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Ein Café in Tokio, Kaffeeduft und große Gefühle in kleinen Gesten
Kaum betritt man den kleinen Laden in der Seitenstraße des belebten Tokioter Stadtviertels Yanaka, umfängt einen das herrliche Aroma frisch gebrühten Kaffees. Das Café Torunka wird seit zwanzig Jahren von einem begeisterten Cafébesitzer betrieben, zusammen mit seiner Tochter und dem jungen schweigsamen Shuichi, der dort aushilft. Seit einiger Zeit kommt sonntags immer eine Frau ins Café, Chinatsu, die sich in rätselhafte Geschichten hüllt, und die stets eine kleine Balletttänzerin aus ihrer Serviette faltet und zurücklässt. Sie behauptet, Shuichi von früher zu kennen, doch dieser kann sich keinen Reim auf sie machen. Erst als er beginnt, sie nach ihrem Besuch ein Stück zu begleiten, öffnet sie sich ihm wirklich – und ihre gemeinsamen Erinnerungen lassen eine neue Freundschaft entstehen …
Der neue Roman des internationalen Bestsellerautors Satoshi Yagisawa versammelt bittersüße, herzerwärmende Geschichten um Liebe und Verlust rund um das Café Torunka und die besonderen Menschen, die sich hier begegnen.
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2025
Satoshi Yagisawa
Die Tage im Café Torunka
Roman
Aus dem Japanischen von Charlotte Scheurer
Insel
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Die japanische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel 純喫茶トルンカ (Junkissa Torunka) bei Tokuma Shoten Publishing Co., Ltd., Tokio.German edition arranged with Tokuma Shoten Publishing Co., Ltd. through Emily Books Agency Ltd. and Casanovas & Lynch Literary Agency S. L.
eBook Insel Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025.
Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025© Satoshi Yagisawa 2022
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Umschlaggestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Originalumschlags von Harper Collins UK, Illustration: Ilya Milstein, New York
eISBN 978-3-458-78444-9
www.insel-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Die Sonntagsballerina
Ort des Wiedersehens
Ein Tropfen Liebe
Informationen zum Buch
Die Tage im Café Torunka
Chinatsu Yukimura, diese reichlich merkwürdige Frau, war zum ersten Mal Ende letzten Jahres im Café Torunka aufgetaucht.
Die Leute waren so mit ihren Vorbereitungen für das Neujahrsfest beschäftigt gewesen, dass dort ausnahmsweise den ganzen Tag über gähnende Leere herrschte. Zur Mittagszeit waren ein paar der Stammgäste aus der Nachbarschaft vorbeigeschneit, aber danach war jeglicher Kundenstrom wieder abgerissen und nur ich, mein Chef (sein Name war Isao Tachibana, aber ich nannte ihn meistens Chef) und dessen Tochter Shizuku übriggeblieben. Draußen vor dem Fenster strahlte die Sonne, doch hier im Café, das in einem Gässchen etwas abseits der Hauptstraße lag, war es bereits dämmrig.
Das Ticken der Wanduhr hallte durch das Innere des Ladens und aus den Lautsprechern – auf kaum hörbare Lautstärke gestellt, damit sich niemand daran störte – plätscherte ein Klavierstück von Chopin. Ein Nachmittag so ruhig, als ob wir drei in unserer eigenen kleinen Welt verweilten.
»Nichts los.«
Shizuku saß schlaff auf einem Hocker am Tresen, blätterte durch den Sportteil einer Zeitung, die ein Gast dort zurückgelassen hatte, und wiederholte heute sicher schon zum dreißigsten Mal dieselben Worte.
»Nichts los«, pflichtete ich ihr zum acht- oder neunundzwanzigsten Mal bei, während ich mit dem Mopp über den Boden wischte.
Shizuku bezeichnete sich zwar selbst als den »Star des Cafés Torunka«, aber ich fragte mich, ob sie es bei ihrem eigenen Anblick – lustlos in der Zeitung blätternd, das Kinn in die Hand gestützt – immer noch mit stolzgeschwellter Brust sagen würde.
»Jahresende halt.«
Sie schien keinen Artikel gefunden zu haben, der das Interesse eines Mädchens wie sie – im letzten Jahr der Oberschule, kurz vor den Aufnahmeprüfungen für die Universität – weckte, faltete die Zeitung unter lautem Rascheln zusammen und warf sie lässig zurück auf den Tresen.
»Jahresende halt«, wiederholte ich matt, den Mopp fest in der Hand, und starrte gelangweilt Löcher in die Luft.
Offen gestanden hatte die Seite mit den nackten Frauen in der Mitte der Zeitung mein Interesse geweckt, doch mir war bewusst, wie unklug es wäre, jetzt die Hand danach auszustrecken, also blieb ich tapfer.
»Shizuku, setz dich wenigstens ordentlich hin. Man sieht ja fast deine Unterhose«, rief mein Chef mit verdutztem Gesicht, der sich bislang mit dem Polieren der Gläser befasst hatte.
Isao Tachibana mochte ernst und etwas furchteinflößend wirken, doch generell war er ein besonnener Mann, dem man selten ansah, was er dachte. Selbst in diesen ruhigen Stunden im Café verzog er keine Miene. Lediglich ein zufriedenes Brummen entwich ihm hin und wieder, wenn er ein Glas oder eine Tasse auf Hochglanz gebracht hatte.
»Mein Vater ist ein Spanner, igitt.« Shizuku streckte ihre Zunge heraus.
Doch Isao blieb unberührt und entgegnete gleichgültig: »Niemand will deine Unterwäsche sehen. Sei nicht so nachlässig.«
Oben auf der Mauer vor dem Fenster glänzten die schwächlichen Strahlen der Wintersonne auf dem Rücken einer dunkelbraunen Katze, die in lockeren Schritten darüberlief. Das Tier war mir wohlbekannt und ich wusste, dass es ein Kater war, der hier in den Seitenstraßen lebte. Der Weg vor dem Café war zur Durchgangspassage für die Katzen der Nachbarschaft geworden. Der aufgestellte kurze und buschige Schwanz des Katers sprach Bände über sein bewegtes Leben.
