Die Teufelsinsel - Einar Kárason - E-Book

Die Teufelsinsel E-Book

Einar Kárason

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Beschreibung

Ein Baracken- und Glasscherbenviertel in Islands Hauptstadt Reykjavík. Wilde Säufer, verarmte Bauernsöhne, angejahrte Nutten bestimmen das Bild. Dicht unter dem Polarkreis treibt die Anarchie üppige Blüten. Statt Selbstmitleid und Resignation herrschen jedoch trotzige Ironie, brutale Lebensfreude und bedenkenslose Liebe. Statt der Edda glauben die Akteure lieber an Elvis Presley. Echte Helden sind diese Verlierer, und ihr Slum ist zugleich eine Goldgrube, in der eine seltsame Aufbruchsstimmung herrscht. "Die Teufelsinsel" bescherte Einar Kárason national und international den Durchbruch, der Roman wurde erfolgreich verfilmt.

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Seitenzahl: 309

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Ein Baracken- und Glasscherbenviertel in Islands Hauptstadt Reykjavík. Wilde Säufer, verarmte Bauernsöhne, angejahrte Nutten bestimmen das Bild. Dicht unter dem Polarkreis treibt die Anarchie üppige Blüten. Statt Selbstmitleid und Resignation herrschen jedoch trotzige Ironie, brutale Lebensfreude und bedenkenslose Liebe. Statt der Edda glauben die Akteure lieber an Elvis Presley. Echte Helden sind diese Verlierer, und ihr Slum ist zugleich eine Goldgrube, in der eine seltsame Aufbruchsstimmung herrscht.

EINAR KÁRASON, geboren 1955, ist einer der wichtigsten skandinavischen Autoren der Gegenwart. Berühmt wurde er durch seine Trilogie »Die Teufelsinsel«, »Die Goldinsel« sowie »Das Gelobte Land«. Sein Roman »Sturmerprobt« stand auf der Shortlist des Nordischen sowie des Isländischen Literaturpreises. Für »Versöhnung und Groll« erhielt er den Isländischen Literaturpreis. Kárason lebt in Reykjavík.

EINAR KÁRASON BEI BTB: Versöhnung und Groll. Roman (75252) Sturmerprobt. Roman (73859) Feindesland. Roman (73482)

DIE TRILOGIE AUS DEM WILDEN NORDEN: Die Teufelsinsel. Roman (74234) Die Goldinsel. Roman (74235) Das Gelobte Land. Roman (74236)

Inhaltsverzeichnis

Licht in der FinsternisIst das dein oder mein Südwester?Hoch leben Kauris Recken!– Ich?! Einen Scheißdreck wollt’ ich hier wohnen!Eine gefrorene Blutlache, und gackerndes Gelächter in den FlammenMit der Goldmedaille auf der BrustEinsam im Alten Haus?!Zäh und entschlossen wirst du auf deinem Wege gehn.Summertime BluesEpilogCopyright

Diese Geschichte ist nicht erlogen,obwohl Ereignisse und Personen erfunden sind.

Ich widme dieses Werk meinem FreundThorarin Oskar Thorarinsson.

– Here is another fine messyou’ve gotten me into, Aggi boy –

Licht in der Finsternis

Beim ersten Weihnachtsfest im Alten Haus verlor die Familie jede Orientierung. Bis dahin hatte Weihnachten allenfalls aus ein paar Kerzen bestanden, einem Kartenspiel und ein paar zusätzlichen Happen Gesäuertem zum Abendbrot, irgendwo in einem Torfkotten oder einer feuchten Hütte; so war es gewesen seit Menschengedenken, ein Jahrhundert nach dem anderen, länger als tausend Jahre, von der Zeit an, als der erste Landnehmer vom Kurs abgekommen und an dieser Insel gestrandet war. Die Ahnmutter im Haus, die Wahrsagerin Karolina, hatte es dank ihrer Gerissenheit und ihrer Kungelei mit der weltlichen Obrigkeit verschiedener Güteklassen geschafft, nie ohne ein Dach über dem Kopf dazustehen oder Hungers zu sterben während eines jener Polarwinter, mit denen der Herr dieses Land beglückte; und wenn man Weihnachten zum Angedenken an den feiern sollte, der das Leben schenkt, dann war das in den Augen der Wahrsagerin nichts als ein schlechter Witz. Hahaha! Oder Tomas, der als Ernährer der Familie galt: schon immer pflegte er sich Weihnachten volllaufen zu lassen. Das kam von dem unsteten Leben in seiner Jugend und den Fahrten über die sieben Weltmeere, und auch aus dem Gefühl der Einsamkeit, das sich am ehesten an Weihnachten rührt, wenn einer keinen Menschen hat außer vielleicht andere Einsame, welche die Reederei für dasselbe Schiff angeheuert hat. Und in all diesen Jahren, seit er sich an Land niedergelassen und Lina aufgehört hatte, in den morastigen Straßen der Hauptstadt herumzustreunen, und sie heirateten, war Weihnachten eine fast peinliche Angelegenheit, denn beide waren sie über die Maßen hochfahrend; entweder alles oder nichts sollte es sein; und in ihrer kleinen dunklen Hütte gab es nie etwas anderes als einen Haufen Kinder, dazu noch nicht einmal alles eigene; die Kinder hinterließ Linas Schwester, die nicht so gerissen mit der Obrigkeit hatte umgehen und kungeln können und sich von diesem Jammertal und ihrer vaterlosen Brut verabschiedet hatte. Nur eins der Kinder gehörte Lina selbst, die Gogo, aber sie wurde geboren, lange bevor Tommi ins Spiel kam.

