Die Töchter der Kälte - Camilla Läckberg - E-Book
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Die Töchter der Kälte E-Book

Camilla Läckberg

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Beschreibung

Eines Tages macht der Fischer Frans Bengtsson einen schrecklichen Fang. Mit seinem Netz holt er den leblosen Körper eines Mädchens ein. Die Autopsie ruft die Polizei auf den Plan. Im Leichnam finden sich Spuren von Süßwasser und Seife. Die siebenjährige Sara ist ertränkt worden. Patrik Hedström und seine Kollegen ermitteln. Gerade dieser Fall macht dem jungen Kommissar und seiner Frau Erica Falck zu schaffen, da sie eben erst Eltern einer Tochter geworden sind. Doch gegen alle inneren und äußeren Widerstände lösen sie Rätsel um Rätsel. Dabei tut sich hinter der idyllischen Fassade von Fjällbacka eine kalte, abscheuliche Realität auf: Famielienfehden, sexuelle Perversionen und ein alte, weit zurückreichende Schuld.

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Das Buch

Eines Tages macht der Fischer Frans Bengtsson einen schrecklichen Fang. Mit seinem Netz holt er den leblosen Körper eines Mädchens ein. Die Autopsie ruft die Polizei auf den Plan. Im Leichnam finden sich Spuren von Süßwasser und Seife. Die siebenjährige Sara ist ertränkt worden, und zwar nicht im Meer. Patrik Hedström und seine Kollegen ermitteln. Gerade dieser Fall macht dem jungen Kommissar und seiner Frau Erica Falck sehr zu schaffen, da sie eben erst Eltern einer Tochter geworden sind. Doch gegen alle inneren und äußeren Widerstände lösen sie Rätsel um Rätsel. Dabei tut sich hinter der idyllischen Fassade von Fjällbacka eine kalte, abscheuliche Realität auf: Familienfehden, sexuelle Perversionen und eine alte, weit zurückreichende Schuld.

Die Autorin

Camilla Läckberg, Jahrgang 1974, stammt aus Fjällbacka – der kleine Ort und seine Umgebung sind Schauplatz ihrer Kriminalromane. Weltweit hat Läckberg inzwischen über zwölf Millionen Bücher verkauft, sie ist Schwedens erfolgreichste Autorin. Heute lebt Camilla Läckberg in einer großen Patchworkfamilie in Stockholm. Mehr unter: www.camillalackberg.com

Von Camilla Läckberg sind in unserem Hause bereits erschienen:

In der Serie »Ein Falck-Hedström-Krimi«:Die Eisprinzessin schläftDer Prediger von FjällbackaDie Töchter der KälteDie TotgesagtenEngel aus EisMeerjungfrauDer LeuchtturmwärterDie EngelmacherinUnd demnächst: Die Schneelöwin

Außerdem:Schneesturm und Mandelduft

Camilla Läckberg

Die Töchter der Kälte

Kriminalroman

Aus dem Schwedischenvon Gisela Kosubek

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-1189-0

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Dezember 2015© für die deutsche Übersetzung:Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2007, 2008Die Übersetzung entstand unter Mitarbeit von Wibke Kuhn© für die deutsche Ausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015© Camilla Läckberg 2005Titel der schwedischen Originalausgabe:Stenhuggaren (Forum, Stockholm 2005)Published by agreement with Bengt Nordin Agency, Sweden, and Literatur Agentur, BerlinUmschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © plainpicture / Elektrons 08

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

Der Hummerfang war wirklich nicht mehr das, was er früher mal war. Damals hatten schwer arbeitende Berufsfischer die schwarzen Krebstiere gejagt. Heute waren es die Feriengäste, die den Hummer eine Woche lang aus purem Vergnügen fischten. Und an die Regeln hielten sie sich auch nicht. Im Laufe der Jahre hatte er so manches zu sehen bekommen. Diskret eingesetzte Bürsten, um den deutlich sichtbaren Rogen der weiblichen Tiere zu entfernen, so daß diese wie zum Fang zugelassen aussahen, geplünderte Fangkörbe und sogar Taucher, die nach unten gingen, um mit den Händen die Hummer aus fremden Körben zu ziehen. Manchmal fragte er sich, wo das wohl enden sollte, wenn man nicht mal mehr unter Hummerfischern etwas auf Ehre gab. Einmal hatte er in seinem Korb beim Einholen wenigstens eine Flasche Kognak gefunden, statt der unbekannten Stückzahl Hummer, die aus ihm verschwunden war. Immerhin besaß der Dieb noch ein wenig Ehrgefühl oder wenigstens Humor.

