Die Textgeschichte des Epheserbriefes - Tobias Flemming - E-Book

Die Textgeschichte des Epheserbriefes E-Book

Tobias Flemming

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Beschreibung

Marcion änderte - anders als ihm vorgeworfen wurde - nichts am Laodicenerbrief der vorkanonischen 10-Briefe-Sammlung. Vielmehr entstand der neutestamentliche Epheserbrief durch eine redaktionelle Überarbeitung dieses Briefes im 2. Jahrhundert. Dies ist die zentrale Einsicht von Flemmings Studie zur Textgeschichte des Laodicener-/Epheserbriefes. Die Vorwürfe der Kirchenväter gegen Marcion werden zwar schon länger kritisch betrachtet, doch in diesem Buch wird erstmals aufgezeigt, dass der Text des für Marcion bezeugten Laodicenerbriefes als prioritär zum Epheserbrief der 14-Briefe-Sammlung gelten kann. Auf dieser Basis wurde ein neues textgeschichtliches Modell entwickelt, das auch die Frage nach der Adresse des Epheserbriefes ergründet. Insgesamt wird deutlich: Weil Marcion nichts am Laodicenerbrief änderte, ändert sich der Blick auf Die Textgeschichte des Epheserbriefes grundlegend.

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Tobias Flemming

Die Textgeschichte des Epheserbriefes

Marcion änderte nichts: Eine grundlegend neue Perspektive auf den Laodicenerbrief

Umschlagabbildung: XXX

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783772057380

 

Gefördert durch das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus (SMWK) sowie die Sächsische AufbauBank (SAB).

 

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0939-5199

ISBN 978-3-7720-8738-7 (Print)

ISBN 978-3-7720-0152-9 (ePub)

Inhalt

für meinen GroßvaterVorwort1 Einleitung2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand2.1 Fragestellung und methodisches Vorgehen2.2 Quellenlage und Forschungsstand zu Marcions Paulusbriefsammlung2.2.1 Vorwürfe gegen Marcion2.2.2 Die Kritik an der Kritik der Kirchenväter: Der Forschungsstand zu Marcions Textsammlung2.3 Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes2.3.1 Die Quellenlage: Handschriften und Kirchenväter2.3.2 Verschiedene Rekonstruktionen zur ursprünglichen Adresse des Epheserbriefes2.3.3 Zusammenfassung zum Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes3 Die Priorität der Laodicener-Adresse3.1 Die Erweiterung des Untersuchungsfeldes: Adresse und übriger Text, Makroebene der Paulusbriefsammlungen3.1.1 Die ursprüngliche Adresse des Epheserbriefes im Kontext der handschriftlichen Überlieferung und der weiteren Textvarianten des Epheserbriefes3.1.2 Die Adresse im Kontext der (Makro-)Ebene der Paulusbriefsammlungen3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 – der Epheserbrief?3.2.1 Identifizierungsversuche des Briefes ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,163.2.2 Das Verhältnis von Kolosser- und Laodicener/-Epheserbrief auf der literarischen Ebene3.2.3 Historisch-kritische Perspektive3.2.4 Fazit: Der in Kol 4,16 genannte Brief ἐκ Λαοδικείας ist der Epheserbrief.3.3 Die lateinischen Prologe zu den Paulusbriefen3.3.1 Der Verweis auf die Laodicener im Prolog zum Kolosserbrief3.3.2 Marcionitischer Ursprung?3.3.3 Die Prologe als Zeugnisse einer vormarcionitischen Paulusbriefausgabe3.3.4 Fazit: Die lateinischen Prologe als Argument für die Priorität der Laodiceneradresse3.4 Zusammenfassung: Die Laodicener-Adresse als ältester erreichbarer Text in Eph 1,14 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes4.1 Einleitung und Fragestellung4.2 Zum Forschungsstand der ‚marcionitischen‘ Paulusbriefsammlung4.2.1 Auf welchen Text griff Marcion zurück? Die Forschungsgeschichte zu Marcions Paulusbriefsammlung4.2.2 Kritik der Zuordnung von Marcions 10-Briefe-Sammlung zum ‚Westlichen Text‘4.3 Der Text des Laodicenerbriefes als ältester erreichbarer Text4.3.1 Einleitung4.3.2 Varianten mit größeren semantischen Unterschieden: Laod/Eph 2,14 und 5,284.3.3 Varianten mit mittelgroßen semantischen Unterschieden4.3.4 ‚Kleine‘ Varianten: Pronomina, Präpositionen etc.4.4 Zusammenfassung zur Priorität des Laodicenerbrieftextes5 Die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes5.1 Die Priorität der 10-Briefe-Sammlung gegenüber der 14-Briefe-Sammlung5.2 Die Überarbeitung der 10-Briefe-Sammlung bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung5.3 Ein Modell zur Überlieferungsgeschichte des Laodicener-/Epheserbriefes5.3.1 Überblick: Die Lesarten der 10-Briefe-Sammlung in den neutestamentlichen Handschriften5.3.2 Konflation als Ursache für das Vorkommen einiger Lesarten des Laodicenerbriefes in den Handschriften des Epheserbriefes5.3.3 Einordnung des entwickelten textgeschichtlichen Modells in die Diskussion um die Entstehung neutestamentlicher Textvarianten5.4 Zusammenfassung: Die Überarbeitung des Laodicenerbriefes bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung6.1 Einleitung und methodische Grundlegung6.2 Gründe für den Adresswechsel6.2.1 Das ‚Verschwinden‘ der Laodicener-Adresse und Offb 3,14–226.2.2 Gründe für das ‚Entstehen‘ der Epheser-Adresse6.2.3 Zusammenfassung zu den Gründen des Adresswechsels6.3 Die Überlieferungsgeschichte der Adresse6.3.1 Einleitung und überlieferungsgeschichtliches Modell6.3.2 Die ‚ursprünglichen‘ Formen der Adresse in Laod 1,1 und Eph 1,16.3.3 Textgeschichte – die Entstehung der adressenlosen Variante6.4 Zusammenfassung: Von der Laodicener- zur Epheser-Adresse7 Ausblick auf weiterführende Fragestellungen7.1 Marcions Theologie7.2 Ist eine Rekonstruktion des Laodicenerbrieftextes an nicht von den Kirchenvätern bezeugten Stellen möglich?7.3 Methodische Schlussfolgerungen für die neutestamentliche Textkritik7.4 Zusammenfassung des Ausblicks auf weiterführende Fragestellungen8 Zusammenfassung9 AbbildungenI. Handschriften ohne ἐν Ἐφέσῳ in Eph 1,1 (𝔅46 ℵ* B 6 424c 1739)II. Handschriften mit ἐν Ἐφέσῳ in Eph 1,1 (Beispiele)III. Karten Kleinasiens10 LiteraturverzeichnisI. EditionenII. HilfsmittelIII. Verzeichnis der zitierten ForschungsliteraturLiteraturverzeichnisRegisterverzeichnisBibelstellenregisterAltes TestamentNeues TestamentNeutestamentliche ApokryphenAntike Autoren

für meinen Großvater

Vorwort

Mein herzlicher Dank für das Entstehen dieser Dissertationsschrift gilt an erster Stelle meinem Doktorvater Professor Dr. Matthias Klinghardt. Durch sein leidenschaftliches Lehren und innovatives Forschen hat er mich motiviert, nicht nur – wie ursprünglich angedacht – Evangelische Religion ‚noch schnell‘ als Drittfach zu studieren, sondern einen Weg einzuschlagen, der zu dieser Arbeit führte. Sie wurde im Sommersemester 2019 von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden als Dissertationsschrift im Fach Evangelische Theologie angenommen. Für die Veröffentlichung wurde sie überarbeitet. Für die Begutachtung der Dissertationsschrift und vor allem auch die überaus wertvollen Hinweise zur Überarbeitung danke ich Herrn Professor Dr. Matthias Klinghardt (Dresden) und in besonderer Weise auch Professor Dr. Günter Röhser (Bonn) ganz herzlich.

Prof. Dr. Jan Heilmann hat als Leiter des Forschungsprojektes „Der Text der Erstedition des Neuen Testaments“ an der TU Dresden durch seine außergewöhnlichen fachlichen, didaktischen und persönlichen Kompetenzen das Werden dieser Arbeit entscheidend gefördert. Ihm danke ich ebenso besonders herzlich. Mein großer Dank gilt außerdem den Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Evangelische Theologie der TU Dresden für Ihre inhaltlichen Gedankenanstöße und ihre freundschaftliche Verbundenheit, vor allem Dr. Alexander Goldmann, Dr. Daniel Pauling, Dr. Nathanael Lüke, Adriana Zimmermann, Christine Hoffmann, Juan Garcés, Kevin Künzl, Fridolin Wegscheider, Oliver John, Dr. Anne Stricker, Maja Ebert, Philipp Müller und unserer Kaffeemaschine. Adriana Zimmermann danke ich außerdem besonders für das erste Korrekturlesen. Dr. David Trobisch hat mich während meines Studiums durch seine Bücher und bei seinen Forschungsaufenthalten in Dresden durch seine Denkansätze und seine Persönlichkeit sehr beeindruckt, auch ihm danke ich sehr.

Dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus und der Sächsischen Aufbaubank sei für die Finanzierung des Forschungsprojektes „Der Text der Erstedition des Neuen Testaments“ an der TU Dresden, an dem ich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig sein durfte, gedankt. Den Herausgebern der Reihe „Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter“ danke ich herzlich für Aufnahme in die Reihe. Vielen Dank auch an Stefan Selbmann und Tina Kaiser vom Verlag Narr Francke Attempto für ihre ausgesprochen hilfreiche Begleitung.

Dieses Buch widme ich meinem Großvater Ulrich Flemming, der mit seinem Wissensdurst und seiner Zuversicht ein großes Vorbild für mich ist.