Jedoch waren die heute längst keine Kinder mehr; inzwischen zählten zur Familie die Kinder, die Gogo während der letzten sechzehn Jahre von verschiedenen Ausländern bekommen hatte; drei der am Leben gebliebenen wohnten bei Lina und Tommi und nannten sie Oma und Papa. Dolli war die Älteste, schon eine junge Dame mit einem Verehrer an der Hand. Dann die beiden Jungen: Baddi, der Augenstern aller, elf Jahre alt, dunkel, ein lebhafter Kerl mit sprühenden Augen, und die älteren Weiber sahen in ihm schon den kommenden Herzensbrecher. Und Danni; neun Jahre, große Füße, Einzelgänger. Ein Griesgram, sagten viele. Danni hieß oft bloß: Der Andere.– Was für ein goldiger Kerl, der Baddi, sagten die Leute. Und die kinderlieben unter ihnen fügten nach einer kurzen Pause hinzu: –Der andere ist wohl mehr in sich gekehrt.

Lina und Tommi hatten keine gemeinsamen Kinder und beklagten sich nicht darüber, dass sie Gogos gottgesegnete Brut aufzogen, derweil sie sich weiterhin mit den Ausländern amüsieren konnte. Und jetzt hatte es sich gar so ergeben, dass sie einen Ausländer heiratete, einen Sohn des reichsten Landes der Erde. Darunter tat sie es nicht. Offenbar ruhte Gottes Auge wohlgefällig auf den Amerikanern, denn ihnen fiel alles zu; und die Güte des Herrn war so unermesslich, dass die Sonne seiner Gnade Linas und Tommis Dasein erleuchtete, als Gogo den Ami heiratete. So gründlich, dass sie diesmal Weihnachten im neuen, eigenen Haus feierten.

Jeder trug seinen Sonntagsstaat. Auf dem Weihnachtstisch prangte ein amerikanischer Truthahn und drinnen in der Stube der schönste künstliche Weihnachtsbaum des Landes, silberfarben, von oben bis unten mit Lametta und Flitter behängt. Kistenweise wurde der Weihnachtsschmuck ins Haus geschleppt, und in jeder Ecke stapelten sich die Geschenke. Für Tommi war es die höchste Stufe irdischen Glücks, an einem solchen Feiertag in seinem eigenen Haus sitzen zu können, im Sonntagsanzug und mit einer Zigarre. In diesem Stil lebten die Edlen des Landes, und zu denen rechnete Tommi sich nicht und würde nach seinem Dafürhalten auch weiterhin nicht dazugehören. Doch an diesem Abend saß der alte Recke in einem braungestreiften Ministeranzug drinnen in der Stube im Lehnstuhl und öffnete das Geschenk seiner Stieftochter Gogo; in dem Päckchen war eine ganze Kiste großer schwarzer Zigarren. Als Tommi die erste davon anzündete, erschauerte er in einem wundersamen Glücksgefühl und wurde sich bewusst, was hier geschah. Den Rest des Abends saß er schweigend, lächelte kindisch und qualmte; die Rauchwolke war so dicht, dass man kaum die Wand gegenüber erkennen konnte, aber der edle Herr paffte weiter; er schluckte den Rauch, und fast schluckte er die Zigarre dazu, und als er gegen Mitternacht aufstand, wurde ihm schwarz vor Augen, und schwankend schaffte er es gerade noch bis ins Bett, wo er die nächsten Stunden zubrachte mit Schüttelfrost wegen der Nikotinvergiftung. Auch Dolli erkrankte in dieser Weihnachtsnacht, litt unter fürchterlichen Magenkrämpfen; der Doktor meinte, sie hätte vor lauter Aufregung Verdauungsschwierigkeiten bekommen. Der jungen Dame wurde Rizinusöl verordnet. Und wie sie sich schämte! Die alte Lina hatte immer für Glitzer und farbenfrohe Kleider geschwärmt, obwohl es nie zu mehr gereicht hatte als zu naturfarbener Schafwolle. Jetzt hatte sie von Gogo ein Kleid mit großen Rosen bekommen und eine Perlenkette und ein Armband, und diese weltgewandte Frau fiel in Trance, stand nur vor dem Spiegel und erblickte darin Königin Viktoria von England in vollem Ornat. Sie versuchte es mit noch mehr Schmuck, hängte sich Christbaumkugeln in die Ohren, drehte sich Lametta um den Kopf, steckte sich Bethlehemssterne und farbige Vögel an, und als der Arzt, der wegen Dolli kam, die Wahrsagerin so sah, glaubte er, eine Verrückte vor sich zu haben, und traute sich kaum ins Haus. Die Jungen bekamen Boxhandschuhe geschenkt und droschen immer wilder aufeinander ein, je mehr es in die Nacht ging. Keiner dachte an die Kerzen, die überall in der Stube brannten, und als alle eingeschlafen waren, fing der Tisch vor dem Sofa Feuer und dann die Kiste mit dem bunten Papierabfall, und die Stube war schon voll Flammen und Rauch, als Baddi zum Glück wach wurde, weil er aufs Klo musste, und Oma und Papa wecken konnte. Tommi langte nach einem halb vollen Abfalleimer unter dem Waschbecken, hielt ihn unter den Kaltwasserhahn und schüttete das Ganze über die Flammen, rannte dann in die Küche, um den Eimer wieder zu füllen, doch unterdessen war Lina in die Waschküche gelaufen, wo in einem großen Bottich mit Wasser ein paar Schürzen zum Einweichen lagen. Mühelos stemmte sie den Bottich hinüber in die Stube und leerte ihn über dem Feuer aus, das zischend und rauchend erlosch. Später sollten die Jungen diesen Bottich in der Waschküche noch oft vollaufen lassen und versuchen, ihn hochzuwuchten, doch das war unmöglich zu schaffen, denn voll wog er mehr als hundert Kilo, und es schien übernatürlich, dass Lina ihn gehoben haben sollte. Sie baten die Alte, ihren Kraftakt zu wiederholen, aber die sagte nur püh und Jessesmaria und wollte nichts davon hören. Sie fragten Tommi, ob es wahr sei, und dessen Blick verlor sich in der Ferne, er massierte seine Geheimratsecken und meinte: – Ja, damals hat sie uns gerettet, Mensch. Die Hütte wäre zu Schutt und Asche verbrannt! Doch ansonsten, sagte Tommi, wolle er am liebsten nicht weiter daran denken: Er bekäme sonst nur Angst vor der Dunkelheit.

