Die Suche nach dem Stillen Ort - Ralf Zwiebel - E-Book

Die Suche nach dem Stillen Ort E-Book

Ralf Zwiebel

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Beschreibung

Die Verbindung von Buddhismus und Psychoanalyse/Psychotherapie stößt in der westlichen Welt im Sinne eines interkulturellen Dialogs auf immer größere Beachtung. In Vertiefung dieser Ansätze untersuchen die beiden Autoren, ein Psychoanalytiker und ein Zen-Meister, einige künstlerisch wertvolle Filme mit buddhistischer Thematik aus filmpsychoanalytischer Sicht. Auf diese Weise führen sie in innovativer Weise drei unterschiedliche "Kulturen" zusammen: den Buddhismus, die Psychoanalyse und die Filmpsychoanalyse. Bei den Filmen handelt es sich um "Warum Bodhidharma in den Osten aufbrach" (1989) von Yong-Kyun Bae, "Frühling, Sommer, Herbst, Winter … und Frühling" (2003) von Kim-Ki-Duk und "Samsara" (2003) von Pam Nalin. Diese Filme werden nach kurzen Einführungen in Filmpsychoanalyse und die Beziehung von Buddhismus und Psychoanalyse zunächst mit ihrem buddhistischen Hintergrund dargestellt. In einem zweiten Schritt werden die Filme nach einem eigenen filmpsychoanalytischen Arbeitsmodell untersucht, das drei Kontexte berücksichtigt: die Visualisierung menschlicher Problemlagen, die Darstellung von Wandlungsprozessen und Filme als Spiegel der eigenen Subjektivität. Als zentrale Thematik wird die Beziehung zwischen einem "Sicheren Ort", wie ihn die Psychoanalyse konzipiert, und einem "Stillen Ort" als Manifestation der meditativen Erfahrung herausgearbeitet.

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Ralf Zwiebel/Gerald Weischede

Die Suche nach dem Stillen Ort

Filmpsychoanalytische Betrachtungen zum Buddhismus

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 59 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99847-3

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Umschlagabbildung: Nach einem Motiv aus dem Film »Frühling, Sommer, Herbst, Winter … und Frühling« (2003) von Kim Ki-Duk / © Pandora Film

Abbildungen 10–41, 44, 45, 47–51, 56–59: © Pandora Film

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /

Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Inhalt

1 Einleitung: Ein interkultureller Dialog

2 Filmpsychoanalyse: Eine kurze Einführung

3 Buddhismus und Psychoanalyse

Grundannahmen des Buddhismus

Grundannahmen der Psychoanalyse

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

4 Der Film: »Warum Bodhidharma in den Osten aufbrach« (1989) von Yong-Kyun Bae

Der Regisseur und sein Film

Das Protokoll des Films

Filmkommentar aus buddhistischer Sicht

5 Der Film: »Frühling, Sommer, Herbst, Winter … und Frühling« (2003) von Kim Ki-Duk

Einleitung

Der Beginn des Films

Frühling oder: Der Verlust des Paradieses

Sommer oder: Die Hitze der Leidenschaft

Herbst oder: Die Suche nach Heilung

Exkurs zum Herz-Sutra

Winter oder: Der weglose Weg

Und Frühling oder: Wiederholung und Neubeginn

Abschließende Bemerkungen

6 Der Film: »Samsara« (2001) von Pan Nalin

Hintergründe zum Film

Die Filmerzählung

7 Die Filme im Dialog mit den psychoanalytischen Grundannahmen

Ein kurzer Überblick über die psychoanalytische Psychologie

Die Visualisierung innerer Welten

Die Abwesenheit des primären Objekts

Biografische Hinweise zu berühmten Zenmeistern und einer buddhistischen Nonne

Schüler und Meister

Die Lebensphasen eines Meisters

Eine kurze Psychoanalyse des Meisters

8 Im Dialog mit den psychoanalytischen Wirkungsmodellen

Modelle der Wirksamkeit – aus überwiegend psychoanalytischer Sicht

Bilder des Wandels in den besprochenen Filmen

Exkurs zur Bindung und Ent-Bindung: Bipolarität von »Binden und Lösen«

Zurück zu den Filmen

»Frühling«

»Bodhidharma«

»Samsara«

Abschließende Überlegungen

9 Im Dialog mit den eigenen Erfahrungen

Mein ambivalenter Zugang zum Buddhismus (R. Z.)

Endlich: Meinen Weg gefunden (G. W.)

10 Ein Blick zurück

Literatur

1Einleitung: Ein interkultureller Dialog

Die Psychoanalyse und der Film haben sich geschichtlich fast parallel entwickelt. Im Jahr 1900 erschien das berühmte Buch von Sigmund Freud, »Die Traumdeutung«, und im Jahr 1895 wurde der erste bewegte Film von den Brüdern Lumière in der Öffentlichkeit gezeigt.

Obwohl der Begründer der Psychoanalyse sehr zurückhaltend auf das neue Medium Film reagierte – er bezweifelte beispielsweise, dass man die Gedanken der Psychoanalyse mit filmischen Mitteln darstellen könnte –, begannen sich doch bald Psychoanalytiker für die neue Kunst zu interessieren. Es ist nicht möglich, im Rahmen dieses Buches die Entwicklung der Beziehung von Psychoanalyse und Film detailliert nachzuzeichnen. Man kann aber feststellen: Jetzt – gut hundert Jahre später – hat sich ein intensiver Dialog zwischen Filmkunst und Psychoanalyse entwickelt, sodass man mittlerweile von einer »Filmpsychoanalyse« sprechen kann, in der vor allem Spielfilme aus psychoanalytischer Perspektive untersucht und diskutiert werden (Schneider, 2008). Dabei geht es aber nicht nur darum, die Filme mit ihren Geschichten und den Entwicklungen der Protagonisten aus psychoanalytischer Sicht zu interpretieren, sondern die Filme selbst im Sinne visueller Narrationen als ein Forschungsmedium zu betrachten – in der Annahme, dass Filmkünstler mit ästhetischen Mitteln ähnliche Problemlagen des Menschen untersuchen wie der Psychoanalytiker in seiner klinischen Praxis.

Man kann daher die Filmkünstler auch als »Forscher« betrachten, die mit den Mitteln der Filmkunst aktuelle gesellschaftliche, psychologische und soziale Thematiken aufgreifen und aufgrund ihres eigenen Zugangs, ihrer intuitiven Begabung und ihrem Gespür für Unbewusstes dem »normalen« Forscher nicht selten weit voraus sind. Filmkünstler und Psychoanalytiker sind aus dieser Sicht als »Kollegen« zu bezeichnen. In ähnlicher Weise beschreibt dies der Filmwissenschaftlicher Georg Seeßlen in einer Arbeit über Martin Scorsese. Er geht davon aus, dass der Film das beste Medium für einen Dialog darüber ist, wie die Menschen die Welt und sich selbst sehen (Seeßlen, 2017).

Auch für den Buddhismus kann man in seiner Einstellung zur Filmkunst eine ähnliche Entwicklung vermuten: Viele praktizierende Buddhisten waren und sind wohl skeptisch, ob es sinnvoll ist, über den Buddha und die buddhistischen Lehren Filme zu machen bzw. den Versuch zu unternehmen, die buddhistische Lehre und Praxis mit filmischen Mitteln darzustellen. Dies gilt im Besonderen für die visuelle Darstellung zenbuddhistischer Ansätze, auf die wir uns hier besonders konzentrieren. Trotz dieser Skepsis ist in den letzten Jahrzehnten – insbesondere in den letzten zwanzig Jahren – eine Reihe von Spielfilmen und auch Dokumentarfilmen entstanden, die genau diesen Anspruch zu erfüllen suchen: nämlich die zentralen buddhistischen Annahmen darzustellen und zu erläutern. Es sind einige Filme darunter, die weite Beachtung gefunden haben und eine beachtliche künstlerische Qualität aufweisen.