Ich danke auch den Kolleginnen und Kollegen und meinen Schülerinnen und Schülern am Ehrenfried-Walther-von-Tschirnhaus-Gymnasium Dresden für ihre interessierte und zugewandte Art, die mich täglich neu inspiriert. Der größte Dank gilt meiner Frau und unseren Kindern für ihre überwältigende Unterstützung, ihre Geduld und ihr Wohlwollen.

 

Dresden, im Dezember 2021    Tobias Flemming

1Einleitung

Die Paulusbriefe lassen ein bestimmtes Bild des frühen Christentums entstehen. Doch wie sind die Paulusbriefe entstanden und welche Textgeschichte haben sie? Die neutestamentliche Wissenschaft steht hier auch gegenwärtig noch vor etlichen offenen Fragestellungen. Dies betrifft in besonderer Weise den Epheserbrief, denn der war in der Mitte des 2. Jahrhunderts mit einer anderen Adresse – und teilweise auch mit einem anderen Text – bekannt, nämlich als Laodicenerbrief. Kirchenväter wie Tertullian warfen Marcion, einem 144 n. Chr. aus der römischen Gemeinde ausgeschlossenen Christen, vor, den Epheserbrief verfälscht zu haben und so den Laodicenerbrief in die Welt gesetzt zu haben. Diese Information verdient besonders aus zwei Gründen Aufmerksamkeit: Zum einen ist dies die früheste datierbare Erwähnung des Briefes, den wir aus den neutestamentlichen Handschriften als Epheserbrief kennen; zum anderen wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend herausgearbeitet, dass die Paulusbriefsammlung Marcions – und damit auch der Laodicenerbrief – zum großen Teil einen Text bot, den nicht Marcion geändert hatte, sondern der auf eine ältere Textform zurückgeht.

Die vorliegende Arbeit geht nun in der Einschätzung des für Marcion bezeugten Textes des Laodicenerbriefes noch einen entscheidenden Schritt weiter. Die These, deren Plausibilität im Folgenden untersucht und diskutiert wird, lautet: Marcion änderte, anders als ihm vorgeworfen wurde, nichts am Laodicenerbrief, vielmehr entstand der neutestamentliche Epheserbrief durch eine redaktionelle Überarbeitung des Laodicenerbriefes.

Diese neue Perspektive auf den Laodicenerbrief wirft auch ein neues Licht auf andere textgeschichtliche Fragen wie beispielsweise das ‚Fehlen‘ der Adresse in einigen wichtigen Handschriften des Epheserbriefes in Eph 1,1Eph1,1 oder die Aufforderung an die Adressaten des Kolosserbriefes, sich einen Brief „aus Laodicea“ zu besorgen (Kol 4,16Kol4,16). Außerdem wird auch die Ebene der Paulusbriefsammlungen eine wichtige Rolle spielen, konkret das Verhältnis der für Marcion bezeugten 10-Briefe-Sammlung und der 14-Briefe-Sammmlung, die sich im Neuen Testament findet. Besonders zentral ist jedoch die Frage, ob sich die für den Laodicenerbrief bezeugten Textstellen als prioritär zum Text des Epheserbriefes verstehen lassen – und ob ersichtlich ist, aus welchen Gründen und bei welcher Gelegenheit der Text des Epheserbriefes entstanden ist.

Hierzu werden in einem ersten Schritt die Fragestellung, das methodische Vorgehen und der Forschungsstand vorgestellt (Kapitel 2), anschließend die Priorität der Laodicener-Adresse (Kap. 3) und des Textes des Laodicenerbriefes (Kap. 4) diskutiert, darauffolgend die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes (Kap. 5) und der Epheser-Adresse (Kap. 6) untersucht. Vor der Zusammenfassung wird außerdem noch ein Ausblick auf weiterführende, vor allem methodische Fragestellungen gegeben (Kap. 7).

Auch wenn am Ende sicher nicht alle Rätsel geklärt sind und die Erkenntnis bleiben wird, dass unser Wissen über die frühe Textgeschichte des Epheserbriefes fragmentarisch ist und bleiben wird, so verspricht ein neuer Blick auf den Laodicenerbrief Erkenntnisse darüber, wie das ‚Gebäude‘ des Epheserbriefes, dessen theologische Überlegungen ja in höhere, kosmologische Dimensionen hineinragen, ursprünglich ausgesehen hat.

2Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand

2.1Fragestellung und methodisches Vorgehen

Die zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit lautet: Wie lässt sich der Laodicenerbrief der 10-Briefe-Sammlung in die Textgeschichte des Epheserbriefes einordnen? Als Arbeitshypothese wird dabei angenommen: Der Text (mitsamt der Adresse) des Laodicenerbriefes, wie er für Marcions Paulusbriefsammlung bezeugt ist, ist älter als der Text des in den Handschriften überlieferten Epheserbriefes. Diese These zieht etliche weitere Fragen nach sich, die im folgenden Kapitel in einem ersten Überblick dargestellt werden sollen. Eine grundlegende Frage ist, welche Quellen für den Laodicenerbrief der 10-Briefe-Sammlung existieren und wie dieser rekonstruiert werden kann. Dies wird in Kap. 2.2 diskutiert („Quellenlage und Forschungsstand zu Marcions Paulusbriefsammlung“). Ein zweites fundamentales Forschungsproblem ist die handschriftliche Überlieferungsgeschichte der Adresse des Epheserbriefes. Hierzu werden in Kap. 2.3 („Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes“) die vielzähligen bisherigen Vorschläge vorgestellt.

Neben diesen beiden zentralen Forschungsfragen werden im Laufe der Untersuchung zahlreiche weitere Themenfelder angesprochen und miteinander verknüpft. Besonders wichtig sind hierbei:

das ‚Fehlen‘ der Adresse in einigen Handschriften des Epheserbriefes,

der in Kol 4,16Kol4,16 erwähnte Brief, den sich die die Kolosser „aus Laodicea“ herbeiholen sollen,

die Prologe zu den Paulusbriefen in einigen lateinischen Handschriften, in denen im Prolog zum Kolosser-Brief die Laodicener erwähnt werden,

die Einordnung des Textes von Marcions Paulusbriefsammlung in die Textgeschichte der neutestamentlichen Paulusbriefsammlung,

mögliche Erklärungen für die Übereinstimmungen des Texts von Marcions Paulusbriefsammlung mit Varianten der neutestamentlichen Handschriften,

die Entstehung der in den neutestamentlichen Handschriften vorzufindenden Paulusbriefsammlung, sowie auch

die Einbeziehung verschiedener Editionen bei textkritischen Überlegungen zu den Paulusbriefen.

All diese Themenfelder wurden in der neutestamentlichen Wissenschaft bereits diskutiert. Durch den neuen Blickwinkel der Priorität des Laodicenerbriefes werden sie nun jedoch erstmals miteinander verbunden, so dass hier alte Zuordnungen fraglich werden und ein neues Gesamtbild zum Vorschein kommt.

Der methodische Weg, um ausgehend von der heuristischen Annahme der Priorität des bei Marcion bezeugten Laodicenerbriefes ein plausibles Gesamtbild zu erarbeiten, ist es, möglichst alle verfügbaren, zur jeweiligen Fragestellung gehörenden Informationen zusammenzutragen und einem argumentativen Abwägungsprozess zu unterziehen – so wie es für historische Forschung üblich ist. Dieses Vorgehen wird an einzelnen Stellen durch bestimmte Methoden konkretisiert, beispielsweise einen ‚Canonical Approach‘ bei der Frage des in Kol 4,16Kol4,16 erwähnten Briefes „aus Laodicea“. Insgesamt kann es angesichts der relativ geringen Anzahl erhaltener Quellen für die Frühgeschichte der Paulusbriefe nicht darum gehen, das eine ‚richtige‘ Bild (‚wie es gewesen ist‘) zu rekonstruieren, sondern vielmehr darum, verschiedene Szenarien hinsichtlich ihrer Plausibilität zu überprüfen und zu vergleichen. Dafür wird im Folgenden in vier Schritten ein Szenario entwickelt, das die sich in der jüngeren Forschung abzeichnende Neubewertung von Marcions Textsammlung (vgl. dazu Kap. 2.2) noch einen Schritt weiterdenkt:

Kann das Problem der Adresse des Epheserbriefes gelöst werden, wenn dieser Brief ursprünglich als Brief an die Laodicener verfasst wurde? (Kapitel 3)

Wenn die Laodicener-Adresse ursprünglich ist, kann dann auch der Text des Laodicenerbriefes als prioritär zum Text des Epheserbriefes gelten? (Kapitel 4)

Wenn der Text des Laodicenerbriefes prioritär ist: Wie ist dann der Text des Epheserbriefes entstanden und wie ist die handschriftliche Überlieferung zu erklären? (Kapitel 5)

Wenn Adresse und Text des Laodicenerbriefes älter sind und der Epheserbrief bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung redaktionell überarbeitet wurde, lässt sich dann auf dieser Ebene auch die Entstehung der Epheser-Adresse plausibilisieren? (Kapitel 6)

Somit bildet die Frage nach der ursprünglichen Form der Adresse des Epheserbriefes und deren Überarbeitung eine Klammer um die Untersuchungen zur Priorität und Überarbeitung des Laodicener-/Epheserbrieftextes. Dieses Vorgehen stellt gegenüber den bisherigen Untersuchungen zur Adresse des Epheserbriefes eine doppelte Kontexterweiterung dar: Zum einen wird die Überlieferung der Adresse in den Kontext der Überlieferung des übrigen Epheserbrieftextes gestellt und zum anderen wird nicht nur die ursprüngliche Gestalt der Epheser-Adresse untersucht, sondern auch deren Überlieferungsgeschichte. Diese Einbeziehung von bisher nicht beachteten Verbindungslinien zwischen der Frage nach Adresse des Epheserbriefes, der Textgeschichte von Marcions Paulusbriefsammlung und der Entstehung und Überlieferung der 14-Briefe-Sammlung verspricht, die angekündigte neue Perspektive auf die Textgeschichte des Epheserbriefes zu entwickeln.