Frans Bengtsson seufzte tief, als er jetzt an Bord stand und seine Körbe einholte, doch sein Gesicht hellte sich auf, als er bereits im ersten zwei stattliche Exemplare erblickte. Er wußte ziemlich gut, wo man nach den Hummern zu suchen hatte und wo man die Körbe Jahr für Jahr mit demselben Fangglück leeren konnte.

Drei Körbe weiter hatte er eine passable Anzahl der kostbaren Tiere vor sich aufgehäuft. Persönlich verstand er nicht recht, warum sie derart horrende Preise erzielten. Nicht daß er die Tiere irgendwie widerlich fand, aber wenn er selbst wählen konnte, verzehrte er lieber einen Hering. Der schmeckte nicht nur besser, sondern war auch noch preiswerter. Aber die Einnahmen vom Hummerfang um diese Zeit des Jahres waren ein überaus willkommener Zuschuß zur Rente.

Der letzte Korb saß gehörig fest, und er stemmte den Fuß gegen die Reling, um ein bißchen sicherer zu stehen. Langsam spürte er, wie der Korb nachgab; hoffentlich war er nicht beschädigt. Er warf einen Blick an der Wand seines alten Kahns herunter, um zu sehen, in welchem Zustand der Korb nach oben kam. Doch es war nicht der Korb, der zuerst auftauchte. Eine weiße Hand durchbrach die bewegte Wasseroberfläche, und einen Augenblick schien es, als zeige sie zum Himmel.

In seiner ersten Reaktion wollte er das Reep, das er in Händen hielt, loslassen und was auch immer sich dort unter der Wasseroberfläche befand zusammen mit dem Fangkorb erneut in der Tiefe verschwinden lassen. Aber dann setzte sich seine Berufserfahrung durch, und er begann erneut zu ziehen. Sein Körper war noch immer stark genug, und das war auch nötig. Er mußte sich mit aller Kraft ins Zeug legen, um den makabren Fund über die Reling zu hieven. Erst als der bleiche, leblose Körper auf den Boden klatschte, verlor er die Fassung. Es war ein Kind, das er aus dem Wasser geholt hatte. Ein Mädchen. Das lange Haar klebte ihr ums Gesicht, und die Lippen waren genauso blau wie die Augen, die jetzt blicklos zu den Wolken starrten.

Frans Bengtsson warf sich an die Reling und erbrach sich.

Patrik war müder, als er es sich je hätte vorstellen können. Alle Illusionen, daß Säuglinge viel schliefen, waren ihm in den vergangenen zwei Monaten gründlich geraubt worden. Er fuhr sich durch das kurze braune und völlig zerzauste Haar. Wenn er schon müde war, so konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es Erica erging. Ihm blieb zumindest das ständige Nachtstillen erspart. Er konnte sich nicht erinnern, daß sie seit ihrer Heimkehr aus der Entbindungsklinik jemals gelächelt hätte, und unter ihren Augen befanden sich dicke schwarze Ringe. Wenn er am Morgen die Verzweiflung in ihrem Blick sah, fiel es ihm schwer, sie und Maja zu verlassen, zugleich aber mußte er zugeben, sehr erleichtert zu sein, in eine andere Welt verschwinden zu können. Er liebte Maja über alles, aber plötzlich ein Kind im Haus zu haben war, als würde man ein fremdes Universum betreten, wo hinter jeder Ecke neuer Streß lauerte. Warum schläft sie nicht? Warum schreit sie? Ist ihr zu warm? Zu kalt? Hat sie da nicht ein paar komische Flecken? Mit erwachsenen Radaubrüdern kannte er sich zumindest aus, mit denen wußte er umzugehen.

Mit leerem Blick starrte er auf die vor ihm liegenden Papiere und versuchte das Gehirn so weit von Spinnweben zu befreien, daß er weiter arbeiten konnte. Das Klingeln des Telefons ließ ihn heftig zusammenfahren, und erst nach dem dritten Läuten sah er sich imstande, den Hörer abzunehmen.

