräuntem Teint. Er schien das dringende Bedürfnis zu haben, seinen Reichtum zur Schau zu stellen mit offensichtlich teurer Kleidung, die nicht zu einem Strandurlaub passte, Rolex und schwerer goldener Kette. »Der sieht aus wie ein Mafia-Boss«, hatte Anne verächtlich festgestellt. »Oder er will so aussehen. Was für ein Idiot.«

Sie hatte es übernommen, ihn im Restaurant zu bedienen, da die junge Kellnerin sich weigerte, an seinen Tisch zu gehen, nachdem er sie mehrmals angebrüllt und alle ihre Empfehlungen abgelehnt hatte. Anne machte ihm schnell klar, dass im Kehr wieder der Gast nur dann König war, wenn er sich entsprechend benahm.

Auf seine verächtliche Frage: ›Und was für einen Mist empfehlen Sie mir?‹ hatte sie ganz ruhig geantwortet: »Ein anderes Restaurant.« Dann hatte sie ihn freundlich angelächelt, die Speisekarten vom Tisch genommen und war zurück an die Theke gegangen.

Berta amüsierte sich im Stillen, aber Sophie war froh, dass es noch früh am Abend und die Gaststätte fast leer war.

Seiner jungen Begleiterin waren seine wüsten Beschimpfungen, mit denen er Anne daraufhin belegte, sichtlich peinlich. Er packte sie grob am Arm und schnauzte: »Los, komm jetzt, beweg dich endlich und geh die Koffer packen. Wir reisen ab!« Mit gesenktem Kopf folgte sie ihm die Treppe hinauf. Eine halbe Stunde später kam sie wieder hinunter und ging zu Sophie an die Theke. »Ich möchte mich für – äh – meinen Partner entschuldigen«, sagte sie leise.

Der Mann stürmte inzwischen, bleich vor Wut, mit seinen zwei großen Koffern durch die Gaststätte und blieb an der Rezeption neben der Eingangstür stehen.

»So, du willst also noch hierbleiben?«, rief er zu seiner Begleiterin hinüber. »Dann kannst du auch die Rechnung übernehmen. Ich zahle hier keinen Cent. Und ich will den Schmuck wiederhaben«, fiel ihm dann plötzlich ein. Er ließ die Koffer fallen und stürzte auf die erschrockene junge Frau zu. Anne stellte sich vor sie, blickte verächtlich auf ihn hinab und hielt ihr Telefon hoch. »Pack sie an und ich rufe die Polizei«, erklärte sie.

Er schwankte kurz, dann drehte er sich wortlos um. Als er mit seinen Koffern an der Tür stand, rief Sophie ihm nach: »Ich schicke Ihnen dann die Rechnung zu, Ihre Adresse habe ich ja. Geht es auch per E-Mail?«

Eine weitere halbe Stunde später saß die immer noch zitternde junge Frau, die sich als Katja vorgestellt hatte, am Stammtisch. Tante Berta hatte sich ihrer angenommen und nach einer Portion Bratkartoffeln mit Spiegeleiern und einem kräftigen Grog beruhigte sie sich allmählich.

Die drei Frauen erfuhren, dass Katja sich sowieso von dem wesentlich älteren Mann trennen wollte. »Aber ich weiß gar nicht, wohin ich jetzt soll«, hatte sie gejammert. »Ich wohne doch bei ihm. Und Geld habe ich auch nicht, also nicht genug für eine eigene Wohnung.«

Als sie dann auch noch hinzufügte, dass sie am liebsten hier in Bansin bleiben würde, weil ihr der Ort so gut gefiel und sie die Ostsee liebt, hatte sie gewonnen: Berta nahm sich ihrer an. Eine Stelle war schnell gefunden, Arbeitskräfte wurden in fast allen Bereichen gesucht und Katja hatte die freie Auswahl. In der Pflege oder in der Gastronomie hätte sie vielleicht mehr verdienen können, aber als Verkäuferin in einer Modeboutique zu arbeiten sagte der jungen Frau am meisten zu. Und wie es sich zeigte, war das genau der richtige Job für sie. Blieb noch das Problem mit der Wohnung. Aber da fand sich bald eine überraschende Lösung.