So wie man bei der Filmpsychoanalyse von einer interkulturellen Begegnung sprechen könnte (Sabbadini, 2014), indem man den Film und die Psychoanalyse als unterschiedliche Kulturen auffasst, ist auch die Beziehung von Buddhismus und Psychoanalyse als eine interkulturelle Beziehung zu verstehen. Es gibt hier spätestens seit dem wegweisenden Werk von Fromm, Suzuki und de Martino (1971) einen wachsenden Dialog, in dem die unterschiedlichen Zugänge detailliert miteinander verglichen und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht werden (Hoffer, 2015; Zwiebel u. Weischede, 2015).

Diese ganze Thematik fällt in einen Bereich, der allerdings weit über das Spezifische von Buddhismus und Psychoanalyse hinausgeht: So könnte man von einem Dialog zwischen östlichem und westlichem Denken sprechen oder auch die mystischen Ansätze (die es seit Jahrhunderten in den unterschiedlichen westlichen und östlichen Traditionen gibt) und das moderne psychologische Denken, wie es vor allem in der Psychoanalyse entwickelt wurde, aufeinander beziehen und das Gemeinsame und Trennende vertiefend erforschen. Ein Beispiel ist die Arbeit von Dieter Funke (2011) mit dem Titel: »Ich – eine Illusion?«.

Es wurde bislang unseres Wissens allerdings kein ernsthafter Versuch gemacht, diese drei »Kulturen« – Film, Psychoanalyse und Buddhismus – aus der »interkulturellen« Perspektive zu untersuchen. Daher betrachten wir diese Untersuchung als innovativ und als eine neue Perspektive, die einen vertiefenden Zugang in diesem Dialog ermöglichen kann. Dabei werden wir uns auf drei moderne Spielfilme beschränken, die wir ausführlich darstellen und kommentieren, um einige der zentralen Thematiken näher zu erforschen. Die beiden ersten von uns besprochenen Filme sind stark zenbuddhistisch, der dritte tibetisch-buddhistisch orientiert.

In zwei früheren Arbeiten haben wir die Beziehung von Buddhismus und Psychoanalyse – und dabei vor allem Trennendes und Gemeinsames – genauer erörtert (Weischede u. Zwiebel, 2009; Zwiebel u. Weischede, 2015). Eine wesentliche Schwierigkeit der Darstellung beider Disziplinen ist die Beziehung von Gegenstand und Sprache: Eine zentrale Grundannahme in der Psychoanalyse ist die Auffassung, dass seelische Prozesse unbewusst und daher sprachlich nur schwer zu erfassen sind. Im Buddhismus spricht man von dem »Ziel« des »Erwachens«, das sprachlich ebenfalls nur zu umkreisen ist. Da es sich in beiden Disziplinen auch um eine elaborierte Praxis handelt, kann man sagen, dass man ein tieferes Verständnis wohl nur über die eigene Erfahrung gewinnt.

Bei dieser bekannten Schwierigkeit und Gegebenheit kamen wir auf den Gedanken, ob diese uns interessierende Thematik nicht über den Film eine größere Anschaulichkeit gewinnen könnte, zumal in den letzten Jahren vermehrt Spielfilme über den Buddhismus entstanden sind. Dies lässt sich ebenfalls über die Psychoanalyse und Psychotherapie sagen, wohl auch als Zeichen dafür, dass Psychotherapie und Psychoanalyse in der westlichen Welt zu einem festen kulturellen Bestand geworden sind. Man kann mittlerweile sogar von einem eigenen Subgenre »Psychoanalyse im Film« sprechen, das zuletzt in der Fernsehserie »In Treatment – Der Therapeut« größere Beachtung fand. Diesen Faden wollen wir aber hier nicht aufgreifen, sondern uns ganz auf die »buddhistischen« Filme konzentrieren, diese allerdings aus einer filmpsychoanalytischen Perspektive betrachten und untersuchen. Was darunter zu verstehen ist, wird im nächsten Kapitel genauer erörtert.

Nach einer jeweils kurzen Einführung in die Filmpsychoanalyse (2. Kapitel) und die Beziehung von Buddhismus und Psychoanalyse (3. Kapitel) werden wir drei wichtige Filme über Buddhismus ausführlich darstellen und kommentieren: »Warum Bodhidharma in den Osten aufbrach« (1989): 4. Kapitel; »Frühling, Sommer, Herbst, Winter … und Frühling« (2003): 5. Kapitel; »Samsara« (2001): 6. Kapitel.1

Dabei geht es uns methodisch sowohl um eine Illustration zentraler buddhistischer Grundannahmen als auch um eine dialogische Auseinandersetzung mit dem Film im Sinne einer »forschenden Grundhaltung«, in der wir unsere eigenen offenen Fragen präzisieren und vielleicht sogar weiter klären können. Der Fokus bleibt auf die Beziehung von Buddhismus und Psychoanalyse gerichtet, obwohl diese explizit in den Filmen nicht abgehandelt wird. Unser Vorgehen bei dieser Untersuchung ist filmpsychoanalytisch, was wir noch genauer darstellen werden. Daher werden wir die Filme in den Kapiteln 7 bis 9 aus der Sicht unseres filmpsychoanalytischen Arbeitsmodells diskutieren. Dabei machen wir den Versuch, die latenten psychoanalytischen Thematiken in den manifest buddhistischen Bildern und Erzählungen aufzuspüren.

Da im Film grundsätzlich das Bild ein viel größeres Gewicht als das Wort bekommt, rückt eine Art Topologie als relativ neue Begrifflichkeit in den Vordergrund:

–die Unterscheidung eines »Sicheren Ortes« (als Metapher für die Identität oder ein kohärentes Selbst) und eines »Stillen Ortes« (als Metapher für das Realisieren eines »stillen oder schweigenden Geistes«);

–das bipolare Spannungsfeld zwischen diesen beiden, wie es etwa auch im Begriff von »Anfänger-Geist« und »Experten-Geist« beschrieben ist (oder auch in der Analyse des »ozeanischen Zustandes«);

–die Bipolarität von Einheit und Differenz als Ausdruck von Nondualität und Dualität;

–die Bipolarität von Bindung und Ent-Bindung – wir werden im Folgenden von Binden und Lösen sprechen;

–der Entwicklungsprozess von präpersonalen zu personalen und transpersonalen Erlebens- und Bewusstseinszuständen.

Wir wollen versuchen, eine zentrale Annahme zu verifizieren oder auch zu modifizieren:

Unter dem Begriff des Sicheren Ortes verstehen wir einen seelischen Zustand, der in einem günstigen Erziehungs-, Beziehungs- und Entwicklungsprozess entsteht und es dem Menschen ermöglicht, sowohl Getrenntheit als auch Verbundenheit zu erleben und zu leben, Gefühle von Vertrauen und Sicherheit und vor allem auch ein positives Selbstgefühl zu entwickeln. Es geht vor allem um die Fähigkeit, sich auf andere und die Welt einzulassen, aber auch eine eigene »Stimme« im Sinne von Individualität zu entwickeln. Man könnte von einem kohärenten Selbst, einer sicheren Identität, einer relativen Autonomie etc. sprechen.

