Die Suche nach Selbstrespekt - Sophus Renger - E-Book

Die Suche nach Selbstrespekt E-Book

Sophus Renger

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Beschreibung

Eine Patientin wünscht sich mehr Wertschätzung von ihrem Arzt. Ein Klient in einer Beratungsstelle klagt über mangelnden Selbstrespekt. Was ist damit eigentlich gemeint? Sophus und Daniela Renger erkunden auf wissenschaftlicher Basis, wie sich Begriffe wie Wertschätzung oder Respekt auf der einen Seite und Selbstrespekt, Selbstliebe und Selbstwertschätzung auf der anderen Seite unterscheiden lassen. Sie beschreiben in einem differenzierten Modell, wie sehr unsere Selbstwahrnehmung auf Anerkennung von Anderen angewiesen ist und was das für ein gelingendes Miteinander und einen anerkennenden Umgang mit sich selbst bedeutet. Praxisnah erläutern sie, wo sich (Selbst-)Respekt im eigenen Leben, in Pädagogik, Therapie und Beratung, in der Arbeitswelt sowie Politik und Gesellschaft finden und stärken lässt.

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Sophus Renger / Daniela Renger

Die Suche nach Selbstrespekt

Wie Anerkennung unser Selbstbild formt

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 3 Abbildungen und 3 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: shutterstock.com/fran_kie

