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"Die Tiefe" erzählt die Geschichte mehrerer Generationen einer Familie, deren Schicksal tief mit dem einstigen Ostpreußen verwoben ist, einer Region, wo sich seit Jahrhunderten polnische, masurische, deutsche und litauische Identitäten miteinander verflechten: die Geschichte der Großmutter Janka, der Aristokratin Gudrun, ihres Geliebten Max, eines deutschen Chirurgen, der Tante Gertraud, die von Jankas Sohn, Wolf, und Alicja, dem jüngsten Familienmitglied und einer Anthropologin, die nur schwer damit zurechtkommt, das Elternhaus an der Guber zu verkaufen — ein geheimnisumwobenes Gebäude voller Erinnerungen. Wir folgen den Lebensschicksalen der Protagonistinnen und Protagonisten, beginnend mit der Zeit des Krieges — dem Fall von Königsberg und Rastenburg sowie dem unaufhaltsamen Vorrücken der Roten Armee —, über die Ära des kommunistischen Polens, in der über die Vergangenheit gar nicht oder nur im Flüsterton gesprochen wird, bis hin zur Gegenwart, in der sich ein neuer Konflikt entwickelt.
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Seitenzahl: 695
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Sonar 42
Ishbel Szatrawska, 1981 in Olsztyn (ehemals Allenstein, Polen) geboren, studierte polnische Literatur und Theaterwissenschaft an der Jagiellonen-Universität in Krakau, wo sie heute lebt und schreibt. Sie ist Autorin von sechs Theaterstücken, u. a. »The Life and Death of Mr. Hersh Libkin from Sacramento, CA« (Eurodram 2022 Selections). Ihr Debütroman »Toń« (dt. »Die Tiefe«) stand auf Platz eins der Bestsellerliste für polnische Literatur und wurde zu einem der »10 besten Bücher des Jahres« gewählt.
Andreas Volk, 1971 in Idar-Oberstein geboren, lebt seit bald zwanzig Jahren als Literaturübersetzer in Warschau. Er übersetzte bereits Ishbel Szatrawskas Theaterstück »Totentanz. Schwarze Nacht, schwarzer Tod«. 2013 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Vereinigung der polnischen Bühnenautoren und -komponisten Zaiks und 2022 mit dem Karl-Dedecius-Preis ausgezeichnet.
In diesem Text wird an mehreren Stellen die Markierung ».....« verwendet. Sie ersetzt ein rassistisches Schimpfwort, das im Originaltext im historischen oder sozialen Kontext fällt.
Die Entscheidung, das Wort nicht auszuschreiben, wurde bewusst getroffen. Sie dient dem Ziel, rassistische Sprache sichtbar zu machen, ohne sie zu reproduzieren. Gleichzeitig soll der historische Kontext der Figuren und ihrer Ausdrucksweise erhalten bleiben.
Wir möchten damit einen respektvollen, verantwortungsbewussten Umgang mit Sprache fördern – im Bewusstsein ihrer Wirkung damals wie heute.
Die Übersetzung wurde mit einem Perewest-Stipendium des Freundeskreises zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen e. V. gefördert.
Wydano z finansowym wsparciem Fundacji Współpracy Polsko-Niemieckiej. Herausgegeben mit finanzieller Unterstützung der Stiftung für deutschpolnische Zusammenarbeit.
Originaltitel: Toń
erschienen im Verlag Wydawnictwo Cyranka, Warschau 2023
© Ishbel Szatrawska
Deutsche Erstausgabe
© Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin und Dresden 2025
Lektorat: Kristina Wengorz
Umschlaggestaltung: B.T.S.A.
Satz: Fred Uhde
Druck und Bindung: BALTO print, Litauen
ISBN 978-3-86391-414-1
eISBN 978-3-86391-458-5
Verlag Voland & Quist GmbH
Gleditschstr. 66
D-10781 Berlin
www.voland-quist.de
DIE TIEFE
Dank
Das Fleisch der Pferde dient ihnen zur Nahrung; auch trinken sie deren Milch und Blut, worin sie sich sogar berauschen sollen. Die Menschen haben blaue Augen, ihr Antlitz ist rot, das Haar lang. In ihrem durch Sümpfe unzugänglichen Lande wollen sie keinen Herrn in ihrer Mitte dulden.
Helmold von Bosau, Chronik der Slawen
»Nimm nichts von Deutschen.«
Alicja erstarrte, sie hielt ein bunt verpacktes Schokoladenbonbon in ihrer Faust. Sie brauchte sich nicht umzudrehen. Auch so wusste sie, dass Großmutter Janka mit der Zigarette in der Hand unter dem Vordach stand, unbewegt, bedrohlich. Obgleich der Sommer in diesem Jahr ein typisch preußischer war, mäßig warm, wolkig, mit unangenehm kühlem Wind aus Norden, spürte sie, wie ihr heiß wurde.
»Nimm nichts von Deutschen. Bist doch kein Affe.«
Die messerscharfe Stimme der Großmutter zerschnitt die Luft. Alle schauten zu ihnen herüber: die Nachbarn der Piekuts, deren Kinder und die deutsche Touristengruppe, die mit Fahrrädern auf Heimwehtour war, wie es die Erwachsenen nannten. Die Bedeutung dieses Ausdrucks, bei dem es sich um eine bestimmte Form des Radausflugs handeln musste, hatte sich Alicja noch nicht erschlossen.
Mit einem entschuldigenden Lächeln und überraschend wenig Akzent flüsterte sie: »I am sorry«, und gab das Bonbon wieder zurück.
Der alte Deutsche blickte zu der Frau im Hintergrund. Die Großmutter rührte sich nicht. Trotz ihrer schlanken, zierlichen Figur schien sie die Anwesenden zu überragen. Der Deutsche begriff, dass es keinen Sinn hatte, mit ihr zu diskutieren.
Alicja wusste jedoch, dass in dem Moment, in dem sie an die Touristen herangetreten war und sie mit entwaffnend kindlicher Direktheit angesprochen hatte, ein Vertrag geschlossen worden war. Und sie wusste genau, was weiter geschehen würde: Großmutter würde sich umdrehen und im Schlund des großen braunen Backsteinhauses verschwinden, woraufhin sie die Deutschen, während diese an den Stallungen entlangspazierten, einholen würde. Sie war auf dem Hof das einzige Kind, das ein paar Brocken Englisch beherrschte. Sie war das einzige Kind, das sich verständigen konnte. Von ihrem Verhandlungsgeschick und sprachlichen Können hing es ab, ob die Rasselbande des Gestüts von den Fremden Süßigkeiten bekäme.
Großmutter war eine Frau der Ehre. Sie nahm nichts von anderen an, sie gab, wenn sie um etwas gebeten wurde, und wenn sie sich etwas lieh, zahlte sie das, was sie schuldig war, und noch ein wenig mehr zurück. Alicja war zwar erst zehn, doch ihr war bereits klar, dass sie keine Ehre besaß. Beides zugleich ging nicht, man musste sich entscheiden: entweder für die Ehre oder für Ritter Sport.
Am Danziger Flughafen ging alles überraschend schnell. Sein Pass wurde kontrolliert, sein Corona-Impfausweis, und ehe er sichs versah, saß er auch schon im Mietwagen. Als Erstes rief er Kathleen an.
»Ich bin gelandet«, sagte er, als sie ranging.
»Great«, antwortete sie mit ihrem markanten Akzent, »ich komme gerade vom Einkaufen zurück. Ich wollte nicht, dass das Gleiche wie letztes Jahr passiert. Im ganzen Haus hatte ich nicht einmal eine Packung Kekse.«
»Lass ein paar Shortbread für mich übrig.«
Sie lachte. Im Kopfhörer knackte es. Er wartete, dass die Störgeräusche verschwanden, als im Auto die monotone Stimme des Navis ertönte.
»Du fährst gerade«, sagte sie. Es klang verzerrt. »Ich lege auf. Vergiss nicht, Alicja Bescheid zu geben.«
Er hatte keine Lust, Alicja anzurufen. Seit nun schon fast drei Monaten war er im Gespräch mit ihr und hatte das Gefühl, gegen eine Wand zu reden. Er drang mit seinen Argumenten nicht zu ihr durch. »Wir müssen das Haus verkaufen«, sagte er immer wieder. Weil sie ihn nicht mit Argumenten überzeugen konnte, probierte sie es auf die Mitleidstour, was er als emotionale Erpressung empfand. Seit August hatten sie darüber diskutiert, aber er wusste nicht, was er noch tun sollte, damit sie endlich Vernunft annahm. Er hatte immer wieder darauf hingewiesen, dass das Haus seit Jahren leer stand. Dass es keinen Sinn hatte, es nach Jankas Tod und dem von Tante Gertraud, die ihre letzten Lebensjahre dort verbracht hatte, weiter zu unterhalten. Aber Alicja hatte sich taub gestellt. So vergingen August, September und Oktober. Er hatte bereits einen Käufer gefunden, einen Notartermin vereinbart und sogar die Besichtigung des Hauses organisiert, ohne dass er dafür extra aus Schottland hatte kommen müssen. Sie hatte eingewilligt, beim Ausräumen des Hauses zu helfen. Immerhin etwas.
Er holte mehrmals tief Luft, bog Richtung Süden ab und rief sie erst hinter Tczew an.
»Hallo, Papa«, meldete sich eine müde Stimme.
»Rate mal, wo ich bin«, gab er sich fröhlich. »Ich fahre gerade über die Nogat und schaue auf die Marienburg.«
Er warf einen schnellen Blick auf die andere Seite des Flusses.