Mit dem Begriff des Stillen Ortes versuchen wir einen mentalen und körperlichen Zustand zu beschreiben, der zwar auf diesem Sicheren Ort aufbaut, diesen aber immer wieder auch infrage stellt und damit relativiert. Dies werden wir mit der Bipolarität von Binden und Lösen präziser zu beschreiben versuchen. Während der Sichere Ort durch Gefühle, Gedanken, Erinnerungen und Absichten konstituiert ist, entspricht der Stille Ort einem Zustand, in dem diese psychischen Prozesse weitgehend in den Hintergrund treten bzw. dekonstruiert werden. Dies geschieht durch einen permanenten Übungsweg des Zulassens und Loslassens, wie er in der Meditation oder der Praxis der Achtsamkeit realisiert wird.

Der Sichere Ort bedarf einer grundlegenden Arbeit von Strukturierung oder Konstruktion, die vor allem auf Beziehungserfahrungen beruht. Daher könnte man die psychoanalytische oder therapeutische Situation als Modellsituation für diese Arbeit an einem Sicheren Ort verstehen.

Neben dem grundlegenden Streben des Menschen nach einem Sicheren Ort kann man aber auch vermuten, dass wir einen grundlegenden Wunsch nach Stille und Ruhe haben, da sich der Sichere Ort in der Lebenserfahrung immer wieder als gefährdet zeigt. Er erweist sich oft genug als illusionär, vergänglich und durch äußere und innere Ereignisse bedroht, sodass die Sorgen um diesen Sicheren Ort als entscheidende Leidensquelle anzusehen sind, als deren Folge eine noch tiefere Sehnsucht nach dem Stillen Ort als Sehnsucht nach der Überwindung menschlichen Leidens geweckt wird. Dies geschieht vor allem dann, wenn der Mensch realisiert, dass die leidvolle Instabilität des Sicheren Ortes zu einem wesentlichen Teil Ausdruck der eigenen mentalen Prozesse, also der Erinnerungen, Wünsche, Erwartungen und Gedanken ist. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass mit einer Beruhigung dieser ständig aktiven mentalen Prozesse auch die Leidhaftigkeit des Lebens verringert werden kann bzw. dass es dann möglich wird, zwischen dem Leiden, das dem Leben innewohnt, und dem Leiden, das der Mensch selbst erschafft, zu unterscheiden.

Die Beziehung zwischen diesem Sicheren Ort – den vor allem die Psychoanalyse studiert – und dem Stillen Ort – der im Buddhismus kultiviert wird – ist nicht leicht zu beschreiben und führt oft zu Verwirrungen. Dies geschieht vor allem dann, wenn ihre gegenseitige Abhängigkeit und Durchdringung als grundlegende Bipolarität nicht verstanden wird, etwa wenn der Stille Ort ohne die innere Voraussetzung eines Sicheren Ortes angestrebt wird, ein Phänomen, das der Psychologe John Welwood als »spirituell bypassing« bezeichnet hat (Welwood, 1998). Die konstruktiven und rekonstruktiven Momente der Entwicklung des Sicheren Ortes und die dekonstruktiven Momente der Entwicklung des Stillen Ortes müssen dagegen ineinandergreifen, wenn sie sich nicht gegenseitig behindern oder sogar ausschließen sollen. Genau diese zentrale Frage untersuchen wir anhand der vorgestellten Filme genauer, da sie hier als wesentliche Frage auftaucht und »behandelt« wird. Uns interessiert dabei vor allem die Wechselwirkung zwischen diesen beiden »Orten«.

1Im Folgenden kürzen wir diese Filmtitel mit »Bodhidharma«, »Frühling« und »Samsara« ab. Einige der Filme, die sich zwar auch mit dem Thema beschäftigen, die wir aber nicht für so aussagekräftig halten, seien hier nur erwähnt: »Kundun« von Scorcese, »Little Buddha« von Bertolucci, »Erleuchtung garantiert« von Dörrie und »Zen Noir« von Rosenbush.

2Filmpsychoanalyse: Eine kurze Einführung

Wie erwähnt, haben sich Psychoanalytiker früh für das Kino und den Film als neue Form der Kunst interessiert. In Deutschland hat es aber bis in die 1990er Jahre gedauert, bis sich dieses Interesse vertiefte und mittlerweile zu einem rechten Boom entwickelt hat. In fast allen deutschen Großstädten gibt es regelmäßig öffentliche Filmvorstellungen, in denen Psychoanalytiker mit dem Publikum von ihnen ausgewählte Filme besprechen und diskutieren. Auf psychoanalytischen Fachtagungen werden Filme besprochen und in Fachzeitschriften erscheinen regelmäßig Aufsätze über bekannte und weniger bekannte Kinofilme. Es gibt darüber hinaus eine wahre Flut von Büchern über das Kino und spezielle Filme aus psychoanalytischer Perspektive und schließlich finden Fachtagungen statt, auf denen ein Dialog zwischen Film, Filmregisseur, Filmtheoretiker, Filmkritiker und Psychoanalytiker gesucht wird. Hier ist die Herbsttagung in London zu nennen (»Europäisches Filmfestival für psychoanalytische Filme/European Psychoanalytic Film Festival«) oder die Frühjahrstagung in Mannheim: »Film und Psychoanalyse im Dialog«, bei der die Filme eines bestimmten Regisseurs aus verschiedenen Perspektiven diskutiert werden. Gerade die letzten Beispiele erinnern daran, dass es ganz verschiedene Zugänge zum Medium Film gibt: Filmwissenschaft, Filmkritik, Medientheorie, Kunstwissenschaft und eben auch Filmpsychoanalyse.

Vor allem die große Resonanz der öffentlichen Filmvorstellungen durch Psychoanalytiker zeigt, dass es ein wachsendes Bedürfnis des »normalen« Kinogängers gibt, über die Unterhaltung und vielleicht auch Ablenkung hinaus einen tieferen Zugang zum Filmerlebnis zu bekommen. Dies entspricht einer Bemerkung von Georg Seeßlen (2017): »Film ist nicht nur Unterhaltung und nicht nur Kunst, Film ist auch Kommunikation.«

Das intensivere Gespräch über einen Film ermöglicht dann eine vertiefte, lebendige Filmerfahrung, die einen Schutz vor der allgegenwärtigen medialen Bilderflut und darüber hinaus vielleicht auch eine Selbsterfahrung bietet, die einen Blick auf das eigene Leben gestattet.

Man kann es auch noch etwas präziser beschreiben und drei Ebenen der Filmerfahrung herausheben:

–Zum einen geht es sicherlich immer wieder um das Kino- bzw. Filmerlebnis selbst, das wohl einem tiefen Bedürfnis vieler Menschen entspricht. Geht man davon aus, dass der Mensch nur ein einziges Leben hat, das von Gelingen und Scheitern, von Begrenztheit, Unwiederholbarkeit und Endlichkeit bestimmt ist und das man eben auf seine einzigartige und zutiefst individuelle Weise leben muss, dann scheint das Kino bzw. der Film ein tiefes Bedürfnis zu befriedigen, an anderen, wenn auch fiktiven Leben teilzunehmen, die begrenzten eigenen Möglichkeiten durch die Vielstimmigkeit anderer Leben zu erweitern oder in der Phantasie zu überschreiten, andere Lebensmöglichkeiten durchzuspielen und an ihnen teilzunehmen.

–Der Rahmen vor allem öffentlicher Filmveranstaltungen, aber auch Tagungen und Publikationen eröffnet darüber hinaus einen Raum des Gesprächs und des Nachdenkens, der in dem gegenwärtig üblichen medialen Konsum kaum gegeben ist: einen Raum, in dem auf den Film und das Filmerlebnis ein »zweiter Blick« geworfen und damit der Flüchtigkeit des Filmerlebens ein Stück Dauer abgerungen wird.