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99409-3

Inhalt

1Einleitung

1.1 Im Dickicht der Begriffe

1.2 Was dieses Buch ausmacht

1.3 Aufbau und Ziel des Buches

2Das Selbst und wie es sich sieht

2.1 Selbstkonzepte und Identität

2.2 Selbstwertgefühl

2.2.1 Globale Selbstbewertung

2.2.2 Spezifische Selbstbewertung

2.3 Entstehung des Selbstbilds

3Soziale Einflüsse auf das Selbst

3.1 Differenzierungen des Sozialen

3.1.1 Die Struktur des Sozialen aus anthropologischer Perspektive

3.1.2 Die Struktur von Anerkennung aus sozialphilosophischer Perspektive

3.1.3 Grundlegende Dimensionen sozialer Wahrnehmung

3.1.4 Sozialpsychologische Respekt- und Gerechtigkeitsforschung

3.1.5 Struktur menschlicher Grundbedürfnisse

3.2 Psychologie der Anerkennung – Drei zentrale Formen der Sozialbeziehung

3.2.1 Parallelen der interdisziplinären Ansätze

3.2.2 Synthese der Ansätze

4Die drei Formen der Selbstanerkennung

4.1 Von Anerkennung zu Selbstanerkennung

4.2 Selbstliebe und Selbstwertschätzung

4.2.1 Selbstliebe

4.2.2 Selbstwertschätzung

4.3 Selbstrespekt

4.3.1 Der Kern von Selbstrespekt

4.3.2 Die Entstehung von Selbstrespekt

4.4 Der Mehrwert einer dreiteiligen Perspektive auf Selbstanerkennung und Anerkennung

4.5 Konsequenzen von Selbstrespekt

4.5.1 Selbstrespekt und die Wahrnehmung eigener Berechtigung

4.5.2 Selbstrespekt und die Wahrnehmung der Berechtigung anderer

5Anerkennend leben mit sich und anderen

5.1 Anerkennung als Basis eines guten Lebens

5.1.1 Die Schattenseite der sozialen Welt

5.1.2 Eine Anerkennungsperspektive auf ein gutes Leben

5.2 Die eigene Selbstanerkennung managen

5.2.1 Selbstliebe – Selbstreflexion

5.2.2 Selbstwertschätzung – Selbstreflexion

5.2.3 Selbstrespekt – Selbstreflexion

5.2.4 Stabilität von Selbstanerkennung

5.3 Anerkennung effektiv kommunizieren

5.3.1 Kommunikation von bedürfnisbasierter Zuneigung

5.3.2 Kommunikation von leistungsbasierter Wertschätzung

5.3.3 Kommunikation von gleichwertigkeitsbasiertem Respekt

6Anerkennung und Selbstanerkennung in der Pädagogik

6.1 Erziehung

6.1.1 Erziehungsstile und ihr Anerkennungspotenzial

6.1.2 Anerkennendes Verhalten gegenüber Kindern

6.2 Anerkennung in der Schule

6.2.1 Anerkennendes Klassenklima

6.2.2 Anerkennung in der Lehrkraft-Schüler:innen-Beziehung

6.3 Pädagogisches Feedback und Anerkennung

6.3.1 Was ist Feedback?

6.3.2 Was ist gutes pädagogisches Feedback?

7Anerkennung und Selbstanerkennung in Therapie und Beratung

7.1 (Selbst-)Anerkennung und psychische Erkrankungen

7.1.1 Defizite in der Selbstanerkennung im Zentrum psychischer Erkrankungen

7.1.2 Die Rolle von (Selbst-)Anerkennung bei der Entstehung psychischer Erkrankungen

7.1.3 Der Mehrwert von Selbstrespekt für Therapie und Intervention

7.2 Anerkennungsperspektive auf Therapie und Beratung

7.2.1 Eine anerkennende Haltung in Therapie und Beratung

7.2.2 Anerkennungshypothesen

8Anerkennung und Selbstanerkennung im Arbeitskontext

8.1 Anerkennendes Arbeitsklima

8.2 Anerkennendes Feedback am Arbeitsplatz

8.3 Anerkennende Führung

8.3.1 Führungsstile und die Besonderheit respektvoller Führung

8.3.2 Führungsstile aus Sicht der Anerkennungsperspektive

8.4 Burnout aus Anerkennungsperspektive

8.4.1 Was ist Burnout?

8.4.2 Wie entsteht Burnout?

8.4.3 Anerkennung und Burnout

9Anerkennung und Selbstanerkennung in Politik und Gesellschaft

9.1 Anerkennung als Basis gerechter Gesellschaften

9.2 Selbstrespekt und gesellschaftlicher Wandel

9.3 Die Bedeutung des sozioökonomischen Status für Möglichkeiten der (Selbst-)Anerkennung

9.4 Eine Gesellschaft des Respekts und der Toleranz

9.4.1 Respekt als Basis von Toleranz

9.4.2 Rechte und Pflichten im Gleichgewicht

10Fazit und Ausblick

10.1 Plädoyer für Anerkennung und Selbstrespekt

10.2 Mehr als die Summe dreier Teile

10.3 Blick in die Zukunft für Forschung und Praxis

11Literatur

1Einleitung

1.1 Im Dickicht der Begriffe

Eine Patientin wünscht sich, ihr Arzt wäre wertschätzender. Was erwartet die Patientin von ihm? Was kann der Arzt konkret in seinen Interaktionen tun, um die gewünschte Wertschätzung zu vermitteln? Möglicherweise möchte die Patientin ein warmherziges Wort hören – möchte Mitgefühl für ihre Situation erfahren. Vielleicht wünscht sie sich aber auch ein Lob für ihre bisherige Mitarbeit, dafür, dass sie alle Medikamente genommen und Übungen gewissenhaft ausgeführt hat. Eventuell wartet sie aber auch nur darauf, auf Augenhöhe behandelt zu werden und von ihm mit ihrer Meinung ernstgenommen zu werden. All diese Interpretationen könnten sich hinter ihrem Wunsch nach Wertschätzung, aber auch hinter dem oft von Menschen geäußerten Wunsch nach Respekt oder Anerkennung verbergen. Ohne ein systematisches Verständnis dafür, was sich hinter diesen schwammigen, oft unklar definierten, Begriffen psychologisch verbergen kann, wird auch der engagierteste Arzt die Wünsche der Patientin nicht erfüllen können. Mit dem Wissen über die unterschiedlichen Facetten von Anerkennung könnte der Arzt erkennen, mit welchen kleinen Gesten sich Gefühle der fehlenden Wertschätzung im sozialen Umgang beheben ließen.

Ein Klient in einer psychosozialen Beratungsstelle beklagt, dass er sich niedergeschlagen fühlt, und wünschte, er würde sich selbst mehr respektieren. Was genau fehlt einer Person, wenn Selbstrespekt oder Selbstwertgefühl vermisst werden? Was kann eine Beraterin tun, um den Klienten zu stärken? Vielleicht wünscht der Klient, sich selbst mehr zu mögen und zu akzeptieren. Oder es mangelt ihm an der Selbstwahrnehmung, wertvoll und kompetent zu sein. Eventuell fehlt ihm die Überzeugung, eine ernst zu nehmende Person zu sein und für seine eigene Meinung einstehen zu können. Wenn die Beraterin ein systematisches Modell an der Hand hätte, mit dem sie den Wunsch nach Selbstrespekt erforschen könnte, würde sie nicht nur besser verstehen, was der Klient will, sondern könnte ihm auch dabei helfen, sich selbst besser zu verstehen. Dies erhöht dann auch die Wahrscheinlichkeit, dass die ausgewählten Interventionen den Kern der Problematik treffen und zu einer Verbesserung führen.

Dieses Buch möchte Ihnen ein wissenschaftlich fundiertes Modell an die Hand geben, um sich Begriffen wie Selbstrespekt, Selbstwertschätzung, Respekt, Wertschätzung oder Anerkennung systematisch nähern zu können. Denn der Ruf nach Respekt und Wertschätzung im zwischenmenschlichen Umgang ist laut. Sich selbst zu respektieren und wertzuschätzen, steht im Fokus vieler psychosozialer Interventionen und scheint ein hohes Gut für das Individuum zu sein. Und doch gibt es keine konsistente Beschreibung, was ein wertschätzender Umgang wirklich ist, und Respekt bedeutet je nach Kontext gänzlich Unterschiedliches: Man denke beispiels- weise an den Wunsch einer Lehrerin nach mehr Respekt von ihrer renitenten Klasse, den Mitarbeiter, der für seine Arbeit von seiner Chefin Respekt erfahren möchte, oder den Geflüchteten, der seine Menschenwürde respektiert sehen will. Eine einzelne allgemeingültige Hilfestellung, die den wahrgenommenen Defiziten in allen drei Situationen gerecht werden könnte, gibt es mit Sicherheit nicht. Welche Systematik hinter diesen unterschiedlichen Wünschen nach Respekt steckt, ist meist nicht offensichtlich.

Bezogen auf das Selbst sieht es sogar noch diffuser aus. Unser Selbstbild ist so wichtig und doch weiß niemand wirklich, wie man es angemessen differenziert beschreibt. Was ist Selbstwertgefühl eigentlich? Was ist Selbstrespekt? Was hat Selbstliebe damit zu tun? Diese Begriffe scheinen im Zentrum der meisten psychischen und sozialen Probleme zu stehen und gleichzeitig sind die Heilsversprechen, die sich darauf beziehen, entweder diffus (weil undifferenziert) oder zersplittert (weil jeweils einzelne Aspekte betrachtend). Was bedeutet es konkret, »sich selbst gut zu finden«, und wo könnte eine Person ansetzen, um Veränderungen für sich zu erreichen? Um darauf Antworten zu finden, müssen die Begriffe klar beschrieben und unterschiedliche Facetten auseinandergehalten werden.