»Patrik Hedström.«

Zehn Minuten später riß er die Jacke vom Haken neben der Tür, rannte zu Martin Molin ins Zimmer und sagte: »Martin, ein Fischer hat draußen auf dem Wasser Hummerkörbe eingeholt und eine Leiche zutage gefördert.«

»Wo denn?« Martin war verwirrt. Die dramatische Mitteilung brachte den ruhigen Montag auf der Tanumsheder Polizeidienststelle aus dem Trott.

»Draußen vor Fjällbacka. Er hat an der Landebrücke beim Ingrid-Bergman-Platz angelegt. Wir müssen los. Der Rettungswagen ist unterwegs.«

Martin brauchte keine zweite Aufforderung. Auch er schnappte sich seine Jacke, um sich gegen das rauhe Oktoberwetter zu schützen, und folgte Patrik zum Auto. In schnellem Tempo fuhren sie nach Fjällbacka, und Martin klammerte sich ängstlich am Autodach fest, wenn der Wagen in den scharfen Kurven den Straßenrand touchierte.

»Ist es ein Ertrunkener?« fragte Martin.

»Woher zum Teufel soll ich das wissen«, sagte Patrik, bereute jedoch seinen knurrigen Tonfall sofort. »’tschuldige, einfach zu wenig Schlaf.«

»Schon in Ordnung«, erwiderte Martin. Wenn er bedachte, wie angeschlagen Patrik in den vergangenen Wochen gewirkt hatte, verzieh er ihm nur zu gern.

»Wir wissen lediglich, daß sie vor einer Stunde gefunden wurde und, wie der Mann sagte, anscheinend nicht sehr lange im Wasser gelegen hat, aber das werden wir ja wohl gleich sehen«, sagte Patrik, während sie den Galärbacken zur Anlegebrücke hinunterfuhren, wo ein Holzkahn vertäut lag.

»Sie?«

»Ja, es ist ein Mädchen, ein Kind.«

»Oh, Scheiße«, sagte Martin und wünschte, daß er seinem ersten Instinkt gefolgt und daheim bei Pia im Bett geblieben wäre.

Sie parkten am Café Bryggan und eilten auf das Boot zu. Erstaunlicherweise hatte noch niemand bemerkt, was geschehen war, und man mußte keine Neugierigen verscheuchen.

»Sie liegt hier im Kahn«, sagte der Mann, der ihnen auf der Brücke entgegenkam. »Ich will das Mädel nicht öfter als nötig anfassen.«

Patrik kannte die bleiche Gesichtsfarbe des Alten nur zu gut. Er wußte sie in seinem eigenen Gesicht, jedesmal wenn er gezwungen war, sich einen toten Körper anzuschauen.

»Wo hast du sie hochgeholt?« wollte Patrik wissen und schob durch die Frage die Konfrontation mit der Toten für ein paar Sekunden auf. Er hatte sie noch nicht einmal gesehen, dennoch verspürte er schon ein flaues Gefühl im Magen.

»Bei Porsholmen. Südlich der Insel. Sie war am Reep des fünften Korbs, den ich eingeholt habe, hängengeblieben. Sonst hätte es wohl noch eine Weile gedauert, bevor wir das Mädel zu Gesicht bekommen hätten. Vielleicht auch nie, wenn die Strömung sie ins Meer getrieben hätte.«

Es wunderte Patrik nicht, daß der Mann wußte, wie ein Körper auf das Meer reagiert. Alle Fischer vom alten Schlag kannten sich aus und wußten, daß ein Körper zuerst sank und dann, wenn ihn immer mehr Gase füllten, langsam wieder an die Oberfläche stieg, bevor er schließlich, einige Zeit später, erneut in der Tiefe verschwand. In früheren Tagen stellte das Ertrinken eine höchst reale Gefahr für einen Fischer dar, und Frans war es bestimmt nicht erspart geblieben, nach verunglückten Kollegen zu suchen.

Wie zur Bestätigung sagte der Fischer: »Sie kann dort nicht besonders lange gelegen haben. Sie ist noch nicht wieder aufgestiegen.«

Patrik nickte. »Du hast es schon am Telefon gesagt. Ja, ist wohl das beste, wir sehen uns die Sache an.«

Äußerst langsam gingen Patrik und Martin nebeneinander zum Kopf der Brücke, wo das Boot lag. Kurz vor dem Ende hatten sie genügend Sicht, um zu erkennen, was jenseits der Reling auf dem Boden lag. Das Mädchen war auf den Bauch gefallen, als es der Fischer ins Boot gezogen hatte, und alles, was sie sahen, war ihr zerzaustes, nasses Haar.