–Und schließlich scheint uns der psychoanalytische Blick die Betrachtung auf den Zuschauer selbst zu wenden, denn das Kino- und Filmerlebnis ist in unseren Augen immer auch ein Stück Selbsterfahrung und Ermutigung zur Selbstreflexion. Der psychoanalytische Blick ermutigt, den Blick nicht nur nach »draußen« (in die – fiktive – Welt der Filmfiguren), sondern auch nach »drinnen« (in die eigene Welt des Filmzuschauers) zu wenden. So gesehen ist Kino neben Ablenkung und Unterhaltung auch ein Stück seelischer Arbeit und Selbstkonfrontation, die die eigene Sicht auf das Selbst und die Welt im günstigen Fall verändern können.

In dieser kurzen Einleitung geht es vor allem darum, zu beschreiben, was das Spezifische an der Filmpsychoanalyse ist. Was unterscheidet den normalen Filmzuschauer vom Filmpsychoanalytiker und was unterscheidet den Filmpsychoanalytiker vom Filmkritiker oder vom Filmwissenschaftler? Auch wenn es natürlich Gemeinsamkeiten und Überschneidungen gibt, seien hier die Spezifika herausgestellt: Im Gegensatz zum gewöhnlichen Kinogänger hat der Filmpsychoanalytiker ein Arbeitsmodell entwickelt, in dem bestimmte Grundannahmen über das Kino, den Film, die Kunst, das Filmerlebnis und die Filminterpretation in Beziehung zur Psychoanalyse enthalten sind.

Sehr vereinfacht könnte man diese Arbeitsmodelle, die teilweise sehr spezifisch oder auch persönlich sind, in einen methodischen und inhaltlichen Bereich unterscheiden:

In dem methodischen Bereich geht es vor allem um die Frage der Rezeption des Films durch den Zuschauer und speziell durch den Filmpsychoanalytiker. Es handelt sich dabei um einen komplexen Wahrnehmungs-, Erlebens- und Deutungsprozess, den man mit der Arbeitsweise in der analytisch-therapeutischen Situation vergleichen kann. Der Filmpsychoanalytiker nähert sich dem Film als einer »Quasi-Person« (also wie einem einzelnen Patienten in der Behandlung; siehe auch Schneider, 2008) in einer Haltung, die man auch als teilnehmende Beobachtung beschreiben könnte. Die Teilnahme steht für das Sich-Einlassen auf bzw. das Sich-bestimmen-Lassen durch den Film und seine Geschichte (bzw. in der Therapie den Patienten). Die Beobachtung steht für das Abstandnehmen, das Nachdenken und Reflektieren dieser im Wesentlichen emotionalen Erfahrung. Es ist dies die Beschreibung einer ästhetischen Erfahrung, die Martin Seel als »aktive Passivität« charakterisiert hat (Seel, 2014). Sehr einfach formuliert bedeutet dies, dass sich der Filmpsychoanalytiker – vergleichbar der Beziehung zu seinem Patienten – auf den Film als Ganzes einlässt, sich bewegen und berühren lässt, um gleichzeitig oder abwechselnd und nachträglich diese Erfahrung zu überdenken, zu reflektieren und in einen gedanklichen Kontext zu stellen. Es dürfte einsichtig sein, dass bei dem durchschnittlichen Filmzuschauer die »Teilnahme« überwiegt und nur gelegentlich diese angedeutete »theoretische« oder reflektierende Arbeit geschieht. Genau zu diesem weiteren Schritt wird der Zuschauer in den öffentlichen Filmvorstellungen angeregt.

Wie ist nun der inhaltliche Bereich zu verstehen? Es ist bekannt und auch vielfach anerkannt, dass es die Psychoanalyse nicht gibt, sondern dass man heute von einer Vielstimmigkeit der psychoanalytischen Theorie und Praxis sprechen kann, die sich natürlich auch im Zugang zur Kunst und zum Kino zeigt. Immer wieder wird darüber diskutiert, ob es so etwas wie einen »Common Ground« der Psychoanalyse gibt, und diese Frage ist auch für die Filmpsychoanalyse wesentlich. Man kann beispielsweise postulieren, dass es einige basale Charakteristika gibt, die das psychoanalytische Denken der meisten Psychoanalytiker verbindet. Wir haben in dem Buch »Buddha und Freud« (Zwiebel u. Weischede, 2015) unser psychoanalytisches Arbeitsmodell vorgestellt, das sich sehr an den Grundannahmen von Freud anlehnt, auf den viele Überlegungen und Modelle zurückgehen, die auch heute noch aktuell sind:

–So kann man beispielsweise als einen »Common Ground« die Annahme unbewusster seelischer Prozesse bezeichnen, die das Erleben und Verhalten der Menschen bestimmen. Für den Zugang zum Film würde dies bedeuten, dass man nicht nur den manifesten Bildern, Narrationen und anderen Gestaltungen des Films und seiner Protagonisten folgt, sondern sie auch als Ausdruck einer latenten, impliziten, d. h. eben unbewussten Dynamik versteht. Gemeint ist damit, dass es um die unbewussten Prozesse des Filmkünstlers, der Protagonisten und der Zuschauer geht. In einer früheren Arbeit wird dies als die »unbewusste Botschaft« des Films formuliert (Zwiebel u. Mahler-Bungers, 2007).

–Neben dieser Annahme unbewusster Prozesse spielt im psychoanalytischen Denken die grundlegende Konflikthaftigkeit menschlichen Lebens, die oft verwickelte Beziehung von Innen und Außen (also der äußeren und der inneren Wirklichkeit) und die Beziehung von Vergangenheit und Gegenwart eine unverzichtbare Rolle.

–Unverzichtbar bleibt auch die Beziehung der kindlichen Entwicklung zur Sexualität, die allerdings bis zum heutigen Tage kontrovers diskutiert wird. Wir werden sehen, dass dieser Gesichtspunkt für unser Thema eine bedeutsame Rolle spielt, denn in allen zu besprechenden Filmen scheint diese Thematik entscheidend berührt zu werden.

Der Filmpsychoanalytiker wird also in seiner teilnehmenden Beobachtung sich auf den Film emotional mehr oder weniger einlassen, aber gleichzeitig oder später einen distanzierenden, beobachtenden, reflektierenden Schritt machen, in dem er seine Wahrnehmung und das Erleben des Films mit seinem psychoanalytischen Denken und den damit verbundenen Grundannahmen in Verbindung zu setzen versucht. Es geht dabei aber nicht primär darum, die psychoanalytischen Theorien (etwa den Ödipuskomplex oder die Theorie des Narzissmus) wie eine Schablone über den Film zu legen und ihn damit zu deuten – es wäre dies ein Zugang, den man in der Wissenschaftstheorie als »top-down« bezeichnet –, sondern darum, immer grundsätzlich von dem Phänomen des Films und der eigenen Filmerfahrung auszugehen, die oft auch von einem Nicht-Verstehen und Nicht-Wissen geprägt ist. Das psychoanalytische Filmverstehen wird dann wie die klinische Situation auch als ein kreativer Prozess angesehen, der immer von einem Nicht-Wissen und damit einer generellen Fragestellung oder »forschenden Grundhaltung« (Leuzinger-Bohleber, 2007) auszugehen hat, weil sonst nur das entdeckt wird, was schon immer bekannt ist. In diesem letzten Fall würde man von einer Form der angewandten Psychoanalyse sprechen, in dem anderen Fall von »Filmpsychoanalyse« im engeren Sinn. Diese kann man daher als eine Art Forschungsmethode verstehen, die einen echten dialogischen Charakter von Film und Psychoanalyse ermöglicht. Aber auch die angewandte Psychoanalyse hat einen berechtigten Ort, etwa, wenn es um die Illustration von klinischen Phänomenen mit filmischen Mitteln geht, so beim Einsatz als didaktisches Medium in der Lehre.