Bei der offensichtlichen Relevanz von Respekt und Selbstrespekt für Individuum und Gesellschaft ist es nicht überraschend, dass auch wissenschaftliche Forschung sich dem Thema angenommen hat. Viele Erkenntnisse und Analysen haben jedoch noch keinen Eingang in die praktischen Bereiche gefunden, in denen sie am besten genutzt werden könnten: soziale Berufe, Bildungseinrichtungen, die Arbeitswelt und unser persönliches Leben. Dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Begriffen wie Respekt und Selbstrespekt nur selten den Weg aus dem Elfenbeinturm gefunden hat, liegt nicht zuletzt daran, dass auch in der Forschungslandschaft unscharfe konkurrierende Begriffe verwendet werden und es bisher keine synthetisierende Theorie gibt, die die zersplitterten Befunde in Beziehung setzt. Dabei lohnt es sich außerordentlich, zu einem systematischeren Verständnis des Selbstbilds und seiner Quellen zu gelangen – für uns und andere. Ein tiefes Verständnis von unterschiedlichen Facetten des Selbstbilds erlaubt uns, differenzielle Vorhersagen zu treffen und passgenaue Interventionen zu wählen, die zielgenau wirksam werden können. Außerdem wirft es ein Licht auf unterschätzte Aspekte des Selbst. Besonders der Selbstrespekt wird häufig übersehen und ist, wie wir zeigen werden, doch so zentral.

In diesem Buch nehmen wir Sie mit auf die Suche nach Selbstrespekt. Auf diese Reise haben wir uns in unserer wissenschaftlichen Arbeit selbst begeben und wir laden Sie ein, diese ein Stück zu begleiten. Wie der Untertitel des Buches (»Wie Anerkennung unser Selbstbild formt«) bereits nahelegt, führt unsere Reise erst einmal weg vom Selbst und analysiert, welche selbstbildformenden Informationen in menschlichen Interaktionen vermittelt werden. In diesem ersten Teil werden wir auf eine Dreiteilung stoßen, die aufzeigt, dass Menschen aus sozialem Austausch besonders diejenigen Informationen ziehen, die ihnen bedürfnisbasierte Zuneigung, leistungsbasierte soziale Wertschätzung und gleichwertigkeitsbasierten Respekt kommunizieren. Der Fokus auf diese Inhalte ermöglicht, zu zeigen, wie diese von außen kommende Anerkennung auf drei Ebenen das Selbstbild von Menschen formt. Selbstliebe, Selbstwertschätzung und Selbstrespekt können als Verinnerlichungen der unterschiedlichen Anerkennungsinformationen verstanden werden. Im zweiten Teil unserer Suche und Reise möchten wir Ihnen dann aufzeigen, welchen praktischen Nutzen diese strukturierte Perspektive sowohl für das eigene Leben als auch für verschiedene Anwendungskontexte hat.

1.2 Was dieses Buch ausmacht

Selbsthilfebücher darüber, wie das eigene Selbstwertgefühl oder der eigene Selbstrespekt gesteigert werden kann, gibt es viele auf dem Markt. Die meisten Titel enthalten Alltagsübungen und Tipps für den Umgang mit schwierigen Situationen und decken ein breites Feld von suboptimalen Selbstbildern ab. Zur Steigerung des Selbstwertgefühls oder des Selbstrespekts wird alles Mögliche empfohlen – von Selbstannahme, Gefühlsregulation, Kraftauftanken, Entspannungstraining, Selbstbehauptung in der Kommunikation bis hin zu Sportübungen und Schminktipps. Selbstwertgefühl wird in diesen Büchern mit unterschiedlichsten Bedeutungen versehen, die von »sich gut fühlen« über »sich leistungsstark fühlen« bis hin zu »sich schön fühlen« reichen. Die Begriffe Selbstwertgefühl oder auch Selbstrespekt werden dadurch bis zur Unkenntlichkeit aufgebläht. Ein entsprechender Mangel ist Platzhalter für jegliche negative Bewertung des Selbst sowie in der Folge für sämtliche Defizite im emotionalen und zwischenmenschlichen Bereich. Wenn dann noch Einzelfallbeispiele im Fokus von Ratgebern stehen und eine wissenschaftliche Fundierung von Tipps und Ratschlägen fehlt, hilft dies oft nicht dabei zu verstehen, was dem Selbst wirklich fehlt.

Dieses Buch soll Brücken zwischen Wissenschaft und Praxis bauen. Die Verbindung von Theoriebildung und Anwendung ist uns ein wichtiges Anliegen: Wir arbeiten beide seit mehr als 10 Jahren in der Forschung und haben wissenschaftliche Arbeiten in Fachzeitschriften zu den Themen Anerkennung, Respekt und Selbstrespekt publiziert. Außerdem haben wir Ausbildungen in Coaching und Beratung absolviert und beraten fortlaufend Menschen zu psychosozialen Themen und (beruflichen) Lebensentscheidungen. Auf dieser Basis wollen wir mit Ihnen in einem ersten Schritt eine Erkundungsreise mit dem Ziel beginnen, festzustellen, warum das Konzept eines globalen Selbstwertgefühls in der Praxis oft wenig fruchtbar ist und wie wir uns ihm differenzierter nähern können. Mit der neuen dreiteiligen Perspektive und der Unterscheidung von Selbstliebe, Selbstwertschätzung und Selbstrespekt, werden Sie bei der Lektüre anderer Bücher zahlreiche Aha-Erlebnisse haben (so ging es uns jedenfalls). Eventuelle Ursachen für einen Mangel am sogenannten Selbstwertgefühl lassen sich plötzlich mit Hilfe der neuen Schablone sinnvoll strukturieren, ganz unterschiedliche Quellen und damit unterschiedliche Möglichkeiten zum Umgang damit geraten in den Blick. Auch die Tipps zur Steigerung des Selbstwertgefühls fallen plötzlich gut sortiert in drei unterschiedliche Perspektiven, aus denen heraus das Selbstbild betrachtet werden kann.