Und seitdem wurde im Hause nicht mal mehr ein Kerzenstummel angezündet, Kerzen waren verfemt und verbannt, waren Höllenwerkzeug. Einmal kamen Leute, die Kerzen zugunsten von Witwen und Waisen verkaufen wollten und Lina ihre Ware anboten, doch sie beschimpfte diese wohltätigen Menschen als Brandstifter und ließ sie mit Steinwürfen aus dem Viertel vertreiben.

Das erste Weihnachtsfest war verdorben; Abfall, triefende Überbleibsel und Ruß in der guten Stube, und die ganzen nächsten Tage lief die Familie wie verkatert herum. Hinterher durfte man kaum an das Spektakel erinnern; von da an war Weihnachten die ruhigste Zeit des Jahres, ein wahres Fest des Friedens und der Freude. Ein Licht in der Finsternis.

Ein Licht in der Finsternis. Das Alte Haus war umgeben von Baracken. Ein Licht…

… entflammt in der Dunkelheit, die wie ein pechschwarzer Schleier über der Zeit und der kalten Erde liegt.

Ein frostiger Windstoß vom Gipfel des Gletschers.

Die Wellen des Ozeans brechen sich dunkel brausend am Strand.

Und dort war das Licht: im Fenster jenes grauen Hauses, das bereits das Alte Haus hieß seit dem Tage, da es aus dem Kies emporwuchs.

Das Alte Haus sprühte vor Leben. Essensgeruch aus der Küche. Glühende Hitze vom Ofen. Der Familie schien nichts unerreichbar, denn sie betrachtete die Welt als ihre Heimat; fuhr riesige chromglänzende Straßenkreuzer, welche als größte Leistung westlicher Industrieproduktion galten. Und die vom Alten Haus setzten sich in Flugzeuge, in donnernde glitzernde Stahlvögel, die die Dunkelheit über dem Meer spalteten und ihren Weg fanden zu anderen Lichtquellen, Zeugen eines Lebens irgendwo auf den Ebenen der Kontinente. Und selbstverständlich führten alle Wege wieder zum Alten Haus zurück, das von Stimmen und Tönen schwirrte: in der Küche gemurmelte Weissagungen und Zaubersprüche. In der einen Stube über dem dampfenden Kaffee ein fröhlicher Harmonikawalzer. Jemand erzählte mit unsicherer Stimme Lügengeschichten. Kinder sangen, weinten und lachten, und flotte Burschen mit Schmalzlocke und Sonnenbrille schnipsten mit den Fingern im Takt des kernigen Rock ’n’ Roll.

– Geht die Welt unter?, fragte man.

Wie dem auch sei; einmal stirbt jeder, und eines dunklen Tages wurde sogar das Alte Haus ausradiert. Dennoch gelang es jemandem, das Licht zu retten und es aus den Ruinen mit sich zu tragen…

Eigenartig.

Was war so eigenartig an dieser Familie? Lag es vielleicht an der Herrscherin selbst, Karolina der Wahrsagerin, die seit der Zeit, als sie in den morastigen Straßen der Hauptstadt herumgestreunt war und die Bewohner der Häuser mit ihrem Keifen in Angst und Schrecken versetzt hatte, in dem Ruf stand, wunderlich zu sein?

Damals hatte sie ihre Gogo bei sich, das einzige Kind, das sie je in ihrem Leben bekommen sollte; Gogo, das Fundament der gesamten Großfamilie. Der Großmacht. Gogo glich ihrer Mutter vielleicht im Aussehen, doch ansonsten war sie anders als die meisten in dieser trübsinnigen Stadt, da sie immerzu lächelte, und die Lebensfreude in ihrem Blick erhellte ihre Umgebung. Eigenartig. Denn Karolina die Wahrsagerin war nun weiß Gott beinhart – nie sah jemand sie lächeln – , laut und nörglerisch, und darüber hinaus galt sie als verdammt kundig in schwarzer Magie. Es grenzte an Zauberei und Wunderwerk, wie sie es schaffte, am Leben zu bleiben, nur mit ihrem Kind und völlig alleinstehend, nachdem sie ihre nächsten Verwandten verloren hatte, Mutter und Schwestern, die ihr nichts hinterließen als Kinder. Allein zog sie herum, mit Gogo und all diesen hageren Waisenkindern, und es war allgemein bekannt, dass sie über lange Zeiten hinweg weder Essen noch Geld noch ein Dach über dem Kopf hatte, selbst als Epidemien und Wetterkatastrophen das Land heimsuchten und die Welt im Feuer des großen Krieges loderte.

Doch wann beginnt nun die Geschichte der Familie? Vielleicht mit Karolinas eigener Geburt, denn sie war die Älteste. Falls man überhaupt davon sprechen kann, jemand sei die Älteste in einer Familie: Natürlich hatten auch die Eltern von Lina ihre eigene Geschichte und deren Eltern vor ihnen und so fort und fort. Nein, näher läge es, die Geschichte damit beginnen zu lassen, wie Lina Tomas heiratete, der ebenfalls allein in der Welt stand, jedoch alles auf die leichte Schulter nahm, wie Männer eben werden, wenn sie über Jahre hinweg die sieben Weltmeere befahren und dabei kein anderes Ziel im Leben kennen, als es sich auch den folgenden Tag möglichst gutgehen zu lassen. Als Tommi heimkam, verlieh er der Stadt einen gewissen Glanz, als geschickter Tänzer und anständiger Ringer. Die beiden fanden einander. Er und diese Frau mit einem so zweifelhaften Ruf, dass man Tommi wegen dieser Heirat seine feine Stellung aufkündigte: Verkäufer im Schuhgeschäft.