Ich hatte einmal in einem Buch gelesen, dass es in Tokios Unterstadt viele Straßenkatzen gab, und auch ich hatte, seit ich hier arbeitete, so manche Bekanntschaft mit den hiesigen Katzen geschlossen. Gedankenverloren fragte ich mich, wie viele von ihnen in der Lage waren, diesen harten Winter zu überleben.
»Ach, wann passiert denn endlich mal was Interessantes?«, stöhnte Shizuku.
»Du bist mir eine«, erwiderte Isao verwundert. »Interessante Dinge fallen einem nicht einfach in den Schoß. Wenn du Interesse an etwas entwickeln möchtest, musst du erst einmal jeden Tag ordentlich und bedacht leben. Das weckt den Spaß am Leben von ganz alleine, denn …«
»Was soll denn jetzt dieser Vortrag? Ich wünsche mir doch einfach nur, dass hier ein bisschen mehr los ist. Shuichi-kun, da bist du doch ganz meiner Meinung, oder?«
»Ganz deiner Meinung«, nickte ich.
»Meine Güte. Gutes Personal findet man heutzutage auch nicht mehr.«
Isao seufzte tief, doch Shizuku würdigte ihn keines Blickes und wandte sich stattdessen mir zu.
»Shuichi-kun, hattest du schon Winterferien?«
»Ja, schon Wochen her. Bei dir noch nicht?«
»Bald. Zwei Tage noch. Was machst du denn so, wenn du frei hast?«
»Ich? Bücher lesen, Nickerchen machen, Bier trinken.«
»Machst du das nicht sonst auch immer?«
»Kann man so sagen.«
»Studieren klingt ganz schön bequem.«
»Das ist ein Affront gegen die Studenten der Welt. Viele von ihnen sind fleißig und ordentlich.«
»Ach so, verstehe. Nur du bist zufällig einer der faulen Studenten.«
»Richtig, ich bin einer der faulen Studenten«, wiederholte ich stolz.
»Fauler Student sein klingt toll. Das will ich auch werden. Okay, sobald ich mit der Oberschule fertig bin, werde ich faule Studentin.«
»Na, dann streng dich mal an, damit das klappt. Ich werde mir Mühe geben, dir mit gutem Vorbild voranzugehen.«
»Shuichi, setz meiner Tochter keine Flausen in den Kopf. Bist du nicht schon im vierten Jahr? Wird langsam Zeit …«
Und dann, als mein Chef gerade angefangen hatte, mir eine Standpauke zu erteilen, geschah es: Das Läuten der Ladenglocke und das Knarzen der Tür retteten mich. Wie eine kleine Entenfamilie sahen wir drei gleichzeitig dorthin.
Im Eingang stand eine Frau.
Sie war recht jung – unüblich für das Torunka, das überwiegend von älteren Leuten besucht wurde. Über dem dicken, schwarzen Mantel trug sie einen Schal in leuchtendem Scharlachrot, war recht klein geraten und sah deshalb aus wie ein Kind, das erwachsen wirken wollte. Die schulterlangen schwarzen Haare waren zu einem strengen, glatten Bob frisiert. Draußen musste es kalt sein, denn ihre blassen Wangen waren leicht gerötet.
Shizuku sprang auf, fuhr sich mit einem Kamm durch die langen Haare und band ihre Schürze am Rücken zu. Rasch setzte sie ihr breites Kellnerinnenlächeln auf, das ihre bislang finstere Miene Lügen strafte, und empfing den Besuch mit einem herzlichen »Willkommen!«.
Unser Gast hingegen richtete sich die Haare und starrte zu Boden, als sei sie vom Anblick des kundenleeren Cafés und der Aufmerksamkeit von gleich drei Leuten eingeschüchtert. Um der Frau, die scheu wie ein Rehkitz wirkte, nicht weiter unnötig Angst einzujagen, flüchtete ich im Krebsgang in die Küche.
Shizuku führte sie zu dem Tisch, der am weitesten in der Ecke stand, und brachte ihr Wasser. Nachdem die beiden eine Weile geheimniskrämerisch miteinander getuschelt hatten, kehrte sie mit dem Bestellzettel in der Hand zurück.
»Kolumbien.«
»Alles klar.«
Isao mahlte die Kaffeebohnen in der Mühle, gab das Pulver in den Handfilter und machte sich daran, es mit heißem Wasser zu übergießen, woraufhin bald ein angenehmes Aroma das Café erfüllte. Als ich diesen Duft, zusammen mit der Melodie der Nocturne, aufsog, schien die Realität vor meinen Augen zu verschwimmen, und mir war, als würde ich durch eine europäische Altstadt laufen.
Vor dem Fenster streifte eine weitere Katze vorbei. Während ich ihr mit dem Blick folgte, gab Isao still das sanft dampfende heiße Wasser hinzu, und hatte bald die Tasse tiefschwarzen Kaffees fertiggestellt. Ohne Übertreibung: Dieser Mann bereitete wirklich fantastischen Kaffee zu. Shizuku hingegen hasste Kaffee und trank üblicherweise keinen. Für mich war das schwer nachvollziehbar – an ihrer Stelle hätte ich diesen Kaffee sicher von Kindesbeinen an mit Begeisterung getrunken.
»Shuichi.«
Als Isao die weiße Tasse, die bis zum Rand mit der schwarzen Flüssigkeit gefüllt war, auf ein Tablett gestellt hatte, signalisierte er mir mit dem Kinn, dass ich den Kaffee nun servieren könne.