Diese eher allgemeinen Überlegungen präzisieren wir nun noch weiter und stellen das eigene filmpsychoanalytische Arbeitsmodell kurz vor, das sich in einigen Arbeiten bewährt hat und das auch als Orientierung für die Besprechung der folgenden Filme dienen kann (wie wir es vor allem in den Kapiteln 7 bis 9 ausführen werden). Demnach kann man Filme in filmpsychoanalytischer Perspektive aus jeweils drei Kontexten betrachten, die es erlauben, Filmverständnis auf einer tieferen Ebene zu erreichen:

Der erste Kontext besteht in einer dialogischen Beziehung zwischen dem Film und den psychoanalytischen Grundannahmen. Hier werden der Film, die Filmbilder, die Geschichte, die Figuren des Films und das eigene Filmerleben mit den zentralen psychoanalytischen Theorien in Verbindung gesetzt: Es geht dann um die Analyse der im Film zentralen unbewussten inneren Konflikte oder auch Grundkonflikte, um die Frage nach dem Subtext des ganzen Films, der Beziehung von Vergangenheit und Gegenwart (etwa in der Entwicklung der Protagonisten) oder der Beziehung von innerer Realität und äußerer Wirklichkeit. Eine solche Überlegung wäre beispielsweise der Hinweis, dass die unterschiedlichen Figuren im Film jeweils unterschiedliche Dimensionen eines zentralen Grundkonflikts im Film darstellen, wenn auch aufgeteilt in verschiedene Rollen. Ein anderes Beispiel wäre das Aufspüren eines latenten Themas, das sich in einzelnen Szenen und Dialogen wiederfindet, aber nicht explizit ausgesprochen wird. Es ist dem Fluss der freien Assoziationen des Analysanden vergleichbar, denen der Analytiker folgt, aber immer auf die Brüche und Auslassungen achtend, um den latenten Subtext, die unbewusste Botschaft des Patienten, zu verstehen.

Der zweite Kontext besteht in einer dialogischen Beziehung zwischen dem Film und den Grundannahmen der psychoanalytischen Praxis. Dies berührt vor allem Fragen der Wirksamkeit, der Entwicklung, Zuspitzung oder Auflösung problematischer Lebenssituationen, die im Film dargestellt sind. Es handelt sich etwa um solche Fragen an den Film: Welche Veränderungen von menschlichen Problemlagen werden sichtbar und erkennbar? Welche Faktoren oder Bedingungen bewirken Veränderung? Gibt es eine Entwicklung zum Positiven oder Negativen? Tauchen Figuren im Film auf, die man im übertragenen Sinne als »Analytiker« oder »Therapeuten« betrachten kann, also Figuren, die eine förderliche Funktion im Fortgang der Filmgeschichte ausüben? Überhaupt berührt dieser Kontext die zentrale Frage, was im Leben der Menschen dazu beiträgt, dass es zu Prozessen der Entwicklung und Veränderung kommen kann, ein wesentlicher Punkt, der im Filmgeschehen natürlich vor allem für die Spannung des Zuschauers verantwortlich ist: Man will den Ausgang der Geschichte, das Ende – so oder so – erfahren.

Der dritte Kontext besteht in einer dialogischen Beziehung zum Zuschauer selbst, indem der Film als Spiegel der eigenen inneren Situation betrachtet wird: Hier wird der Film nicht auf die »Couch« gelegt, sondern der Film legt den Zuschauer auf die »Couch« (Hamburger u. Leube-Sonnleitner, 2014). In diesem Zusammenhang kann der Film eine selbstreflexive, ja vielleicht sogar semitherapeutische Funktion bekommen, indem man eigene unverarbeitete, konflikthafte Konstellationen im Film erkennt und vielleicht auf eine andere Weise beginnen kann, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Ein vertieftes Filmverständnis und Filmerleben des jeweiligen Films gelingt nach dieser Auffassung dann, wenn es möglich wird, allen drei Kontexten einigermaßen gerecht zu werden, also die theoretischen Grundannahmen, die Veränderungstheorie und die Selbstreflexion aufeinander zu beziehen.

Einer von uns (R. Z.) hat dieses Arbeitsmodell in mehreren Filmanalysen angewandt (Zwiebel u. Mahler-Bungers, 2007; Zwiebel, 2014; Zwiebel u. Hamburger, 2016; Zwiebel, 2017). Um nur ein Beispiel zu erwähnen: In dem Film »Spellbound« (dt. »Ich kämpfe um dich«) von Alfred Hitchcock aus dem Jahr 1945 geht es um einen Protagonisten (Gregory Peck), der als neuer Chefarzt in eine psychiatrische Klinik kommt und dort aber selbst psychisch auffällig wird. Seine Kollegin (Ingrid Bergman), die sich sogleich in ihn verliebt, versucht in der Folge, seine Problematik wie in einem Detektivroman aufzudecken, um ihn von seiner Krankheit zu heilen. Es gelingt ihr tatsächlich, mithilfe einer Traumanalyse sowohl ein kindliches Trauma des Protagonisten als auch einen beobachteten Mord aufzudecken und schließlich zur Heilung des Protagonisten beizutragen. In dem ersten Kontext ginge es dann um die Frage des Traumas und die Rolle der Vergangenheit auf die Gegenwart, die Rolle der kindlichen Schuld und den Unterschied zwischen neurotischer und realer Schuld. In dem zweiten Kontext ginge es vor allem um die Frage der therapeutischen Beziehung und welche Rolle die Zuneigung, Liebe oder auch Wiederbelebung und Erinnerung der ursprünglich traumatischen Situation für den Heilungsprozess spielen. In dem dritten Kontext betrachtet der Filmpsychoanalytiker seine eigenen klinischen Erfahrungen mit ihren erotischen und aggressiven Verstrickungen. Eine der Schlussfolgerungen in den Überlegungen zu »Spellbound« besteht darin, dass Hitchcocks Film zwar oft als eine frühe filmische Darstellung der psychoanalytischen Praxis, vor allem in ihrer amerikanischen Version, verstanden wird – und dies mag wohl auch Hitchcocks primäre Intention gewesen sein –, dass man aber als Subtext des Films eine harsche, ironische Kritik an der damals gängigen, medizinisch orientierten Praxis der Psychoanalyse erkennen kann, eine Kritik, die – und dies wäre der selbstreflexive Kontext – auch heute noch nichts von ihrer Aktualität für den praktizierenden Analytiker verloren hat (Zwiebel, 2007b).

Wir werden in den Kapiteln 7 bis 9 dieses Arbeitsmodell auf die zuvor besprochenen Filme anwenden und dabei die Fruchtbarkeit dieses Vorgehens zu belegen versuchen.

3Buddhismus und Psychoanalyse

Vor etwa 2.500 Jahren wurde der indische Königssohn Gautama, der spätere Buddha, mit den existenziellen Leiden des Menschen konfrontiert: Geburt, Krankheit, Alter, Sterben. Nach der historischen Darstellung machte er sich auf den Weg, um die Ursachen dieses Leidens zu erkunden und es zu überwinden. Nach vielen Irrwegen fand er schließlich in einer intensiven Meditation die »Wahrheit« über die Quelle des Leidens und einen Weg der Überwindung, etwas, das auch als »Erleuchtung« beschrieben wird. Diese »Wahrheit« hat er in den sogenannten »Vier Edlen Wahrheiten« in seiner ersten Lehrrede formuliert. Es ist dies der Gründungsmythos des Buddhismus, einer Weltreligion, die sich von Indien nach Südostasien und in den fernen Osten ausgebreitet hat und im 20. Jahrhundert auch in der westlichen Welt Fuß gefasst hat.