»Die Marienburg?«, wunderte sich Alicja. »Fährst du nicht Richtung Nowy Dwór Gdański?«
»Laut GPS gibt es furchtbare Staus, also düse ich Richtung Malbork, Elbląg und dann die normale Strecke, an der Grenze entlang.«
»Pass auf dich auf. Denk an die Verrückten, die zu Allerheiligen unterwegs sind …«
Er seufzte. »Ich weiß, ich bin fünfundsiebzig und habe das Reaktionsvermögen eines Tattergreises …«
»Papa«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich meine es ernst.«
Die plötzlich eintretende Stille wurde durch das Klappern der Betonplatten auf der Brücke unterbrochen. Aus dem Grau des Nebels tauchten die Wehrtürme der Burg wie aus Rauchwolken auf.
»Wir sollten uns besser nicht unterhalten. Konzentrier dich lieber auf die Straße.«
Erneut betretenes Schweigen.
»Wann fährst du los?«
»Morgen«, sagte sie kurz und unmissverständlich. Sie wollte das Gespräch beenden.
»Allein?«
»Natürlich allein …«
»Und Jarek?«
»Können wir das bitte lassen?«, zischte sie. »Ich bin morgen da, ich melde mich, wenn ich in Olsztyn umsteige.«
Kurz darauf legte sie auf. Er hatte gerade noch ein unbeholfenes »Ich liebe dich« gestammelt. In zwei Teile durchtrennt, blieb der Satz irgendwo zwischen den Sendern im Äther hängen.
Es ging um das Haus. Natürlich ging es um das Haus. Um das Gebäude, um den Ort, um alles. Er wollte vernünftig handeln, fühlte sich aber so, als würde er sie um etwas berauben. Beide trugen in sich nur diesen einen einzigen Raum. Den einen, in dem der Geruch von schwerem Harz so intensiv war, dass er in der Nase kitzelte, und in dem die Welt einen Stich ins Blaue hatte, selbst im sommerlichen Sonnenschein, als ob über allem, so weit das Auge reichte, der Geist eines Gletschers läge.
Er war sich nicht sicher, was seine früheste Erinnerung war. Das Knarren der Dielen, wenn man vom Wohnzimmer in die Küche ging? Der Geruch von Knoblauch und Dill, der einem von dort entgegenströmte? Oder Mutters Stimme? Er hatte sie noch deutlich im Ohr: »Nicht anfassen, Wolf, lass die Finger davon, du verbrennst dich sonst!« Es musste eine seiner ersten Erinnerungen gewesen sein, denn Jankas Stimme klang sehr jugendlich, mädchenhaft, mit einem leichten östlichen Akzent. Einige Jahre später hatte sie ihn sich abtrainiert, er wusste eigentlich nicht, warum.
Das Haus lag etwas abseits. Von der Straße bog man in einen Waldweg ein, der zum Fluss führte. Das niedrige Steingebäude wirkte gedrungen, unmittelbar neben der Schlucht, in der die Guber rauschte. Es war kein schönes Haus, doch von solider masurischer Bauweise. Weiß getüncht, selbst für die unmittelbare Umgebung untypisch, in der alles aus rotem Backstein gebaut war, stand es auf einem Moränenhügel, von dem ein steiler Hang zum Fluss abfiel, und dahinter, auf der anderen Uferseite, lag der düstere preußische Urwald, ein Meer aus dicht gedrängten Fichten, Kiefern und Lärchen. Sie bildeten eine eigentümliche Mauer, ihre emporstrebenden Baumkronen glichen einem Zug gotischer Türme, und verdeckten den Weg, auf dem man, nach dreißig bis vierzig Minuten Fußmarsch, zum Staatlichen Landwirtschaftsbetrieb in Nakomiady gelangte.
Er hatte sich nie gefragt, warum er dort mit seiner Mutter allein gelebt hatte. Vor Jahren hatte er einmal gehört, dass die Behörden bei ihnen Untermieter einquartieren wollten. Schließlich bestand das Haus aus fünf Zimmern – in dem langen, schmalen Gebäude hätte eine gar nicht so kleine Familie Platz gefunden. Und dennoch war nie jemand, weder aus eigenem Willen noch von Amts wegen, zu ihnen gezogen. In den Dörfern der Umgebung erzählte man sich, dass niemand bei ihnen wohnen wollte. Er war der Sache nie auf den Grund gegangen. Er und seine Mutter lebten allein, und nur abends kam der Alte Marcin vorbei, Mutters Liebhaber, was jeder wusste und niemand kommentierte. Und manchmal ein paar enge Freunde.
Aus frühen Kindertagen war ihm auch die Großmutter in Erinnerung geblieben. Dünn und schwach, mit den Jahren immer gebrechlicher, wechselte sie nurmehr den Ort, an dem sie ihre Knochen wärmte. Im Sommer saß sie vor dem Haus, im Winter versank sie, in eine Decke gehüllt, in einem alten, tiefen Sessel, von dem sie selbst sagte, dieser könne sich noch gut an die Deutschen erinnern. Sie war der Mutter keine Hilfe, dazu fehlte ihr die Kraft, eine rätselhafte Krankheit zehrte an ihr, Jahr um Jahr und noch ein weiteres Lebensjahr. Gelegentlich nahm sie eine Nadel zur Hand, farbige Fäden, und stickte schweigend: wilde Tiere, rote Sonnen, exotische Blumen. Sie sprach leise, als hätte sie Angst vor etwas. Er erinnerte sich daran, dass sie für ihn immer Bonbons bereithielt, die sie in den überraschendsten Momenten hervorkramte.
Janka kam allein zurecht. Eigentlich war sie immer allein. Auch wenn sich tagsüber die Bäuerinnen der umliegenden Dörfer die Klinke in die Hand gaben und danach das Rattern der Singer-Nähmaschine das Haus erfüllte. So hatte er sie in Erinnerung. Zierlich, über die Maschine gebeugt, auf die Naht konzentriert. Abwesend.
Woran erinnerte er sich noch?
An das Jahr achtundvierzig, vielleicht war es neunundvierzig. Er war drei, höchstens vier Jahre alt. Und dennoch hatte sich diese Erinnerung tief in sein Gedächtnis eingegraben und darin eine schmerzhafte, klaffende Furche hinterlassen.
Sie fuhren ins Dorf, der Alte Marcin lenkte den Wagen. Ein abgemagerter Gaul zog das Fuhrwerk mühsam bergan. Wolf war ein ungelenker kleiner Knirps. Bei jedem Ruckeln versuchte er, sich am Wagenrand festzuklammern, und jedes Mal packte ihn Janka am Kragen.
»Bleib brav sitzen und lehn dich nicht vor«, ermahnte sie ihn ein ums andere Mal.
Er hörte nicht auf seine Mutter, als würde er nicht verstehen, dass er Gefahr lief, sich eine Beule einzuhandeln.
Neuschnee bedeckte die Straße, in der Ferne waren schemenhaft die Dächer des Dorfes zu erkennen. Groß Stürlack, wie Mutter zu sagen pflegte, obwohl der Ort längst Sterławki hieß. Die Luft war frostig und klar. Marcin saß auf dem Bock und sah gedankenversunken vor sich hin. Das Pferd schnaubte mehrmals unruhig und ging langsamer. Im Dorf standen ein Armeelaster und ein weiteres Auto. Der Junge blickte fragend zur Mutter, die nicht reagierte. Marcin und sie sahen seltsam schweigend in Richtung Dorf.
Eine kleine Gruppe Soldaten strich zwischen den Hütten herum. Am Straßenrand lagen Kleidung, Schuhe und Gebrauchsgegenstände. In den Lumpenhaufen standen Menschen, die eilig und geübt Mäntel, Hosen und Hemden durchsuchten und die besseren Stücke in Leinensäcke warfen. Eine Mischung aus Angst und Aufregung lag in der Luft, die sich ihm sofort mitteilte. Mutter und Marcin saßen reglos wie zwei Statuen auf dem Wagen. Auf der Dorfstraße kniete ein alter Mann. Sein graues, schütteres Haar wehte unheilschwanger im Wind. Ein Soldat sagte etwas, was Wolf aber nicht hören konnte. In diesem Moment erblickte der Junge die Familie des alten Mannes, fast nur Frauen. Die Soldaten schrien, einer versuchte, ein junges Mädchen wegzuzerren, das sich mit Händen und Füßen wehrte.
»Wolf«, hörte er plötzlich seine Mutter, »sag jetzt nichts.«
Einer der Soldaten bedeutete ihnen mit einer Handbewegung anzuhalten. »Was seid ihr für welche?«, fragte er. Das raschelnde Polnisch klang plötzlich seltsam fremd.
»Hiesige«, antwortete Marcin.
Die Mutter schwieg und drückte Wolf an sich.
»Hiesige?«, der Soldat lachte. »Ihr wollt mich wohl auf den Arm nehmen, Bauer. Habt ihr irgendwelche Papiere?«
Wolf, der den rasenden Puls seiner Mutter hören konnte, starrte den alten Mann auf der Straße unverwandt an. Dieser bemerkte den Blick des Kleinen und erwiderte ihn. Der Junge begriff nicht, was um ihn herum geschah, spürte jedoch instinktiv die Spannung, die in der Luft lag. Der alte Mann hatte kleine, hellblaue, eng stehende Augen. Tiefe Falten durchfurchten seine Stirn und die herabhängenden Wangen, als würde sein ganzer Körper von einer unsichtbaren Last erdrückt. Das stoppelige Kinn zitterte leicht, und Wolf kam es so vor, als wollte der alte Mann ihm etwas sagen, er brachte jedoch kein einziges Wort heraus.
Der Soldat sah sich die Papiere an. »Marcin Skiba, ja?«, brummte er, wonach er die Mutter anblickte. »Eure Frau?«
»So Gott will«, antwortete Marcin.