Dann fing er an, als fliegender Händler für diesen und jenen Geschäftsmann Waren zu verkaufen, und zog mit einem Pferdewagen durch die Stadt, was man als unerhört und fast grotesk ansah. Und eine Weile schien es Tommi selbst grotesk, aber er fand keinen Ausweg aus diesem Dilemma und ging schlicht saufen; Tommis Zechtouren müssen reichlich lang und ausschweifend gewesen sein, und jedes Mal versammelte sich um ihn eine Horde fröhlicher Männer, alle kamen mit ihm nach Hause, wo Lina sie mit Verwünschungen begrüßte, denn sie glaubte, dass einer, der trinkt, von bösen Geistern besessen ist, und es gab Tumult und Schlägerei in der Hütte, wo sie in jenen Tagen hausten. Und wenn Lina der Party ein Ende gemacht hatte, belegte sie die Saufkumpane mit einem Fluch; angeblich sollte dieser Fluch sehr wirkungsvoll sein, und die Kumpane versuchten, dem zu entkommen, doch Lina verfolgte sie mit ihren Verwünschungen und Bannsprüchen, und schließlich wagte keiner mehr, mit Tommi zu saufen, geschweige denn mit ihm heimzugehen, und er streifte allein umher, betrunken und verzweifelt. Erst in den Jahren der Weltwirtschaftskrise minderte sich seine Einsamkeit beim Trinken. Obwohl man behauptet, es habe weniger an der Krise gelegen, dass die Kumpane wieder mit Tommi auf Tour zogen, sondern vielmehr an den Mädchen in seinem Haushalt, die inzwischen zu jungen Damen herangewachsen waren, vielversprechende und gefällige junge Damen, hübsch und freigebig mit ihrer Gunst; vielleicht erhofften Tommis Zechgenossen, als Draufgabe zur Festivität ein junges Mädchen ins Bett zu kriegen. Unter Umständen kam das auch so, und böse Zungen deuteten an, dass Lina jetzt nicht mehr in gleichem Maße gegen die Lustbarkeiten anging, weil diesen Ehrenmännern in Gegenwart leichtbekleideter junger Mädchen das Geld locker saß, ebenso wie andere wertvolle Dinge, die der Haushalt während der mageren Jahre dringend benötigte.

Ja, man hielt sie für begehrenswert, diese jungen Damen, Linas Nichten; indes galt Gogo als eine Besondere, und mancher bot für sie seine gesamte Habe. Aber Gogo war wählerisch, und als sie ein Kind bekam, stammte es nicht etwa von irgendeinem Tölpel in Stiefeln und Schlupfmütze. O nein, das Kind war von einem italienischen Fliegerhelden, der nahe der Stadt zwischenlandete. Und das Kind, ein Mädchen, erhielt einen italienischen Namen: Dorothea Guiccardini. Das war also Dolli, und anscheinend reichte ihre Vaterlandsliebe weiter als die ihrer Mutter, denn sie benutzte diesen italienischen Namen nie, lernte nicht einmal, ihn auszusprechen.

Gogo hielt sich weiter an die Ausländer: Ein Mädchen, das bei der Geburt starb, wurde einem finnischen Sportler zugeschrieben. Danach verlobte sie sich mit einem jungen Dänen von einem Schulschiff, und lange nachdem es mit geblähten Segeln abgefahren war, gebar Dolli ein winziges und kränkliches Mädchen, das in der Nottaufe den Namen Ulla erhielt, doch gleichwohl überlebte.

Gogo war voller Mutterliebe zu ihren Kleinen; trotzdem ließ sie sich durch deren Krankheit und Tod nicht aus dem Gleichgewicht bringen, sie blieb lebensfroh und locker und scheute sich nicht, weitere halbausländische Kinder in die Welt zu setzen: Einige Monate vor der Besetzung durch die Alliierten ging sie mit ihrem ersten Sohn schwanger, Baddi, der ihrer Meinung nach von einem deutschen Dirigenten stammte, einem hochgebildeten Mann. Und der Sohn erhielt dessen germanischen Namen: Bjarni Heinrich Kreutzhage.

In diesen Jahren existierte das Alte Haus noch nicht. Die gesamte Großfamilie wohnte in einer miesen Hütte, später »Alte« Hütte genannt, weil sie nach dem Abriss des Alten Hauses in die »Neue« Hütte zogen…. Baddi nannte die Hütte nachher Auschwitz, und Tommi sagte, sie hätte ursprünglich als Nebengebäude zu einem Bauernhof namens Kleinkotten gehört, der seinen Namen zu Recht trug. Außerdem wurde Tommi eines schönen Tages Abstinenzler und hörte auf, die paar Kronen zu versaufen, die der Haushalt ergatterte. Dennoch gab es nach wie vor viel Armut bei ihnen, genau wie in den umliegenden Hütten. Wie ein eigenes Dorf lagen sie außerhalb des eigentlichen Stadtgebietes draußen auf den Moorwiesen. Langsam, aber sicher kroch die Stadt auf diesen Häuserhaufen zu, der Namen und Nummern bekam wie andere Stadtviertel auch, und demnach wohnte die Familie von Lina und Tommi in Kleinkotten 7c. Als die Bebauung schließlich das Viertel um Kleinkotten erreichte, brachte sie die große Welt im Gefolge mit: Die Besatzungstruppen der Alliierten ließen sich in nächster Nähe nieder, errichteten Kasernen, ihre barracks, was die Isländer bald zu Baracken veränderten, und die wie Tonnen aussahen, auf der Seite liegend und halb in der Erde vergraben. Die alliierten Truppen fuhren Jeeps und redeten in Sprachen, die kaum jemand verstand, mit Ausnahme einiger Weltbürger wie zum Beispiel Tomas, der Jarl von 7c; der schob abends mit den Händen in den Hosentaschen ins Camp Thule, um mit den Englishmen über solche großartigen Handels- und Hafenstädte wie Cardiff oder Aberdeen zu plaudern, da, wo er jede Hafenkneipe noch aus der Zeit des Ersten Weltkriegs kannte. Lina äußerte sich eher abschätzig über die Alliierten: – Wieso haben die überhaupt ihren fetten Arsch bewegt und reißen jetzt hier das Maul auf?!, fragte sie. –Der polnische Korridor gehört den Deutschen! Die Damen im Hause hielten wahrscheinlich zu den Engländern, da sie häufig zu Visiten in die Kasernen gingen – womöglich um Fragen der Weltpolitik zu diskutieren – , oder die Soldaten kamen auf Besuch in die Alte Hütte, zeitweise wurde ein Zelt draußen auf der Wiese aufgeschlagen, und später sagte Dolli, Tommi habe jedenfalls nicht an Schlafstörungen gelitten: Während der Kriegsjahre schlief und schnarchte er, obwohl in jedem Bett ringsum das Liebesgetümmel wogte.