2.2Quellenlage und Forschungsstand zu Marcions Paulusbriefsammlung

2.2.1Vorwürfe gegen Marcion

Marcion, ein aus dem Pontus an der südlichen Schwarzmeerküste stammender Reeder, trat vermutlich um 140 n. Chr. in die römische Gemeinde ein, wurde jedoch im Jahr 144 wieder aus dieser ausgeschlossen – und erhielt daraufhin die bei seinem Eintritt in die Gemeinde eingebrachten 200.000 Sesterzen zurück.1 Fortan wurde er in einer Reihe mit anderen Häretikern des 2. Jahrhunderts genannt.2 Einzigartig – und für die textkritische Forschung besonders interessant – macht ihn die Tatsache, dass Marcion vorgeworfen wurde, eine eigene Textsammlung bestehend aus einem Evangelium und zehn Paulusbriefen erstellt zu haben, wie die nun folgenden Quellen zeigen werden. So schreibt Irenäus in Adversus Haereses an zwei Stellen über Marcions Textsammlung:

Adv. Haer. 1,27,2IrenäusAdv. Haer. 1,27,2: Genauso [wie im Falle des Lukasevangeliums] schnitt er [Marcion] Teile aus den Briefen des Apostels Paulus heraus und ließ alles weg, was der Apostel eindeutig über den Gott gesagt hat, der die Welt gemacht hat, dass er nämlich der Vater unseres Herrn Jesus Christus ist, und was der Apostel im Rückgriff auf die Prophetenbücher lehrte, die die Ankunft des Herrn ankündigen. […].3

Adv. Haer. 3,12,12IrenäusAdv. Haer. 3,12,12: Deshalb sind Marcion und seine Anhänger hingegangen und haben die Schriften zerschnitten; einige lehnen sie überhaupt ab, das Lukasevangelium und die Paulusbriefe kürzen sie dagegen, und als authentisch erkennen sie nur das an, was sie selbst verstümmelt haben. Ich werde sie aber mit Gottes Hilfe in einem anderen Buch sogar noch aus den Teilen widerlegen, die sie beibehalten haben.4

Marcion habe nicht nur aus dem Lukasevangelium, sondern auch aus den Paulusbriefen Aussagen gestrichen – dieser Vorwurf der umfangreichen Textveränderung findet sich erstmals bei Irenäus im zitierten Abschnitt seines Werkes Adversus Haereses (entstanden um 180 n. Chr.).5 Die von Irenäus angekündigte ausführliche „Abhandlung“ zu Marcions Text wurde von Irenäus jedoch nicht mehr angefertigt. Dieser Aufgabe widmete sich Tertullian, ein in Karthago ansässiger christlicher Schriftsteller, der in seinem Werk Adversus Marcionem (fertiggestellt vermutlich 207 n. Chr.) die häresiologische Tradition des Irenäus fortführt und besonders in Buch 4 und 5 in größerem Umfang auf Marcions Textsammlung eingeht.6 Später, im 4. Jahrhundert, setzte sich auch Epiphanius mit den Marcioniten auseinander, indem er Passagen aus deren Textsammlung zitierte (zu Epiphanius gleich mehr). Diese beiden Häresiologen, Tertullian und Epiphanius, sind die wichtigsten Quellen für den Text von Marcions Paulusbriefsammlung – und damit für den in dieser Arbeit diskutierten Laodicenerbrief. Diese indirekte Form der Rekonstruktion ist notwendig, weil sich – wie eingangs bereits erwähnt – keine Handschriften von der für Marcion bezeugten 10-Briefe-Sammlung erhalten haben.7

Als Beispiel für Tertullians Polemik gegen Marcion sollen drei Stellen genannt sein:

Tert. Adv. Marc. 1,1,5TertullianTert. Adv. Marc. 1,1,5: Welche pontische Maus ist so gefräßig wie derjenige Mensch, der die Evangelien zernagte?8

Tert. Adv, Marc. 5,1,9TertullianTert. Adv. Marc. 5,1,9: Der Beweis wird natürlich aus den Briefen des Paulus selbst heraus geführt werden, welche […] in gleicher Weise (wie das Evangelium) entstellt wurden, und dies sogar hinsichtlich ihrer Anzahl.9

Tert. Adv Marc. 5,4,2TertullianTert. Adv. Marc. 5,4,2 (zu Gal 3,16Gal3,16): Der (tilgende) Schwamm Marcions soll vor Scham erröten! – Abgesehen von der Tatsache freilich, dass ich überflüssigerweise davon berichte, was er tilgte, wo es doch noch mehr bedeuten würde, wenn er aus den Passagen, die er beibehielt, widerlegt wird.10

In diesen drei Aussagen scheinen bereits die Grundlinien von Tertullians Polemik gegen Marcion durch: Er warf Marcion vor, den Text des Lukasevangeliums und der Paulusbriefsammlung aus theologischen Motiven, nämlich einer Unterscheidung von Schöpfergott mit unbrauchbarem Gesetz einerseits und dem Gott Jesu Christi und seinem Evangelium andererseits, verändert zu haben.11 Dank Tertullians Vorgehen, Marcion ausgehend von dessen eigenem Text zu widerlegen, sind etliche Textpassagen aus Marcions Evangelium und seiner 10-Briefe-Sammlung überliefert. Dabei spricht sehr vieles dafür, dass Tertullian während seiner Ausarbeitung ein Exemplar der ‚marcionitischen‘ Textsammlung vorlag, dessen Text somit unter Berücksichtigung von Tertullians Zitiergewohnheiten einigermaßen sicher rekonstruiert werden kann.12 Den Text des Epheserbriefes, der in Marcions Paulusbriefsammlung als Laodicenerbrief geführt ist, kritisiert Tertullian in den Kapiteln 17 und 18 des fünften Buches von Adversus Marcionem.13 Tertullians Hauptanliegen ist auch hier, die Herkunft Christi vom Schöpfergott zu betonen.14 Aus Tertullians Zitaten lassen sich für 47 der insgesamt 155 Verse des kanonischen Epheserbriefes Lesarten rekonstruieren.15

Die zweite wichtige Quelle für den von den Marcioniten verwendeten Text ist Epiphanius, der im Jahr 367 Bischof von Constantia (Salamis) auf Zypern wurde und in den 370er Jahren sein Werk Panarion (‚Medizinkoffer‘ gegen die Häresien) verfasste.16 Darin stellt Epiphanius verschiedene, aus seiner Sicht häretische Gruppen dar, von denen eine die Marcioniten sind (Panarion Kap. 42).17 Im betreffenden Kapitel beschreibt er im Anschluss an eine fundamentale Polemik gegen Marcion und die Marcioniten auch deren Textsammlung, wovon zwei charakteristische Beispiele genannt sein sollen:

Epiph. Pan. 42,9,1EpiphaniusEpiph. Pan 42,9,1–5: Ich komme nun aber zu seinen [Marcions] Schriften, oder besser gesagt, zu seinen Verfälschungen. Dieser hat nur ein Evangelium, das nach Lukas, welches er jedoch am Anfang verstümmelte wegen der Empfängnis und Inkarnation des Retters. (2)Er, der sich damit selbst mehr schädigte als das Evangelium, hat jedoch nicht nur den Anfang herausgeschnitten, sondern er verschandelte die Worte der Wahrheit auch am Ende und in der Mitte, des Weiteren fügte er anderes Geschriebenes hinzu, er verwendete charakteristisch allein das Evangelium nach Lukas. (3)Er hat außerdem zehn Briefe des heiligen Apostels, allein diese benutzt er; aber nicht alles, was in ihnen geschrieben ist; manche Teile tilgt er, manche Kapitel ändert er. Diese beiden Bücher verwendet er, jedoch hat er auch selbst Abhandlungen für die von ihm in die Irre Geführten zusammengestellt. (4)Die von ihm genannten Briefe sind: zuerst an die Galater, als zweiter an die Korinther, als dritter der zweite Brief an die Korinther, als vierter an die Römer, als fünfter der erste Brief an die Thessalonicher, als sechster der zweite Brief an die Thessalonicher, als siebter an die Epheser, als achter an die Kolosser, als neunter an Philemon, als zehnter an die Philipper; außerdem hat er als Bestandteil den an die Laodicener. (5)Davon ausgehend, was von ihm aus dem Evangelium und den Briefen des Apostels als charakteristisch beibehalten wird, haben wir mit Gott zu zeigen, dass er ein Betrüger und Verirrter ist, der gründlich zu widerlegen ist.18

Epiph. Pan. 42,11,9EpiphaniusEpiph. Pan 42,11,9: Dies ist Markions verfälschte Zusammenstellung, […] und eine nicht vollständige Version des Apostels Paulus, nicht alle seine Briefe, sondern nur der an die Römer, der an die Epheser, der an die Kolosser, der an die Laodicener, der an die Galater, der erste und zweite an die Korinther, der erste und zweite an die Thessalonicher, der an Philemon und der an die Philipper.19

Damit stimmt Epiphanius in seiner Einschätzung von Marcions Text mit Irenäus und Tertullian überein. Auch er will Marcion ausgehend von dessen Text widerlegen, dafür zitiert er (selektiv und ungeordnet) 40 Exzerpte aus dessen Paulusbriefsammlung.20 Drei dieser 40 Exzerpte stammen aus dem Laodicener-/Epheserbrief (Pan. 42,11,7: Eph 2,11Eph2,11–14; 5,14; 5,31) – wobei Epiphanius bei der Benennung dieses Briefes etwas diffus ist, da er diesen teilweise als Epheserbrief bezeichnet, teilweise als Laodicenerbrief (womit er den uns als Epheserbrief bekannten Brief meint, da er in Pan. 42,11,18 Eph 4,5–6Eph4,5 zitiert).21