»Nachname?«
»Lakis«, Mutters Stimme klang erstaunlich ruhig. »Janina Lakis.«
»Was habt ihr hier zu suchen?«
»Wir fahren zum Gut.«
»Nach Eichmedien? Von wo kommt ihr?«
»Vom Haus an der Guber. Vor der Abzweigung nach Carlshof.«
»Hier lang? Durch Groß Stürlack? Das ist ein Umweg, ihr fahrt besser durch den Wald. Kennt ihr euch aus? Wisst ihr, wo man die Guber überqueren kann?«
Das Gespräch zog sich in die Länge. Der Soldat gestikulierte lebhaft, kratzte sich am Kopf, drehte sich um die eigene Achse und zeigte mit dem Finger in die entsprechende Richtung.
Die Mutter beruhigte sich, hielt Wolf aber weiter in eisernem Griff. Gebannt beobachtete der Junge den Soldaten, der wie eine lebendige Spielzeugfigur eine feste Abfolge von Bewegungen ausführte: Finger nach oben, Finger zielt geradeaus, Drehung. Mit großen Augen und offenem Mund verfolgte der Kleine die Szene, bis er schließlich in wildes Kinderlachen ausbrach und damit mitten in die Diskussion der Männer hineinplatzte. Zugleich versuchte er, in die Hocke zu kommen und sich aufzurichten, noch immer in den Armen der Mutter gefangen. Sein Lachen war derart ansteckend, dass selbst im Gesicht des alten Mannes, kaum wahrnehmbar, ein Muskel zuckte.
Der Soldat grinste belustigt. »Du hast ja ein sonniges Gemüt, du Lausbub«, wandte er sich an Wolf. »Wie heißt du denn?«
»Wir müssen weiter!«, fuhr Marcin unvermittelt dazwischen. »Das Weib wird mir sonst später die Leviten lesen.«
Der Soldat hob die Hand, und auf der Kuppe eines Hügels kam Leben in eine Gruppe Männer. Die Räder des Fuhrwerks begannen, sich mühsam durch den gefrorenen Schnee zu fressen.
Die Mutter ließ Wolf nicht los, drückte ihn an ihre Brust. Neugierig lugte er unter ihrem Schaffellmantel hervor und beobachtete die Gesichter der Menschen, an denen sie vorbeifuhren. Niemand schenkte ihnen Beachtung. Als das wacklige Gefährt wieder abwärtsschaukelte, hörte er den abgerissenen Schrei eines Mädchens, scharf wie eine Rasierklinge. Ein Schauder durchfuhr die Mutter, doch sie zuckte mit keinem Lid.
Er wusste weder, wohin sie fuhren, noch, wozu. Die Leute am Straßenrand sahen alle gleich aus, grau, durchfroren, irgendwie aufgewühlt. Er erspähte eine Feuersäule, die flackernden Flammen prasselten im winterlichen Weiß.
Nachts ging es wieder zurück, in Groß Stürlack waren keine Soldaten mehr, auch keine Dorfbewohner, nur die alten Kleidungsstücke, die niemand mitgenommen hatte, lagen verstreut herum. Vom Schnee durchweicht sahen die zerwühlten Lumpen wie ineinander verknäulte Tiere aus. In Mertenheim wurden sie erneut von einer Patrouille angehalten, das Gespräch verlief nahezu identisch. Einfache Fragen, die raschelnde Sprache, die so ganz anders klang als der Singsang der Mutter. Diesmal war der Soldat jedoch nicht zu Scherzen aufgelegt. Er hielt den Kopf schräg und sah sie prüfend an. Mehrmals wiederholte er Mutters Namen und zog dabei kurz den Mundwinkel nach oben.
Es war spät in der Nacht, als sie ankamen. Sie schliefen zusammen unter mehreren Schaffellen, und am nächsten Morgen gab der Alte Marcin der Mutter ein Jagdgewehr.
»Hier, das ist das Korn, das die Kimme.« Er senkte seine tiefe Stimme fast zu einem Flüstern. »Siehst du? Du musst den Kolben gegen die Schulter pressen. Und gleichmäßig atmen, sonst triffst du nicht.«
Bedächtig und überlegt führte sie alle Handgriffe aus, mit tödlicher Ruhe.
»Wenn du das Gefühl hast, du wackelst, stütz dich irgendwo ab. Betätige nur dann den Abzug, wenn du sicher bist, dass du triffst.«
Sie nickte.
»Aber am besten nimmst du den Kleinen und läufst in den Wald. Schieß einmal in die Luft. Ich werde es hören.«
»Und die Mutter? Sie wird es nicht schaffen«, wandte sie ein.
Er verstummte. Sie sah ihn fragend an, hartnäckig, ihre Nasenflügel bebten immer schneller. Schließlich erstarrte sie und blickte ihm fest in die Augen, als wollte sie bekräftigen, dass sie sogar dazu bereit wäre.
Die nächsten Tage kam der Alte Marcin an den Nachmittagen vorbei und wartete, bis es dunkel wurde. Doch die Nacht verbrachte er bei sich. Janka suchte geduldig den Horizont ab, sie ahnte, dass ungebetener Besuch ins Haus stand. Vor dem Bett der Mutter legte sie Lumpen aus.
»Du musst runterrollen, sobald sie kommen«, sagte sie.
»Das hat man nun davon«, jammerte die Großmutter, »wären wir doch bei uns zu Hause geblieben, statt in der Fremde umherzuirren.«
»Die Lumpen sorgen dafür, dass du dich nicht stößt«, fuhr Janka ungerührt fort. »Lass dich auf den Boden fallen. Am besten du kriechst unters Bett.«
Die Großmutter verfluchte den Krieg, das Haus, die Deutschen und die Polen, dann verstummte auch sie. Alles verstummte, als verharrte das ganze Haus in gespannter Erwartung.
Wenige Tage später machte sich Janka zu Fuß auf den Weg nach Carlshof, in der Hoffnung, einige Gerätschaften gegen Kartoffeln vom letzten Jahr eintauschen zu können. In der Dorfschenke herrschte lärmendes Treiben, Zivilisten tranken mit Soldaten, alle trugen die gleiche Kleidung, jedes Teil der Garderobe aus einer anderen Quelle, ein Mantel aus Schaffell, dessen Träger ihn weiß der Teufel von wo herhatte, eine herrenlose Hose, ein Pullover, der aus einer Plünderung oder vom Schwarzmarkt stammte, eine wogende Menge, in die Janka in Zickzacklinien eintauchte, um den schon etwas betrunkeneren Herren auszuweichen. Es roch nach Selbstgebranntem, Moder und Terpentin.
Sie bemerkte ihn an der Wand gegenüber. Er trug dieselbe Uniform, dieselbe Jacke und lächelte sie völlig ungeniert an. Augenblicklich wich sie zurück und eilte zum Ausgang. Er lief ihr nicht hinterher, er hatte Zeit, er wusste genau, dass sie sich früher oder später wiederbegegnen würden.
Sie rannte, ohne sich umzudrehen. Schlitterte über die vereiste Straße. Sie war völlig außer Atem, als sie ins Haus stürzte. Sogleich begann sie, die Möbel zusammenzurücken.
»Was ist passiert? Hast du jetzt ganz den Verstand verloren, Mädchen?«, rief die Großmutter.
»Auf den Boden, Mutter! Wolf, zu mir!«, befahl Janka, vor Anstrengung keuchend.
Sie verbarrikadierte die Tür und schob den Tisch an die Wand.
»Wolf«, flüsterte sie und packte ihn am Handgelenk. »Du musst dich unter dem Tisch verstecken, hast du verstanden? Mama gibt dir ein Federbett, du wickelst dich darin ein und bleibst dort liegen, verstehst du, was ich sage? Und kein Wort, keinen Mucks. Sieh mich an.«
Der Junge sah sie erschrocken an.
»Kein Ton, das ist sehr wichtig. Auch wenn du weinen willst. Wickel dich ein und bleib, wo du bist, bis ich dich holen komme.«
Sie legte ihn auf das Federbett, seine Fäustchen krallten sich in ihren Pullover. Sanft öffnete sie die zusammengeballten Finger und deckte ihn zu. Sie setzte sich an den Tisch und brachte das Gewehr probehalber in Anschlag. Ihre kleinen Füße hingen in der Luft, er konnte sie zwischen den Falten der Bettdecke hindurch sehen. Dann begann das große Warten.
Zwei Stunden später tauchten die Soldaten auf. Das Dröhnen des Motors kündigte ihr Kommen an. Sie war sich nicht sicher, zu wievielt sie waren. Ihr Blick wanderte wachsam von der Tür zum zugehängten Fenster. Sie hörte das Knirschen der Steine unter ihren Stiefeln, jeden Atemzug. Die Waffe lag sicher und fest in ihrer Hand. Ein Pfiff ertönte. Sie wandte den Blick in die Richtung, aus der er kam, zielte mit dem Gewehr aber weiterhin auf die Haustür. Wie angewurzelt blieb sie sitzen. Ihr Atem stockte, als wäre sie zu Stein erstarrt. Es war heiß in der Decke, aber der Junge hatte Angst, sich zu bewegen. Plötzlich heftete sie den Blick auf einen Punkt und legte den Finger auf den Abzug. Er war dort. Sie witterte ihn, sie wusste genau, wo er stand, direkt vor der Tür. Sie wartete. Auf ein Tuscheln. Einen Versuch, die Tür zu öffnen. Es genügte ein einziges Signal. Aber auch er schien ihre Anwesenheit zu spüren. Wie ein scheues Tier, das eben noch regungslos dastand und dann in der Sekunde vor dem Schuss die Flucht ergriff. Sie wurde ungeduldig, war bereit, im nächsten Moment geräuschlos unter den Tisch zu gleiten, sie spannte die Beinmuskeln so, dass ihre Fußspitzen den Boden berührten. Sie hielt den Atem an und zielte von Neuem. In diesem Moment wurde Wolf bewusst, dass seine Mutter imstande war, jemanden zu töten. Der Finger löste sich vom Abzug und näherte sich ihm erneut, als zählte sie bis drei. Eins. Zwei.