Dann kamen die Amis, die Taschen überquellend von Dollars, und mit einem von ihnen bekam Gogo ihr fünftes Kind, Danni, der den Namen seines Vaters erhielt: Frank Daniel Levine, später Tomasson.

Gogo ließ die Zeit nicht ungenutzt; gerade 26 Jahre alt, war sie Mutter von fünf Kindern, und gegen Kriegsende fügte sie noch eine Tochter hinzu. Doch die Geschichte endete tragisch, denn als die Kleine gerade einen Monat alt war, wurde auch die Hütte von einer Epidemie heimgesucht, und das Kind starb, ebenso wie die kleine Ulla, die immer so schwächlich gewesen war. »Es gibt Samen, die niemals Blumen werden…«

Die Baracken waren eigenartige Bauten, obwohl angeblich das Ergebnis intensivster Anstrengungen der talentiertesten Architekten in Europa. Spottbillig und einfach aufzustellen. Zwei Halbkreise aus Holz als Giebelwände und dazwischen ein wellblechverkleidetes Gerüst. Drinnen auf dem gletschergeschliffenen Erdboden Reykjaviks eine Schicht Holzplanken. Ein Kohleofen, ein Schornstein oder auch nur ein Ofenrohr durchs Dach.

Während der Kriegsjahre strömten die Menschen in die Hauptstadt, denn bei den Alliierten gab es Arbeit für alle. Unter anderem beim Aufbau dieser Baracken. Ganze Stadtviertel wucherten über die Kiesflächen, aus der Ferne betrachtet wie die Zeltstadt bei der Tausendjahrfeier des Althing. Die größten Viertel waren jedoch viel mehr als nur Provisorien: gewaltige Militärlager mit Munitions- und Warendepots, Luftschutzkellern und unterirdischen Gängen. Auch ein Gefängnis gab es dort, Kantine, Kino, Clubs und Geschäfte.

Doch in den Baracken wohnten nur Soldaten. Die einheimischen Arbeiter wanderten ruhelos von einem Kellerloch zum nächsten, die Familien schliefen in Torfhütten oder Zelten. Kinder wurden in Ställen geboren.

Die Glücklicheren unter ihnen besaßen genug, um eine immense Miete zu bezahlen. Andere blieben draußen im Dreck. Arbeiter mit einem Haufen Kinder und kranken Frauen. Alleinstehende Mütter standen nicht eben in hohem Ansehen, am allerwenigsten, wenn ihre Kinder von Ausländern stammten. Patriotische und progressive Zeitungen berichteten stolz, dass isländische Bürger Vereine gründeten mit dem Ziel, diejenigen Mädchen zu ächten, denen man Umgang mit Soldaten nachsagte: keine Einladungen zum Tanz mit Harmonikamusik. Viele Arbeiter gingen vor die Hunde, versoffen ihren ganzen Lohn, sogar ihre gesamte Habe. Andere wurden bei Arbeitsunfällen zu Invaliden oder erkrankten an Lungenentzündung, TBC und ähnlichen Folgen von Kälte und Feuchtigkeit. Familien lösten sich auf. Seeleute kamen um in den Orkanen und Torpedoangriffen auf dem Meer und ließen ihre Witwen und Waisen mittellos und unversorgt an Land zurück. Mit Schaudern betrachteten die ehrenhaften Bürger diese Heerschar von Armen, welche die Straßen der Stadt füllte. Doch draußen in der Welt geschah es, dass die Deutschen im Krieg mattgesetzt wurden; somit konnten die Alliierten ihre Besatzung aufheben und sich verabschieden. Zurück blieben die Baracken. Wohnung für die Armen.

Tralleluja!

Wer soll ein kleines Land in einer Welt voller Gefahren behüten? Die Amerikaner betrachteten solches als ihre Pflicht und boten militärischen Schutz für die nächsten hundert Jahre, sogar bis in alle Ewigkeit; sie holten sich jedoch eine Abfuhr. Gogo mangelte es an einem Ehemann, und sie suchte ihn unter den Amerikanern, allerdings nicht gerade zu einem günstigen Zeitpunkt, weil alle das Land verlassen sollten. Indes: das Militär ging die Sache gemächlich an und bekam für den Flugplatz in Keflavik ein mittelfristiges Nutzungsrecht auf sechs Jahre.

Während dieser Nachkriegsjahre verbrachte Gogo lange Stunden bei Fest und Gesang unten auf dem Flughafen, und dort traf sie schließlich den Richtigen, fast sechs Jahre nach dem Fall Berlins. Einige Monate später wurde der Vertrag über die Militärbasis erweitert, verbessert und auf unbestimmte Zeit verlängert, und somit traf es sich gut, dass die Amerikaner in der Zwischenzeit einiges unternommen hatten, um sich häuslich einzurichten, Techniker und Unternehmer hingeschickt hatten, und einer von ihnen war Gogos Ehemann in spe: ein gemütlicher, wohlhabender Bulldozerfahrer um die vierzig mit Namen Charlie Brown.

Sie kam heim und präsentierte ihren Zukünftigen; Charlie war die Freundlichkeit in Person. Die beiden brachten für jeden ein Geschenk mit, und drei Wochen später richteten Lina und Tommi nach der Hochzeitszeremonie in Kleinkotten 7c eine Feier aus für die beiden.