In einem nächsten Schritt wenden wir unsere theoretischen Ideen auf praxisnahe Kontexte an. Sie werden sehen, dass Sie mit dem Anlegen einer dreiteiligen »Anerkennungsschablone« viele Situationen aus Ihrem eigenen persönlichen und beruflichen Alltag anders einordnen können. Die Frage nach Respekt und Selbstrespekt, bzw. verwandten Konzepten wie Anerkennung, Wertschätzung, Selbstliebe und Selbstwert, liegt im Kern fast aller psychosozialen Fragestellungen. Wenn Sie ein tieferes Verständnis für das eigene Leben und soziale Interaktionen gewinnen wollen und dieses auch in Ihren professionellen Kontext, in die Unterstützung und Begleitung anderer integrieren möchten, sind Sie hier an der richtigen Stelle.

1.3 Aufbau und Ziel des Buches

Unser Ziel ist es, dass Sie auf der Reise sowohl ein wissenschaftlich fundiertes Verständnis der relevanten Konzepte gewinnen als auch Impulse für die praktische Anwendbarkeit mitnehmen. Kapitel 2 bis 4 geben einen Einblick, wie verschiedene wissenschaftliche Disziplinen einen systematischen Blick auf das Selbst und dessen Anerkennung ermöglichen. In Kapitel 2 führen wir aus, was unter dem Selbst verstanden wird, wie es mit unserer Identität zusammenhängt und auf welchen Ebenen Menschen ihr Selbst einschätzen. Das Kapitel endet mit der Frage, wie Menschen eigentlich zu ihrem Selbstbild und einer bestimmten Selbstbewertung gelangen, und hebt die Bedeutung anderer Menschen und deren Rückmeldungen und Verhalten hervor. Diesen sozialen Einflüssen – die eine fundamentale Rolle beim Verständnis der Formung des Selbstbilds von Menschen spielen – widmet sich dann Kapitel 3. Hier geht es uns um eine Darstellung und Synthese wissenschaftlicher Erkenntnisse aus Anthropologie, Philosophie, Soziologie und Psychologie. Wir identifizieren disziplinübergreifend drei Formen der sozialen Anerkennung (bedürfnisbasierte Zuneigung, leistungsbasierte Wertschätzung und gleichwertigkeitsbasierten Respekt), die fundamental für menschliche Interaktionen sind. Aufbauend auf dieser Dreiteilung – die von nun an die Strukturierung dieses Buches bestimmen wird – werden wir in Kapitel 4 drei korrespondierende Formen der Selbstanerkennung (Selbstliebe, Selbstwertschätzung, Selbstrespekt) ableiten und dem bislang oft vernachlässigten Konzept des Selbstrespekts besondere Aufmerksamkeit schenken.

Nach der Beschäftigung mit den theoretischen Grundlagen zeigen wir in den Kapiteln 5 bis 9, wie diese Perspektive auf Anerkennung und Selbstanerkennung im eigenen Leben und in verschiedenen professionellen Bereichen praktisch wirksam werden kann. Im Mittelpunkt dieses Buchteils steht – fundiert durch empirische Befunde – der anwendungsbezogene Blick auf die Kraft von (Selbst-) Anerkennung in der Pädagogik, in Therapie und Beratung, in der Arbeitswelt und in Politik und Gesellschaft. Fallbeispiele, Übungen und Denkanstöße helfen, die Anwendbarkeit selbst zu erproben. Im abschließenden Kapitel 10 fassen wir die Erkenntnisse unseres Buches zusammen und diskutieren Stärken und Schwächen einer dreiteiligen Anerkennungsperspektive.

Zuletzt drei Hinweise: In diesem Buch gibt es Übungen für die Leser:innen. Diese sind mit dem links zu sehenden Symbol versehen. Über den QR-Code auf der nächsten Seite sind die Übungen auf der Verlagswebsite zugänglich. Wir nutzen sprachlich die genderneutrale Konstruktion mit einem »:« oder im Wechsel die weibliche und männliche Form. So wollen wir einer sinnvollen Gendersensitivität Rechnung tragen und gleichzeitig die Lesbarkeit nicht beeinträchtigen. Da viele der Vorreiter:innen der folgenden Theorien und Vorstellungen aus dem angloamerikanischen Raum stammen, befindet sich hinter einigen der behandelten Begriffe die englische Übersetzung in Klammern.

Das Buch gliedert sich in einen theoretischen Teil (Kapitel 2–4), der die wissenschaftlichen Grundlagen von Anerkennung und Selbstanerkennung beschreibt, und einen praxisorientierten Teil (Kapitel 5–9), der praktische Anwendungsmöglichkeiten der Anerkennungsperspektive in verschiedenen Kontexten darstellt.

Am Ende der einzelnen Abschnitte bieten wir jeweils kurze Zusammenfassungen an. Diese dienen auch der einfacheren Navigation bzw. Schwerpunktsetzung innerhalb des Buches.