Vor der Tür waren schnelle Schritte zu hören, ein zweiter Pfiff, und der Motor wurde angelassen. Kurz darauf entfernte sich das Knattern in Richtung Landstraße. Sie blieb noch eine ganze Weile in dieser Position sitzen, als wollte sie sich vergewissern, dass die Eindringlinge abgefahren waren und ihr keine Falle gestellt hatten.
Wann war aus Eichmedien Nakomiady geworden? Wann aus Rastenburg erst Rastembork und dann Kętrzyn? Aus Carlshof Karolewo und aus Groß Stürlack Sterławki? Wohl schon bald, als wäre man überzeugt gewesen, mit Namen aus dem Chaos eine reale Welt zu erschaffen, und diese wurde unter Schmerzen geboren. Mit der Zeit gab es immer weniger Banditentum und immer mehr Bürokratie, doch die Armut setzte ihnen weiterhin zu. Sie lebten von der Schneiderei – die Mutter nähte, seit Wolf denken konnte, und das Rattern der Singer-Nähmaschine war eine seiner frühesten Kindheitserinnerungen. Das, was sie nähte, versuchte sie, einzutauschen – gegen Geld oder, wenn das nicht ging, gegen Kartoffeln, Spiritus, Zucker, irgendetwas Essbares.
Großmutter war meistens zu schwach, um zu helfen. Am häufigsten besuchten sie der Alte Marcin, der aus Nakomiady zu Fuß durch den Wald oder mit dem Wagen kam, und Frauen aus der Umgebung, meist, um Hochzeitskleider zu bestellen, denn für Alltagskleidung verschwendete niemand Geld.
Die Mutter war nicht besonders beliebt. Wortkarg und verschlossen, wie sie war, weckte sie kein Vertrauen. Mit der Zeit sammelte sich jedoch um sie ein Kreis von Personen, die alle wie sie Kriegsversehrte waren.
In der Gegend kursierten immer noch Erzählungen von Überfällen der Kurpen, grassierenden Banden und Machtwillkür.
»Hinter Szczytno sind vierzig von ihnen aufgetaucht«, sagte eine korpulente Frau mit gesenkter Stimme. Janka steckte an der Tochter der Frau den Stoff ab und hielt dabei die Nadeln zwischen den Lippen. »Die Frauen wurden vergewaltigt, die Kerle erschossen, sie haben alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Und die Maschinen der Deutschen, die sie nicht zu bedienen wussten, haben sie zerstört. Was für ein Pack. Ich wollte Frieden – Gott ist mein Zeuge, wie ich den wollte –, aber so schlimm ist es nicht einmal während des Krieges gewesen.«
Die Großmutter nickte verständnisvoll. Janka schwieg.
»Frau Schneiderin«, fuhr die Frau leiser fort. »Lassen Sie vorne mehr Stoff. Sie wissen … für den Bauch. Damit meine Tochter mir vor dem Altar keine Schande bereitet.«
»Das ist weder eure Schande noch die eurer Tochter«, murmelte Janka, ohne die Stecknadeln aus dem Mund zu nehmen. Doch eine gewisse Unwirschheit in ihren Bewegungen ließ die Frau zusammenzucken.
»Frau Schneiderin … aber in der Kirche …«
»Die Kirche wird nichts sagen. Wir haben jetzt eine Volksrepublik.«
Die Frau musterte Janka, die den Stoff absteckte.
»Alles wird gut«, sagte diese ein wenig milder. »Ihr werdet zufrieden sein.«
»Gott sei Dank«, seufzte die Frau.
Das Mädchen stand unbewegt da und hatte nicht nur Angst, etwas zu sagen, sondern hielt auch den Blick gesenkt, um niemanden ansehen zu müssen.
»Was starrst du die ganze Zeit auf den Boden?«, Janka schaute ihr ins Gesicht und lächelte schief. »Glaubst du etwa, der Leibhaftige erscheint dort?«
»Na, willst du es der Tante nicht erzählen«, in der Hand der Stankiewiczowa blitzte ein Lutschbonbon. »Wenn du der Tante alles erzählst, bekommst du eine Belohnung.«
In der Stube war es stickig. Piekut saß am Fenster und versuchte, einen zerbrochenen Krug zu kleben.
»Wolf«, sie sah, dass der Junge sich nicht konzentrieren konnte, also bemühte sie sich, geduldig zu sein, »dann bekommst du ein Bonbon von der Tante. Willst du ein Bonbon?«
Was für ein Blag. Jedem anderen Kind hätten die Augen geleuchtet, doch bei diesem tat sich rein gar nichts. Als wäre es eine Puppe. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
»Willst du ein kleines, köstliches Bonbon?«
»Ja«, sagte er leise.
»Gut, aber zuerst musst du dich ein wenig mit der Tante unterhalten.«
Er heftete den Blick zu Boden.
»Besucht jemand deine Mama?«
»Lasst ihn in Ruhe, Mutter«, meldete sich Piekut ungefragt.
»Misch du dich da nicht ein! Sag, Schätzchen, wer besucht deine Mama?«
Er dachte angestrengt nach. »Die Braut!«, rief er aus.
»Um ihr Kleid abzuholen, ja?«
»Ja!«
»Und abends? Wenn es Nacht ist und die kleine Sonne schon schläft, wer kommt dann?«
»Hütet euch, Mutter! Wenn der Alte Marcin das erfährt, wird er euch grün und blau schlagen.«
»Ach, woher denn, der und schlagen«, krächzte die alte Kozłowska, die mit Piekuts Schwiegermutter verschwägert war. »Ein Blick genügt, um zu wissen, dass der noch nie gegen irgendjemanden die Hand erhoben hat.«
»Dann werdet ihr die Erste sein!«, donnerte Piekut.
Die alten Frauen rückten dichter an Wolf heran, was ihn noch verlegener machte.
»Wer kommt zu deiner Mutter, Täubchen? Wenn es schon Nacht ist?«
»Der Alte Marcin.«
»Ihr spielt mit dem Feuer, Mutter.«
»Mit dem Feuer, mit ebendiesem Feuer, Gottloser!«, zeterte die Kozłowska.
»Gut«, die Stankiewiczowa rieb sich die Stirn und rückte noch ein Stück näher. »Außer Marcin. Denk nach. Wer noch?«
»Die vier Musketiere.«
»Was?«
»Die vier Musketiere.«
»Wir treffen uns zum Bridge!« Piekut war sichtlich genervt. »Marcin, Sommer, Szulc und ich. Lasst ihn in Ruhe, Mutter!«
»Ein dummer Kerl, den eure Tochter da zum Mann genommen hat.« Die Kozłowska bekreuzigte sich. »Das wird noch böse enden.«
»Und sie spielen Karten, ja?«
Wolf nickte.
»Und außer ihnen, wer noch?«
Er spürte, dass er gleich anfangen würde zu weinen, er wollte kein Bonbon mehr.
»Ich muss mal Pipi«, stammelte er.
»Fragt ihn, warum man die Mutter nie in der Kirche sieht.«
»Seid ihr vielleicht einfältig, Kozłowska«, echauffierte sich die Stankiewiczowa. »Sie geht nicht in die Kirche, weil sie Karäerin ist.«
»Staszek behauptet, sie sei Jüdin«, erwiderte sie.
»Staszek redet Unsinn. Sommer ist Jude, das ist bekannt. Und dass er aus Wilna stammt, das ist auch bekannt. Sie aber ist aus Traken, Karäerin. Oder Russische.«
»Russische nicht. Eher Litauerin.«
»Alles einerlei, Teufelsbrut.«
»Und nicht aus Traken«, die Kozłowska gab sich nicht geschlagen, »sondern von einem Gutshof. Ihr habt nicht den leisesten Schimmer. Von einem Gutshof, und die älteren Herrschaften sind nicht ihre Familie, sondern die Gutsbesitzer, sie sind zusammen mit dem Wagen geflohen.«
»Sie haben den Wagen und den Gaul von einer Deutschen gekauft, aber das war später, sie sind wie alle mit dem Zug gefahren.«
»Kann ich jetzt gehen?«, murmelte er flehentlich.
»Gleich kannst du gehen. Und bekommst dein Bonbon. Sag nur, wer noch dein Mamachen besucht. Vielleicht ein adrett gekleideter Herr, der mit den Absätzen klappert? Einen Rüschenkragen trägt? Und einen Gehrock? Kennst du so einen Herrn?«
»So einer sucht die vornehmen Herrschaften auf«, sagte die Kozłowska fachkundig. »Zu ihr kommt dessen rußiger Bruder.«
»Behüte Gott, dass ich mich nicht vergesse und euch, dummes Weibervolk, davonjage«, knurrte Piekut durch die Zähne.
»Er hat die Lust am Kartenspiel entdeckt, und es zieht ihn mit den anderen Gottlosen zu ihr. Du wirst es noch bereuen!«
»Du bringst Unheil über uns alle!«
Piekut hatte den Krug geklebt und stellte ihn vorsichtig auf den Tisch. Er ging mehrmals um ihn herum und hielt das Gefäß gegen das Licht, prüfte, ob alles so war, wie es sein sollte.