Zudem finden sich für den Text von Marcions 10-Briefe-Sammlung einzelne Hinweise im Dialog des Adamantius, außerdem bei Origenes, im Kommentar des Hieronymus zu den Paulusbriefen und in der syrischen Tradition bei Ephraem.22 In Bezug auf den Text des Laodicenerbriefes finden sich hier jedoch keine Zeugnisse, und zudem ist deren Quellenwert im Allgemeinen als vergleichsweise gering einzuschätzen, da vermutlich davon auszugehen ist, dass der Verfasser des Dialog des Adamantius „keine authentische Kenntnis des marcionitischen Textes hatte“.23

So kann zum Abschluss dieses Überblicks festgehalten werden, dass die Vorwürfe gegen Marcion sich in ihren Grundzügen gleichen: Marcion habe aus seinen eigenen theologischen Motiven heraus, vor allem der Trennung von Schöpfergott und dem ‚Vater Jesu Christi‘, den Text des Lukasevangeliums und der Paulusbriefe verändert. Rekonstruktionen für den Wortlaut der marcionitischen Textsammlung sind dabei lediglich auf Basis der Zitate von Tertullian und Epiphanius möglich, die jedoch immerhin 47 der insgesamt 155 Verse des kanonischen Epheserbriefes bezeugen (andere Quellen, wie Justin, Irenäus und der Adamantiusdialog lassen hingegen keine Rückschlüsse auf die Gestalt des marcionitischen Paulustextes zu).24 Die zentrale Frage ist nun, was von dieser Polemik der Kirchenväter gegen Marcion zu halten ist. Trifft sie zu oder muss der bei den Marcioniten bezeugte Text doch anders in die Textgeschichte des Neuen Testaments eingeordnet werden? Einen knappen Überblick über die Forschungsgeschichte zu dieser Problematik wird das folgende Kapitel bieten.

2.2.2Die Kritik an der Kritik der Kirchenväter: Der Forschungsstand zu Marcions Textsammlung

Das von den Kirchenvätern gezeichnete Bild ist mit dem Beginn der kritischen Forschung ins Wanken geraten. Exemplarisch dafür soll im Folgenden ein 1788 veröffentlichter Textabschnitt von Johann D. Michaelis zitiert werden, in dem bereits etliche Fragestellungen, die sich für Marcions Text aufdrängen (und die auch im Laufe der Arbeit ausführlich diskutiert werden), durchscheinen:

„Die Kirchenväter geben den Kätzern häufig Schuld, daß sie ihren Irrthümern zu Liebe Stellen des Neuen Testaments verfälscht haben. Bei solchen Beschuldigungen muß man etwas von dem abrechnen, was ein Eiferer sagt, der wol noch dazu der Kritik nicht kundig ist, und gleich für Verfälschung hält, was von seinem Exemplar oder Uebersetzung abweicht. […] Marcion ist es der am härtesten als Verfälscher angeklagt wird, und er ist es auch wirklich, noch dazu ein sehr dreister und unverschämter. […] Indes ist doch gewiß, daß nicht alle Abweichungen Marcions von der gewöhnlichen Lesart Verfälschungen sind. Die ihm zur Kätzerei ausgelegten Lesarten lassen sich sehr füglich in drei Klassen eintheilen

1) wahre eigentliche, blos seinem System zu Liebe vorgenommene Verfälschungen;

2) wirkliche Varianten, die er in Handschriften fand, und vorzog, und die wir zum Theil noch in Handschriften finden.

3) Bisweilen gar eine Variante, die besser sein möchte, als der gewöhnliche Text. Z. B. Ephes. V, 31. ließ Marcion aus καὶ προσκολληθήσεται πρὸς τὴν γυναῖκα αὐτοῦ. Was Marcion für Ursachen hatte, diese Worte auszulassen, untersuche ich nicht, aber Hieronymus glaubte doch auch nicht, daß sie von Pauli Hand sind. […]

Wahrscheinlich ist es auch eben nicht, daß diejenigen Lesarten Marcions, die wir noch in Handschriften finden, durch seine Verfälschung in dieselben gekommen sind; er war zu sehr verkätzert, als daß Abschreiber, die nicht selbst Marcioniten waren, ihm hätten folgen sollen, und eine Marcionitisch aussehende Handschrift haben wir unter den bisher verglichenen nicht.“1

Mit dem Ansatz, die Vorwürfe der Kirchenväter gegen Marcion zu hinterfragen, da dieser Text übernommen haben könnte und daher an manchen Stellen auch einen früheren Text bieten würde, brachte Michaelis einen Stein ins Rollen. Zwei weitere Kritiker arbeiteten diese Spur in den folgenden Jahren weiter aus: Zum einen Johann G. Eichhorn (1814), der in den Paulusbriefen lediglich eine Textstelle, nämlich Kol 1,16Kol1,16, als Verfälschung Marcions interpretierte (die anderen habe er „aus der Hand der Zeit“ genommen).2 Und zum anderen Albrecht Ritschl (1846), der in seinem Plädoyer für die Priorität von Marcions Evangelium gegenüber dem Lukasevangelium auch Marcions Paulusbriefsammlung für die ursprüngliche hielt und die Vorwürfe Tertullians gegen ihn verwarf.3 Doch blieben solche Ansichten nicht unwidersprochen: So verteidigte beispielsweise Hahn (1823) Tertullians Beschuldigungen gegen Marcion als zutreffend.4 In den 1840er und 1850er Jahren verschob sich die Debatte vor allem hin zur Frage, ob das bei Marcion bezeugte Evangelium etwas zur Lösung des Synoptischen Problems beitragen könne – wobei sich die traditionelle, Marcion Textänderungen bezichtigende Position vorerst durchsetzte.5 Diesen Standpunkt übernahmen auch Theodor Zahn (1892) und Adolf von Harnack (1920/24), die anhand der Kirchenväterzitate möglichst umfassend den Text der marcionitischen Textsammlung zu rekonstruieren versuchten.6

Besonders wirkmächtig für die Forschung des 20. Jahrhunderts wurde Harnacks Monographie Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott, in der er Marcion als „Stifter einer neuen Religion“ auf dem „Grunde des paulinischen Evangeliums“ hervorhob.7 Ausgehend von dieser Perspektive identifizierte er zahlreiche „dogmatisch-tendenziöse“ Textänderungen, die Marcion auf Grundlage seiner eigenen Theologie an einem „W-Text“ vorgenommen habe, den er in der Mitte des 2. Jahrhunderts in Rom vorgefunden habe.8 Das von Harnack vertretene Verhältnis zwischen marcionitischem und ‚westlichem‘ Text hatte zuvor bereits von Soden angesprochen9 – und es blieb auch für den Großteil des 20. Jahrhunderts die bestimmende Maxime, von der ausgehend Marcions Text interpretiert wurde.10

Erst Ulrich Schmid (1995) löste sich (zumindest teilweise) in seinem Werk Marcion und sein Apostolos von diesem Konsens, indem er ausgehend von einer detaillierten Untersuchung der Zitationsgewohnheiten der Kirchenväter und der handschriftlichen Tradition (die an verschiedenen Stellen etliche Lesarten des marcionitischen Textes ebenfalls bietet), dafür plädierte, dass Marcion nur an ganz wenigen, klar eingrenzbaren Textstellen Änderungen vorgenommen habe.11 Schmids Textrekonstruktion der marcionitischen Paulusbriefsammlung wurde positiv und weit rezipiert – sie stellt auch die Grundlage der vorliegenden Arbeit dar, die sich jedoch in der Interpretation des von ihm rekonstruierten Textes signifikant unterscheidet.12 Im Rückblick stellt Schmids Arbeit den Startpunkt eines neu erwachenden Interesses am marcionitischen Text dar, infolgedessen besonders in den letzten Jahren einige Monographien entstanden sind – dabei sind (in chronologischer Reihenfolge) besonders folgende Entwürfe hervorzuheben: Jason BeDuhn argumentierte in seinem 2013 erschienenen Buch The First New Testament, Marcion sei nicht als Redaktor des Lukasevangeliums zu sehen, vielmehr würden beide Evangelien auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen.13 Markus Vinzent plädierte 2014 in Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels für die Ansicht, Marcion habe das Evangelium in ‚seiner‘ Textsammlung selbst verfasst und somit ein neues literarisches Genre erschaffen.14 Dieter T. Roth legte 2015 mit The Text of Marcion’s Gospel eine auf Schmids methodischen Prämissen aufbauende Textrekonstruktion für Marcions Evangelium vor, ohne jedoch auf die damit im Zusammenhang stehenden literargeschichtlichen und historischen Fragen einzugehen.15 Ebenfalls im Jahr 2015 erschien Matthias Klinghardts zweibändiges Buch Das älteste Evangelium, in dem er für die Priorität des bei Marcion bezeugten Evangeliums gegenüber dem Lukasevangelium (und den drei anderen Evangelien) plädierte – und im Zuge dessen eine umfangreiche, auch auf den Varianten der handschriftlichen Überlieferung basierende Rekonstruktion für Marcions Evangelium präsentierte.16 Auch Judith Lieu veröffentlichte 2015 ein Buch zu Marcion, nämlich Marcion and the Making of a Heretic – ihr Hauptfokus liegt weniger auf dem Text der marcionitischen Sammlung, sondern vielmehr darauf, Marcion bzw. die marcionitische Bewegung in die Theologiegeschichte des 2. Jahrhunderts einzuordnen.17 Mit den genannten Büchern ist die Diskussion keineswegs beendet, sie hat vielmehr eine neue Stufe erreicht – dies zeigt sich beispielsweise auch in einem Themenheft der Zeitschrift für Antikes Christentum zu Marcion, in dem die genannten Ansätze weiter diskutiert wurden.18 Im Folgenden werden die genannten bisherigen Forschungsüberlegungen konkret am Beispiel des Laodicenerbriefes aus Marcions ‚10-Briefe-Sammlung‘19 weitergedacht.