2Das Selbst und wie es sich sieht

Die Suche nach Selbstrespekt startet sinnvollerweise beim Selbst. Die Frage danach, wer wir selbst sind und wie wir uns selbst wahrnehmen, beschäftigte bereits antike griechische Philosoph:innen. Es dauerte jedoch bis zum 17. Jahrhundert n. Chr. bis eine breite Beschäftigung der Philosophie mit diesen Konzepten begann und zu einem zentralen Thema für das Individuum wurde. Nach ihrer Etablierung als eigenständige Wissenschaftsdisziplin im 19. Jahrhundert, wurden Fragen zum Selbst und zur Identität auch zentrale Fragestellungen der Psychologie. Thematisiert und erforscht wurden zum einen die Struktur des Selbstbilds aber auch die Bewertung des Selbst.

Wie das Selbstbild und die Identität von Menschen wissenschaftlich betrachtet werden können, stellen wir in Abschnitt 2.1 vor. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Perspektive gelegt, Identität als dynamischen Prozess anzusehen, der sich in starkem Maße an sozialen Kontexten und anderen Menschen orientiert. Nach dieser Betrachtung des Aufbaus und der Struktur des Selbst und der Identität, thematisiert Abschnitt 2.2 die Frage, wie Menschen ihr Selbst bewerten. Hier stellen wir wissenschaftliche Ansätze vor, die entweder eine globale (das Selbst als Ganzes) oder eine spezifische (einzelne Aspekte des Selbst) Perspektive auf die menschliche Selbstbewertung einnehmen. Es wird deutlich werden, dass die bestehenden Ansätze keine umfassenden, die Breite des Selbst abdeckenden, Bewertungsschemata zur Verfügung stellen oder mit Begriffen arbeiten, die sich nicht trennscharf voneinander abgrenzen lassen. Diese Lücke zu füllen, oder zumindest eine hilfreiche Schablone zur Betrachtung der Selbstbewertung und ihrer Quellen anzubieten, ist ein zentrales Anliegen dieses Buches. In Abschnitt 2.3 thematisieren wir die Bedeutung anderer Menschen und der sozialen Umwelt für den Selbstbewertungsprozess und unterstreichen die Wichtigkeit, zum Verständnis des Selbstbilds gezielt und systematisch auf die zentralen Dimensionen menschlicher Interaktion zu blicken.

2.1 Selbstkonzepte und Identität

Die Forschungsansätze zum Thema Selbst und Identität würden leicht ein eigenes Buch füllen, entsprechend stellen die Ausführungen in diesem Kapitel nur einen kleinen Ausschnitt dar. In diesem Abschnitt geht es zunächst um die Frage, wie das Selbstbild eines Menschen definiert werden kann und wie ein Selbstbild entsteht.

Zur Frage, was das Selbstbild ausmacht und wie man es am besten systematisch beschreiben kann, sollen hier beispielhaft zwei unterschiedliche Denktraditionen in der modernen Psychologie vorgestellt werden. Beide Traditionen sind bereits in den 1970/80er Jahren entstanden – sind aber immer noch aktuell und einflussreich. Die erste Denktradition begreift das Selbst(-konzept) als ein aus relativ stabilen Elementen bestehendes Gebilde. Im Rahmen der zweiten werden Selbstkonzept und die menschliche Identität als ein dynamisches System aufgefasst, das sich je nach sozialem Kontext ganz unterschiedlich zeigen kann. Der erste Forschungsstrang ist stark beeinflusst durch die Arbeiten von Hazel Markus (1977) und ihrer Theorie der Selbstschemata. Selbstschemata sind definiert als kognitive Generalisierungen (= Wissenseinheiten) über das Selbst. Dies beinhaltet Wahrnehmungen, Bewertungen, Einstellungen und Urteile einer Person über sich selbst, die auf Basis früherer Erfahrungen oder Interaktionen mit anderen entstehen. Diese Wissenseinheiten umfassen z. B. eigene Fähigkeiten, Eigenschaften oder soziale Rollen. So kann eine Person Informationen über sich selbst in Form solcher Schemata abgespeichert haben, die beschreiben, dass sie großzügig, unabhängig und männlich ist.

In der Vergangenheit gebildete Selbstschemata beeinflussen dann die Informationsverarbeitung in der Gegenwart. So neigen beispielsweise Personen, die ihre Männlichkeit als Selbstschema besonders ausgeprägt haben, stärker dazu, situationsübergreifend auch andere Personen hinsichtlich dieser Dimension zu bewerten. Hazel Markus geht davon aus, dass es eine Reihe von stabilen Kern-Selbstschemata gibt, die im Alltag unser Denken und Handeln leiten. Das Selbstkonzept wird also als ein eher stabiles Gebilde von Selbstbeschreibungen angesehen, die, wenn sie einmal entstanden sind, nicht so schnell wieder verändert werden. Patricia Linvilles Arbeiten (1987) gehen in eine ähnliche Richtung, wobei sie zusätzlich thematisiert, dass es von Vorteil ist, wenn das Selbstkonzept aus vielen Selbstbeschreibungen (bei ihr Selbstaspekte genannt) besteht. Eine hohe Anzahl dieser Aspekte macht das Selbstkonzept komplexer und somit weniger anfällig für Stress und negative Emotionalität. Die Idee dahinter ist, dass der Wegfall oder eine Umbewertung eines einzelnen Selbstaspekts weniger problematisch ist, wenn auf andere zurückgegriffen werden kann – und dies ist wahrscheinlicher, wenn viele unterschiedliche Selbstaspekte zur Verfügung stehen.