»Jetzt kommt der Rettungswagen, die können sie umdrehen.«

Martin nickte nur schwach. Seine Sommersprossen und das rötliche Haar hoben sich viel stärker als sonst von seinem weißen Gesicht ab, und er kämpfte, um die Übelkeit in Schach zu halten.

Das düstere Wetter und der pfeifende Wind sorgten für schaurige Stimmung. Patrik winkte den Sanitätern zu, die ohne Eile eine Trage aus dem Auto luden und mit dieser auf sie zukamen.

»Ertrunken?« Der erste der beiden Sanitäter wies mit dem Kinn fragend zum Boot.

»Ja, sieht so aus«, antwortete Patrik. »Aber das muß der Pathologe entscheiden. Jedenfalls könnt ihr nicht mehr für sie tun, als sie abzutransportieren.«

»Haben’s schon gehört«, sagte der Bursche. »Dann packen wir sie jetzt auf die Trage.«

Patrik nickte. Seit jeher war es für ihn am schrecklichsten, wenn Kindern etwas Schlimmes widerfuhr, aber seit es Maja gab, hatte sich sein Unbehagen vertausendfacht. Es tat ihm in der Seele weh bei dem Gedanken an die vor ihnen liegende Aufgabe. Sobald das Mädchen identifiziert war, würden sie das Leben ihrer Eltern zerstören müssen.

Die Sanitäter waren in den Kahn gesprungen und bereiteten sich jetzt darauf vor, das Mädchen auf die Anlegebrücke zu heben. Einer von ihnen drehte sie vorsichtig auf den Rücken. Das nasse Haar fiel wie ein Fächer um ihr bleiches Gesicht, und ihr gläserner Blick schien an den dahinjagenden grauen Wolken zu haften.

Patrik hatte sich zunächst abgewandt, aber nun schaute er widerstrebend auf das Kind hinunter. Eine kalte Hand packte sein Herz.

»O nein, o nein, verdammte Scheiße.«

Martin sah ihn bestürzt an. Dann ging ihm ein Licht auf. »Du weißt, wer sie ist?«

Patrik nickte stumm.

Strömstad 1923

Sie hätte es nie laut zu sagen gewagt, aber manchmal fand sie, es war ein Glück, daß die Mutter bei ihrer Geburt gestorben war. So hatte sie ihren Vater ganz für sich allein. Nach allem, was sie über ihre Mutter gehört hatte, wäre es bei ihr nicht so leicht gewesen, sie um den Finger zu wickeln. Aber ihr Vater brachte es nicht übers Herz, seiner mutterlosen Tochter etwas abzuschlagen. Eine Tatsache, deren sich Agnes voll bewußt war und die sie gründlich ausnutzte. Etliche wohlmeinende Verwandte und Freunde hatten versucht, ihrem Vater ins Gewissen zu reden, aber obgleich er ein paar halbherzige Versuche unternahm, seinem Liebling etwas zu verweigern, erlag er früher oder später ihrem schönen Gesicht mit den großen Augen, aus denen dicke Tränen so leicht die Wangen hinunterliefen.

So kam es, daß sie jetzt, im Alter von neunzehn Jahren, ein beispiellos verwöhntes Mädchen war, und viele der Freundinnen und Freunde, die sich die Klinke im Laufe der Zeit in die Hand gegeben hatten, würden der Aussage wohl zustimmen, daß sie etwas Böses an sich hatte. Vor allem die Mädchen sagten das. Die Jungen, das hatte Agnes entdeckt, sahen selten mehr als ihr schönes Gesicht, die großen Augen und das dichte, lange Haar.

Die Villa in Strömstad war eine der imposantesten in der Stadt. Sie lag hoch oben auf dem Berg mit Blick aufs Meer und war einerseits mit dem geerbten Vermögen ihrer Mutter, andererseits mit jenem Geld bezahlt worden, das ihr Vater im Steinmetzgewerbe erworben hatte. Einmal fehlte nicht viel, und er hätte alles verloren, damals während des Streiks 1914, als die Steinmetze sich wie ein Mann gegen die großen Gesellschaften erhoben. Aber die Ordnung wurde wiederhergestellt, und nach dem Krieg blühte das Gewerbe erneut auf, nicht zuletzt die Steinmetzwerkstatt in Krokstrand, ein Stück vor Strömstad gelegen, die unter Hochdruck an Lieferungen vor allem nach Frankreich arbeitete.