2.3Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes

2.3.1Die Quellenlage: Handschriften und Kirchenväter

Die überaus auffällige Textüberlieferung der Adresse des Epheserbriefes in einigen neutestamentlichen Handschriften ist neben der in den letzten Jahren besonders intensiv diskutierten Einordnung des bei Marcion bezeugten Textes ein zweiter Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Denn das Problem der Epheser-Adresse ist eines der zentralen textkritischen Probleme der Paulusbriefe.1 Die Quellenlage in den Handschriften und der überlieferten Kirchenväterliteratur wird im Folgenden dargestellt, bevor im Anschluss daran die in der bisherigen Forschung vorgeschlagenen Lösungen für das Problem der Epheseradresse diskutiert werden.

a) Handschriften ohne ἐν Ἐφέσῳ

Von den insgesamt reichlich 600 überlieferten griechischen Handschriften, die den ersten Satz des Epheserbriefes enthalten, fehlen in sechs Exemplaren die Worte ἐν Ἐφέσῳ („in Ephesus“) in Eph 1,1Eph1,1.1 Nun steht die Frage im Raum, ob das Fehlen dieser beiden Worte ursprünglich ist oder nicht. Die Herausgeber des Nestle-Aland, der kritischen Ausgabe des Neuen Testaments, setzen ἐν Ἐφέσῳ in eckige Klammern und zeigen so an, dass dieser Abschnitt „textkritisch nach dem heutigen Kenntnisstand nicht gänzlich gesichert“ werden kann.2

Im Einzelnen bezeugen folgende sechs Handschriften das ‚Fehlen‘ der Adresse ἐν Ἐφέσῳ in Eph 1,1Eph1,1 (vgl. Anhang, Abb. A.1–A.6):

der Papyrus 46 (𝔅46), der um 200 n. Chr. entstanden ist;3

der Codex Sinaiticus (ℵ), eine Majuskelhandschrift, in ihrer ursprünglichen Fassung (ℵ*), die aus dem 4. Jh. stammt; die sog. ‚zweite Hand‘ des Codex Sinaiticus (ℵ2) fügte später (nicht vor dem 7. Jh.) ἐν Ἐφέσῳ am Rand hinzu;

der Codex Vaticanus (B), ebenfalls eine Majuskelhandschrift (die an etlichen Stellen mit dem Text des Sinaiticus übereinstimmt)4, und zwar in seiner ursprünglichen, aus dem 4. Jh. stammenden Fassung (B*); auch hier fügte eine ‚zweite Hand‘ (B2) die Worte ἐν Ἐφέσῳ später (ca. im 6./7. Jh.) am Rand hinzu;

die Minuskel 6 (entstanden im 13. Jh.), die in eine ‚Familie‘ mit den beiden nachfolgend genannten Handschriften gehört;5

die Minuskel 424 (11. Jh.), in der ein Korrektor (424C) ἐν Ἐφέσῳ mit Punkten versehen hat, woraus zu schlussfolgern ist, dass ihm ein Korrekturexemplar vorlag, das die Adresse in Eph 1,1Eph1,1 nicht bot. Dabei ist auch durch andere Textstellen bekannt, dass diese Handschrift „systematisch nach einem Text korrigiert, der bereits für das 4. Jahrhundert und früher nachzuweisen ist.“6

die Minuskel 1739 (10. Jh.), die auch an vielen weiteren Stellen der Paulusbriefe einen recht frühen Text bezeugt.7

Dabei ist jedoch zu beachten, dass in allen sechs Handschriften ohne ἐν Ἐφέσῳ (𝔅46 ℵ* B* 6 424C 1739) der jeweilige Brief durch die ‚Überschrift‘ πρὸς Ἐφεσίους eindeutig als Epheserbrief gekennzeichnet ist.8 Daher ist an dieser Stelle noch eine terminologische Klärung vorzunehmen: Da der Epheserbrief in den Handschriften durchweg mit der Überschrift ‚An die Epheser‘ bezeugt ist, kann das Reden vom ‚Fehlen der Adresse‘ sinnvollerweise nicht das Fehlen der Überschrift, sondern nur das Fehlen der Worte ἐν Ἐφέσῳ im ersten Satz des Briefes (Eph 1,1Eph1,1) meinen. Mit ‚Adresse‘ ist also im Folgenden die Adresse im Präskript des Epheserbriefes gemeint.

b) Handschriften mit ἐν Ἐφέσῳ in Eph 1,1

Alle anderen überlieferten Handschriften enthalten die Adresse in Eph 1,1Eph1,1. Von diesen sollen an dieser Stelle zumindest diejenigen erwähnt werden, die in den textkritischen Überlegungen zu den Paulusbriefen allgemein eine große Rolle spielen (deren übliche Abkürzungen werden ebenfalls genannt, da im weiteren Verlauf der Arbeit darauf zurückgegriffen wird). Dies sind der Codex Alexandrinus (A) aus dem 5. Jh., der Codex Claromontanus (D) aus dem 6. Jh., der Codex Augiensis (F) aus dem 9. Jh., der Codex Boernerianus (G), ebenfalls aus dem 9. Jh., der Codex Athous Laurensis (Ψ) aus dem 8./9. Jh. sowie die wichtigen Minuskeln 33 (9. Jh.) und 1881 (14. Jh.).1 Hinzu kommt auch der sogenannte ‚Mehrheitstext‘ (𝔐), alle altlateinischen (latt), syrischen (sy) und koptischen (co) Übersetzungen sowie die Vulgata-Handschriften (vg) und viele weitere (vor allem Minuskel-)Handschriften. Dazu kommen die bereits oben genannten ℵ2 und B2. In diesen Handschriften ist die Übersetzung des ersten Verses des Epheserbriefes recht problemlos, da er dem in antiken Briefen üblichen Präskript (Absender im Nominativ, Empfänger im Dativ)2 entspricht: Παῦλος ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ διὰ θελήματος θεοῦ τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν ἐν Ἐφέσῳ καὶ πιστοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ („Paulus, ein Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes, an die Heiligen in Ephesus, die Gläubigen in Christus Jesus“).3

c) Weitere Varianten in Eph 1,1Eph1,1

Im ersten Satz des Epheserbriefes finden sich noch wenige weitere Varianten, denen jedoch bei Weitem nicht die Bedeutung der fehlenden Adresse zukommt. Trotzdem sollen sie hier kurz genannt sein. Zum einen variiert die Reihenfolge der beiden Worte Χριστοῦ Ἰησοῦ (Paulus, ein Apostel Christi Jesu). Diese Anordnung findet sich z. B. in 𝔅46 B D P 0278 33 1505. In ℵ A F G 81 Ψ 1739 u. a. heißt es hingegen Ἰησοῦ Χριστοῦ. Diese unterschiedliche Stellung fällt auch an anderen Stellen in den Paulusbriefen auf, ein Muster ist nicht zu erkennen.

Zum anderen ist in den Handschriften ℵ2 A P 81 326 629 2464 sowie zum Teil auch in Übersetzungen (lat co vg) das Adjektiv πᾶσιν (allen) vor τοῖς οὖσιν (die Heiligen) hinzugefügt, so dass der Brief des Paulus hier an „alle Heiligen in Ephesus“ adressiert ist. Da die Hinzufügung von πᾶσιν ausschließlich in Handschriften mit Adresse zu finden ist, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie auf ein Exemplar zurückgeht, dem ἐν Ἐφέσῳ fehlte (besonders deutlich ist dies daran zu sehen, dass in ℵsowohl πᾶσιν als auch ἐν Ἐφέσῳ von der zweiten Hand (ℵ2) hinzugefügt wurde). Die Regeln der Textkritik lassen vielmehr eindeutig darauf schließen, dass die Einfügung von πᾶσιν eine Erweiterung der Lesart mit Adresse darstellt.1

Abschließend sind noch die vier Fälle zu erwähnen, in denen Eph 1,1Eph1,1 eine ganz andere Lesart bietet: In 𝔅 46 fehlt nicht nur ἐν Ἐφέσῳ, sondern auch τοῖς vor οὖσιν; dies ist textkritisch als Sonderlesart der Lesart ohne Adresse zu bewerten.2 Des Weiteren sind in drei Minuskeln abweichende Lesarten überliefert: In 1149 steht οὖσιν nicht vor, sondern nach ἐν Ἐφέσῳ; in 2544 heißt es nur τοῖς ἐν Ἐφέσῳ; und in 1115 steht nicht ἐν Ἐφέσῳ, sondern ἐν τῇ Ἐφέσῳ (in der Ephesus).3 Alle drei Lesarten sind als späte Lesarten zu werten, die aus dem Text mit Adresse hervorgegangen sind.4

d) Die Kirchenväterzitate: Irenäus, Clemens, Origenes und Hieronymus

Nachdem der erste Teil der Quellenlage – Handschriften ohne ἐν Ἐφέσῳ, mit ἐν Ἐφέσῳ, und mit anderen Varianten – dargestellt worden ist, kann der Blick auf die Schriften der Kirchenväter gerichtet werden, durch die wir an einzelnen Stellen auch Kenntnisse über die Gestalt der Adresse in Eph 1,1Eph1,1 gewinnen können.