Viele Jahrhunderte später, vor etwas mehr als hundert Jahren, war der Wiener Neurologe und Psychiater Sigmund Freud in seiner nervenärztlichen Praxis mit vielen Patienten konfrontiert, die an rätselhaften körperlichen Leiden, an Ängsten, Phobien, Zwängen und Depressionen litten, deren Ursachen nicht im Körperlichen, sondern in der Lebensgeschichte der Patienten zu finden waren. Er entwickelte eine ganz neue Gesprächssituation, in der der Patient sich seiner Verdrängungen bewusst werden sollte, ein Prozess, der selbst heilsame Wirkungen haben konnte. Er gilt als Gründer der Psychoanalyse, die als Fundament der modernen Psychotherapie gelten kann und sich im 20. Jahrhundert sowohl als klinische Methode als auch als Theorie des Unbewussten auf viele Bereiche des kulturellen Denkens, vor allem in der westlichen Welt, ausgebreitet hat.

Seit dieser Entwicklung der Psychoanalyse und der Ausbreitung des Buddhismus im Westen nimmt das Interesse zu, diese beiden Ansätze und Disziplinen miteinander zu vergleichen, die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und zu erforschen. Berühmt ist bis zum heutigen Tag das schon erwähnte wegweisende Buch von Erich Fromm, Daisetz Teitaro Suzuki und Richard de Martino aus den 1970er Jahren (Fromm, Suzuki u. de Martino, 1971). Seitdem gibt es eine wachsende Literatur, auf die wir hier nur am Rande hinweisen wollen (Falkenström, 2003; Hoffer, 2015; Moncayo, 2012). Vor allem die beiden letzten Bücher von Barry Magid sind bedeutsame Schritte in diesem Dialog (Magid, 2013, 2008). Die beiden Bücher »Neurose und Erleuchtung« (Weischede u. Zwiebel, 2009) und »Buddha und Freud« (Zwiebel u. Weischede, 2015) stellen unseren eigenen Beitrag zu dieser Diskussion dar.

Beide Texte versuchen in einer zunehmend dialogischen Weise einen »Übersetzungsraum« zwischen Buddhismus (und hier insbesondere dem Zenbuddhismus) und der Psychoanalyse zu schaffen, in dem die unterschiedlichen Vokabulare untersucht und geklärt werden. So haben wir in »Neurose und Erleuchtung« gesprochen von der Psychoanalyse als analytischem Weg, von einer »Kultur der Reflexion« – als Einsicht in die lebensgeschichtlich geprägte innere Welt des Menschen – und vom Buddhismus als meditativem Weg, von der »Kultur der Präsenz« – als Kultivierung von Achtsamkeit und Mitgefühl. Dabei gehen wir davon aus und versuchen dies auch in Ansätzen zu zeigen, dass es zwischen diesen beiden Kulturen bedeutsame Überschneidungen, sozusagen einen »Zwischenbereich« gibt, der vergleichbare Phänomene in unterschiedlicher Sprache beschreibt. Diesen Ansatz haben wir in dem Buch »Buddha und Freud« weiter vertieft. Darin ist eine zentrale These, dass Menschen »über sich und die Welt Annahmen, Ansichten und Absichten entwickeln, die ihre Wahrnehmungen und ihr Handeln wesentlich steuern. Diese grundlegenden Annahmen und Absichten könnte man auch als ›Modelle‹ von Selbst und Welt bezeichnen, die im Gegensatz zu differenzierteren Theorien oft auch nur implizit sind« (Zwiebel u. Weischede, 2015, S. 17). Wir haben dies »Lebens-, Alltags- und Arbeitsmodelle« genannt.

Vergleichbar spricht der Frankfurter Philosoph Martin Seel in seinem Buch über Glück von »Lebenskonzeptionen« (Seel, 1999). Und in seinem eindrucksvollen Buch »Resonanz – eine Soziologie der Weltbeziehung« beschreibt Hartmut Rosa diese Entwicklung von Selbst- und Weltbildern als »kognitivevaluative Landkarten«, die das Terrain des Attraktiven (des Begehrens) und des Repulsiven (der Angst und Vermeidung) definieren und kartieren (Rosa, 2016, S. 214).

Mit diesem Grundgedanken gehen wir davon aus, dass die »Kultur« des Buddhismus und die der Psychoanalyse spezifische Arbeitsmodelle – oder eben »Lebenskonzeptionen« im Sinne von Seel oder »Landkarten« im Sinne von Rosa – entwickeln, die Ausgangspunkte von Problembeschreibungen und Praxisanleitungen sind. Genauer gesprochen, kann man Arbeitsmodelle als Grundannahmen, Zielvorstellungen und Praxisanleitungen beschreiben, die Professionelle oder Experten (z. B. Ärzte, Lehrer, Therapeuten, Pastoren etc.) in ihrer jeweiligen Arbeit zugrunde legen. Alltagsmodelle von Laien dienen der Bewältigung des jeweils konkreten Alltags, werden aus ihm heraus entwickelt und zusammen mit den Arbeitsmodellen dann zu Lebensmodellen, die sich auf das Leben als Ganzes, immer aber in seiner ganz konkreten Form, beziehen. So könnte man beispielsweise das jeweilige Menschenbild als Ausdruck eines spezifischen Lebensmodells beschreiben.

Als Beispiel erwähnen wir zwei konträre Lebensmodelle: Der Mensch ist triebbestimmt und egoistisch und kann nur durch Zähmung mittels Angst und Schuldgefühl ein soziales Ich entwickeln. Oder: Der Mensch ist in seiner Anlage »gut« und »bezogen«, wird aber durch Erfahrungen mit der Umwelt oder Unwissenheit, wie die Welt wirklich ist, in konflikthafte Emotionen hineingezogen.

Die »professionellen Arbeitsmodelle« beziehen sich auf einzigartige, konkrete und in der Regel berufliche Lebenssituationen, während »wissenschaftliche Arbeitsmodelle« aus jeweils konkreten Erfahrungen etwas Allgemeines oder auch Gesetzmäßiges zu schlussfolgern suchen.

Wir sind der Auffassung, dass es äußert kompliziert ist, »die verwobenen Zusammenhänge zwischen den Lebensmodellen, den Alltagsmodellen und den Arbeitsmodellen darzustellen. Wir vermuten, dass die Lebensmodelle bei den meisten Menschen gleichsam die basale Schicht darstellen, oft unbewusst sind und nicht reflektiert werden, sich aber in den Alltagsmodellen und auch in den Arbeitsmodellen der Experten und Professionellen manifestieren« (Zwiebel u. Weischede, 2015, S. 26).

Am anschaulichsten kann man diese komplizierte Frage nach den Arbeitsmodellen an dem gemeinsamen Schreiben unseres Buches darstellen: Auch wir als Autoren haben ein Arbeitsmodell, ohne das niemals ein Text zustande käme. Wir verwenden dafür die Metapher der bifokalen Gleitsichtbrille (S. 33 ff.), die folgendermaßen zu verstehen ist: Die Konzepte und Modelle des Alltags, der Psychoanalyse und des Buddhismus betrachten wir sowohl aus der »Nahsicht« (also bezogen auf die Annahmen über das Selbst, das Subjekt oder die Person) als auch aus der »Fernsicht« (also die Annahmen über die Objekte der Welt). In dieser Metapher der »Gleitsichtbrille« bilden die Gläser gleichsam die Filter, die die Wahrnehmungen, Gründe und Handlungen bestimmen. Dieses Modell impliziert auch, dass wir die Wirklichkeit in der Regel niemals ungefiltert wahrnehmen können, sondern diese Wahrnehmung immer durch die spezifische, subjektive Brille gefärbt ist. Vor allem ist anzunehmen, dass im Alltagsbewusstsein die »Filter« nicht reflektiert werden, in der Psychoanalyse aber gerade diese »Filter« untersucht werden (hier nimmt man an, dass die »Filter« lebensgeschichtlich und kulturell entstanden sind) und im Zenbuddhismus die Ermutigung unterstützt wird, die »Brille« ganz abzusetzen, d. h. in einen direkten, unmittelbaren Kontakt mit der lebendigen Wirklichkeit zu treten. Wobei sich aber diese letzte Formulierung schon wieder als problematisch erweist, da sie eine Unterscheidung von Subjekt und Objekt formuliert. Daher wäre es richtiger, zu sagen: Das Absetzen der »Brille« bedeutet, die lebendige Wirklichkeit selbst zu werden. Wir werden später bei der Diskussion der Bipolarität von Einheit und Differenz, von Nondualität und Dualität sowie von Binden und Lösen auf diese Frage genauer zurückkommen (siehe S. 147 ff.).