»Ich würde wirklich gern mal wieder an den Stammtisch kommen«, unterbricht Katja Bertas Erinnerungen. »Anne sehe ich auch immer nur von Weitem, wenn sie mit ihren Gästen hier vorbeigeht. Und Sophie sehe ich praktisch gar nicht.« Sie überlegt kurz und beschließt dann: »Weißt du was? Ich rufe Mattis an und sage ihm, dass wir uns heute im Kehr wieder treffen. Ich hab um 19.00 Uhr Feierabend und wir haben sowieso nichts Gescheites zum Abendessen zu Hause. Dann essen wir was Leckeres bei euch und machen uns einen schönen Abend. So viel Zeit muss sein.«

Man sieht ihr die Vorfreude an und Berta nickt. »Das machst du richtig. Ich hab noch Zander eingefroren, den werde ich gleich mal rausnehmen und heute Abend im Ofen zubereiten. Das mag Mattis doch, oder?«

»Das ist sein Lieblingsessen, er wird sich freuen. Aber jetzt muss ich wieder …« Sie deutet auf eine Kundin, die unschlüssig Hosen auf einer Stange hin und her schiebt.

»Gut, dann bis später.« Zufrieden verlässt Berta den Laden.

Die Pension Kehr wieder befindet sich an der Strandpromenade, zwischen Fischerstrand und Musikpavillon. Erbaut wurde sie am Ende des 19. Jahrhunderts von einem Kapitän, der hier sein Geld anlegte, als zweites Standbein für die Familie. Die meisten dieser prächtigen Villen, die heute als ›Wilhelminische Bäderarchitektur‹ unter Denkmalschutz stehen, wurden als Sommerhäuser errichtet, waren unbeheizt und mit offenen Balkonen. Sie wurden nur gebaut, um sie an Sommergäste zu vermieten. Die Besitzer wohnten meist in den zwei bis drei Kilometer entfernten Dörfern.

Bertas Großvater jedoch lebte mit seiner Familie im Erdgeschoss des Hauses, seine Frau und später sein Sohn und vor allem seine Schwiegertochter betrieben die Pension. Er selbst verbrachte seine letzten Lebensjahre auf der Veranda mit Blick auf seine geliebte Ostsee.

Die Enteignung der Pension in den 1950er Jahren und deren Nutzung als FDGB-Ferienheim hat er nicht mehr miterlebt. Berta jedoch hat in dem Haus als Köchin gearbeitet und mit ihrer verbitterten Mutter im Dachgeschoss gewohnt. Als sie das heruntergekommene Haus 1989 zurückbekam, war sie damit völlig überfordert und hatte sich einige Jahre später schweren Herzens entschlossen, den Familienbesitz zu verkaufen. Dass ihre Nichte Sophie das Haus übernahm, es gründlich restaurieren und modernisieren ließ und nun wieder als Pension betreibt, bezeichnet sie als den größten Glücksfall in ihrem Leben. Genau so hat sie es sich immer gewünscht: dass sie ihren Ruhestand am Stammtisch im Kehr wieder verbringt. Es ist immer jemand da, mit dem sie reden kann und sie erfährt alles, was in Bansin passiert. Wenn sie jemandem helfen kann, dann tut sie es, ob derjenige es will oder nicht. Wenn ein Verbrechen in Bansin geschieht, dann klärt sie es auf, schneller als die Polizei, weil sie ›ihre‹ Bansiner kennt und weil die mit ihr reden. Und weil sie keine Verbrechen in ›ihrem‹ Bansin duldet.

Ein schmaler, gepflegter Vorgarten trennt die Pension von der Strandpromenade und eine breite Freitreppe führt hinauf zu der zweiflügeligen Glastür der Gaststätte.

Die Hotelgäste kommen jedoch meist von der Rückseite ins Haus. Dort, an der höher gelegenen Bergstraße, befindet sich der Parkplatz.

Gleich links hinter der Eingangstür ist die Rezeption. Schon von hier aus kann der Gast bis auf die Ostsee blicken, denn Sophie hat das ganze Erdgeschoss zu einem großen, offenen Raum umbauen lassen. Nur die Küche, Sophies kleines Büro und der Sanitärbereich sind abgetrennt.

Alles andere ist eine helle, freundliche Gaststätte, die auch als Frühstücksraum dient, mit durchgehender Fensterfront zur Seeseite.

Der große runde Stammtisch steht etwas versteckt in einer Nische zwischen der Rückwand der Rezeption und der Küche. Ebenso wie Tante Berta betrachtet auch Anne ihn als ihr Wohnzimmer. Wenn sie nicht gerade mit Gästen unterwegs ist, hält sie sich hier auf. Nach Hause geht sie eigentlich nur zum Schlafen, zum Duschen und zum Wäschewaschen.

Jetzt schiebt sie ihren leeren Teller von sich, lehnt sich zurück und streckt die langen Beine unter dem Tisch aus. Sie stöhnt zufrieden und unterdrückt einen Rülpser, indem sie den Handrücken auf den Mund presst.

»Ich hab schon wieder zu viel gegessen. Warum füllst du meinen Teller immer so voll?«, beschwert sie sich bei der Köchin, die gerade an den Tisch kommt.