»Ich sage euch, Marynia«, die Kozłowska schüttelte den Kopf, »sie hat mit teuflischer Kunst den Deutschen um den kleinen Finger gewickelt. Eine habgierige Person, es ging ihr nur um das Haus. Sie hat das alles beizeiten ausbaldowert. Und die Deutschen arglistig getäuscht, den jungen wie den alten.«
Ein Schatten hing über ihnen. Sie hoben die Köpfe.
Piekut blickte mit drohender Miene auf sie hinunter. »Raus hier, beide! Lasst den Jungen in Ruhe, sonst gerbe ich euch das Fell. Der einen wie der anderen.«
Piekuts Schwiegermutter erhob sich und zog wie ein begossener Pudel ab, die Kozłowska trippelte hinter ihr her.
»Dummkopf!«, rief sie an der Tür. »Du bringst Unglück über die Familie!«
»Raus jetzt!«, schrie er zurück. »Dämliche Weibsbilder! Dass ich euch hier nicht wiedersehe!«
Piekut beruhigte sich und streichelte dem Jungen über den Kopf.
»Hau ab! Und denk dran: Wenn sie dir ein Bonbon anbieten, nimm es nicht und such das Weite.«
Der Sommer in diesem Jahr war ungewöhnlich. Meist brannte die Sonne, und im Juni zeugte, wenn man nach Norden sah, ein blasser Fleck am Himmel davon, dass in weiter weg gelegenen Dörfern und Städten die Weißen Nächte angebrochen waren. Man zeigte sich gegenseitig den Fleck und zerbrach sich den Kopf, wie die Leute dort überhaupt schlafen und arbeiten konnten, wenn bei ihnen die Nacht zum Tage wurde. Aber selbst wenn der Sommer mal warm und wolkenlos war, wehte von Norden stets ein feucht-kühler Wind, der nachts derart scharf sein konnte, dass man sich einen Wollpullover überziehen musste. Dieses Jahr blieb der Wind jedoch aus, und der schwüle Sommer machte allen zu schaffen.
Im August wurde in Nakomiady gedroschen, tagelang schwebten Strohteilchen in der Luft. Jeder spürte sie auf der Haut, im Haar, in der Nase, die Augen juckten. Die Männer arbeiteten wortlos in der sengenden Hitze, der Alte Marcin, dem der Schweiß unter dem Hemd herunterrann, richtete sich von Zeit zu Zeit auf, wischte sich das Gesicht ab, und sah er dann Wolf, zwinkerte er ihm verschmitzt zu. Der Junge lachte und lief mit den anderen Kindern hinter die Scheune.
Abends aßen die Erwachsenen Kartoffeln und tranken, und die Mutter kam, um ihn abzuholen. Sie setzte sich selten zu den anderen an den Tisch, aber sie wurde auch selten eingeladen.
»Wir gehen nach Hause. Zeit zum Schlafengehen«, sagte sie.
»Mamaaa! Es ist noch hell!«, protestierte er.
Die Erwachsenen lachten, was für ein schlaues Bürschchen, während Marcin oder einer der anderen aus Zentralpolen bemerkte, dass es im Sommer im Süden früher dunkel werde, die Kinder sich also nicht bis zehn draußen herumtrieben.
»Im Sommer ist es in Litauen wie hier, es dämmert auch spät«, sagte Piekut, worauf die Wilnaer nickten und erzählten, dass es dafür im Winter fast keinen Tag gebe und alles in Dunkelheit gehüllt sei.
Manchmal gab die Mutter auch auf. Ließ ihn in Nakomiady, entweder bei den Skibas, dem Alten Marcin und seiner Frau, oder bei den Piekuts und kam erst am Morgen wieder zurück, um ihn abzuholen. Dann machte er einen Freudensprung, und die Erwachsenen lachten herzlich und strichen ihm über den Kopf.
»Mit wem spielst du denn?«, fragte sie. »Mit Tadek oder mit Paweł? Bei wem soll ich dich lassen?«
»Das ist nicht dein Ernst, Janka«, Piekut glaubte, sich verhört zu haben, »die Jungs schlafen zusammen in der Scheune. Sie sollen sich austoben, solange sie noch jung sind.«
»Vielleicht verscheuchen sie die Mäuse.« Die Piekutowa lachte.
»Sie werden vor Aufregung sowieso nicht schlafen.«
Sie lächelte warm, was nicht oft vorkam, drückte ihn kurz an sich und schob ihn dann wieder sanft weg. »Na, geh, geh schon«, sagte sie leise. »Aber sei brav, hör auf die Älteren und mach keine Dummheiten. Keine Streichhölzer. Und geht nicht allein ans Wasser. Verstanden?«
Und dann zog sie ab, grußlos, eine kleine, zierliche Person mit einem langen, schwarzen Zopf, der im Rhythmus ihrer Schritte wippte, begleitet von den bösen Blicken der älteren Frauen. Nur Großmutter Piekutowa nahm sie in Schutz, vermutlich, weil sie der Schwiegermutter ihres Sohnes eins auswischen wollte.
Sie schliefen also zu dritt in der Scheune, er, Tadek Piekut und Paweł, der jüngste von Marcins Söhnen – seine Brüder hatten bereits mehr Pflichten und gingen völlig anderen Vergnügungen nach.
Tadek zappelte, schnaufte und beklagte sich ständig, dass ihm heiß sei, an Schlafen war also nicht zu denken. Sie alberten herum, schubsten sich gegenseitig, und Paweł flocht aus Stroh ein kleines Pferdchen.
»Ist das aber schief!«, machte Tadek sich lustig.
»Selber schief«, erwiderte Paweł und schob das Pferdchen unter sein Hemd.
»Es ist nicht einmal ein Pferd! Ein richtiges Pferd wird von einem Ritter geritten.«
»Und du hast bestimmt schon mal einen gesehen.«
»Ja, habe ich«, antwortete Tadek. »In dem Wäldchen hinter dem Gutshof.«
»Es ist kein Gutshof, sondern ein Herrenhaus«, mischte sich Wolf ein. »Das hat meine Mutter mir gesagt.«
»Dann eben hinter dem Herrenhaus«, Tadek zuckte mit den Achseln. »Er erscheint ab und an. Nur im Winter und im Sommer, nie im Frühling und schon gar nicht im Herbst. Er kommt nach Mitternacht raus, mit einem großen Hund, er hat eine Axt …«
»Wer? Der Hund?«
Sie lachten.
»Ihr Blödmänner. Wenn er kommt, wird euch das Lachen schnell vergehen.« Tadek klang todernst.
Ein Schauer durchfuhr sie.
»Und was ist das für ein Ritter?«, flüsterte Wolf. »Wie sieht er aus?«
»Er hat eine Axt, ein Schwert, unter dem Arm einen Helm, er läuft in Ritterrüstung umher, er trägt einen weißen Mantel mit einem Kreuz, er ist stark wie ein Hüne …«
»Da lachen ja die Hühner.«
»Schwachkopf«, fauchte Tadek. »Er ist ein Ritter, der sich vor nichts und niemandem fürchtet, der bis zum letzten Atemzug kämpft. Sonst gibt es solche wie ihn nicht mehr, sie sind alle tot.«
»Hast du etwa einen Geist gesehen?«, fragte Paweł im Flüsterton.
»Beide sind Geister: der Ritter und der große Hund. Wobei der Ritter auch groß ist.«
»Und? Hat er was gesagt?«
»Nein, nichts«, Tadek hielt erschrocken inne. »Denn der Ritter hat keinen Kopf.«
Sie verstummten vor Schreck.
»Wie das?«, brachte Wolf schließlich gepresst hervor. »Ein Geist ohne Kopf?«
»Wenn ich's doch sage. Er hat keinen Kopf, nur die Rüstung.«
»Wozu braucht er einen Helm, wenn er keinen Kopf hat?«
Tadek überlegte einen Moment. »Ich weiß es nicht«, sagte er ratlos, »vielleicht wurde ihm der Kopf abgehackt. Vielleicht ist er im Helm.«
Wolf stellte sich einen Helm vor, aus dem zwei Augen schauten, und erschauerte vor Angst.
»War etwas zu hören? Hat er vielleicht laut gekeucht, denn das würde bedeuten, dass sein Kopf im Helm steckt«, schlussfolgerte Paweł. »Hast du etwas gehört? Hat der Kopf etwas gesagt?«
»Ich habe euch doch schon erklärt, dass der Kopf nichts sagt. Dafür klappert die Rüstung, wenn der Ritter geht.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Vielleicht ist der Helm leer. Vielleicht hat der Ritter seinen Kopf verloren und sucht ihn.«
»Vielleicht.«
»Tadek«, Wolfs Stimme zitterte plötzlich. »Hat er dich gesehen?«
»Wie soll das denn gehen, wenn er keinen Kopf hat?«
»Und der im Helm?«
»Genau! Was ist mit dem Kopf im Helm?«
Tadek wusste darauf keine Antwort, also beratschlagten sie, was zu tun sei, und kamen überein, sie würden sich aus der Scheune stehlen und hinter das Herrenhaus schleichen, um dem Geist zu begegnen.