Übung »Selbstaspekte und Selbstkonzept«

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und zeichnen Sie auf einem weißen Blatt Papier die Komplexität Ihres Selbst auf. Schreiben Sie dazu als Erstes jeweils einen Selbstaspekt (dies können Eigenschaften, Interessen, Rollen, Hobbies, Verhaltensweisen oder auch Vereins- oder Gruppenmitgliedschaften sein) in eine eigene Ellipse und ordnen Sie diese auf dem Papier so an, dass Aspekte, die etwas miteinander zu tun haben, nahe beieinander sind. In einem zweiten Schritt können Sie dann Verbindungslinien zwischen Selbstaspekten ziehen, die eng miteinander verbunden sind bzw. voneinander abhängig sind. Selbstaspekte, die unabhängig von anderen Aspekten sind, bleiben als unverbundene Ellipsen stehen. Wenn Sie beispielsweise als Selbstaspekte »Umweltschützerin«, »Grünen-Mitglied« und »Vegetarierin« notiert haben, dann werden Sie diese vermutlich durch Linien miteinander verbinden, da sie inhaltlich eng verbunden sind. Der Selbstaspekt »musikalisch« wird jedoch eher nicht mit diesen Selbstaspekten in Verbindung stehen. Wenn Sie alle für Sie relevanten Selbstaspekte sowie ihre Verbindungen notiert haben, können Sie einmal betrachten, wie viele Verbindungslinien es gibt. Wenn Sie beispielsweise viele unabhängige Selbstaspekte zur Selbstbeschreibung herangezogen haben, dann haben Sie laut Linville eine hohe Selbstkomplexität und können, wenn nötig, leicht auf andere Aspekte zurückgreifen. Wenn Sie ausschließlich Selbstaspekte notiert haben, die miteinander eng in Verbindung stehen, dann beschränkt sich Ihr Selbstkonzept sehr stark auf diese Themen und Sie sind unter Umständen anfällig für Veränderungen oder Ereignisse in diesem Bereich. Dann könnten Sie versuchen, die Bandbreite Ihrer Selbstaspekte zu vergrößern. Die bewusste Reflexion, die Sie soeben gemacht haben, ist meist ein guter erster Schritt und stößt Gedanken darüber an, welche bereits vorhandenen (aber momentan nicht aktiv genutzten) Selbstaspekte bzw. welche neuen Selbstaspekte Sie gerne in Ihr Selbstkonzept integrieren würden.

Die zweite Denktradition zur Konzeption von Identität wurde durch die Arbeiten von Henri Tajfel und John Turner begründet. Die beiden Sozialpsychologen schlugen vor, Selbstkonzept und Identität nicht als stabile Strukturen, sondern als hochgradig dynamische Prozesse aufzufassen, die ständigen Veränderungen unterworfen sind (Tajfel u. Turner, 1986; Turner, Hogg, Oakes, Reicher u. Wetherell, 1987). Dabei wird die grundlegende Idee der erstgenannten Denktradition, Selbstaspekte als Selbstbeschreibungen anzunehmen, aufrechterhalten. Selbstaspekte beziehen sich auch hier auf einzelne inhaltliche Einheiten, mit denen Eigenschaften, Talente, Verhaltensweisen, Rollen, usw. beschrieben werden. Eine Person könnte sich beispielsweise durch die Selbstaspekte männlich, deutsch, Informatikstudent, Christ, Fußballfan (und viele mehr) auszeichnen. Bis dahin ist dieser Ansatz vergleichbar mit den weiter oben beschriebenen Ansätzen. Was sich dann allerdings von der Denktradition eines stabilen Kerns des Selbstkonzepts unterscheidet, ist die Unterscheidung zwischen persönlicher und sozialer Identität. Insbesondere bei letztgenannter kommt der angesprochene dynamische Aspekt ins Spiel. Zur besseren Veranschaulichung laden wir Sie auch hier dazu ein, eine kurze Übung zu machen:

Übung »Wer bin ich?«

Notieren Sie bitte im folgenden Feld zehn Aspekte, die Sie als Person beschreiben (Quelle: Kuhn u. McPartland, 1954).

Ich bin …

Wenn Sie die praktische Übung für sich selbst ausgefüllt haben, dann betrachten Sie nun bitte die zehn notierten Attribute einzeln dahingehend, ob Sie diese mit anderen Menschen teilen oder ob nur Sie das jeweilige Attribut besitzen. Vermutlich werden Sie zu dem Schluss kommen, dass Sie die meisten (wenn nicht alle) der Attribute mit anderen Menschen teilen. Wenn Sie beispielsweise notiert haben: Ich bin weiblich, braunhaarig, rennsportbegeistert, Rentnerin, Werder-Bremen-Fan; dann teilen Sie jedes dieser Attribute mit einer Gruppe von anderen Menschen. Für jedes dieser Attribute ist dies eine andere Gruppe, aber keines dieser Attribute besitzen Sie allein. Was Sie hingegen als einzigartiges Individuum auszeichnet, ist die Kombination einzelner Attribute. Wenn Sie die Liste weiter verlängern würden (z. B. weitere zehn Aspekte notieren), dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass nur Sie genau diese Zusammenstellung an Attributen (oder Selbstaspekten) besitzen. Jedes einzelne teilen Sie mit anderen Menschen und Gruppen, aber die Konstellation, die Sie beschreibt, macht Sie einzigartig. Dies ist Ihre persönliche (oder individuelle) Identität. Genauso macht die Kombination aus Attributen, die andere Menschen beschreibt, diese einzigartig (vgl. auch Simon, 2004).