»Weil du immer so tust, als wärst du am Verhungern.« Renate grinst. »Und weil du letztlich doch immer alles aufisst.« »Na ja«, gibt Anne zu, »ich esse einfach zu gern. Aber ich muss etwas tun, ich glaube, ich hab schon wieder zugenommen. Vielleicht sollte ich mir angewöhnen, abends schwimmen zu gehen. Früher haben wir das oft gemacht. Weißt du noch, Tante Berta? In dem einen Sommer sind wir jeden Abend in die Ostsee gegangen. Aber noch ist das Wasser zu kalt«, fügt sie nach kurzer Überlegung erleichtert hinzu.

»Mit vollem Bauch solltest du das auch lassen«, erinnert Berta sie. »Und da dein Bauch um diese Zeit immer voll ist …«

»Wird das wohl nichts«, ergänzt Sophie und lacht.

»Ja, ja, macht ihr euch ruhig lustig über mich. Hallo Katja, grüß dich, Mattis. Schön, dass ihr mal wieder hier seid.«

Die beiden Gäste werden herzlich begrüßt und setzen sich mit an den Tisch. Äußerlich ist es ein etwas ungleiches Paar. Katja ist eine attraktive, elegante junge Frau, groß und schlank, die halblangen dunklen Haare umrahmen ein blasses, schmales Gesicht und bilden einen Kontrast zu den hellen, blauen Augen.

Mattis sieht man nicht an, dass er jünger ist als seine Frau. Mit seinen schütteren hellen Haaren, dem kränklich blassen Gesicht und der hageren Gestalt wirkt er älter als seine 27 Jahre. Sie unterhalten sich angeregt, bis Renate dann einfällt: »Mensch, ihr seid doch bestimmt zum Essen hergekommen. Was wollt ihr denn haben?«

»Na ja, nicht nur, aber hungrig sind wir schon«, gibt Katja zu. »Also ich würde gern deinen leckeren Kartoffelsalat essen, und vielleicht ein kleines Schnitzel dazu? Und Mattis -« »Für Mattis habe ich einen gebackenen Zander im Ofen«, unterbricht Berta. »In Butter und mit Gemüse, so wie er es mag.« »Was? Soll er einen ganzen Zander essen?«, wundert sich die Köchin.

»Nein, er isst so viel wie er mag und den Rest pack ich ihm ein. Den kann er sich morgen zu Hause warm machen. Einfach wieder in den Ofen schieben«, erklärt sie dem jungen Mann, der leicht verlegen nickt. »Hast du extra meinetwegen gekocht? Das war aber wirklich nicht nötig.«

»Das mach ich gerne, ich weiß doch, wie sehr du Fisch magst.« »Und der Arme kriegt ihn so selten, ich kann immer noch keinen Fisch zubereiten«, gibt Katja zu. »Aber im Winter, wenn ich mehr Zeit habe, komme ich mal her und lasse es mir von dir zeigen.«

»Das ist eine gute Idee.« Wohlwollend betrachtet Berta das Paar. Ihr gefällt es, wie liebevoll sie miteinander umgehen.

Kaum zu glauben, dass die beiden sich vor einem Jahr noch gar nicht kannten.

Nachdem ihr Partner im September die Pension wutschnaubend verlassen hatte und Berta sich um sie kümmerte, hatte sich Katjas Leben radikal verändert.

Zunächst saß sie zitternd und heulend am Stammtisch und bereute ihren spontanen Entschluss, sich von dem Mann, der ihr Leben finanzierte, getrennt zu haben. Was sollte sie denn ohne ihn machen? Sie sei allein, ohne Freunde und Familie, sie könne nichts und sie habe nichts. Außer dem plötzlichen Wunsch, hier in Bansin zu bleiben. Anscheinend waren Berta, Anne und Sophie die ersten Menschen seit langer Zeit, die wirklich nett zu ihr waren.

Schon am nächsten Tag ging Anne mit ihr zu der Boutique, an deren Tür das Schild ›Verkäuferin gesucht‹ hing. Zwei Tage später unterschrieb sie den Arbeitsvertrag.

Mit der Wohnung war es nicht ganz so einfach.

»Erst einmal kannst du hierbleiben«, beschloss Tante Berta.

»Ganz oben ist ein kleines Zimmer, das Sophie immer zuletzt vermietet, erst wenn nichts anderes mehr frei ist. Es hat schräge Wände und zum Bad muss man über den Flur gehen. Die Saison ist vorbei, es wird frühestens zum Jahreswechsel wieder gebraucht. Bis dahin werden wir schon was finden.« Sie klang optimistischer als sie war. Notfalls müsste Katja eben in eins der Dörfer ziehen, da fand sich immer noch etwas. Dann brauchte sie ein Fahrrad, sie hatte ja kein Auto – nicht mal einen Führerschein. Ach was, kommt Zeit, kommt Rat.