Von dem Mangel an Kundschaft einmal abgesehen, wäre es ein Nachmittag wie jeder andere im Torunka gewesen.
Doch dann …
In dem Moment, als ich ihre Tasse auf den Tisch stellte, sah die Frau, die den Blick bislang gesenkt gehalten hatte, zu mir auf.
Aus unerklärlichem Grund riss sie ihre großen Augen auf und starrte mich an. Ihr Blick war so durchdringend, dass mir mulmig wurde, weil sie mich komplett zu durchschauen schien.
Sie stand langsam auf und ergriff plötzlich fest mit ihren kalten Händen meine eigenen. Ich war völlig überrumpelt. Unvorhergesehene Ereignisse überforderten mich immer. Dann sagte sie mit einer Stimme, als könne sie es nicht länger zurückhalten: »Endlich habe ich dich gefunden.«
Ja, das waren tatsächlich ihre Worte gewesen.
Mit meinen Händen noch in den ihren, stand ich der Frau mit offenem Mund gegenüber und brachte keine Antwort hervor.
Einen Moment lang herrschte völlige Stille im Café.
»Hm, was? Shuichi-kun, kennt ihr euch etwa?«
Shizuku, die bereits in der Küche verschwunden war, kam mit voller Geschwindigkeit zurückgetrabt und sah uns beide abwechselnd an.
Ich schüttelte heftig den Kopf.
»Nicht, dass ich wüsste.«
Ich musterte unseren Gast erneut und kramte in meinen Erinnerungen. Meine Kommilitonen, Bekanntschaften aus meiner Heimat, entfernte Verwandte. Doch ich war mir sicher, die Frau vor meinen Augen noch nie gesehen zu haben.
»Entschuldigen Sie …«, begann ich, und entriss ihr meine Hände. Sie hatte sie weiterhin mit ihren blassen, kalten Fingern fest umschlossen gehalten.
»Entschuldigen Sie vielmals, aber darf ich fragen, wer Sie sind? Es tut mir aufrichtig leid, wenn mir mein Gedächtnis bloß einen Streich spielen sollte – haben wir uns denn schon einmal getroffen?«
»Nein, haben wir nicht«, sagte sie, etwas leise, aber deutlich. »Doch ich kenne dich schon sehr lange.«
Ihre Intensität ließ mich unwillkürlich einen halben Schritt zurückweichen
»Wie bitte?«
»Mein Name ist Chinatsu Yukimura.«
»Oh, äh … ich heiße Shuichi Okuyama.«
»Freut mich, dich kennenzulernen.«
»Ganz … meinerseits?«
Ich war völlig durcheinander. Mit etwas derart Unberechenbarem konfrontiert zu werden, ließ Menschen schlichtweg erstarren. Selbst Shizuku war nur in der Lage, dem Ganzen mit heruntergeklappter Kinnlade zuzusehen.
»In diesem Leben begegnen wir uns zum ersten Mal, aber in einem früheren Leben haben wir uns gekannt.«
»In einem früheren Leben?«
»Wir …«
An dieser Stelle lachte sie schüchtern und errötete, als würde sie sich für etwas schämen. Dann fuhr sie fort, in einem Ton, als würde sie ein großes Geheimnis offenbaren:
»In unserem früheren Leben waren wir ein Paar.«
Sie spielte beschämt mit einer Haarsträhne und kicherte leise.
Der Tag neigte sich dem Ende zu und das Café wurde rasch von dem bernsteinfarbenen Schein der Laternen erleuchtet. In dieses schwache Licht getaucht, fand ich mich auf einmal am Tisch sitzend dieser Frau gegenüber wieder – was ich vor allem Shizuku verdankte. Mit den Worten »Was stehen wir hier eigentlich so herum?« hatte sie fest meinen Arm ergriffen, so jeglichen Fluchtversuch meinerseits unterbunden und mich neben sie auf einen Stuhl gezwängt. Es war offensichtlich, dass sie die Situation genoss.
»An mir ist nichts verdächtig, versprochen …«, fuhr die Unbekannte, die sich nun als Chinatsu Yukimura vorstellte, fort, und hätte dabei verdächtiger nicht klingen können. Doch sie schien sich zum ersten Mal, seit sie mich erblickt hatte, etwas beruhigt zu haben, und murmelte nun wieder so leise wie zu Beginn ihres Besuchs.
»Also, Chinatsu-san … Ist okay, wenn ich dich so nenne, oder? Chinatsu-san, Shuichi-kun war dir bis eben wirklich völlig unbekannt?«, fragte Shizuku und stellte wie so oft ihre einnehmende Art unter Beweis.
»Ja, vollkommen.«
»Aber du sagst, dass du ihn in einem früheren Leben gekannt hast?«
»Genau.«
Shizuku verdrehte die Augen und warf mir einen verstohlenen Blick zu.
»Kannst du dich daran … etwa nicht erinnern?«
»Also, offen gestanden, ich verstehe nicht einmal, was du da eben von dir gegeben hast«, schoss ich zurück, nicht mehr in der Lage, meinen Missmut verstecken zu können, und wurde dafür prompt unter dem Tisch von Shizuku mit einem festen Ellbogenstoß in die Flanke bestraft.
Wollte sie mir etwa eine Rippe brechen? Ich warf Shizuku einen finsteren Blick zu und die wiederum zeigte mit dem Kinn auf Chinatsu. Unser Gegenüber ließ sichtlich niedergeschlagen den Kopf hängen, als habe sie gerade das Ende der Welt mitangesehen. Ich kratzte mich an der Schläfe und seufzte.
»Wo haben wir uns denn kennengelernt?«
»Ende des 18. Jahrhunderts, auf den chaotischen Straßen von Paris, während der Französischen Revolution.«
Ihre düstere Miene von eben hatte sich in Luft aufgelöst und sie strahlte.