Agnes kümmerte es nicht viel, woher das Geld stammte. Sie war wohlhabend geboren und hatte immer luxuriös gelebt, und ob das Geld nun geerbt oder verdient war, spielte keine Rolle, solange sie nur schicke Kleider und Schmuck dafür erstehen konnte. Die anderen waren gegenteiliger Ansicht, das wußte sie. Die Eltern ihrer Mutter waren entsetzt gewesen, als die Tochter Agnes’ Vater heiratete. Sein Geld war schließlich erst neu erworben, und seine Eltern waren arme Leute gewesen, solche, die bei größeren Festlichkeiten nicht in den Rahmen paßten, sondern in aller Einfachheit eingeladen werden mußten, wenn niemand außer der engsten Familie anwesend war. Und selbst diese Zusammenkünfte waren ausgesprochen peinlich. Die Ärmsten wußten schließlich nicht, wie man sich in feineren Salons bewegte, und jede Konversation war einfach hoffnungslos. Die Eltern ihrer Mutter hatten nie verstanden, was ihre Tochter an diesem August Stjernkvist fand, oder vielmehr August Persson, wie sein Geburtsname lautete. Sein Versuch, durch einen simplen Namenswechsel die gesellschaftliche Leiter nach oben zu klettern, hatte sie nicht täuschen können. Aber an dem Enkelkind hatten sie zumindest Freude und wetteiferten mit dem Vater darin, Agnes zu verwöhnen, nachdem ihre Tochter im Kindbett so plötzlich verstorben war.

»Herzchen, ich fahre runter ins Büro.«

Agnes drehte sich um, als ihr Vater das Zimmer betrat. Sie hatte eine Zeitlang am Flügel vor dem Fenster gesessen und etwas gespielt, vor allem, weil sie wußte, wie gut sie sich dort ausnahm. Mit ihrer Musikalität war es nicht weit her; trotz der teuren Klavierstunden, die man ihr von klein auf zugestanden hatte, kam sie mit den Noten nur leidlich zurecht.

»Vater, hast du über das Kleid nachgedacht, das ich dir dieser Tage zeigte?« Sie schaute ihn bittend an und sah, daß er wie gewöhnlich hin- und hergerissen war zwischen dem Wunsch, nein zu sagen, und seiner Unfähigkeit dazu.

»Schatz, ich habe dir doch gerade erst ein Kleid in Oslo gekauft …«

»Aber das ist doch gefüttert, Vater, es kann doch wohl nicht dein Ernst sein, daß ich zu dem Fest am Samstag in einem gefütterten Kleid gehe, jetzt, wo es draußen so warm ist!«

Sie zog verärgert die Augenbrauen kraus und wartete auf seine Reaktion. Wenn er wider Erwarten noch weiter Widerstand leistete, mußte sie ihre Unterlippe beben lassen, und wenn auch das nicht half, ja, dann pflegten ein paar Tränen das Ihre zu tun. Aber heute wirkte er müde, und sie glaubte nicht, daß mehr vonnöten war. Wie gewöhnlich hatte sie recht.

»Ja, ja, lauf morgen zum Konfektionsgeschäft runter und bestelle es dir. Eines Tages kriegt dein alter Vater wegen dir noch graue Haare.« Er schüttelte den Kopf, aber konnte das Lächeln nicht unterdrücken, als sie zu ihm hinhüpfte und ihn auf die Wange küßte.

»Schon gut, setz dich jetzt hin und übe die Tonleitern. Es ist schließlich möglich, daß sie dich am Samstag bitten, etwas vorzuspielen, da ist es das Beste, wenn du gut vorbereitet bist.«

Zufrieden nahm Agnes wieder auf dem Klavierhocker Platz und begann brav zu üben. Sie konnte den Abend schon vor sich sehen. Aller Blicke würden an ihr hängen, wenn sie im flackernden Kerzenschein am Flügel saß, herausgeputzt mit dem neuen roten Kleid.

Endlich ließ die Migräne nach. Der stählerne Ring um ihre Stirn löste sich allmählich, und sie konnte vorsichtig die Augen öffnen. Es war still im Obergeschoß. Wie schön. Charlotte drehte sich auf dem Bett um und schloß erneut die Augen. Sie genoß es, daß der Schmerz verschwand und die Glieder langsam erschlafften.