Erst musste sie mental wieder aufgebaut werden. Das gelang dank Tante Bertas Fürsorge, der Freundschaft von Anne und Sophie, die die schüchterne junge Frau auf Anhieb mochten und der Arbeit in der Boutique. Es zeigte sich, dass sie nicht nur ein Faible für Mode hatte, sondern auch ein gutes Gespür für den Umgang mit Kunden. Da sie flexibel einsetzbar war und sich nie über Überstunden beschwerte, war sie beim Chef und bei den Kollegen gleichermaßen beliebt. Schon vor Ablauf der Probezeit bekam sie einen festen Arbeitsvertrag und ein anständiges Gehalt.

Nur von Männern hatte sie die Nase gestrichen voll, wie sie immer wieder erklärte. Der Typ, mit dem sie sich in der Pension einquartiert hatte, war vermutlich nicht ihre einzige schlechte Erfahrung. Anne brachte volles Verständnis dafür auf, sie hatte eine ähnliche Einstellung. Berta beobachtete amüsiert, dass besonders alleinstehende Männer aus dem Ort jetzt nicht nur am Freitagabend, der traditionellen Stammtischzeit, sondern mehrmals in der Woche im Kehr wieder aufschlugen. Katja war zu allen nett und freundlich, zeigte aber keinerlei Interesse.

Und dann war sie ein paar Mal abends unterwegs, erwähnte im Gespräch, dass das Essen beim Asiaten in Ahlbeck sehr lecker sei, sprach dabei von einem interessanten Vortrag in Heringsdorf und hatte glänzende Augen und ein seltsames Lächeln.

Berta bezähmte ihre Neugier mühselig und warf Anne warnende Blicke zu.

Bis Anne eines Nachmittags ins Haus stürmte und noch bevor sie sich an den Tisch setzte, behauptete: »Das glaubt ihr mir nie!«

Tante Berta und ihre Nichte stellten die Kaffeetassen ab und sahen sie erwartungsvoll an.

»Ich habe Katja gesehen, ihr kommt im Leben nicht darauf, mit wem sie Hand in Hand am Strand entlang geht.« Pause. Anne stand wieder auf, ging zur Theke und holte sich einen Pott Kaffee. Dann erst zog sie umständlich ihre Jacke aus und setzte sich neben ihre Freundin.

Berta beobachtete sie mit leicht zusammengekniffenen Augen. »Du wirst es uns dann wohl heute noch sagen«, vermutete sie.

»Mit Mattis Fliege!« Anne trank einen Schluck Kaffee und wartete auf die Wirkung ihrer Mitteilung.

Sophie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, wer das ist.«

Berta schüttelte den Kopf. »Wer weiß, was du gesehen hast. Deine Augen sind auch nicht mehr die besten.«

Anne war empört. »Ich sag doch sowas nicht, wenn ich es nicht genau weiß! Ich hab Adleraugen – jedenfalls auf die Entfernung. Zum Zeitunglesen brauche ich Platz, aber was ein paar Meter entfernt passiert, erkenne ich genau.«

»Da laufen so viele Menschen am Strand herum und du warst doch bestimmt auf der Promenade. Vielleicht war das eine Frau, die Katja ähnlich sieht.«

»Ich sage euch, es war Katja! Ich bin nämlich unten am Strand entlanggegangen. Heute Morgen bin ich mit einer Gruppe nach Ahlbeck gefahren und mit denen nach Heringsdorf gelaufen. Da war mein Auftrag beendet. Die Gäste haben Freizeit und kommen allein wieder zurück zum Hotel. Ich hab meine Hosen hochgekrempelt, die Schuhe in die Hand genommen und bin durch das flache Wasser am Ufer nach Bansin gegangen. Das war schön. Na ja, und da kam mir Katja mit Mattis Fliege entgegen.«

»Hat sie was gesagt?«

»Nein, ich glaube, sie hat mich gar nicht gesehen. Sie waren in ein Gespräch vertieft und wirkten sehr verliebt.«

Berta sah sie immer noch zweifelnd an. Sophie wurde ungeduldig. »Was ist denn daran nun so erstaunlich? Katja hat eben einen Mann kennengelernt und sich vielleicht verliebt. Das darf sie doch, oder?«

»Natürlich darf sie«, gab ihre Tante zu. »Aber Mattis Fliege? Ich kann mir das irgendwie nicht vorstellen.«

Gerade vor ein paar Tagen hatte sie mit dem Mann gesprochen. Das heißt, genau genommen hatte sie sich mit seiner Mutter unterhalten, als sie sich beim Einkaufen trafen. Mat