»Uoh!« Shizuku gab ein komisches Geräusch von sich, das mich an ein Tier erinnerte.
Chinatsu ließ sich davon nicht beirren und fuhr fort.
»Du weißt nicht, wie sehr ich mich nach dir gesehnt habe, Sylvie …«
»Wie bitte?«
»Sylvie. So hießt du damals.«
»Ich war eine Frau?«
»Ja.«
Sie nickte und lächelte zufrieden.
»Uooh!«, ertönte erneut ein seltsamer Laut an meiner Seite.
»Ich war ein Mann namens Étienne Apert. Und du, Sylvie Soleil, warst reizend wie ein kleines Vögelchen, aber trotzdem tapferer als jeder noch so abgehärtete Soldat.«
Wie amüsiert Shizuku von der Situation war, konnte ich mir gut vorstellen, doch als ich einen Blick Richtung Tresen warf, kicherte selbst Isao mit gesenktem Kopf und zuckenden Schultern still in sich hinein.
»Als wir uns zum ersten Mal sahen, warst du noch ein unschuldiges Mädchen, kaum achtzehn Jahre alt. Aber Sylvie, in dir hat ein Feuer gebrannt …«
»Ja, okay, das haben wir alle verstanden! Bitte zum nächsten Teil der Geschichte.«
Ich war vom bloßen Zuhören hochrot angelaufen.
»Ich war ein bettelarmer Schornsteinfeger. Zum ersten Mal begegnet sind wir uns im Jardin du Luxembourg, weißt du noch? Du warst auf dem Weg zurück von der Schule und mit einem einzigen Blick hattest du mir mein Herz geraubt …«
»Uoh!«, meldete sich die Oberschülerin an meiner Seite erneut zu Wort.
»Ich habe mir in schlaflosen Nächten den Kopf darüber zerbrochen, wie ich dich nur ansprechen soll, und jeden Tag im Park auf dich gewartet. Und dann, eines Tages, eines schicksalhaften Tages! Plötzlich begann es, fürchterlich zu regnen und deine zarten Schultern wurden ganz nass – und bevor ich mich versah, war ich bereits an deine Seite geeilt, den Regenschirm fest in der Hand …«
»Ach so, verstehe«, unterbrach ich hastig ihren Monolog, während dem sie alles um sich zu vergessen haben schien. »Ich glaube, ich habe genug gehört. Du sagst also, dass wir … was war es gleich, Sylvie und Étienne waren? Und die zwei waren damals ein Paar. Habe ich das richtig verstanden?«
»Ja, ganz genau. Es gleicht wirklich einem Wunder, dass wir uns wiedergefunden haben …«
Auf einmal standen dicke Tränen in ihren Augen. Sie holte ein Taschentuch hervor, zartrosa, wie es einem jungen Mädchen gefallen würde, und tupfte sich die Augenwinkel.
»Nehmen wir mal an, das alles stimmt. Auch wenn du dich vollständig an dein früheres Leben zu erinnern scheinst – wie kannst du dir so sicher sein, dass ausgerechnet ich diese Person war? Schließlich erinnere ich mich überhaupt nicht.«
»Nun ja, wie soll ich sagen … das wurde mir klar, als unsere Blicke sich trafen.«
»Das nennt man Schicksal!«, rief Shizuku und lehnte sich nach vorne.
»Ja …«
Chinatsu lächelte verlegen und nippte an ihrem Kaffee. Dann begann sie, fest an den Strähnen ihres Ponys zu zupfen, als ob sie damit die Röte um ihre Augen verdecken wollte.
»Ich war bloß ein ungebildeter Schornsteinfeger, aber du warst weise und hattest deine Aufgabe gefunden, also hast du mir geduldig alles erklärt, die Schrecken der Monarchie und das Potential der Aufklärung, und mir erzählt, wie wichtig es ist, dass wir gerade jetzt, in diesem Moment der Geschichte, aufstehen und kämpfen. Wir haben uns nach dem Niedergang des Ancien Régime gesehnt und zusammen mit so vielen anderen einen Aufstand begonnen.«
»Ancien …?«
Shizuku und ich legten gleichzeitig den Kopf zur Seite, woraufhin Isao, der bisher nur gelauscht hatte, sich an uns wandte.
»Das Ancien Régime. Das gesellschaftliche System der absoluten Monarchie in Frankreich zur Zeit der Krönung von Louis XVI. Es würde euch beiden guttun, ein bisschen mehr Geschichte zu studieren.«
Chinatsu sah lächelnd zu Isao hinüber und meinte anerkennend: »Sie kennen sich wirklich gut aus. Der Kaffee ist übrigens auch wundervoll.«
»Nichts zu danken«, winkte dieser mit einem verlegenen Lächeln ab, woraufhin Shizuku, die scheinbar die Geduld verloren hatte, leise »Spanner« wiederholte. Chinatsu ging darauf jedoch nicht ein und wandte sich mir erneut zu.
»Wir waren nichts mehr als zwei unwichtige, gewöhnliche Bürger, doch in unserer Brust brannte die Hoffnung und die Sehnsucht nach Freiheit. Aber der Weg dorthin war steinig. Das Blut unzähliger Menschen wurde im Kampf dafür vergossen. In der Stadt türmten sich haufenweise die verwesenden Leichen …«
Sie schloss die Augen und schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf, als würde sie um die Gefallenen trauern.