In der Hütte gab es keinen Festsaal, doch das alte Paar tat sein Bestes, schrubbte alles von oben bis unten, und die Wahrsagerin buk Flachbrot und schmierte es mit Leberwurst und kochte den honigsüßen Milchkaffee gleich kannenweise. Außerdem lud man Gäste, hauptsächlich Nachbarn aus dem Kleinkotten-Viertel; die waren auf den Ami gespannt und erschienen vollzählig. Viel zu früh, traten von einem Fuß auf den anderen, als ob sie nicht zu bleiben gedächten, aber schließlich und endlich verteilten sich die Männer auf die Stühle und Sessel, ließen die Schnupftabaksdosen kreisen, und dann wurde geächzt, gestöhnt und gefurzt. Die Frauen sammelten sich in einer Ecke der Küche und redeten über Teuerung und Essensmarken. Alte Kerle, junge Burschen, Hausfrauen und junge Mädchen – alle waren sie gleich gekleidet: kurze Gummistiefel, Felljacke mit Kapuze und Fäustlinge mit einem zweiten angestrickten Daumen.

In diese Gesellschaft brachen die Amis ein wie Wesen von einem anderen Stern, Charlie und zwei seiner besten Freunde von der Airbase. Sie kamen in einem schwarzen Lincoln, modischen Anzügen, weißen Socken, hochglänzenden Mokassinschuhen, sonnengebräunt, nur Bürstenhaarschnitt und nach Old Spice duftend. Und die Braut erregte nicht weniger Aufsehen, geschminkt, die Haare hochgetürmt und in einem amerikanischen Brautkleid, schneeweiß und enganliegend. Sie trug einen langen weißen Schleier, den Dolli und ihre Freundinnen hochhalten sollten, aber da sie ihn nicht sorgsam behandelten und es überdies an jenem Tag in Strömen goss, schleifte der Schleier durch den Morast auf dem Vorplatz, als man ins Haus ging. Gogo lachte nur und küsste die Mädchen auf die Wangen, knüllte den Schleier zusammen und warf ihn in eine Ecke.

Ein frischer Wind folgte diesen Menschen, und da zogen die Isländer sich in ihr Schneckenhaus zurück, hockten schweigend herum, als fege ein kalter Nordsturm über sie hinweg. Doch die Amis hatten den Kofferraum voller Bier und Schnaps und einen Plattenspieler dabei, und bald dröhnten die Songs von Bing und Frankie und den anderen Stars aus Hollywood durch die Hütte. Tommi konnte zwar Englisch, wusste jedoch wenig mit diesen Westländern anzufangen, die noch nie in Cardiff oder Aberdeen oder überhaupt in Britannien gewesen waren. Mit Ausnahme von Gogo sprach keiner von den anderen Englisch, und viele hatten das Gefühl, dass die Amis sich über die Gäste lustig machten, wie sie so grinsend und lärmend dasaßen, wild gestikulierten und kurz und männlich lachten. Hahaha! Baddi war damals elf und der Einzige, der sich den Ausländern zu nähern wagte, sich zu ihnen setzte und alles genau verfolgte; Charlie war regelrecht begeistert von seinem neuen Stiefsohn und stellte ihn den beiden anderen Amis vor:

– This is Badie.

– Badie?!, wiederholten die lachend. – Hey, Badie, you must be a bad boy, havin’ that name. Hahaha!

– There is nothing against being a bad boy at your age, we’ve all been bad boys, haven’t we, Charlie?!

– We sure have!

– Hahaha!

Charlie am nächsten saß sein Freund Bob, ein Bursche um die zwanzig. Er war bereits angeheitert und machte Dolli schöne Augen. Sie lächelte zurück, sechzehn Jahre, schüchtern und errötend.

Danni dagegen hielt sich in angemessener Entfernung, und in seiner Erinnerung blieb das Fest als schwarzer Tag haften. Hin und wieder schaute er mit sorgenvoll gefurchter Stirn um die Ecke, und als Charlie versuchte, mit ihm zu plaudern, dem Jungen Süßigkeiten oder Geld zu geben, riss er sich los und lief hinaus. Erst am Abend fand man ihn, völlig verweint, im Stall des Bauernhofes. Er weigerte sich mitzugehen und schlug brüllend um sich, bis der alte Tommi kam und den Sohn seiner Stieftochter in den Arm nahm, ihm die Wangen streichelte und murmelte:

– Mein lieber kleiner Junge. Mein lieber kleiner Junge.

Das Fest in der Hütte dauerte den ganzen Nachmittag, und der Alkohol floss in Strömen. Allmählich tauten die Isländer ein wenig auf, obwohl die meisten immer noch bloß dasaßen und sich hin und her wiegten. Die Amis fingen an zu tanzen: Charlie tanzte mit Gogo und Bob mit Dolli, und das versprach Unheil, denn sie war mit dem ältesten Sohn auf dem Hof zu jener Zeit so gut wie verlobt. Dieser war ein schlaksiger Junge namens Gretar, mit Sommersprossen, hellrotem Haar und erstem Bartflaum. Gretar beobachtete den Tanz ziemlich finsteren Blickes und sah keinen anderen Ausweg aus der Lage, als sich zu besaufen. Dolli kehrte ihm den Rücken zu und tat, als sähe sie ihn nicht.

Gegen Ende des Festes holte Bob alle auf den Hofplatz und arrangierte sie zu einer Gruppe. Er wollte das Brautpaar und die Gäste fotografieren. In der Mitte die Neuvermählten, Charlie in seinem brandneuen amerikanischen Anzug und Gogo im Brautkleid, auf dem Bild beide lächelnd und glücklich. Neben ihnen das alte Paar und Dolli und Baddi. Dann die Nachbarn und Verwandten hinter und neben ihnen; es nieselte, und alle trugen ihre Felljacken, Handschuhe und Stiefel. Die Isländer betrachteten den Fotografen mit düsterer Miene.

Links auf dem Bild sieht man einen Misthaufen, einen Ford-Laster Modell 1922, einen altmodischen Heuwender und eine Scheune aus verrostetem Wellblech. Rechts sieht man Charlies Lincoln von hinten. Daran ein Schild mit der Aufschrift: JUST MARRIED.