In »Buddha und Freud« (Zwiebel u. Weischede, 2015) postulieren wir aus dieser Sicht vor allem, dass es den Buddhismus und die Psychoanalyse nicht gibt, sondern dass Buddhisten und Psychoanalytiker Arbeitsmodelle entwickeln, die sich teilweise schon in ihrer eigenen Disziplin erheblich voneinander unterscheiden. So spricht man heute vor allem in der Psychoanalyse von einer Pluralität (die sich teilweise in unterschiedlichen Schulen niederschlägt), die aber auch im Buddhismus zu beschreiben ist: Hier gibt es mehrere große Richtungen, die sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet haben (die wir hier aber nicht näher beschreiben können). In unserem Buch »Buddha und Freud« machen wir jedoch den Versuch, so etwas wie einen jeweiligen »Common Ground« von Buddhismus und Psychoanalyse herauszuarbeiten:

Grundannahmen des Buddhismus

Bei unserem buddhistischen Arbeitsmodell gehen wir vor allem von den »Vier Edlen Wahrheiten« aus, da diese von allen Schulen und Richtungen wohl mehr oder weniger vertreten werden und sich auf den erwähnten Gründungsmythos des Buddhismus beziehen. Sie werden dem Buddha als grundlegende Einsichten zugeschrieben, die er im Laufe seiner intensiven, meditativen Studien herauskristallisiert hat und die man als Zusammenfassung seiner Erkenntnisse, aber auch seiner Lehre betrachten kann.

Die Grundlage und Grundannahme, die man aus buddhistischer Sicht als im Mittelpunkt stehend betrachten kann, ist die Erste dieser Vier Wahrheiten: »Das menschliche Leben ist immer von Leiden begleitet.« Leiden scheint ein grundlegendes Phänomen menschlicher Existenz zu sein, und man kann ihm sicher so etwas wie eine Art Universalität zubilligen. Diese grundlegende Erkenntnis scheint auf den ersten Blick banal, entpuppt sich aber bei genauerem Studium als zentral, erscheint das Leben doch als ein »fortgesetzter Prozess, den Bereich des menschlichen Leidens möglichst ›klein‹ zu halten« (Zwiebel u. Weischede, 2015, S. 49). Dies stimmt allerdings nur aus der Sicht des »normalen« Alltagsbewusstseins. Bei genauer Analyse stellt sich nämlich heraus – und dies wird noch deutlicher herauszuarbeiten sein –, dass Leiden ja immer in einem dualen Verhältnis zu Nicht-Leiden oder Leidensfreiheit steht. Generell wird Leiden assoziiert mit Nicht-leiden-Wollen, da Leiden grundsätzlich in dem polaren Verhältnis von affin und aversiv steht. Aus der Sicht und Erfahrung des vollständigen Annehmens der jeweiligen Situation – d. h. jenseits dieser affinenaversiven Polarität –, nämlich des Annehmens im Sosein, im »So ist es!«, ist das Leiden nur eine Form menschlichen Lebens und Erlebens, eine unter vielen. Oft auch mit Schmerzen verbunden, aber wenn ganz »angenommen«, führt es nicht zu einer Bewertung. Barry Magid schreibt in seinem bemerkenswerten Buch »Ending the pursuit of happiness« über die »geheime Praxis« (die heimlichen Erwartungen im Sinne von kurativen Phantasien an die buddhistische Praxis) und formuliert demgegenüber: »Buddhism offers us a vision of a life in which originally nothing is lacking. Desire on the other hand, always seem to arise from an experience of something missing. Does fulfilling our desires genuinely restore us to wholeness or does it send us on an endless, frustrating quest for what we can never have?« (Magid, 2008, S. 6).

Leiden ist dann aus der Sicht verwirklichter Praxis nicht mehr das Dulden und Hinnehmen eines Zustandes, sondern das aktive Annehmen dieses Zustandes, der so seinen Schrecken verliert, nicht (mehr) abgelehnt wird und so als Teil des menschlichen Lebens annehmbar wird. Um noch einmal Magid zu zitieren: »Practice is characterized by a deep acceptance or surrender to life as it is. Sometimes this takes the form of coming to terms with sudden tragedy, loss, or illness. Life suddenly demands we give up what we cherish the most« (Magid, 2008, S. 13).

Mit den »Vier Edlen Wahrheiten«2 hat der historische Buddha ein Arbeitsmodell geschaffen, das wissenschaftliches, analytisches, kraftvolles und zielgerichtetes Handeln mit Meditation und Achtsamkeit verbindet und sich zum Ziel setzt, das menschliche Leiden, das aufhebbar ist, aufzuheben und das nicht aufhebbare liebevoll anzunehmen. Oswaldo Giacoia Jr. nennt dies, in Anlehnung an Nietzsche, die »amor fati«, die Liebe zum Schicksal (Giacoia, 2016, S. 8).

Bei der Bearbeitung und Aufhebung menschlichen Leidens gibt es zumindest aus buddhistischer Sicht zwei große Hindernisse, die nur mit viel Arbeit und Geduld beiseite geräumt werden können: die grundlegende Tendenz des Menschen, anzuhaften, nach etwas zu verlangen, und die Tendenz möglicher (geistiger) Täuschungen. Um die Vier Wahrheiten in der heutigen Zeit besser verstehen zu können, haben wir uns mit den Arbeiten von Stephen Batchelor, einem bekannten zeitgenössischen buddhistischen Gelehrten, befasst, welcher versucht, diese Wahrheiten zu entmystifizieren. Ihm geht es immer wieder um die Frage, wie die traditionell überlieferten Praktiken in der Gegenwart ganz konkret umgesetzt und eingeübt werden können. Er nennt dies den notwendigen Schritt vom Buddhismus 1.0 – als der traditionellen und glaubensorientierten Form – hin zum Buddhismus 2.0 als der praxisbasierten Form. Batchelor formt im Laufe seiner Ausführungen die »Vier Edlen Wahrheiten« um zu »Vier Aufgaben«:

»1.Erkenne das Leiden und nimm es an, verstehe es vollständig.

2.Lass das Verlangen los, das in Reaktion auf das Leiden entstanden ist. Das vollständige Verstehen selbst führt zum Loslassen des Verlangens.

3.Erfahre das Abklingen und Vergehen des Verlangens.

4.Dies ermöglicht und erlaubt dann, den Achtfachen Pfad zu kultivieren« (Batchelor, 2012, S. 99, eigene Übersetzung; zit. nach Zwiebel u. Weischede, 2015, S. 83).3

In unseren »Auseinandersetzungen« als zwei Kollegen, die in zwei sehr unterschiedlichen Traditionen verwurzelt sind, ist es uns immer wichtig, klar zu benennen, aus welcher Richtung wir kommen. Für die buddhistische Richtung bedeutet dies immer, die Tradition des Zenbuddhismus (in Kapitel 4 beschäftigen wir uns ausführlicher mit den Wurzeln und der Definition des Zen) als Grundlage zu betrachten.