»Inmitten des zunehmend ausartenden Konfliktes wurden auch wir schließlich von den Truppen der Regierung festgenommen und prompt ins Gefängnis gesteckt. Bis zum bitteren Ende habe ich den Wunsch im Herzen behalten, dass die Revolution Früchte tragen würde. Und Sylvie, dich habe ich natürlich nicht eine Sekunde lang vergessen. Hach, wie konnte es nur passieren, dass ich dich zurücklassen musste und einsam und alleine starb! Dabei hatten wir uns geschworen, dass wir nach der Revolution Hand in Hand den Sonnenaufgang anschauen würden, dass wir, auch wenn es uns nicht gegönnt sein mochte, gemeinsam unter der Erde liegen. Und dennoch …«
Sie bedeckte ihr nun vollends tränenüberströmtes Gesicht mit beiden Händen und fuhr fort.
»Sylvie, verzeih mir! Ich wollte mich schon so lange bei dir entschuldigen …«
Ich war mir sicher, in den einundzwanzig Jahren meines Lebens noch nie in einer derart absurden Situation gewesen zu sein. Vor meinen Augen weinte eine Frau bitterlich aufgrund von etwas, von dem ich absolut nichts wusste. Ich war so durcheinander, dass ich den Impuls unterdrücken musste, aufzuspringen und zu rufen: »Oh, ich erinnere mich!« Beängstigend, was die Tränen einer Frau auslösen können.
Doch selbst als Chinatsu, die sich dabei das Gesicht trockenwischte, kleinlaut fragte, ob ich mich denn wirklich an überhaupt nichts erinnerte, blieb ich standhaft und schüttelte still den Kopf – anders wäre die Situation sicher vollends aus dem Ruder gelaufen.
»Also wirklich, Sylvie, wie kannst du nur so kalt sein? Hast du denn tatsächlich deinen geliebten Étienne vergessen?«, fragte Shizuku eindringlich, die Chinatsus Tränen mehr mitzunehmen schienen als mich.
Doch die Unterhaltung blieb festgefahren. Als draußen vor dem Fenster bereits ein tiefes Dunkelblau herrschte, wurden wir schließlich von dem Eintreten zweier Gäste zum Aufstehen gezwungen.
»Tut mir leid, dass ich heute so überraschend aufgetaucht bin«, sagte Chinatsu abschließend und machte Anstalten, zu gehen.
»Chinatsu-san, komm gerne wieder! Vielleicht erinnert sich Shuichi-kun ja bald an euch«, rief Shizuku ihr nach.
Der Star des Cafés Torunka neigte dazu, zu viel zu versprechen.
»Meinst du wirklich?«
»Absolut!«
Chinatsus tränennasses Gesicht strahlte auf einmal wie das eines Geburtstagskindes.
»Vielen herzlichen Dank. Das freut mich sehr.«
Das wird was werden, dachte ich und seufzte. Doch ich konnte nicht die Kraft aufbringen, der Entscheidung unseres Stars etwas entgegenzuhalten. Nachdem Shizuku Chinatsu vor der Tür verabschiedet hatte, wandte sie sich, stolz das Kinn nach oben reckend, ihrem Vater zu.
»Siehst du, ist doch was Interessantes passiert.«
Auch das Café Torunka blieb über den Jahreswechsel geschlossen, also verbummelte ich einige Tage in dem beengten Zimmer meiner billigen Wohnung.
Meine Freunde von der Universität besuchten ihre Familien oder waren verreist. Aufgrund meiner familiären Situation fuhr ich nicht nach Hause. Obwohl ich, seit ich zum Studium nach Tokio gezogen war, nicht einmal meine Familie besucht hatte, erkundigten sich meine Eltern kaum nach mir. Ich fühlte mich daher kaum verpflichtet, nun zu ihnen zu fahren. Außerdem versuchte ich tunlichst, unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen.
Die ersten Tage im Januar verbrachte ich vor dem Fernseher und schaltete die ausschließlich zu lauten Sendungen nicht ab, auch nachdem sie mir schon lange auf die Nerven fielen. Außer mir gelegentlich Kaffe zu kochen, gab es in dieser Zeit eigentlich nichts, was ich aus eigenem Antrieb tat.
Durch die Arbeit im Torunka war ich inzwischen selbst in Bezug auf Kaffee wählerisch geworden und hatte mir für zuhause extra eine elektrische Kaffeemühle und einen Handfilter gekauft. Anfangs hatte ich zugegebenermaßen keinen großen Unterschied geschmeckt, doch nachdem Isao mir in den ruhigen Stunden im Café das nötige Grundwissen vermittelt hatte, verstand ich nun, was eine sorgfältig aufgegossene Tasse Kaffee ausmachte.
Laut meinem Chef spielten die Wahl der Bohnen und die Qualität der Utensilien zwar eine große Rolle, aber der wichtigste Aspekt bei der Zubereitung von gutem Kaffee war schlicht und einfach, sich die nötige Zeit zu nehmen.
Ich stellte fest, dass ich bloß auf die korrekte Brühzeit achten musste, nach der ich den Handfilter von der Kanne nahm, damit sich der Geschmack vollkommen veränderte. Seitdem ich ein Gespür für diese Feinheiten entwickelt hatte, war ich überrascht von dem großen Unterschied zwischen meinem Kaffee und dem von Isao. Selbst wenn wir die gleichen Bohnen nutzten, war das Endresultat im Abgang nicht zu vergleichen.
Nichtsdestotrotz war ich der Meinung, mich mittlerweile stark verbessert zu haben. Ich plante zwar nicht, später einmal mein eigenes Café zu eröffnen, aber eine gute Tasse Kaffe schlug nun mal nichts. Außerdem gab es wenig sonst, für das ich Interesse aufbringen oder auf das ich stolz sein konnte. Eine Prise Besessenheit würde man mir also sicher nachsehen. So war es also gekommen, dass ich auch zuhause in der Lage war, guten Kaffee aufzubrühen, auch wenn mein Können lange noch nicht an das von Isao heranreichte.
Doch als ich an Neujahr alleine in meinem Zimmer an meiner Tasse nippte, schmeckte ich gar nichts.