Nach einer Weile der Ruhe schwang sie die Beine vorsichtig über die Bettkante, blieb sitzen und massierte sich die Schläfen. Die waren noch immer etwas empfindlich nach der Attacke, und aus Erfahrung wußte sie, daß dieser Zustand ein paar Stunden andauern würde.

Albin hielt dort oben wohl Mittagschlaf. Also konnte sie mit dem Aufstehen ruhigen Gewissens noch warten. Sie brauchte, weiß Gott, jede Erholung, die sie bekommen konnte. Die steigende Aufregung der letzten Monate hatte für häufigere Migräneanfälle gesorgt, und die raubten ihr das letzte bißchen an Energie, was sie noch hatte.

Sie entschloß sich, bei ihrer Leidensgefährtin anzurufen und zu hören, wie es mit ihr stand. Obwohl es bei ihr selbst im Augenblick ziemlich stressig war, machte sie sich über Ericas Zustand trotzdem Sorgen. Sie kannten sich noch nicht sehr lange, hatten erst angefangen zu reden, als sie sich bei ihren Spaziergängen mit dem Kinderwagen wiederholt begegneten. Erica mit Maja und Charlotte mit ihrem acht Monate alten Sohn Albin. Nachdem sie festgestellt hatten, daß sie nur einen Steinwurf voneinander entfernt wohnten, trafen sie sich so gut wie jeden Tag, aber Charlotte machte sich wegen der neuen Freundin allmählich immer mehr Gedanken. Sie hatte Erica zwar nicht gekannt, bevor das Kind da war, aber ihre Intuition sagte ihr, daß es nicht zu Erica paßte, so apathisch und niedergeschlagen zu sein, wie sie es jetzt meist erlebte. Charlotte hatte Patrik sogar vorsichtig auf eine Schwangerschaftsdepression hin angesprochen, aber er hatte die Sache abgewehrt und gesagt, es wäre nur die Umstellung, und es würde sich schon regeln, wenn sie erst etwas Routine hätten.

Sie griff nach dem Telefon auf dem Nachttisch und wählte Ericas Nummer.

»Hallo, hier ist Charlotte.«

Erica klang schlaftrunken und abwesend, was Charlottes Unruhe noch verstärkte. Irgend etwas stimmte nicht. Stimmte ganz und gar nicht.

Nach einiger Zeit wirkte Erica jedoch fröhlicher. Auch Charlotte fand es schön, ein paar Minuten zu plaudern und das Unausweichliche noch etwas aufschieben zu können – sich in das Stockwerk über ihr und zu der dort wartenden Wirklichkeit zu begeben.

Als spürte sie, woran Charlotte dachte, fragte Erica, wie es mit der Haussuche vorangehe.

»Langsam. Viel zu langsam. Niclas arbeitet irgendwie ständig und hat nie Zeit, herumzufahren und sich etwas anzuschauen. Außerdem ist das Angebot im Moment nicht besonders groß, also werden wir hier wohl noch eine ganze Weile festhängen.« Sie seufzte tief.

»Das geht bestimmt bald in Ordnung.« Ericas Stimme klang tröstend, aber leider schenkte Charlotte ihrer Versicherung wenig Glauben. Niclas, sie und die Kinder hatten bereits ein halbes Jahr bei ihrer Mutter und Stig gewohnt, und wie es im Moment aussah, würde es wohl mindestens noch ein weiteres halbes Jahr so bleiben. Sie wußte nicht, ob sie das durchstand. Für Niclas war es nicht wirklich ein Problem, er war ja von morgens bis abends in der Praxis, aber für Charlotte, die hier mit den Kindern eingesperrt saß, war es unerträglich.

Theoretisch hatte die Sache damals, als Niclas mit dem Vorschlag kam, so gut geklungen. In Fjällbacka war die Stelle eines Bezirksarztes frei geworden, und nach fünf Jahren in Uddevalla hatten sie nichts gegen einen Tapetenwechsel. Außerdem war Albin unterwegs, gezeugt als letzter Versuch, ihre Ehe zu retten, und warum sollte man das Leben dann nicht völlig ändern, noch mal ganz von vorn anfangen? Je mehr er geredet hatte, desto besser hatte es geklungen. Und daß sie direkten Zugang zu einem Babysitter bekämen, jetzt, wo sie doch zwei Kinder haben würden, war auch verlockend. Aber die Wirklichkeit zeigte rasch ihr wahres Gesicht. Es dauerte nur ein paar Tage, bis Charlotte wieder genau wußte, warum sie so erpicht darauf gewesen war, zu Hause auszuziehen. Andererseits hatten sich gewisse Dinge geändert, genau wie sie gehofft hatten, doch über diese Sachen konnte sie mit Erica nicht sprechen, so gern sie es auch wollte. Das mußte ein Geheimnis bleiben, sonst könnte es ihre ganze Familie zerstören.