Von der persönlichen kann die soziale (oder kollektive) Identität abgegrenzt werden. Wenn sich eine Person in einer Situation befindet, in der die Selbstwahrnehmung auf einen einzigen Selbstaspekt (und nicht auf die Vielzahl der verschiedenen Selbstaspekte) fokussiert wird, so wird eine soziale Identität aktiviert. Dies ist immer dann der Fall, wenn die Aktivierung eines bestimmten Selbstaspekts als passend zur Situation wahrgenommen wird und eine Person bereit ist, diese Identität anzunehmen. Eine Person wird die kollektive Identität als Christ oder Christin mit erhöhter Wahrscheinlichkeit annehmen, wenn sie eine Kirche betritt (passt zur Situation) und gläubig ist (Bereitschaft ist hoch). Die Dynamik von Identität entsteht dadurch, dass sich das, was passend für eine Situation erscheint, schnell ändern kann. Wenn die Person nach dem Besuch der Kirche ins Fußballstadion geht, wird eine andere soziale Identität aktiviert werden. Falls die Person die Bereitschaft dafür mitbringt, wird sie dann die Identität als Fußballfan annehmen. Mit jeder sozialen Identität sind bestimmte – und je nach Situation potenziell unterschiedliche – Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen verknüpft. Diese Annahme kann erklären, warum sich Menschen in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich verhalten. Das Verhalten in der Kirche wird sich vermutlich – und hoffentlich – vom Verhalten im Fußballstadion unterscheiden.

Übung »Identität – Kontext – Verhalten«

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und überlegen sich, in welchen Situationen die in der Übung zur persönlichen Identität notierten zehn Attribute besondere Bedeutung für Sie einnehmen. Wenn Sie bspw. »weiblich« notiert haben, dann überlegen Sie sich, wann der Identitätsaspekt weiblich (oder entsprechend ein anderer) für Sie relevant wird (z. B. in der Interaktion mit dem Partner oder der Partnerin, den Eltern, am Arbeitsplatz, …). Und dann überlegen Sie sich, welche Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen jeweils mit diesem Identitätsaspekt verbunden sind. Wenn Sie dies für einige (oder sogar alle zehn) Ihrer Identitätsaspekte gemacht haben, können Sie reflektieren, ob sich je nach aktiver Identität Ihre Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen unterscheiden.

Übertragen Sie in die folgenden Felder die zehn Identitätsaspekte, die Sie in der vorangegangenen Übung genannt haben. Überlegen Sie, in welchen Kontexten diese Identitätsaspekte besonders relevant werden und welche Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen damit jeweils verbunden sind:

Diese Übung verdeutlicht Ihnen, dass unsere Gedanken, Gefühle sowie unser Verhalten in ständiger Wechselwirkung mit den Menschen und Situationen um uns herum sind. Diese sozialen Einflüsse werden uns auch im weiteren Verlauf des Buches beschäftigen, wenn es um die Formung des Selbstbilds geht.

In der Psychologie gibt es unterschiedliche Forschungstraditionen zur Analyse von Selbstkonzept und Identität. In diesem Abschnitt wurden zwei davon umrissen: eine, die dem menschlichen Selbstkonzept einen relativ stabilen Kern zuschreibt, und eine andere, die das Selbstkonzept und die Identität als dynamischen Prozess ansieht. Letztere bietet den Vorteil zu erklären, warum sich die Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen ein und derselben Person von Kontext zu Kontext unterscheiden können.

2.2 Selbstwertgefühl

Während sich der vorangegangene Abschnitt mit Ansätzen zum Aufbau und zur Struktur des Selbst und der Identität beschäftigt hat (vgl. Abschnitt 2.1), wird der folgende Abschnitt auf Ansätze zur Bewertung des Selbst eingehen. Menschen tendieren dazu, sich selbst (als ganze Person) oder bestimmte Teile ihres Selbstbilds zu bewerten – entweder (eher) positiv oder (eher) negativ.

2.2.1 Globale Selbstbewertung

Eine Möglichkeit die Bewertung des Selbst zu betrachten ist, das Selbst global zu evaluieren. Unabhängig davon, ob sich eine Person in verschiedenen Bereichen oder hinsichtlich bestimmter Aspekte unterschiedlich sieht und bewertet, geht es bei der globalen Selbstbewertung darum, ob sie sich selbst im Mittel eher positiv oder eher negativ wahrnimmt. Ein solch eindimensionaler globaler Ansatz, der sowohl in alltagspsychologischen Diskussionen als auch in der wissenschaftlichen Psychologie eine große Rolle spielt, ist das globale Selbstwertgefühl (global self-esteem). Das globale Selbstwertgefühl wird als generelle positive bzw. negative Einstellung zum eigenen Selbst verstanden. Ein hierfür bereits in den 1960er Jahren entwickelter Fragebogen von Rosenberg (1965) erfasst diese generelle positive Einstellung mithilfe der Zustimmung bzw. Ablehnung von verschiedenen Aussagen wie z. B. »Alles in allem bin ich mit mir selbst zufrieden«. Im Mittel erhält man anhand dieser Skala einen von einer Person selbst eingeschätzten Wert, ob diese ein eher positives oder eher negatives Selbstbild besitzt.