Die Stimmen der Erwachsenen waren inzwischen verstummt, und nur in einigen Fenstern brannte noch schwaches Licht, sie konnten also unbemerkt vorbeihuschen. Hinter dem Herrenhaus kauerten sie im hohen Gras und sahen sich um, jeder in eine andere Richtung, um ja nicht das Erscheinen des Ritters zu verpassen. Angst übermannte sie, Wolf spürte, dass sie alle drei zitterten. Sie saßen lange da, lange genug, dass auch noch die wenigen Lichter im Herrenhaus und in den Hütten erloschen. Und obwohl sie sich furchtbar ängstigten, fielen ihnen langsam vor Müdigkeit die Augen zu. Der Boden war noch warm, nur die kühlen Grashalme verrieten, dass es schon tiefe Nacht war. Sie beschlossen, dass abwechselnd einer Wache halten sollte, während die anderen beiden die Augen schlossen. Das Los fiel auf Wolf. Er protestierte nur kurz, denn er wollte nicht für einen Feigling gehalten werden, fühlte sich aber wie damals, als er zu tief ins Badewasser eingetaucht war und dabei die Ohren und die Nase vollliefen. Damals war er aus der Wanne hochgefahren und hatte nach Atem gerungen, mit einem röchelnden Luftschnappen. Janka hatte ihn aus dem Wasser gezogen und ihn an den Beinen mit dem Kopf nach unten gehalten. Aber jetzt war seine Mutter nicht in der Nähe, sie befand sich nicht einmal in einer der Wohnungen, die in den Gebäuden des ehemaligen Landguts eingerichtet worden waren, sie war sehr weit weg, fast eine Stunde Fußweg trennte die beiden. Er erschauerte und krümmte sich zusammen, während die anderen beiden Jungen wie erschlagen schliefen.
Der Mond wanderte langsam am Himmel, die Nacht war hell und warm. Zwischen den Fichten sah er die Flügel einer Eule vorbeihuschen. Da merkte der Junge, dass er fröstelte, vielleicht weil die Schuhe feucht vom Tau waren, vielleicht kam es aber auch von der Müdigkeit, doch dann breitete sich die Kälte in seinem Körper aus, als wäre plötzlich der Winter eingebrochen und alles unter einer dicken Eisschicht erstarrt. Er rieb sich die Hände, seltsamerweise spürte er sie nicht einmal. In der Tiefe des Waldes hörte er das Klappern einer Rüstung. Sie blitzte unheilvoll zwischen den Ästen auf. Es schien ihm, als sähe er die Augen von Pfauenfedern. Erst blieb ihm die Stimme in der Kehle stecken, dann löste sich ein markerschütterndes kindliches Kreischen.
Paweł und Tadek sprangen auf, die Lichter im Herrenhaus und in den Hütten gingen an, während er aus voller Kehle einen einzigen lang gezogenen, nicht enden wollenden Schrei ausstieß, denn er kämpfte um sein Leben. Er wusste, dass der Ritter kam, um ihn zu holen, und ihn, bevor er aufgetaucht war, bereits in ewigen Frost gehüllt hatte.
»Du wirst nicht mehr über Nacht in Nakomiady bleiben«, verkündete Janka. »Bis du zehn bist, wirst du nicht mehr woanders schlafen, verstanden?«
Er saß zerknirscht auf einem Hocker und hatte Angst, etwas zu sagen. Er konnte ihr nicht erklären, was ihn so entsetzt hatte.
Janka hantierte im Haus herum und räumte lärmend Sachen weg. »Du hast alle auf dem Gut geweckt. Was sage ich: alle in der Gegend!«
Lüftete er das Geheimnis, davon war er überzeugt, würde dies für immer auf ihm lasten, und von da an würde der Ritter jede Nacht zurückkehren, sie um den Verstand bringen und an die Fensterscheiben klopfen. Er schaute mit verweinten Augen hilflos auf seinen Teller.
»Ich habe keine Zeit für solche Kindereien«, murmelte sie mehr zu sich selbst. »Wohin man schaut, überall Veränderungen, in Rastembork haben sie eine Zuckerfabrik und eine Ziegelei in Betrieb genommen, in den Dörfern organisieren sie die Arbeit, immer mehr Menschen kommen her, und ich muss mich mit solchen Albernheiten herumschlagen.«
»Mama«, unterbrach er sie plötzlich mit klarer, fester Stimme. »Wo ist Papa?«
Sie erstarrte. Sie sah ihn lange und irgendwie traurig an, aber nach einer Weile beruhigte sie sich, und ihr Gesicht nahm einen sanfteren Ausdruck an.
»Es war Krieg«, sagte sie langsam. »In Nakomiady gibt es zwei Kinder, Adaś und Mania, die nur mit ihren Müttern leben. Weißt du, wen ich meine?«
Er nickte.
»Sie haben auch keinen Vater. Das ist nichts Ungewöhnliches.«
»Paweł meint, seine Brüder hätten ihm gesagt, wenn jemand keinen Vater hat, dann ist der bestimmt ein Russischer oder ein Deutscher gewesen.«
»Quatsch«, grummelte sie und schob mit dem Fuß den Schäleimer zu sich, der laut über den Boden schabte. Als sie die erste Kartoffel in die Hand nahm, wurde sie nachdenklich. »Wenn einer sagt, du seist ein Russischer, dann verpass ihm eine. Ich erlaube es dir. Aber wenn einer sagt, du seist ein Deutscher, verbessere ihn: ›kein Deutscher, sondern ein Hiesiger‹.«
Er beobachtete ihre schnellen, nervösen Bewegungen. Er wartete einen Moment, dann holte er tief Luft. »Und wo ist er jetzt?«, flüsterte er.
»Das weiß niemand«, antwortete sie, ohne vom Eimer aufzublicken. »Er ist wahrscheinlich tot.«
Er wartete ab, ohne zu wissen, worauf er wartete.
Sie hob ihr Gesicht und sah ihn ruhig an. »Ich habe es dir schon gesagt, Sohn. Es war Krieg«, wiederholte sie mit Nachdruck. »Es gibt viele solcher Kinder wie dich.«
Er verstand nicht alles, was sie sagte, aber er verstand, dass die Welt brodelte und ständig im Wandel begriffen war, die einen zermalmte und ausspuckte, andere wiederum verschonte und dass sie dabei so unberechenbar und grausam war wie eine Böe. Janka sagte ihm nichts, aber er konnte ihre Furcht spüren, denn sooft sie einem Fremden begegneten, hielt sie seine Hand fester, als hätte sie Angst, dass man ihn ihr mit Gewalt entriss. Sie zeigte ihre Gefühle nicht gern, hatte aber die Gewohnheit, ihn ins Federbett einzuwickeln und in den Schlaf zu kuscheln. Jedes Mal tat sie es so, als wäre es das letzte Mal.
»Niemand wird dich mir wegnehmen«, flüsterte sie ihm dann ins Ohr.
Er bemerkte, dass manche Kinder, ja ganze Familien von einem Tag auf den anderen verschwanden, und es kam ihm der Gedanke, dass dies das Werk des kopflosen Ritters sein musste. Doch er schwieg beharrlich, überzeugt, dass das Gespenst, verlor er auch nur ein Sterbenswörtchen darüber, sich unweigerlich an ihm rächen würde.
Tatsächlich bekamen sie ab und an Männerbesuch, und obwohl er nie Zeuge wurde, dass man der Mutter deswegen Vorwürfe machte, spürte er den Unmut der einheimischen Frauen und bemerkte, wie sie Janka mit strengen Blicken musterten. Zu ihnen kamen Piekut und der Alte Marcin. Außerdem Willy Szulc und Sommer, dessen Vorname niemand kannte. Ersterer war Deutscher, hatte aber etwas unterschrieben und aufgehört, Deutscher zu sein. Er arbeitete bei der Hefeproduktion in Kętrzyn und wohnte mit seiner polnischen Frau in Karolewo. Von dem anderen hieß es, er sei Jude aus Wilna, doch niemand wusste, ob das stimmte. Es stimmte jedoch, dass Sommer so alt war wie Großmutter Piekutowa, in der Buchhaltung arbeitete und als Adresse den Hochmeisterweg in Rastenburg und nicht die ulica Skłodowskiej-Curie in Kętrzyn angab, was alle dazu veranlasste, sich an die Stirn zu tippen, weil sie Sommer für einen Provokateur hielten. Weder der eine noch der andere hatten Kinder, wobei Szulc sich angeblich um seinen Neffen kümmerte. Die Leute erzählten, dass er zwei Neffen gehabt hatte, einer aber nicht aus dem Krieg zurückgekehrt sei.
Von den vieren stammten Piekut und Sommer wie die Mutter aus der Wilnaer Gegend, Szulc war nun Autochthone, und Marcin galt als Centralak, einer aus Zentralpolen. Jahrelang kamen sie regelmäßig bei Janka zusammen, um Wodka zu trinken und Bridge zu spielen. Der Alte Marcin und Piekut nahmen vom Staatlichen Landwirtschaftsbetrieb den Weg durch den Wald, Sommer ging von Kętrzyn los und holte unterwegs in Karolewo Szulc ab. Es passierte selten, dass eine der beiden Gruppen zu früh ankam. Gewöhnlich trafen sie sich zur immergleichen Abendzeit vor dem Haus.
Die Großmutter mochte den Besuch nicht. »Was für ein Höllengesindel«, murmelte sie vor sich hin.
»Mischt euch nicht in Dinge ein, Mutter, die euch nichts angehen«, erwiderte Janka bestimmt. »Und du lausch nicht, wenn sich Erwachsene unterhalten.«
Wolf errötete und starrte zu Boden.
Beim Einschlafen erschienen vor seinem inneren Auge Szenen, in denen die Mutter mit dem unbesiegbaren Geist des kopflosen Ritters kämpfte. Sie war anders als alle Frauen, die er kannte und die ihre Tage mit harter Arbeit auf dem Feld zubrachten. Zu ihr kamen die Leute, damit sie ihnen neue Kleider nähte, sie kamen in immer größerer Zahl, vertrauten ihr ihre Sorgen an, klatschten und tratschten. Wenn sie sich an ihre Nähmaschine setzte, nahm die Nadel nach und nach Fahrt auf, sodass die Singer von einem anfangs beschwerlichen Hinken allmählich in ein Maschinengewehrgeratter überging, und dieses monotone, unmenschliche Geräusch begleitete ihn seine gesamte Kindheit und Jugend. Wenn sie nähte, vergaß sie alles um sich herum. Der Stoff schien ohne ihr Zutun dahinzugleiten, floss wie Wasser, schlug Wellen, bildete Strudel. Es war, als würde Mutter die ganze Welt zusammennähen.