Das letzte Neujahrsfest hatte ich an Megumis Seite verbracht. Selbst zum Jahreswechsel waren wir nicht nach draußen in die Kälte gegangen, sondern hatten uns unter den Kotatsu gekuschelt und ferngesehen. Nach zwölf hatte ich uns Kaffee gemacht und wir hatten mit den Tassen aus Hagi-Keramik angestoßen, die ich erst kurz zuvor voller Begeisterung gekauft hatte.
Megumi hatte einen Schluck meines damals noch nicht besonders guten Kaffees getrunken, gelächelt und gesagt: »So ist das Neujahrsfest auch mal schön.« An dieses Lächeln und ihre Stimme erinnerte ich mich auch ein Jahr später noch, als sei es gestern gewesen.
Wir hatten uns vor etwa drei Monaten getrennt. Oder, treffender ausgedrückt, sie sich von mir. In den Wochen danach hatte ich mich wie in einem Kokon verpuppt und wohl ziemlich furchtbar ausgesehen. Auch den beiden im Torunka hatte ich damit große Unannehmlichkeiten bereitet und vor allem Shizuku, die sich gerne um andere kümmerte, machte sich immer noch Sorgen um mich.
In Momenten wie diesen dachte ich immer noch an Megumi. Die erste Beziehung ist sicher für alle Menschen ein prägendes Erlebnis. Vielleicht konnte ich sie auch deshalb nicht vergessen, weil ich sie so allumfassend geliebt hatte. Oder ich war lediglich der sentimentale Typ, der die Vergangenheit nicht loslassen konnte. Aktuell war ich in einer schwierigen Phase, in der ich mich manchmal damit beschwichtigte, dass schließlich erst drei Monate vergangen waren, und manchmal erbärmlich fühlte, weil ich das Ganze immer noch mit mir herumtrug.
Mir fiel ein, dass ich an dem Tag, an dem ich mit Megumi zusammengekommen war, auch zum ersten Mal das Torunka besucht hatte.
Vor zwei Jahren im Spätsommer, in meinem ersten Jahr in Tokio.
Auf dem Rückweg von der Universität hatten wir uns wie so oft dazu entschieden, noch irgendwo hinzugehen. Ich wusste selbst nicht genau, wieso, aber wir verstanden uns gut und verbrachten viel Zeit miteinander, sowohl an der Uni als auch außerhalb. Wir waren zwar nicht offiziell ein Paar, bewegten uns aber in dem ungewissen Bereich von »wahrscheinlich mehr als nur Freunde«.
An diesem Tag hatte sich Megumi gewünscht, dass wir Tokios Unterstadt besuchen, also gingen wir in die Yanaka Ginza, die nicht weit von meiner Wohnung lag. Die Sonne stand bereits tief, aber es war noch viel los und dutzende Menschen suchten nach einem netten Plätzchen für das Abendessen. Es fühlte sich seltsam an, die enge, belebte Straße, die noch ihre Atmosphäre aus der Showa-Zeit behalten hatte, entlangzulaufen – nostalgisch und gleichzeitig erfrischend.
In einem kleinen Geschäft kauften wir Kroketten und stopften uns beim Spazieren die Münder voll. Auf etwa halber Höhe der Straße flitzte auf einmal eine getigerte Katze vor unseren Augen vorbei und verschwand in einem schmalen Seitengässchen.
Wir folgten ihr, als ob sie uns den Weg wies. Die Gasse war so eng, dass wir nicht mehr nebeneinander passten. Auf beiden Seiten reihten sich Wohnhäuser aneinander. Vor ihnen waren etliche Kinderfahrräder abgestellt, sicher, weil auf den Grundstücken selbst kein Platz blieb. Zwischen den Telefonmasten waren derart viele Leitungen gespannt, dass ich beeindruckt davon war, wie wenig sie ineinander verheddert waren.
Mit Megumi voran liefen wir die Gasse entlang und stießen an deren Ende auf ein Gebäude, das so alt war, dass ein großer Teil der Fassade mit Efeu bedeckt war. Es hatte ein spitz zulaufendes Dach, wie bei einer Berghütte, war ganz in einem schlichten Braun gehalten und schien statt einem Wohnhaus ein Café zu beherbergen.
»Sieh an, in dieser Sackgasse gibt es tatsächlich ein Café.«
Ohne meine Antwort abzuwarten, ging Megumi beherzten Schrittes auf das Café zu und spähte durch die verglaste Tür.
»Innen sieht es auch gut aus. Wollen wir rein?«
Wir öffneten die Tür, an der ein Schild hing, auf dem Café Torunka stand, und traten ein.
Wie ich von außen vermutet hatte, war innen recht wenig Platz und es gab, den Tresen ausgenommen, nur fünf Tische. Für ein Café an einem derart schwer auffindbaren Ort war es ziemlich gut besucht und alle Plätze, bis auf einen Tisch genau in der Mitte, waren belegt.
Megumi schien sofort Gefallen an dem Laden gefunden zu haben und zu glauben, hier über einen Geheimtipp gestolpert zu sein. Nachdem man uns zum Tisch geführt hatte, ließ sie den Blick schweifen, kicherte, als sie die geschmackvolle Holzmaske an der Wand entdeckte, und sagte: »Ob sie die wohl irgendwo in Afrika gekauft haben? Der schläfrige Gesichtsausdruck erinnert mich ein bisschen an dich, Shuichi-kun.« Danach blieb sie an dem pinkfarbenen Münztelefon hängen, das vor der Toilette aufgestellt war, machte große Augen und kommentierte: »Wow, dass es so etwas noch gibt!« Sie kam aus dem Staunen kaum heraus.
Ich tat es ihr gleich, doch mein Blick glitt dabei immer wieder zurück zu der Frau auf der anderen Seite des Tisches, die sich freute wie ein Kind. Megumi lachte viel. Ganz natürlich, ohne einen Hauch von Bosheit, als würde ihr Lächeln überlaufen.