Dieser Fokus auf das globale Selbstwertgefühl wurde durch gesellschaftliche und politische Prozesse in den 1980er Jahren verstärkt. Vor allem in den USA kam der Trend auf, hohes Selbstwertgefühl nicht nur zu einem persönlichen, sondern auch zu einem gesellschaftlichen Anliegen zu machen (Baumeister, Campbell, Krueger u. Vohs, 2003). So wurde hohes globales Selbstwertgefühl in Nordamerika als zentrale psychologische Quelle benannt, aus der alle möglichen erwünschten Verhaltensweisen und positiven Gesellschaftswerte entstehen sollten. Auf der anderen Seite hieß dies folglich, dass ein geringes Selbstwertgefühl als Wurzel für gesellschaftliche Probleme und Funktionsstörungen betrachtet wurde. Nathaniel Branden, eine führende Persönlichkeit in dieser Bewegung, war sogar der Ansicht, dass er nicht an ein einziges psychologisches Problem denken könne, von Ängsten und Depressionen bis hin zu Beziehungsgewalt oder Kindesmissbrauch, welches nicht auf das Problem von geringem Selbstwertgefühl zurückzuführen sei (Branden, 1984). Dieser Ansatz wurde in den 1980er Jahren durch die Finanzierung einer Task-Force zur Steigerung des Selbstwertgefühls im amerikanischen Bundesstaat Kalifornien verstärkt, der ein beträchtliches fianzielles Budget zur Seite gestellt wurde. Das Ziel bestand darin, Interventionen zur Steigerung des Selbstwertgefühls bei den Bürger:innen durchzuführen, in der Hoffnung, dass dies zur Lösung von gesellschaftlichen Problemen beitragen würde – von Kriminalität über Teenagerschwangerschaften, Drogenmissbrauch, schlechten schulischen Leistungen bis hin zu Umweltverschmutzung.

Die wissenschaftliche Betrachtung von globalem Selbstwertgefühl konnte diesem gesellschaftlichen Hype keine überzeugende Bestätigung verschaffen. Obwohl im Allgemeinen gezeigt werden konnte, dass Menschen mit hohem globalem Selbstwertgefühl glücklicher und lebenszufriedener sind als Menschen mit niedrigem (Diener u. Diener, 1995), fielen die Zusammenhänge mit anderen Aspekten (wie z. B. Schulleistung, Beziehungsfähigkeit, Suchtproblematiken) ernüchternd aus und zeigten oftmals nur sehr kleine statistische Zusammenhänge (Baumeister et al., 2003). Ein Beleg dafür, dass globales Selbstwertgefühl das Heilmittel für alle sozialen, gesellschaftlichen und gesundheitlichen Probleme darstellt, konnte nicht gefunden werden (Mecca, Smelser u. Vasconcellos, 1989).

Besonders problematisch ist die Erkenntnis, dass die kostenintensiven Interventionen, die zur Steigerung von globalem Selbstwertgefühl konzipiert wurden, keinen erkennbaren Gewinn lieferten. Baumeister und Kolleg:innen (2003) resümieren in einem Überblicksartikel, dass weder therapeutische Interventionen noch Schulprogramme zur Steigerung von globalem Selbstwertgefühl einen bedeutsamen Effekt haben.

Eine naheliegende Erklärung für das Ausbleiben dieser Effekte ist, dass globales Selbstwertgefühl zu allgemein, zu undifferenziert ist und Aspekte von unterschiedlichen Ebenen enthält, auf denen sich Menschen selbst bewerten (vgl. auch Branden, 2009). Die erwähnte Skala von Rosenberg, mit der Selbstwertgefühl häufig erfasst wird, enthält nämlich zum einen Aussagen zur selbst eingeschätzten Kompetenz, z. B. »Ich kann vieles genauso gut wie die meisten anderen Menschen auch«. Zum anderen enthält sie aber auch Aussagen zur emotionalen Einstellung zum Selbst, z. B. »Ich habe eine positive Einstellung zu mir selbst gefunden« sowie zum grundlegenden Wert, den man sich selbst zuschreibt, z. B. »Ich halte mich für einen wertvollen Menschen, jedenfalls bin ich nicht weniger wertvoll als andere auch«. Diese breite Zusammenstellung von Selbstbewertungsebenen innerhalb dieser Skala könnte erklären, warum sich deutliche positive (statistische) Zusammenhänge mit Aspekten wie Zufriedenheit oder Glück finden (Diener u. Diener, 1995). Sie erklärt allerdings auch, warum es schwierig ist, Interventionen zu gestalten, die alle unterschiedlichen (Teil-)Aspekte abdecken. Solchen (Teil-)Aspekten, d. h. spezifischen Ebenen der Selbstbewertung, widmet sich der folgende Abschnitt.

2.2.2 Spezifische Selbstbewertung

Aus den genannten Gründen haben einige Forschende die vermutete Eindimensionalität der gängigen globalen Selbstwertgefühlkonzepte sowie ihrer Messverfahren angezweifelt. Sie konnten zeigen, dass die verwendeten Skalen (z. B. von Rosenberg) mindestens zwei spezifische Bewertungsebenen enthalten. Tafarodi und Swann (1995) beispiels- weise schlugen eine Konzeption vor, die zwischen einer affektiven (self-liking) und einer leistungsorientierten (self-competence) Komponente differenzieren kann (Tafarodi u. Swann, 2001). Das Selbst kann demnach zum einen bezüglich einer emotionalen Beziehung zum Selbst (Mag ich mich? Habe ich Vertrauen in mich selbst?) und zum anderen bezüglich der eigenen Kompetenz und Leistungsfähigkeit (Kann ich etwas? Bin ich kompetent?) bewertet werden.