Die Leute kamen zu ihr und erzählten, wer geheiratet hatte, wer gestorben war, wer auf den See hinausgefahren und ertrunken war und was zu diesem grausamen Tod geführt hatte.
»Der Topich«, pflegte Tante Gertraud zu sagen.
»Aberglaube«, fuhr Mutter ihr ins Wort.
Die Winter waren eisig, das Angebot in den Geschäften immer noch miserabel. Aber langsam beruhigte sich die Lage. Janka wurde nicht mehr belästigt, weder in der Dorfschenke noch in der Warteschlange. Aus Rastenburg wurde Kętrzyn, aus Eichmedien Nakomiady, aus Carlshof wurde Karolewo. Alle sprachen Polnisch. Manche mit hartem Akzent wie Szulc, andere mit einem leichten Singsang wie Sommer. Mutter arbeitete und arbeitete, murmelte stets die gleichen Sätze vor sich hin, ein ums andere Mal und wieder von vorn, als würde sie die Wörter von den letzten Krümeln befreien, die Rückschlüsse auf ihre Herkunft zuließen.
Sie waren arm. Viele Male lauerten sie bei den Gleisen am Stadtrand von Kętrzyn auf einen einfahrenden Kohletransport. Sie sammelten von den Gleisen, was heruntergefallen war, und so viel, wie sie einsacken konnten, bevor sie von einem der Bahnarbeiter verjagt wurden. Es gelang ihnen immer, zu entkommen, und ungeachtet des Gewichts der gestohlenen Brocken rutschten sie behände die Böschung des Bahndamms hinunter und verschwanden dann wieder aufwärts in die Moränenhügel. Wolf folgte ihr artig, ein wenig erschrocken über den Diebstahl und darüber, dass sie sich in der Hast das Gesicht mit Ruß beschmiert hatte, aber er wagte nicht, es ihr zu sagen. Nachts träumte er dann von großen Bränden. Die zierliche Gestalt der Mutter hoch zu Ross, dicker, schwarzer Rauch, der weit, weit weg über den Baumwipfeln aufstieg, und eine Feuersäule, aus einer fernen Bauernhütte hochschlagend, die hinter der Wand des Waldes den Horizont in einen unheimlichen, roten Schein tauchte.
»Warum gehen wir nicht in die Kirche?«, fragte er einmal Tante Gertraud.
»Viele gehen nicht in die Kirche«, antwortete diese mit stoischer Ruhe, und damals genügte ihm diese Antwort, vielleicht weil er erst sechs Jahre alt war. »Ich kann dich mitnehmen, dann siehst du, wie es dort ist«, bot sie an.
Janka war es egal. »Er soll ruhig gehen«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Dann wird er selbst sehen, dass da keine Wunderdinge passieren. Er wird sich langweilen und fürs ganze Leben genug haben.«
Über Religion machte man sich in der Gegend nicht allzu viele Gedanken. Natürlich feierte jeder die Feste und empfing die Sakramente, es war klar, wer katholisch und wer evangelisch war und wer den Popen um Rat fragte. Außer den abergläubischen Alten wunderte sich niemand, dass man Janka im Gottesdienst nicht begegnete und Wolf nicht getauft war. In der jüngeren Generation schien eine religiöse Gleichgültigkeit weit verbreitet zu sein.
»Du könntest mal wieder gehen«, lag die Schwiegermutter dem Piekut in den Ohren, »und die heilige Kommunion empfangen.«
»Von diesem Trottel?« Piekut verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als hätte er auf eine saure Beere gebissen. »Pater Józef, das war ein Priester! Hilfsbereit, geduldig, hatte für jeden stets ein gutes Wort. In Litauen da gab es noch richtige Priester! Aber der? Dieser dahergelaufene Pfaffe. Ich werde doch nicht zu einem aus Zentralpolen gehen.«
»Der Alte Marcin ist auch Centralak, und du trinkst Wodka mit ihm!«, wandte sie ein.
»Der Alte Marcin ist ein ganzer Kerl. Ein Pfarrer muss mit meinen Problemen vertraut sein. Was weiß er schon, wenn er aus Płock kommt oder woher auch immer? Lasst mich in Ruhe, Mutter! Ich werde nicht zu einem alten Knacker aus Masowien gehen!«
Gertraud war evangelisch, dennoch ging sie in die St.-Georg-Kirche. Man schüttelte verständnislos den Kopf, zumal es nach Kętrzyn ein ganz schönes Stück war, im Winter musste sie aus Karolewo eine ordentliche Strecke zurücklegen. Sie hüllte sich in einen Schaffellmantel und stapfte Sonntag für Sonntag durch den Schnee zu ihrer Stammkirche.
Am nächsten Sonntag machte Janka also Wolf für den Gottesdienst zurecht, und er ging mit Gertraud nach Kętrzyn.
Die Kirche wirkte auf ihn einschüchternd und faszinierend zugleich. Mit seiner massiven Wehrmauer glich das große, rote Backsteingebäude einer Festung, die sich auf eine Belagerung vorbereitete. Der Gottesdienst war langweilig. Die Anwesenden standen auf, setzten sich und knieten im Wechsel, sangen, und ein Kerl im Kleid stand mit dem Rücken zur Gemeinde, was ihm unhöflich erschien. Der Mann redete lange in einer fremden Sprache, und man konnte rein gar nichts verstehen. Tante Gertraud schien besorgt zu sein. Sie schaute ständig zu ihm, während er herumzappelte, und lächelte den Versammelten entschuldigend zu.
»Wer ist das?«, flüsterte er und deutete mit dem Finger auf die Kanzel.
Die Brüstung war mit Gemälden geschmückt, alten Porträts griesgrämiger Männer, die mit missbilligender Miene auf sie herabblickten.
»Das ist Martin Luther. Der daneben ist Philipp Melanchthon«, flüsterte sie mit ihrem charakteristischen, harten Akzent zurück.
»Sind das Priester?«
Gertraud sah sich panisch im Mittelschiff um, sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Reformatoren«, sagte sie schließlich, wonach sie sich in der Bank zurechtsetzte und die gefalteten Hände in den Schoß legte. Sie schien mit ihrer Antwort außerordentlich zufrieden zu sein.
Er verstand nichts von alldem, und auf dem Rückweg jammerte er, dass der Gottesdienst öde gewesen sei und ihm die Füße wehtäten.
»Reine Zeitverschwendung«, sagte er der Mutter bereits an der Tür, und Janka konnte nur mit Mühe ihr Lachen unterdrücken, denn die Antwort klang altklug. Oder lag es daran, dass sie nichts anderes erwartet hatte?
Vor Elbląg bekam er Hunger. Auf dem Rastplatz drängten sich die Fernlaster. Polnische, russische, litauische, lettische Kennzeichen, Lebensmittel, Möbel, Reinigungsmittel aus Deutschland. Er wählte Alicjas Nummer, aber sie drückte ihn weg, und ihn durchzuckte der Gedanke, dass sie vielleicht gar nicht die Absicht hatte, zu kommen. Er würde in einem ungeheizten, leeren Haus auf sie warten, und sie würde nicht auftauchen. Der passende Schlusspunkt zu den Telefonaten und E-Mails der letzten drei Monate.
»Welche Soßen möchten Sie auf Ihren Hotdog?«, fragte die Frau mit dem Mundschutz zum dritten Mal.
Er schreckte aus seinen Gedanken auf und zupfte reflexhaft seinen Mundschutz zurecht. Das dampfende Essen steckte in einer schlanken, gummibehandschuhten Hand. Die Verkäuferin hob fragend die Augenbrauen.
»Irgendeine«, antwortete er. »Es kann Ketchup sein oder Senf …«
»Wir haben zur Auswahl Ketchup, Senf, Mayonnaise, Knoblauch, BBQ, Thousand-Island-Dressing, algerisch, arabisch, texanisch, Jalapeño«, zählte sie in einem Atemzug auf.
»Ketchup, von mir aus Ketchup.«
Hinter der leicht geöffneten Tür, die in ein Kabuff führte, stand ein Klappstuhl, auf dem er einen bunten Rucksack und einen achtlos abgelegten Schal erblickte. Unter dem Stuhl ragten Kufen hervor.
»Laufen Sie Schlittschuh?«
Sie sah ihn überrascht an, dann drehte sie sich zum Kabuff um. »Die gehören meiner Tochter. Ich muss sie schleifen lassen, bald beginnt die Saison.« Sie hatte wohl gelächelt, aber ganz genau ließ sich das nicht sagen. »Und laufen Sie?«, fragte sie warm und freundlich, der übliche Small Talk.
»Nein«, flüsterte er entschuldigend, »meine Mutter hat es mir nicht erlaubt.«
Er nahm seinen Hotdog und steuerte den Ausgang an.
Er war sechs Jahre alt. Es war Februar, sie waren am Deyguhn-See, Männer aus der Umgebung und sie beide, die einzige Frau und das einzige Kind in der Gruppe. Die Bauern schlugen Eislöcher und fischten mit speziellen Haken. Vom Ufer wehte der Geruch von verbranntem Harz und im Feuer knisternden Fichtenzweigen zu ihm herüber. Janka kochte, dafür sollte sie ihren Anteil am Fang bekommen. Er sah eine Weile beim Fischen zu, doch dann wurde ihm kalt und langweilig, also schlitterte er gedankenverloren über das Eis, wobei er die Schreie der Mutter, die sich um seine Schuhe sorgte, ignorierte. Er erinnerte sich an nicht viel. An ihre verärgerte Stimme und das Knacken des brechenden Eises. Unter den Füßen breitete sich ein Unheil kündendes Spinnennetz aus. Wahrscheinlich hatte er geschrien, doch nun, Jahre später, war er sich dessen nicht mehr sicher. Er erinnerte sich nur an das dumpfe Platschen und das Eintauchen in die Tiefe, die scharf wie ein Messer war. Und daran, dass er aufquoll und hart wurde wie ein Fels, als würde sich alles, Mantel, Hose, Mütze, Schuhe und dann Hände, Gesicht und Füße, nacheinander zu Stein verwandeln.