Ericas Stimme riß sie aus ihren Gedanken. »Wie steht’s denn mit der Mutter, treibt sie dich in den Wahnsinn?«

»Das ist noch untertrieben. Alles, was ich mache, ist falsch. Ich bin zu streng zu den Kindern, ich bin zu nachgiebig, ich ziehe ihnen zu wenig an, ich ziehe ihnen zu viel an, sie bekommen zu wenig zu essen, ich stopfe sie zu voll, ich bin zu dick, ich bin zu unordentlich … Das Gemeckere hat nie ein Ende, ich habe es so satt.«

»Und bei Niclas?«

»O nein, Niclas ist in Mamas Augen perfekt. Sie scharwenzelt gurrend um ihn herum und bedauert ihn, weil er eine so minderwertige Frau hat. In ihren Augen kann er überhaupt nichts falsch machen.«

»Aber sieht er denn nicht, wie sie dich behandelt?«

»Wie gesagt, er ist doch nie zu Hause. Und sie reißt sich zusammen, wenn er da ist … Weißt du, was er gestern meinte, als ich so dreist war, mich bei ihm zu beklagen? ›Aber Charlotte, bitte, kannst du dich nicht ein bißchen bemühen?‹ – Ein bißchen bemühen? Wenn ich mich noch mehr bemühe, werde ich völlig ausradiert. Ich wurde so wütend, daß ich seitdem kein Wort mit ihm gesprochen habe. Also sitzt er jetzt wohl bei der Arbeit und tut sich selbst leid, weil er eine so unvernünftige Frau hat. Kein Wunder, daß ich diesen Morgen eine Wahnsinnsmigräne bekam.«

Ein Geräusch aus dem Obergeschoß brachte Charlotte dazu, sich lustlos zu erheben.

»Du, ich muß jetzt wohl hoch und Albin übernehmen. Sonst betet Mama noch ihre ganze Märtyrerlitanei herunter, bevor ich überhaupt die Treppe hoch bin … Aber du, ich schaue am Nachmittag zum Kaffee vorbei. Ich habe ja nur von mir geredet und nicht mal gefragt, wie es dir geht. Aber du siehst mich dann später.«

Sie legte auf und kämmte sich rasch die Haare, bevor sie tief durchatmete und die Treppe hinaufstieg.

So hatte es nicht sein sollen. So hatte es absolut nicht sein sollen. Sie hatte Unmengen von Büchern übers Kinderkriegen und über das Leben als Eltern durchgeackert, aber nichts von dem Gelesenen hatte sie auf die Wirklichkeit, die sie erwartete, vorbereitet. Eher kam es ihr vor, als wäre alles, was man schrieb, Teil eines großen Komplotts. Die Autoren berichteten von Glückshormonen und daß man wie auf rosaroten Wolken schwebte, wenn man sein Kind in den Armen hielt, und natürlich empfinde man schon beim ersten Anblick eine umwerfende Liebe zu dem kleinen Bündel. Zwar wurde zuweilen in einem Nebensatz erwähnt, daß man vermutlich müder sein würde als je zuvor, aber auch das wurde mit einem romantischen Glorienschein umgeben und schien einfach zu dem wunderbaren Mutterschaftspaket dazuzugehören.

Dummes Gewäsch! war Ericas ehrliche Meinung nach zwei Monaten als Mutter. Lüge, Propaganda und, klar und deutlich gesagt: Blödsinn! Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so elend, müde, aufgebracht, frustriert und lädiert gefühlt. Und sie hatte absolut keine allumfassende Liebe verspürt, als man ihr das rote, schreiende und, ja wirklich, häßliche Bündel an die Brust legte. Auch wenn die Muttergefühle sich nach und nach eingefunden hatten, blieb doch das Gefühl, als sei jemand Fremdes in Patriks und ihr Zuhause eingedrungen, und manchmal bereute sie fast ihrer beider Unterfangen, sich ein Kind anzuschaffen. Sie hatten es zu zweit doch so gut gehabt, aber gepackt vom Egoismus der Menschheit und dem Wunsch, ihre eigenen vortrefflichen Gene reproduziert zu sehen, hatten sie mit einem Schlag ihr gemeinsames Leben verändert, und sie selbst war auf eine rund um die Uhr funktionierende Milchmaschine reduziert worden.