Charlie hatte auf der Airbase eine Wohnung, und dort wollten er und Gogo vorläufig wohnen. Gegen Abend verabschiedeten sich das Brautpaar und die beiden anderen Amis. Bob hatte mit Dolli beim Good-bye etwas zu tuscheln, und das war mehr, als Gretar ertrug, er stürzte sich auf Bob, nahm ihn in den Schwitzkasten und schleuderte ihn mit einem Hüftwurf in den Dreck. Dolli kreischte, und Bob sprang auf die Beine, die Fäuste zum Boxen erhoben, doch Charlie packte ihn, flüsterte ihm etwas zu und schaffte schließlich den tobenden Freund in den Wagen, der den Kies aufwirbelte und vom Hof schoss. Baddi schaute dem Straßenkreuzer verzückt hinterher.

Was für ein gewaltiger Idiot Gretar war. Hatte er etwa geglaubt, jemand würde sagen, in diesem Kerl steckt doch eine gehörige Portion Kraft? Den Soldaten einfach hinzulegen! Da hatte er sich verrechnet. Die meisten fanden die Sache eher peinlich. So auf einen gutgekleideten Jungen loszugehen! Allerdings wurde die Angelegenheit von einem neuen Skandal in den Schatten gestellt; dem Ehestreit, der gleichzeitig mit dem Verschwinden des Lincoln losbrach. In der Hütte hörte man es krachen und splittern. Fia und Toti zankten sich.

Seltsames Volk, Fia und Toti. Snaefrid und Thorgnyr. Sehr seltsam, nicht zuletzt deshalb, weil das die Verwandten waren, mit denen die Familie von Lina und Tommi am meisten verkehrte. Kein Fest oder Kaffeeklatsch, bei dem Fia und Toti gefehlt hätten. Wenn man über Verwandtschaft oder Familie sprach, galt das Fia und Toti.

Die beiden wohnten stets in der Nachbarschaft von Lina und Tommi. Toti war der Neffe der Wahrsagerin, und trotz des jahrelangen Umgangs miteinander schien es, als schäme sich jede Familie der anderen.

Alle kannten die Geschichte von Fias und Totis erster Begegnung; Lina hatte sie oft in ihrer eigenen Version erzählt, und gerade an diesem Hochzeitsfest war Toti angeheitert genug gewesen, die ungewöhnliche Historie seiner eigenen Ehe zum besten zu geben.

Fia war damals zu einem Schlachtfest mit Tanz erschienen, das in einem alten Lagerschuppen abgehalten wurde; eine Bauerntochter von der Südhalbinsel und zum ersten Mal in der Hauptstadt. Ein pummeliges Heimchen vom Herd. Durfte in einem Lastwagen mitfahren, der Lämmer zum Schlachthof brachte, und abends nahm man sie mit auf diesen Ball, der zumeist von Landleuten besucht wurde, die in der Stadt zu tun hatten. Auf dem Podium quetschte eine Stimmungskanone aus Ostisland die Harmonika, und die Gäste tanzten Polka und Ländler. Fia konnte man kaum als hübsch bezeichnen; während der Heumahd saßen die Leute vom Lande nicht gerade vor dem Spiegel und pflegten sich. In ihren aschblonden Haaren fanden sich Spuren vom Melken und anderer Stallarbeit. Ihre Arbeitsklamotten ließen erkennen, dass zeitiger am Tag im Schlachthaus Blut geflossen war.

Totis Arme hingen wie zwei tote Haie von seinen Schultern herab. Er trug Stiefel, war schüchtern und eher tollpatschig, soff sich voll und vertrug wenig. Drehte halb durch, und wenn er den Mädchen schöne Augen machte, schien es ihnen, als wolle er sie vergewaltigen. Deswegen wurden ihm oft die Füße unter dem Leib weggetreten von den Kavalieren, die die Ehre ihrer Damen verteidigten. Und schließlich trafen die beiden zusammen, Toti und Fia; sie war bis dahin von keinem aufgefordert worden, und im Handumdrehen wälzten sich die zwei hinter einem Stapel Tonnen in der Toreinfahrt. Toti wurde das Gerangel schließlich zu strapaziös, und sie ließ ihn, schnarchend, auf dem Kies zurück.

Als Folge davon wurde Fia schwanger, und was sie betraf, gab es keinen Zweifel an der Vaterschaft. Sie hatte sich auf dem Ball erkundigt und erfahren, wer dieser junge Herr war, der da schnarchend hinter den Tonnen lag, und nun fuhr sie in Begleitung ihres Vaters, des Bauern, nach Reykjavik, wo man Toti aufsuchte.

Toti leugnete alles; der Alkohol vernebelte seine Erinnerung an das Geknuddel draußen in der Toreinfahrt, aber er mutmaßte, die junge Dame hätte es Tag und Nacht in der Scheune mit Stallknechten getrieben, die ebenso gut als Erzeuger in Frage kämen. Er war nicht zu bewegen. – Toti ist oft genauso starrköpfig wie sein bescheuerter Vater, sagte Lina häufig; und als das Kind geboren war, ein kräftiger und hübscher Junge, wurde es an ein kinderloses Ehepaar in Reykjavik weggegeben.

Drei Monate nach der Geburt des Kindes, ein Jahr nachdem Fia und Toti sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte sie wieder in der Stadt zu tun. Abends ein Ball am gleichen Ort. Die Stimmungskanone spielte auf. Toti war ebenfalls da und betrunken. Er und Fia reden miteinander und landen draußen in der Toreinfahrt. Und das Erstaunliche geschieht: Sie ist wieder schwanger.

Wie das so geht.