Die frühesten expliziten Zeugnisse über den Epheserbrief als Epheserbrief und seine Adresse finden sich bei Irenäus von Lyon, Clemens von Alexandrien und Tertullian.1 Als Erster erwähnt Irenäus den Epheserbrief in Adversus Haereses, und zwar im Kontext einer Argumentation für die Teilhabe des Fleisches am Heil, wo er Eph 5,30Eph5,30 zitiert:

Iren. Adv. Haer 5,2,3IrenäusAdv. Haer. 5,2,3: Das sagt auch der selige Apostel im Brief an die Epheser: Glieder seines Leibes sind wir, aus seinem Fleisch und seinen Knochen.2

Clemens von Alexandrien (um die Wende vom 2. zum 3. Jh.) zitiert in seinem Werk Stromata ebenfalls aus dem Epheserbrief (Eph 5,21Eph5,21–23):

Clem. Strom. 4,8,64ClemensClem. Strom. 4,8,64: Deshalb schreibt er [der Apostel] auch im Brief an die Epheser: Ordnet euch einander unter in der Furcht Gottes: Die Frauen ihren eigenen Männern wie dem Herrn; denn der Mann ist das Haupt der Frau wie auch Christus das Haupt der Gemeinde ist. Er selbst ist der Retter des Leibes.3

Sowohl Irenäus als auch Clemens binden den Epheserbrief in ihre jeweilige Argumentation ein, dabei diskutieren sie jedoch nicht direkt dessen Adresse. Auch die Äußerungen Tertullians zeigen, dass er den Epheserbrief als Epheserbrief kennt (z. B. in Adv. Marc. 5,17,1IrenäusAdv. Marc. 5,17,1) – sie werden im folgenden Abschnitt bei der Diskussion der Laodicener-Adresse thematisiert.

Interessant ist außerdem eine Bemerkung des Origenes (erste Hälfte 3. Jh.), der in seinem Kommentar zum Epheserbrief (den er als Epheserbrief kennt) die Worte τοῖς οὖσιν in Eph 1,1Eph1,1 als einen ontologisch gedachten Hinweis des Paulus auf ‚das Seiende‘ versteht, was laut J. Schmid „schwer begreiflich ist, wenn er im Text des Eph hinter τοῖς οὖσιν die Ortsangabe ἐν Ἐφέσῳ gelesen hat“.4 Dieser Befund ist keineswegs überraschend, da festgestellt werden konnte, dass Origenes ein sehr ähnlicher Text vorlag, wie er auch in der Minuskel 1739 (ebenfalls ohne ἐν Ἐφέσῳ) zu finden ist.5 Der Kommentar des Hieronymus zu Eph 1,1 (spätes 4. Jh.) wendet sich strikt gegen die Interpretation des Origenes – dies deutet darauf hin, dass er den Epheserbrief mit Adresse kannte.6

Somit kann zusammenfassend festgehalten werden, dass die Bezeugungen der Kirchenväter insgesamt mit dem (an einzelnen Stellen diversen) handschriftlichen Befund übereinstimmen. Die einzige drastische Ausnahme findet sich in Marcions Paulusbriefsammlung. Diese Angabe wird im Folgenden diskutiert.

e) Die Laodicener-Adresse in Marcions Paulusbriefsammlung

Eingangs wurden bereits die Vorwürfe der Häresiologen gegen Marcion benannt, von denen ausgehend sich der Text der Paulusbriefsammlung Marcions rekonstruieren lässt (Kap. 2.2.1). Für die Frage nach der Adresse des Epheserbriefes sind nun zwei Stellen bei Tertullian und drei bei Epiphanius relevant. Zum einen schreibt Tertullian in Adversus Marcionem bei der Thematisierung des 2. Korintherbriefes:

Tert. Adv. Marc. 5,11,13TertullianTert. Adv. Marc. 5,11,13: An dieser Stelle möchte ich auch (eine andere Stelle) aus einem Brief beiläufig erwähnen – einem Brief, der bei uns den Titel „an die Epheser“ trägt, bei den Häretikern aber „an die Laodicener“.1

Zum anderen – und das ist die zentrale Quellenstelle – äußert sich Tertullian gleich zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem Epheserbrief der Marcioniten in Adv. Marc. 5,17,1 folgendermaßen:

Tert. Adv. Marc. 5,17,1TertullianTert. Adv. Marc. 5,17,1: Gemäß der wahren Lehre der Kirche halten wir den nun folgenden Brief für an die Epheser, und nicht für an die Laodizäer, gesandt; Marcion aber trachtete irgendwann einmal danach, ihm eine falsche Adresse zu verleihen (titulum interpolare gestiit), sodass er sich gleichsam auch darin als ein sehr gewissenhafter Forscher präsentierte. Was aber die Frage der Überschriften betrifft: Diese ist in keiner Weise von Bedeutung, da der Apostel, wenn er an einige schrieb, (zugleich) an alle schrieb.2

Tertullian kennt den in dieser Arbeit thematisierten Brief – wie auch Irenäus und Clemens von Alexandrien – als Epheserbrief. Zugleich macht er deutlich, dass dieser Brief (aus dem er in den folgenden Absätzen zitiert) in Marcions Paulusbriefsammlung als Laodicenerbrief enthalten war. Hierbei ist besonders zu betonen, dass Tertullians Thematisierung der Paulusbriefsammlung Marcions – und die daraus resultierende Einordnung der Ursprünge dieser Sammlung vor die Mitte des zweiten Jahrhunderts – die am weitesten zurückreichende explizite Quelle einer konkreten Paulusbriefsammlung ist (sowohl die ältesten erhaltenen Handschriften als auch die frühesten Aussagen der Kirchenväter stammen aus der Zeit nach Marcion).3

 

Das Vorhandenseins des Laodicenerbriefes wird auch von Epiphanius bestätigt, der in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts Bischof von Salamis (Zypern) war und sich im 42. Buch seiner Schrift Panarion mit Marcion auseinandersetzt – und dabei verschiedentlich ebenfalls darauf hinweist, dass bei Marcion der Epheserbrief als Laodicenerbrief geführt wird:4

Epiph. Pan. 42,9,3EpiphaniusEpiph. Pan 42,9,3–4: Er [Marcion] hat außerdem zehn Briefe des heiligen Apostels, allein diese benutzt er; aber nicht alles, was in ihnen geschrieben ist; manche Teile tilgt er, manche Kapitel ändert er. […] Die von ihm geführten Briefe sind: […] als siebter an die Epheser, außerdem hat er als Bestandteil den an die Laodicener.“5

Epiph. Pan. 42,11,8EpiphaniusEpiph. Pan 42,11,8: Der Brief an die Laodicener, Nummer elf bei ihm [Marcion]: Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allen und durch alle und in allen ist (=Eph 4,5–6Eph4,5).6

Epiph. Pan. 42,11,9EpiphaniusEpiph. Pan 42,11,9: Dies ist Marcions verfälschte Zusammenstellung, […] und eine nicht vollständige Version des Apostels Paulus, nicht alle seine Briefe, sondern nur der an die Römer, der an die Epheser, der an die Kolosser, der an die Laodicener, der an die Galater, der erste und zweite an die Korinther, der erste und zweite an die Thessalonicher, der an Philemon und der an die Philipper.7

Epiph. Pan. 42,13,4EpiphaniusEpiph. Pan 42,13,4: Der äußerst bedauernswerte Marcion aber schien dieses Zeugnis nicht aus dem Brief an die Epheser zu lesen, sondern aus dem Brief an die Laodicener, der nicht im Apostolos ist.8

Auch wenn die Anordnung der Briefe von Marcions Paulusbriefsammlung bei Epiphanius mit einigen Unklarheiten verbunden ist (vgl. dazu die Diskussion in Kap. 2.2.1), so kann doch eindeutig festgehalten werden, dass wir durch die Schriften des Epiphanius neben Tertullian einen weiteren Beleg haben, dass in der für Marcion bezeugten Paulusbriefsammlung anstelle des uns als Epheserbrief bekannten Briefes der Laodicenerbrief enthalten war.

f) Zusammenfassung der Quellenlage zu Eph 1,1Eph1,1

An dieser Stelle sollen die wichtigsten Informationen dieses Kapitels kurz zusammengefasst werden: In den sechs Handschriften 𝔅46 ℵ* B* 6 424c 1739 fehlt im ersten Satz des Epheserbriefes die Adresse („ἐν Ἐφέσῳ“). Nichtsdestoweniger ist dieser Brief durch die Überschrift πρὸς Ἐφεσίους auch hier als Epheserbrief zu erkennen. Ein Zusammenhang zwischen dem Fehlen der Adresse und weiteren Varianten in Eph 1,1Eph1,1 (die Reihenfolge der Worte Χριστοῦ Ἰησοῦ, die Hinzufügung von πᾶσιν sowie wenige Sonderlesarten) ist nicht ersichtlich. Der Befund der handschriftlichen Überlieferung spiegelt sich in den Kirchenväterzitaten wider: Irenäus, Clemens und Tertullian kennen den Epheserbrief, wobei aus ihren Aussagen keine Rückschlüsse auf die Adresse zu ziehen sind; Origenes hatte wahrscheinlich einen Epheserbrief vorliegen, in dem ἐν Ἐφέσῳ fehlte; Hieronymus hingegen las vermutlich die Adresse in Eph 1,1. Außerhalb dieser Reihe steht lediglich die durch Tertullian und Epiphanius bezeugte Information, dass dieser Brief in Marcions Paulusbriefsammlung der Laodicenerbrief war.

2.3.2Verschiedene Rekonstruktionen zur ursprünglichen Adresse des Epheserbriefes

Angesichts der soeben dargestellten Quellenlage ist die Frage nach der ursprünglichen Form der Adresse des Epheserbriefes für die neutestamentliche Wissenschaft ein wichtiges Desiderat. Dass diese Frage so wichtig ist – sie gilt als eines der großen textkritischen Probleme der Paulusbriefe1 – hängt sicher auch mit ihrer exegetischen Bedeutung zusammen: Denn es ist eines der zentralen Anliegen der historisch-kritischen Exegese, herauszufinden, in welcher Situation und für welche Adressaten eine neutestamentliche Schrift verfasst wurde.