An das, was danach geschah, hatte er keine Erinnerung. Später hörte er, dass der Alte Marcin ihm sofort ins Wasser nachgesprungen war. Dass die Mutter nicht wusste, was sie tun sollte, und dann weinte und dass sie ihn mit dem Wagen zu der Hütte von Klug brachten, einem Deutschen, der mitten im Wald lebte. Sie hatten ihn in eine Decke gewickelt, damit ihm wieder warm wurde, hätschelten und tätschelten ihn, während die Mutter in einem fort weinte. So hieß es, obwohl es ihm schwerfiel, das zu glauben. Sie war ihm stets unerbittlich erschienen, unbeirrbar, als ob sie keine Angst kennen würde. Doch vor irgendetwas musste sie Angst gehabt haben, sonst hätte sie ihm nicht das Schlittschuhlaufen verboten.
Nach dem Vorfall auf dem Deyguhn-See wurde Wolf ernster und irgendwie reifer. Er begann, Dinge zu bemerken, die ihm vorher nicht aufgefallen waren. Dass seine Mutter naiv sein konnte, manchmal fast schon kindisch. Dass sie eine scharfe Zunge hatte und resolut war, aber am Abend nach getaner Arbeit ihre weiche Seite zum Vorschein kam. Je öfter und länger der Alte Marcin sie besuchte, umso weicher wurde die Mutter, sie war plötzlich zart und zerbrechlich, was ihn peinlich berührte. Der Geruch des Hauses veränderte sich, und es veränderten sich die Geräusche. Er konnte das leichte, kaum zu hörende Knarren der Dielen unter Mutters Füßen von den schweren, kräftigen Schritten des Alten Marcin unterscheiden.
Im gleichen Jahr, während der ersten Schneeschmelze, starb die Großmutter. Sie war zusehends verschrumpelt, geschrumpft und in ihrem Sessel erstarrt wie ein abgenagter Apfelstummel. Sie wurde im kleinen Kreis auf der Lichtung hinter der Scheune begraben. Die Frauen wehklagten, aber Janka unterbrach sie rasch und lud die Anwesenden zum Leichenschmaus ein.
Ohne die Großmutter wurde das Haus lebendiger und spannender, denn auch jetzt, wo sie nur noch zu zweit waren, besuchte der Alte Marcin sie nach wie vor. Wolf wusste zwar noch nicht, was ihr nächtliches Flüstern, das in seiner Kammer nur als gedämpftes Geräusch zu hören war, das knarrende Bett und die flüchtigen Blicke, die er morgens beim Frühstück erhaschte, zu bedeuten hatten, doch er war glücklich und freute sich auf jeden Besuch des Alten Marcin. Er platzte förmlich vor Freude, wenn er mit dem Kopf nach unten in Marcins Armen hing und den Geruch seiner Haare einatmete, die nach Wind rochen. Dann fühlte er sich frei und unbeschwert. Er bekam kleine, von Marcin mit dem Taschenmesser geschnitzte Waggons und hängte sie an die Lokomotive an, die aus einer alten Blechdose gemacht war. Sie wälzten sich im Gras, fingen Mücken im Flug und warfen Steinchen in die Guber. Janka beobachtete ihr munteres Treiben und lachte fröhlich, bisweilen stolperte sie über die Blechlokomotive und fluchte mit Worten, die sie ihm nicht erlaubte zu benutzen. Manchmal, wenn sie ihnen beim Herumalbern zusah, durchfuhr sie ein Schauer, dann wandte sie schnell den Blick ab. Er verstand das nur zu gut, wusste er doch, dass es nur ein halbes Glück war, da Marcin es zwischen ihrem Haus und dem Haus in Nakomiady, wo er eine andere Familie und andere Söhne hatte, aufteilte. Er hatte sich nie getraut, Paweł danach zu fragen, aber oft dachte er, dass Paweł alles wusste und alles begriff, vielleicht sogar besser als er. Sie brauchten nicht viele Worte, um den anderen zu verstehen, sie spielten miteinander oder schauten in den Himmel. Damals dachte er, dass es ein Irrtum sein müsse, dass er selbst Pawełs richtiger Bruder war, nicht dessen ältere Brüder, die sich für Paweł überhaupt nicht interessierten.
Das Papier, in dem er den Hotdog hielt, war aufgeweicht. Er aß ihn nicht auf, warf den Rest in den Mülleimer und stieg ins Auto. Noch einmal wählte er Alicjas Nummer.
»Geh ran, geh ran, geh doch ran«, flüsterte er beschwörend.
Dumpfe Stille am anderen Ende der Leitung. Ein ungutes Gefühl der Absurdität. Vielleicht wollte sie sich an ihm rächen, vielleicht hatte sie aber auch einfach keine Zeit.
Er ging die Route rückwärts durch. Die Guber, Karolewo, und irgendwo im Hintergrund war immer die Wolfsschanze. Kętrzyn. Er musste unwillkürlich lächeln.
Paweł sollte eigentlich auf die Schule im Staatlichen Landwirtschaftsbetrieb gehen, und Wolf wäre sicher in Karolewo gelandet. Am Ende entschieden sie sich für Kętrzyn, weil sie sich nicht von Tadek trennen lassen wollten. Dessen Familie zog auf das Gelände des Gestüts, weil Piekut eine Stelle bei den Pferden bekommen hatte. Im Übrigen waren es die verdammten Pferde, die diesen Jahre später das Leben kosten sollten. Ein unglücklicher Unfall, sein Schädel mehrfach gebrochen, jede Rettung kam zu spät.
Bis heute fragte sich Wolf, wie es dazu hatte kommen können. Ein so erfahrener Stallmeister wie er. Nun, Piekut war nicht mehr der Jüngste gewesen. Seine Reflexe nicht mehr so gut, die Kräfte hatten nachgelassen.
Er reihte sich wieder in den Verkehr ein und blieb sofort im Stau stecken. Auf dem Seitenstreifen zuckelte ein Radfahrer an der Autoschlange vorbei.
Oh, wie sie früher auf den großen, unbequemen Fahrrädern durch die Gegend gesaust waren, obwohl ihre Füße kaum die Pedale erreichten. In den Sommerferien, bevor die Schule begann, kam Paweł jeden Tag aus Nakomiady angeradelt, und dann brachen sie gemeinsam nach Kętrzyn auf. Sie wollten den Erwachsenen beweisen, dass sie den Weg bewältigen konnten. Tag für Tag flitzten sie zu Tadek. Ein ganz schönes Stück, aber sie ließen sich durch nichts entmutigen. Sie traten wie verrückt in die Pedale. Die schweren Metallrahmen knarzten, die Vorderräder scheuerten am Dynamo.
»Kętrzyn«, hatte er einmal laut gesagt. »Merkwürdig. Warum nicht Rastembork?«
»Sommer sagt ›Rastenburg‹«, entgegnete Paweł. »Szulc auch. Aber Szulc ist Deutscher.«
»Das ist nicht wahr! Szulc ist ein Hiesiger.«
»Mutter sagt, er ist Deutscher.« Paweł richtete sich mühsam auf, trat fester in die Pedale und keuchte. »Und Piekut sagt, dass er Masure sei und dass Masuren weder Fisch noch Fleisch seien.«
»Ja, aber warum nicht Rastembork? Als ich klein war, hieß es noch so.«
Sie kamen am Friedhof und an den Bunkern vorbei, in der Ferne war bereits das Tor zum Gestüt zu sehen, hinter dem sich riesige Eichen zusammendrängten.
»Es geht wohl um das … na ja …«, Paweł zuckte mit den Schultern, »das Polnische, denke ich.«
»Wie kann es ums Polnische gehen, wenn alle wissen, dass Kętrzyn Rastenburg war?«
»Rastembork.«
»Das ist dasselbe.«
Tadek lag im Park neben dem großen Reitplatz und kokelte mit einer Lupe Ameisen an, die panisch hin und her liefen und zu winzigen Spänen verbrannten. Sie sahen sich das Schauspiel eine Weile an, dann stritten sie darüber, ob es möglich wäre, einen Ameisenkrieg anzuzetteln, wenn man die roten Ameisen zu den schwarzen warf. Der Park war kühl, und Nebel hüllte ihn ein. In der Luft lag der Geruch von Heu und Pferdeschweiß. Sie schlenderten über das Areal und atmeten die letzten Züge des Sommers ein, der im gedämpften Licht der Augustsonne funkelte. Am unteren Reitplatz bemerkten sie eine Gruppe von Männern in einer Wolke aus Sand und Staub, die von Pferdehufen aufgewirbelt wurde. Sie kletterten über die Umzäunung und ließen sich auf der Erhebung nieder, die das Gelände umgab.
»Wem gehören die Bälger!«, brüllte einer der Männer, ein großer Kerl mit einem buschigen Schnurrbart. »Verschwindet von da, bevor ihr zertrampelt werdet!«
»Mir!«, rief Piekut zurück und verwies sie mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldete, auf einen Platz unter einem Baum auf der anderen Seite des Zauns, wohin sie sich eiligst begaben.