– Und dann habt ihr geheiratet?, fragte einer der Hochzeitsgäste, und Toti konnte das gerade noch bestätigen, da kam Fia zu ihm hinaus, wo er stand; sie warf ihm einen gestrengen Blick zu und bedeutete ihm, ihr nach drinnen zu folgen, und wahrscheinlich hatte er noch nicht genug getrunken, denn er gehorchte mit gesenktem Kopf. Mittlerweile war Toti Fia gegenüber meist fügsam; anfangs, nachdem er sich zu dem zweiten Kind bekannt und seinen Abschied von der See genommen hatte und die beiden sich in der Stadt niederließen, war das anders. In jenen Jahren war er häufig besoffen, und dann behandelte er Fia schlimm, suchte Händel. Doch resolut und hart wie sie war, bekam sie den Kerl allmählich in den Griff. Zu Hause wurde er ihr gegenüber scheu und unterwürfig, das ganze Jahr über, bis auf zwei oder drei Tage, da kippte er sich zu, und damit schwollen ihm Mundwerk, Mut und Dreistigkeit, Fia holte sich ein blaues Auge, und die Möbel gingen zu Bruch. Er lehrte sein Haus Mores, solange er noch das Feld beherrschte; endlich übermannte ihn der Schlaf, und er sank in sich zusammen, vielleicht nach zwei vollen Tagen Ausnahmezustand. Wenn er erwachte, waren Leib und Seele wie ein betautes Röslein auf der Heiden, das Panzer und Bulldozer von allen Seiten auf sich zurollen sieht; er wandte sich nicht einmal an Gott, sondern flehte bloß um Gnade, während Fia am Bett stand und mit einem nassen Scheuerlappen im Takt auf ihn einschlug und ihm alle Untaten aufzählte, die er auf dem Gewissen hatte. Und am Ende einigten sie sich, dass dergleichen nicht wieder vorkommen sollte.

Wahrscheinlich hatte Toti dort auf dem Hochzeitsfest nicht sonderlich viel getrunken, denn der Streit endete ohne Prügelei, und nachdem Fia sich bekreuzigt und mehrfach Jessesmaria geseufzt hatte, nahm sie ihren Toti am Arm und führte ihn mit sich heim.

Vielleicht lag der Grund für Totis Fügsamkeit aber auch woanders; Fia hatte ein neues und unerwartetes Druckmittel in der Hand: Sie war auf dem besten Wege, zum Krösus der Familie zu werden. Der Landbesitz ihrer Väter draußen auf der Südhalbinsel lag schon lange verlassen. Nachdem sie in die Stadt gezogen war, gaben ihre Eltern die Wirtschaft auf und starben wenig später, und keiner war da, der den Hof übernahm; sie hatte nur einen Bruder namens Gosi, und der kränkelte, ertrug das harte Landleben nicht und wohnte in Njardvik. Und der alte Besitz, das meiste davon unverkäufliches Lavagebiet, lag da – verlassen und niemandem zu Nutze.

Indes: es geschehen immer noch Zeichen und Wunder, und irgendwie kam heraus, dass Army und Nato seit langem dort zugange waren und etwas planten, das den Geschwistern eine immense Summe einbringen konnte, eine wahnwitzige Summe –ein astronomischer Betrag nach den Maßstäben von Kleinkotten.

Als sie sich nach dem Fest und dem Krach verabschiedeten, stand Tommi und schaute ihnen nach: Fia, klein und fett, in einem alten Männeranorak, wie sie Toti führte, ehedem ein hochgewachsener junger Mann, doch im Laufe der Zeit gedrückt und krumm geworden.

– Da laufen sie, die Geldsäcke, murmelte Tommi und schüttelte den Kopf.

Ist das dein oder mein Südwester?

Immer stehen die Paläste genau gegenüber den Baracken.

Tomas Jonsson

Gogo unterstützte das alte Paar auch weiterhin. Nichts brauchten sie mehr selbst zu kaufen. Alles strömte von der Militärbasis ins Haus. Karolina die Wahrsagerin bekam eine schwere Küchenmaschine, einen elektrischen Dosenöffner, Sahnequirl, Kartoffelschäler, Eierkocher und eine Apfelsinenpresse auf den Tisch des Hauses neben den Koksofen. Eines Tages kam ein Staubsauger von der Größe einer Öltonne in die Hütte, die die längste Zeit einen Lehmboden gehabt hatte. Dann folgten ein Radio und Möbel: eine riesengroße Eckgarnitur, Sofas, Lehnstühle, eine chromglänzende Essecke und ein Schlafzimmer mit getrennten Betten und einem Nachttisch dazwischen. Gogo bestellte sogar Gartengeräte nach Katalog, eine Heckenschere, Schläuche und einen Rasenmäher, und schenkte alles der Familie. Und das, obwohl sie keinen Garten hatten! Weiter kam zweimal wöchentlich ein Kofferraum voll mit Konserven, Keks, Tütensuppen und Süßigkeiten. Das ganze Zeug drohte Kleinkotten 7c zu sprengen.

Es waren wundervolle Zeiten. Und damit sollten die Herrlichkeiten dieser Welt noch nicht zu Ende sein, denn eines Tages erwarteten Tommi nach Abschluss seiner Verkaufsrunde große Neuigkeiten.

Es geschah drei Wochen nach der Hochzeit; Tommi hatte seine tägliche Runde im Camp Thule begonnen, das zu den größten Barackensiedlungen zählte. Er kam morgens mit dem Pferdewagen an, beladen mit Luxusgütern und Lebensnotwendigkeiten aus dem »Kolonialwarenhandel Gundi & Gisli«. Lebensmittel, Handschuhe, Stiefel, Süßigkeiten, Petroleum, Glühlampen und eine Blechkasse mit Wechselgeld.

Das Wetter war angenehm und der Alte wohlgelaunt und pfeifend, obwohl das Geschäft nicht so gut lief wie in den vornehmeren Vierteln, bevor dort eigene Geschäfte aufgemacht hatten. Inzwischen kam er schon so lange täglich ins Thulecamp, dass er nicht mehr zwischen den Baracken zu rufen und zu schreien brauchte, um auf sich aufmerksam zu machen; stattdessen konnte er sich in aller Ruhe mitten im Camp aufstellen, eine Zigarette rauchen und auf Kundschaft warten. Zudem wohnte er fast nebenan und kannte praktisch alle. Manche waren richtige Berühmtheiten, Hreggvid der Kugelstoßer erschien häufig auf den Sportseiten der Zeitungen, einer der besten Werfer des Landes. Gleichgültig ob Kugel, Diskus oder Hammer, alles schleuderte er über riesige Entfernungen. Am ehesten hatte er noch Schwierigkeiten mit dem Speer, der war einfach nicht handlich genug.