Um die bisher in die Forschungsdiskussion eingebrachten Vorschläge zu systematisieren, bietet es sich an, die jeweils für ursprünglich gehaltene Textgestalt als Gliederungsmerkmal heranzuziehen. Demzufolge lassen sich die Vorschläge in drei Gruppen unterteilen: (1) die Lesart mit ἐν Ἐφέσῳ ist ursprünglich, (2) die Lesart von 𝔅46 ℵ* B* 6 424C 1739 ohne ἐν Ἐφέσῳ ist ursprünglich, (3) es stand ursprünglich etwas Anderes an dieser Stelle.2 Die Argumente für die einzelnen Positionen sollen zuerst kurz vorgestellt werden, im Anschluss daran erfolgt jeweils eine intensive Diskussion derselben.

a) Epheserbrief ursprünglich nach Ephesus adressiert

Der große Vorteil, den die Annahme, Eph 1,1Eph1,1 habe ursprünglich die Adresse ἐν Ἐφέσῳ enthalten, mit sich bringt, ist, dass dann der erste Satz des Epheserbriefes grammatikalisch korrekt und gut zu verstehen ist. Denn wenn man die Lesart ohne Adresse für ursprünglich hält, müsste man annehmen, „dass der Autor des Eph bereits im ersten Satz seines im übrigen sorgfältig komponierten Textes einen recht massiven Fehler gemacht hat“1 – und zwar deshalb, weil das substantivierte Partizip von εἶναι eine nähere Bestimmung verlangt.2 Oder anders ausgedrückt: „Sind die Worte τοῖς οὖσιν ursprünglich, so fordern sie mit Notwendigkeit auch eine Ortsangabe.“3 Die große Schwierigkeit dieser Theorie ist hingegen, das Auslassen der Adresse und die Bezeugung bei Marcion zu erklären.

Andreas Lindemann schlägt in seinem Plädoyer für die Ursprünglichkeit der Epheser-Adresse folgendes Szenario vor: Der Verfasser des Epheserbriefes entstamme einer ‚Paulus-Schule‘ und habe daher von der engen Bindung des Apostels an diese Gemeinde gewusst, so dass er es erstaunlich gefunden habe, dass Paulus gerade nach Ephesus keinen Brief geschrieben haben sollte.4 Dies habe ihn dazu veranlasst, seine theologische Schrift mit der fiktiven Adresse ‚Ephesus‘ zu versehen. Später ist die Ortsangabe von einem Schreiber weggelassen worden, weil sie sich nicht mit dem Inhalt des Briefes und der Biographie des Paulus deckte. Auch Marcion, so Lindemann weiter, habe erkannt, dass der Inhalt des Briefes sich nicht mit der Biographie des Paulus decken könne – daraufhin habe er dessen Adresse geändert, wie es durch Kol 4,16Kol4,16 naheliegend gewesen sei.5

Joachim Gnilka, der auch für die Ursprünglichkeit der Epheseradresse votiert, hält den Epheserbrief für ein in Ephesus entstandenes Schreiben, das in Kleinasien verbreitet werden sollte.6 Die Ortsangabe sei also einerseits als „Etikett, das den Ort seiner Entstehung kundtut“, zu verstehen, andererseits markiere sie zugleich auch den „Radius [des Schreibens, T. F.], für den es bestimmt ist.“7 Der Grund für das Streichen der Adresse ist seiner Meinung nach, dass so der „allgemeine, alle verpflichtende Inhalt“ des Epheserbriefes betont wird.8 Auch Gnilka geht davon aus, dass Marcion durch Kol 4,16Kol4,16 dazu veranlasst worden sei, den Epheserbrief in den Laodicenerbrief umzuwandeln.9

b) Epheserbrief ursprünglich ohne Adresse in Eph 1,1Eph1,1

Die Befürworter der Ursprünglichkeit der Lesart ohne ἐν Ἐφέσῳ in Eph 1,1Eph1,1 – wie beispielsweise G. Sellin und R. Schnackenburg – berufen sich auf die textkritische Grundregel lectio brevior: Denn ein Vergleich der beiden Textformen mit ἐν Ἐφέσῳ und ohne ἐν Ἐφέσῳ spreche eine eindeutige Sprache, das Hinzufügen der Adresse in den Text sei viel einfacher zu erklären als ein Wegfallen bzw. Streichen aus dem Text.1 Denn während man sich vorstellen könne, dass die Ortsangabe aus der Überschrift in den Text übernommen wurde, sei für ein Streichen der Adresse im Text keinerlei Anlass ersichtlich. Das große Problem der Annahme, ursprünglich habe die Adresse gefehlt, sind die bereits angesprochenen ernsthaften grammatikalischen Schwierigkeiten. Als ‚Notlösungen‘ wurden hier folgende zwei Erklärungsmöglichkeiten vorgeschlagen:

R. Schnackenburg plädiert dafür, τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν καὶ πιστοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ als zweigliedrige Anrede zu verstehen: „den Heiligen und Gläubigen in Christus Jesus“.2 Diese Rekonstruktion kann jedoch nicht erklären, weshalb τοῖς οὖσιν im Satz steht, zudem passt sie nicht zum sonstigen, sorgfältig formulierten Sprachgebrauch im Epheserbrief.3 Eine weitere Möglichkeit, diesen Satz als grammatikalisch akzeptabel zu erklären, bietet G. Sellin an: Seiner Meinung nach ist die Wendung εἶναι πιστὸς ὲν Χριστῷ äquivalent mit „Glauben haben“ oder „gläubig sein an Christus Jesus“ zu verstehen – sodass folgendermaßen zu übersetzen sei: „an die Heiligen, das sind die an Christus Jesus Glaubenden“.4 Das Problem hierbei ist, dass τοῖς οὖσιν und πιστοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ durch das καὶ deutlich getrennt sind, sodass sie semantisch nicht zusammengezogen werden können.5 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass sich in den Präskripten der Paulusbriefen nach einem Partizip von εἶναι immer eine Ortsangabe findet.6

Angesichts der erheblichen Schwierigkeiten, die mit beiden genannten Rekonstruktionen verbunden sind, wurden einige weitere Vorschläge in die Diskussion eingebracht. Diese sind im Einzelnen sehr unterschiedlich, doch verbindet sie alle das Merkmal, dass sie in Eph 1,1Eph1,1 einen Text für ursprünglich halten, der sich nicht in den uns überlieferten Handschriften findet. Diese Vorschläge werden im Folgenden ebenfalls kurz dargestellt.

c) Epheserbrief ursprünglich ein ‚Rundbrief‘

Vertreter der sog. ‚Rundbrief-Hypothese‘ wie Th. Zahn und U. Luz gehen davon aus, ursprünglich habe sich nach τοῖς οὖσιν eine Lücke befunden, in die einzelne Ortsnamen eingetragen wurden – und zwar je nachdem, an welche Gemeinde das jeweilige Exemplar gesendet wurde.1 Das große Problem dieser Theorie ist, dass die Auffassung einer Lücke, in die verschiedene Adressen einzutragen wären, für die Antike nicht belegt ist.2 In diesem Denkrahmen wird dann oft davon ausgegangen, Marcion habe einen adressenlosen Brief vorgefunden und durch die Erwähnung eines Briefes an die Laodicener in Kol 4,16Kol4,16 vermutet, dass der adressenlose Brief jener nach Laodicea gerichtete Brief sein müsse. Diese Rekonstruktion wird dann schlussendlich herangezogen, um die Ursprünglichkeit der adressenlosen Variante des Epheserbriefes zu begründen.3 Dass diese Argumentation auf sehr fragwürdigen Vorannahmen aufbaut, wird an zwei Punkten deutlich: Zum einen ist das hierbei angenommene Bild von Marcion als Textveränderer nicht plausibel (dazu im Laufe dieser Arbeit noch mehr) und zum anderen ist es ausgehend von den Kirchenväterzitaten alles andere als sicher, dass der Laodicenerbrief in Marcions Paulusbriefsammlung die Adresse im ersten Satz des Briefes nicht enthielt.4 Außerdem bleibt die konkrete Überlieferungsgeschichte einer Lücke im Epheserbrief völlig unklar: Es wäre dann ja davon auszugehen, dass nur Briefe mit eingesetzter Adresse im Umlauf waren – daher ist es (besonders bei einem pseudepigraphen Brief) fraglich, auf welche Quelle die Adressform mit ‚Lücke‘ zurückgehen könnte. Letzteres Problem versucht Nils A. Dahl zu umgehen, indem er diese These etwas modifiziert und in Erwägung zieht, dieser Brief sei ursprünglich mit verschiedenen Adressen (z.Β. Laodicea, Hierapolis und noch anderen kleinasiatischen Städten) angefertigt worden; die Ortsnamen seien eventuell später beim Abschreiben weggelassen worden.5 Dahl weist jedoch selbst darauf hin, dass dieser Vorschlag (wie auch die ‚Lücken-Hypothese‘) die schwierige Annahme voraussetzt, der pseudepigraphe Brief sei tatsächlich von Tychikus an mehrere Empfängergemeinden übermittelt worden.6 Zusätzlich bleibt bei allen ‚Rundbrief-Hypothesen‘ offen, warum zum einen auch die Handschriften ohne ἐν Ἐφέσῳ die Epheser-Überschrift bieten, und weshalb zum anderen ausschließlich Handschriften eines Epheserbriefes überliefert sind, wenn der Brief ursprünglich an verschiedene Gemeinden adressiert gewesen sein soll.