Grundannahmen der Psychoanalyse

Für die Psychoanalyse nehmen wir das freudsche Arbeitsmodell als Basis, betrachten wir die Aussagen von Freud doch immer noch als zentrale Grundannahmen der psychoanalytischen Theorie und Methode.

Im Rahmen dieses freudschen Arbeitsmodells stellen wir (Zwiebel u. Weischede, 2015) die Grundlagen der Psychoanalyse dar: von der Neurose über das Bewusste und Unbewusste, den Traum, die Triebtheorie, die Übertragung, den Narzissmus, den Widerstand und die Sexualität bis hin zur Psychoanalyse als Methode. Wir legen dar, dass die Psychoanalyse als eine Methode zur Untersuchung unbewusster Prozesse, als eine klinische Behandlungsmethode und als eine allgemeine psychologische Theorie aufzufassen ist (Freud, 1923a). Dabei ist herauszustellen, dass die Faktoren der kindlichen Entwicklung mit ihrer Strukturierung der inneren Welt des Subjekts, die Rolle der Körperlichkeit und die Konflikthaftigkeit der unterschiedlichen Wünsche und Bedürfnisse sowohl für die »normale« als auch für die gestörte lebenslange Entwicklung von zentraler Bedeutung sind. Das neurotische Leiden in Form von Ängsten, Zwängen, Depressionen, körperlichen Funktionsstörungen etc. entsteht nach diesem Modell aus einem Zusammenspiel dieser komplexen inneren und äußeren Faktoren, als deren zentrale Grundlage man konflikthafte Emotionen ansehen kann (also beispielsweise ängstigende Wünsche, die verdrängt werden müssen, aber in symptomatischer Form einen Ausdruck finden).

Man könnte so von einem »neurotischen Lebens- und Alltagsmodell« sprechen, das aus einer »Brille« mit ihren Filtern besteht, die sich vorwiegend aus früheren Erfahrungen der Entwicklung zusammensetzen und die in die aktuelle Wirklichkeit übertragen und dort wiederholt werden. Andere Menschen und man selbst in der Beziehung zu ihnen werden dann weniger so gesehen und erlebt, wie sie »wirklich« sind, sondern überwiegend aus der Sicht der vergangenen, kindlichen Erfahrungen, was üblicherweise als Übertragung bezeichnet wird.

Es kommt dann zu einem Ausbruch des Leidens, wenn die gebildeten Lebens- und Alltagsmodelle in der konkreten Lebenswirklichkeit scheitern. Im Streben nach Glück und dem Vermeiden von Unglück erweist sich das Leben dann als wenig befriedigend, »die Versagungen überwiegen, der Mensch ist unglücklich und verzweifelt« (Zwiebel u. Weischede, 2015, S. 135). Das Scheitern der Alltagsmodelle zeigt sich besonders in den Liebesbeziehungen, in den familiären Beziehungen und im beruflichen Alltag. Wenn diese Lebens- und Alltagsmodelle früher oder später an der Realität zerschellen, erlebt der Mensch eine »Ent-Täuschung«, bei der das kindliche Ich-Selbst, vor allem mit seinen »unsterblichen Kindheitswünschen«, in unüberbrückbare Spannungen gerät zu dem erwachsenen Leben – ein erwachsenes Leben als das Meistern der Spannungen »zwischen den eigenen Wünschen und Erwartungen und den Ansprüchen der anderen und der Gesellschaft und Kultur als Ganzen« (S. 136). Susan Neiman hat aus philosophischer Sicht über den Prozess des »Erwachsenwerdens« die notwendige Fähigkeit besonders herausgestellt, die Kluft zwischen Sein (den Tatsachen der Wirklichkeit) und Sollen (den Wunschvorstellungen und Idealen) zu tolerieren (Neiman, 2015).

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Sowohl Freud als auch Buddha betrachten Hass/Aggression und Verblendung/ Täuschung/Nicht-Wissen als wirksame Faktoren bei der Entstehung der jeweiligen Persönlichkeit und ihrem Leiden. Der Ansatz von Freud allerdings war immer gerichtet auf den Versuch, diese menschlichen Strukturen aus entwicklungspsychologischer Perspektive zu erklären, während aus buddhistischer Sicht diese Strukturen als etwas »Vorgefundenes«, gleichsam Anthropologisches untersucht werden.

»Der Unterschied in den beiden Ansätzen liegt in der Ausgangssichtweise begründet: Die Arbeitsfragen von Freud lauten: Wie kommt es entwicklungsgeschichtlich dazu, dass der Mensch leidet; was sind die kindlichen und gesellschaftlichen Bedingungen einer solchen Entwicklung? Was muss mit den daraus entstandenen Leiden gemacht werden? Die Antwort von Freud: Diese Entwicklung muss ins Bewusstsein gehoben werden. Die Arbeitsfrage des Buddha hingegen lautet: Was tut der erwachsene Mensch, dass er diese einmal entwickelte Struktur aufrechterhält? Die Antwort des Buddha: Der Mensch haftet an. Er muss sich dieser Anhaftung bewusst werden und sie dann (Schritt für Schritt) aufgeben. Diese Bewusstwerdung wird hier verstanden als Erkenntnis (wie bei Freud), aber auch als Aufhebung von geistiger Täuschung« (Zwiebel u. Weischede, 2015, S. 137).

Bezogen auf das Arbeitsmodell der »Gleitsichtbrille« geht es in der Psychoanalyse um das Studium der Brille selbst mit ihren spezifischen Filtern, was einen Einsichtsprozess ermöglicht, der selbst verändernde Kraft haben kann, etwa wenn Übertragungen und Wiederholungen aus der Kindheit erkannt und aufgegeben werden können. Im Buddhismus wird das Anhaften an der »Gleitsichtbrille« als das Hauptproblem für das Leiden angesehen. Zwar wird auch das Studium der Brille praktiziert, der entscheidende Befreiungsschritt wird allerdings in dem Loslassen der »Brille« überhaupt gesehen. Daher kann man auch sagen, dass das Phänomen der »Täuschung« sowohl in der Psychoanalyse als auch im Buddhismus als zentral für das Glück und Unglück des Menschen angesehen wird. Wir werden in Auseinandersetzung mit den drei Filmen näher auf das zentrale Problem der »Bindung« zu sprechen kommen (siehe auch Kapitel 8).

Die großen philosophischen Fragen »Wer bin ich?«, »Was bin ich?« oder die Aufforderung »Erkenne dich selbst!« tauchen natürlich auch immer wieder in unserer gemeinsamen Arbeit auf, speziell, wenn wir uns mit der Frage nach dem Ich-Selbst beschäftigten. Diesen Begriff des »Ich-Selbst« verwenden wir als Bezeichnung für die Person, das Subjekt, das Ich, das Selbst. Das »Ich« steht dabei für den mehr bewussten, verfügbaren Teil des Subjekts, das »Selbst« mehr für den unbewussten, unverfügbaren Teil der Person. Auch der Philosoph Gernot Böhme hat mit der Bezeichnung des »Ich-Selbst« den Versuch gemacht, das polare Spannungsfeld der Person in ein bewusstes Ich und ein weitgehend unbekanntes, unbewusstes Selbst auf den Begriff zu bringen (Böhme, 2012). Dabei ist das Ich die gesellschaftlich verlangte, intellektuell konsistente, moralisch verantwortliche Person, die dem Einzelnen nicht gegeben ist, sondern entwickelt werden muss. Das »Selbst« dagegen ist jenes von Nietzsche so genannte »große Selbst«, der Leib, das Unbewusste, dem der Einzelne in »betroffener Selbstgegebenheit« (Böhme, 2012) gleichsam ausgeliefert ist.