Hach, ich liebte diese Frau.
In diesem Moment hatte mich die Erkenntnis getroffen.
Bisher hatte ich mich mein Leben lang noch nie wirklich in jemanden verliebt. Meine Eltern betrieben gemeinsam eine Hostess-Bar, aber sie hassten sich eigentlich schon seit meiner Kindheit. Sie waren nur auf dem Papier Mann und Frau, um den Schein aufrechtzuerhalten und für den wirtschaftlichen Vorteil des Betriebs, pflegten aber beide Beziehungen zu jüngeren Liebhabern und lebten generell so, wie ihnen gerade der Sinn stand. Vielleicht rührte es von diesen Erlebnissen, dass ich nicht verstanden hatte, was es bedeutete, jemanden zu lieben. Schon seit langer Zeit war ich besorgt gewesen, dass ich mich nie verlieben würde.
Doch seit ich Megumi an der Universität in Tokio kennengelernt hatte, ihre Heiterkeit und ihr unbekümmertes Lächeln, war ich mehr und mehr davon überzeugt, dass das, was ich für sie empfand, Liebe sein musste. Für mich war diese Feststellung etwas so Großes und Wertvolles, dass ich vor Freude hätte weinen können.
Auch an diesem Abend auf dem Nachhauseweg, als wir nachts durch die Straßen liefen, war ich noch immer im Bann der Gefühle, die mich im Café plötzlich ergriffen hatten. Ich gestand sie ihr, ohne groß darum herumzureden. Vielleicht ist »gestehen« das falsche Wort – vielmehr purzelten die Worte einfach aus meinem Mund heraus.
»Ich freue mich. Endlich hast du es gesagt.«
Megumi verzog das Gesicht, als müsste sie lächeln und dabei gleichzeitig die Tränen zurückhalten.
»Darauf habe ich so lange gewartet.«
Kurz darauf bemerkte ich im Torunka einen Zettel, der darauf hinwies, dass sie Verstärkung suchten, und ich bewarb mich auf der Stelle, da ich ohnehin auf der Suche nach einem Nebenjob war. Obwohl ich nicht einmal einen Lebenslauf dabeihatte, war Isao sofort bereit, mir eine Chance zu geben.
Megumi kam oft als Gast im Café vorbei und wartete dort, bis meine Schicht vorbei war. Shizuku und Isao zogen uns gerne damit auf, wie schön es sei, dass wir uns »so gut verstanden«, doch während ich nur betreten dastand, entgegnete Megumi an meiner Seite mit breitem Lächeln einfach: »Ja, richtig gut!«
Sicher würde sie das Torunka nun jedoch nie wieder besuchen. Nie mehr außer Atem in der Tür auftauchen, nie mehr mit einer Tasse Kaffee am Tisch sitzen und auf mich warten.
Man weiß etwas erst wirklich zu schätzen, wenn man es verloren hat – so abgedroschen das auch klingen mag, habe ich doch genau so empfunden, nachdem Megumi mich verlassen hatte.
Auf diese Erkenntnis hätte ich verzichten können.
Das Neujahrsfest zog an mir vorüber.
Am ersten Sonntag nach den Feiertagen tauchte Chinatsu Yukimura ein zweites Mal auf.
Shizuku war an diesem Tag unterwegs, also waren nur Isao und ich im Café, worüber ich im Nachhinein sehr froh war.
Seit dem Vorfall Ende Dezember wollte sie mich nämlich ständig mit Chinatsu verkuppeln und lag mir mit Kommentaren wie »Shuichi, so eine Begegnung bedeutet etwas!« in den Ohren.
Besorgt hatte ich sie einmal gefragt, ob sie denn wirklich an die Geschichte glaube.
»Na ja, verwunderlich finde ich es schon. Aber selbst wenn sie die Sache mit dem Liebespaar in Paris während der Französischen Revolution nur geträumt hat, von mir aus. Außerdem ist sie total hübsch. Ich frage mich, wie alt sie ist, ein bisschen älter als ich vielleicht? Diesmal wird alles gut laufen, denn jetzt hast du ja mich als Beistand!«, lautete ihre enthusiastische Antwort. Sie schien wirklich einen Narren an der Frau gefressen zu haben, denn jedes Mal, wenn ich Shizuku sah, fing sie wieder davon an. Shizuku war eben noch eine Schülerin und von solchen Geschichten wohl mehr angetan, als ich angenommen hatte. Vielleicht fand sie die ganze Sache auch einfach amüsant.
Als ich bemerkte, dass es Chinatsu war, die gerade das Café betreten hatte, erstarrte ich. Anders als bei ihrem letzten Besuch war im Café viel los und ich wollte unbedingt vermeiden, dass sich vor all den Leuten wieder eine Szene abspielte. Doch zu meiner Überraschung blieb sie direkt vor mir stehen und verbeugte sich tief.
»Ich möchte mich aufrichtig für mein Verhalten letztes Mal entschuldigen.«
»Oh, äh, ja?«, brachte ich in meiner Verwirrung hervor.
»Außerdem, ähm, habe ich etwas mitgebracht. Bitte genießt es doch gemeinsam.«
Sie holte eine Schachtel hervor. Das Papier, in das sie eingewickelt war, sah aus wie das von dem langjährigen Laden für japanisches Konfekt auf der Yomise-dori.
»Oh, danke.«
»Magst du süße Sachen etwa nicht?«, fragte sie, scheinbar besorgt, dass ich das Geschenk zurückweisen würde.
»Doch, doch, sehr gerne.«
»Ach so. Dann bin ich froh.«
Ihr Gesicht entspannte sich zu einem Lächeln. Dann zog sie erneut mit den Fingern an den Haaren auf ihrer Stirn, als wolle sie ihre Augen dahinter verstecken. Es schien eine ihrer Marotten zu sein.