Zwei weitere spezielle Szenarien einer Rundbrief-Hypothese schlugen J. Schmid und E. Best vor: J. Schmid plädierte 1928 dafür, dass der ursprüngliche Rundbrief im Laufe der Zeit die Überschrift „An die Epheser“ erhalten habe, da der Brief von Ephesus aus (!) seine Verbreitung angetreten habe. Später sei von dort die Ortsbezeichnung τοῖς οὖσιν ἐν Ἐφέσῳ in den Brieftext „eingedrungen“.7 Da nun einige den Widerspruch zwischen Adresse und Inhalt des Briefes empfunden hätten (ein so unpersönlicher Brief an die dem Paulus recht gut bekannte Gemeinde), sei die Ortsangabe ἐν Ἐφέσῳ gestrichen worden.8 E. Best sprach sich dafür aus, dass ursprünglich auf der Außenseite einer Briefrolle die Adresse τοῖς ἁγίοις (‚den Heiligen‘) gestanden habe.9 Zu einem späteren Zeitpunkt, als der Brief in eine Briefsammlung integriert wurde, sei aus einem unbekannten Grund der Eindruck entstanden, dass der Brief eine Ortsangabe haben sollte – daraufhin wäre zuerst die Überschrift zu τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν ἐν Ἐφέσῳ geändert worden, später dann in einem zweiten Schritt auch der Text im ersten Satz des Briefes.10 Die Variante ohne ἐν Ἐφέσῳ gehe darauf zurück, dass sich einige daran erinnerten, dass der Brief ursprünglich keine Ortsangabe gehabt habe.11 Dieses von J. Schmid und E. Best angenommene schrittweise Hinzufügen mit anschließend partiellem Streichen ist jedoch höchst hypothetisch, und zwar sowohl in den aufgezeigten Einzelschritten als auch im Gesamtbild, da keinerlei Anhaltspunkte für ein solches Vorgehen zu finden sind. Außerdem setzen beide Annahmen die Echtheit des Briefes voraus. Vielmehr zeigen diese beiden Beispiele, dass der Verkomplizierung der bereits grundlegend nicht überzeugenden Rundbrief-Hypothese kaum Grenzen gesetzt sind.

d) Konjekturen

Außerdem wurden verschiedene Konjekturen, also nicht in den Quellen überlieferte Lesarten, für den ursprünglichen Text von Eph 1,1Eph1,1 vorgeschlagen: So plädierte P. Ewald 1910 dafür, dass ein Schreiber an Stelle von τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν fälschlicherweise die Worte τοῖς ἀγαπητοῖς οὖσιν („den Geliebten“) las und daraufhin die Ortsangabe wegließ.1 R. Batey meinte 1963, ein Kopist habe – möglicherweise aufgrund der Beschädigung seiner Vorlage – statt τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν die Wortfolge τοῖς ἁγίοις τοῖς Ὰσίας („den Heiligen in der Asia“) gelesen und daraufhin ἐν Ἐφέσῳ ausgelassen.2 Shearer schlug vor, statt τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν habe die Adresse ursprünglich τοῖς ἁγίοις τοῖς Ἴωσι gelautet, der Brief sei also an die Ionier adressiert gewesen.3 A. van Roon plädierte für die Konjektur τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν ἐν Ἱεραπόλει καὶ Λαοδικείᾳ, πιστοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ, dabei wäre bei der Streichung der beiden ursprünglichen Ortsnamen Hierapolis und Laodicea das καὶ fälschlicherweise stehen geblieben.4 A. Jülicher zog außerdem in Erwägung, die ursprüngliche Adresse sei τοῖς οὖσιν ἐν ἔθνεσιν, also „die Heidenchristenschaft insgemein“, gewesen.5 Zwar ist der Einfallsreichtum all dieser Konjekturen nicht von der Hand zu weisen, doch sind sie durchweg auf jeweils etliche weitere Hypothesen angewiesen und bieten so keine zufriedenstellende Erklärung an.6

e) Epheserbrief ursprünglich an die Laodicener adressiert

John Mill äußerte 1707 ausgehend von dem Fehlen von ἐν Ἐφέσῳ in einigen Handschriften erstmalig die Meinung, der Epheserbrief sei ursprünglich an die Laodicener adressiert gewesen, in Eph 1,1Eph1,1 habe also ἐν Λαοδικείᾳ gestanden – womit dieser Brief genau derjenige ἐκ Λαοδικείας („aus Laodicea“) sei, den sich die Kolosser besorgen sollen (Kol 4,16Kol4,16).1 Weitere Details zu seinem Vorschlag – zum Beispiel, weshalb die Adresse geändert wurde – nannte Mill nicht. Auch Joseph B. Lightfoot plädierte 1875 dafür, den uns als Epheserbrief bekannten Brief mit dem in Kol 4,16Kol4,16 erwähnten Laodicenerbrief zu identifizieren, da Kolosser- und Laodicener-/Epheserbrief sich als gleichzeitig abgesandt lesen lassen.2 Der von Lightfoot angekündigte Kommentar zum Epheserbrief mitsamt ausführlicher Begründung der genannten These ist jedoch nicht mehr erschienen.3

Aus diesem Grund war Harnack im Jahr 1910 der erste, der die These der Priorität des Laodicenerbriefes konkret ausgearbeitet hat.4 Ausgehend von der frühesten Bezeugung des Briefes bei Marcion und der aus Kol 4,16Kol4,16 zu rekonstruierenden ‚Verwandtschaft‘ mit dem Kolosserbrief stellte sich Harnack die Textgeschichte der Epheseradresse folgendermaßen vor: Der Brief sei ursprünglich an die Gemeinde ἐν Λαοδικείᾳ („in Laodicea“) adressiert gewesen; diese Gemeinde sei jedoch gegen Ende des 1. Jh., wie aus Offb 3,14Offb3,14–22Offb3,14–22 zu erkennen ist, in Misskredit geraten, sodass die Adresse dieses Briefes getilgt worden sei.5 Um diese Zeit sei für die Leser des Briefes auch noch sichtbar gewesen, dass hier eine damnatio memoriae, also eine Verdammung des Andenkens, stattgefunden hatte.6 Später, als der Brief in eine Sammlung überführt worden sei und man daher eine Ortsangabe benötigt habe, hätte er die Überschrift ‚An die Epheser‘ bekommen.7

Unklar bleibt bei dieser Rekonstruktion vor allem die Frage, aus welchem Grund und wann der Brief zum Epheserbrief geworden ist – Harnack konnte seine Überlegungen nicht in der Geschichte der frühchristlichen Literatur verankern.8 Harnacks Position wurde (lediglich) von Shirley J. Case 1911 positiv aufgenommen – er meinte, diese Hypothese löse zwar nicht alle Probleme, habe jedoch entscheidende Vorteile gegen alle anderen bisher vorgebrachten Lösungen.9 Es ist gewissermaßen eine Ironie der Geschichte, dass Harnacks großes Marcion-Buch von 1924, das die Textänderungen Marcions hervorhob, dazu beigetragen hat, dass Harnacks 1910 veröffentlichtes Plädoyer für die Ursprünglichkeit der Laodicener-Adresse in den folgenden Jahrzehnten kaum rezipiert wurde – sondern vielmehr angenommen wurde, Marcion habe die Adresse eigenständig geändert.10

John Muddiman argumentierte 2001 ebenso für die Ursprünglichkeit des Laodicenerbriefes, allerdings in einer sehr speziellen Ausprägung: Seiner Meinung nach ist der Epheserbrief eine umfangreiche Erweiterung (ca. 50 %) eines ursprünglichen echten Paulusbriefes an die Laodicener, der zeitgleich mit Kolosser- und Philemonbrief geschrieben worden sei.11 Bei den Hinzufügungen – die Muddiman sich analog zur Überarbeitung des Mk durch Mt vorstellt – handele es sich um liturgisches und katechetisches Material, das eine dezidiert nachapostolisch jüdisch-christliche Perspektive sowie eine pointierte Ekklesiologie und Eschatologie einbringe.12 Der ursprüngliche Laodicenerbrief sei anschließend zur Seite gelegt und vernachlässigt worden.13 Problematisch an diesem Vorschlag ist vor allem die Rekonstruktion des ursprünglichen Laodicenerbriefes, für die sich keinerlei Anhaltspunkte in den Quellen finden; außerdem ist höchst fraglich, wie Marcion von diesem Brief gewusst haben soll, wenn er in Vergessenheit geraten sei. Nicht zuletzt ist es ein großer Nachteil, dass Muddiman von den Kirchenväterzitaten zu Marcions Textform nur diejenigen zur Adresse des Briefes berücksichtigt.

Im Jahr 2003 untersuchte George van Kooten die Entstehung der kosmischen Christologie bei Paulus und in der Paulusschule.14 Im Rahmen der Diskussion der unterschiedlichen kosmologischen Konzepte von Kolosser- und Epheserbrief ging er auch der Frage nach dem literarischen Verhältnis dieser beiden Briefe nach. In diesem Zusammenhang plädierte er ebenfalls für die Ursprünglichkeit des Laodicenerbriefes, allerdings in einer etwas von Harnack abweichenden Form: Der Autor des Kolosserbriefes habe in Kol 4,16Kol4,16 einen nicht existierenden Laodicenerbrief erwähnt, um die Kolosser für die angedachte Zirkulation des Briefes außerhalb ihrer eigenen Stadt zu motivieren.15 Einige Zeit später habe der Autor des Briefes, der uns als Epheserbrief bekannt ist, einen kritischen Kommentar zum Kolosserbrief verfassen wollen, wofür er durch die Erwähnung eines Laodicenerbriefes in Kol 4,16Kol4,16 das perfekte pseudepigraphe Szenario vorgefunden habe – so dass er diesen Brief (unseren Epheserbrief) als Laodicenerbrief verfasst habe.16 Laodicea sei später als Adresse verschwunden, weil diese verallgemeinert worden sei.17 Die Einfügung von Ephesus gehe auf die Verbindungen von Paulus zu dieser Stadt zurück.18 Van Kootens Überlegungen über das ursprüngliche Verhältnis von Kolosser- und Laodicener-/Epheserbrief sind sehr detailreich, bringen jedoch die Schwierigkeit mit sich, eine andere hypothetische Größe in die Diskussion einzubringen – nämlich einen fiktiven Laodicenerbrief. Zudem sind die Überlegungen zum Verschwinden der Laodicener- und dem Aufkommen der Epheseradresse deutlich zu unkonkret, um überzeugen zu können.

Auch Douglas Campbell sprach sich in seiner Untersuchung der paulinischen Briefe im Jahr 2014 dafür aus, dass der Epheserbrief ursprünglich nach Laodicea gesandt worden sei.19