»Wohnen Sie hier in der Gegend?«, fragte Isao, der hinter uns die Situation beobachtet hatte und auf dessen ernstem Gesicht sich nun ein Lächeln ausbreitete.
»Mehr oder weniger. Gegenüber vom Bahnhof.«
»Es freut mich, dass Sie unser Café gefunden haben. Wir sind nun mal da, wo wir sind, also finden uns nur sehr wenige Leute, die nicht aus der Nachbarschaft stammen.«
»Na ja, diese Katze …«
Sie zögerte so sehr, dass ich nervös wurde.
»Hm?«
»Eine Katze ist vorbeigerannt. Ich bin ihr nach und dann …«
»Ach so, verstehe« antwortete Isao mit einem bitteren Lächeln.
»Tut mir leid.«
»Ach, dafür brauchen Sie sich doch nicht zu entschuldigen.«
Während mein Chef sie hastig beschwichtigte, war ich innerlich beeindruckt, dass sie auf die gleiche Weise zum Café gefunden hatte wie ich, ließ es mir aber natürlich nicht anmerken.
Herr Takita, ein älterer Mann, der an einem Tisch saß und gern und viel redete, mischte sich unverblümt in die Unterhaltung ein.
»Was war das mit der Katze? Die ist hier in die Gasse und Sie sind hinterher? Das ist ja wie bei Alice aus dem Tal der Winde.«
Natürlich war das Quatsch. Isao und ich berichtigten ihn wie aus einem Munde: »Sie meinen Alice im Wunderland. Das im Tal der Winde war Nausicäa.« Und Alice war ja keiner Katze gefolgt, sondern einem Hasen.
Nachdem Chinatsu ihre kurze Begrüßung abgeschlossen hatte, nahm sie auf einem der Stühle am Tresen Platz und trank still einen Kaffee. Sie regte sich derart wenig, dass sie mir vorkam wie eine Skulptur. Dann stand sie plötzlich auf, verbeugte sich leicht und ging.
Ich war tatsächlich ein bisschen enttäuscht von ihrem wortlosen Abschied. Isao klatschte mir auf die Schulter und sagte mit einem vielsagenden Lächeln:
»Vielleicht übertreibt sie es etwas damit, erwachsen wirken zu wollen, aber ich glaube, sie hat das Herz am richtigen Fleck. Ist es für dich nicht langsam Zeit, wieder offen für etwas Neues zu sein?«
Der Kommentar versetzte mich in Staunen. Scheinbar sorgte sich sogar Isao auf seine Weise um mich. Oder es ging ihm wie seiner Tochter und er fand die Situation einfach amüsant.
»Aber ausgerechnet sie ist vielleicht ein bisschen …«
»Natürlich glaube ich nicht an diese Geschichte mit dem früheren Leben. Aber sie ist kein schlechtes Mädchen, das weiß ich.«
»Und woher weißt du das?«
»Was glaubst du, wie viele Leute ich in diesem Café habe kommen und gehen sehen? Nach zwei Unterhaltungen habe ich jeden durchschaut.«
»Ich weiß nicht, ob ich dir das abnehme …«
Er antwortete mir nur mit einem selbstsicheren Schmunzeln.
Ab dann kam Chinatsu ohne Ausnahme einmal pro Woche ins Torunka.
Immer sonntags, meistens am Nachmittag, wenn sich das Café etwas leerte. Das hieß jedoch nicht, dass sie hier etwas Besonderes tat.
Jedes Mal trank sie ihren Kaffee, starrte Löcher in die Luft oder las Bücher wie Sara, die kleine Prinzessin, Der geheime Garten oder Anne auf Green Gables, die offensichtlich dem Geschmack eines viel jüngeren Mädchens entsprachen. Wenn sich gelegentlich unsere Blicke trafen, lächelte sie schüchtern – ich hingegen fühlte mich jedes Mal innerlich ganz aufgewühlt. Dann, ein bis zwei Stunden später, spätestens, wenn die Sonne unterging, brach sie so wortlos auf, wie sie erschienen war.
Doch dieser Eindruck täuschte. Sobald man auch nur entfernt an diese Geschichte ihres früheren Lebens rührte, war sie wie ausgewechselt. Ich wollte davon natürlich nichts hören. Doch es gab dabei einen Störfaktor – Shizuku. Die mochte aufgrund einer glücklichen Fügung bei Chinatsus zweitem Besuch nicht anwesend gewesen sein, doch seitdem passte Shizuku jedes Mal, wenn die andere Frau auftauchte, eine gute Gelegenheit ab, um sich neben sie zu setzen und begeistert auszufragen.
»Das war am Abend nach dem Sturm auf die Bastille. Wir haben zusammen mit der Revolutionsarmee auf einem großen Platz ein Feuer angezündet, getrunken und unsere Kameradschaft vertieft.«
»Wow, und dann?«
»Sylvie und ich haben Hand in Hand in die lodernden Flammen geblickt. Dann haben wir uns geschworen, dass wir nach diesem Krieg heiraten werden. Ich kann nicht in Worte fassen, wie wunderschön Sylvies Profil im Feuerschein ausgesehen hat …«
»Hör auf, da werde ich vom Zuhören ja ganz rot!«
So lief es jedes Mal ab.
Immer diese verträumten Geschichten, von denen ich beim Zuhören beinahe Sodbrennen bekam. Es glich den Fantasien eines pubertierenden Mädchens, die sich die perfekte Romanze ausmalte. Das schien so weit gediehen zu sein, dass sie inzwischen den Unterschied zwischen Realität und Wahn nicht mehr verstand.
Ich konnte es nicht länger ignorieren.
»Entschuldige, aber …«