Wie ein so kleines Kind so unersättlich sein konnte, überstieg Ericas Fassungsvermögen. Ständig hing es an ihrem prall mit Milch gefüllten Busen, der sich obendrein derart vergrößert hatte, daß es ihr vorkam, als bestehe sie nur noch aus zwei großen wandernden Brüsten. Ihre allgemeine körperliche Verfassung war auch nichts, mit dem man viel Aufhebens machen konnte. Als sie aus der Klinik nach Hause gekommen war, sah sie noch immer hochschwanger aus, und die Kilos waren nicht in dem Tempo verschwunden, wie sie es gewünscht hätte. Ihr einziger Trost war, daß Patrik während ihrer Schwangerschaft, als sie gefuttert hatte, als bekäme sie’s bezahlt, ebenfalls zugelegt hatte, und jetzt saßen auch bei ihm ein paar Kilo zuviel um die Taille.

Gott sei Dank waren die Schmerzen jetzt fast völlig verschwunden, aber sie fühlte sich ständig verschwitzt, aufgedunsen und ganz allgemein mies. Die Beine hatten seit Monaten keinen Rasierer zu Gesicht bekommen, sie hatte es dringend nötig, sich die Haare schneiden und vielleicht ein paar Strähnchen färben zu lassen, um den mausfarbenen Ton ihrer normalerweise hellblonden, schulterlangen Haare wegzubekommen. Erica blickte ein wenig versonnen vor sich hin, aber dann machte sich Ernüchterung breit. Wie, verdammt noch mal, sollte sie dazu Zeit finden? Oh, wie sie Patrik beneidete, der wenigstens acht Stunden am Tag in der richtigen Welt, der Welt der Erwachsenen, weilte. Sie selbst hatte jetzt in erster Linie Umgang mit Ricki Lake und Oprah Winfrey, wenn sie gleichgültig mit der Fernbedienung hin und her zappte, während Maja trank und trank und trank.

Patrik versicherte ihr, daß er lieber bei ihr und Maja zu Hause bliebe, als zur Arbeit zu gehen, aber sie sah ihm an, daß er in Wirklichkeit erleichtert war, ihrer kleinen Welt eine Weile entfliehen zu können. Und sie verstand ihn, während sich zugleich ein Gefühl der Bitterkeit breitmachte. Warum mußte sie allein eine so schwere Bürde schleppen, schließlich war das alles doch die Folge eines gemeinsamen Beschlusses und sollte also auch ein gemeinsames Projekt sein. Müßte er nicht einen genauso großen Teil der Last tragen wie sie?

Jeden Tag achtete sie daher genauestens auf die Zeit, zu der er versprochen hatte heimzukommen. Erschien er nur fünf Minuten später, verspürte sie bereits Verärgerung, und wenn er noch länger ausblieb, konnte er einer ordentlichen Standpauke gewiß sein. Sobald er durch die Tür trat, drückte sie ihm Maja in die Arme, falls seine Heimkehr mit einer der seltenen Unterbrechungen ihres Verweilens an Ericas Brust zusammenfiel. Danach sank sie ins Bett und drückte sich Stöpsel in die Ohren, um dem Kindergeschrei für kurze Zeit zu entgehen.

Erica seufzte, als sie jetzt mit dem Telefon in der Hand dasaß. Ihr erschien alles so hoffnungslos. Aber die Plauderstündchen mit Charlotte waren eine willkommene Unterbrechung der Tristesse. Als Mutter zweier Kinder war Charlotte ein unerschütterlicher Fels zum Anlehnen und voll von beruhigenden Versicherungen. Zu ihrer Schande mußte sich Erica eingestehen, daß es ihr auch guttat, von Charlottes Problemen zu hören, statt immer nur die eigenen vor Augen zu haben.

Allerdings gab es eine weitere Quelle der Beunruhigung in ihrem Leben. Ihre Schwester Anna. Erica hatte seit Majas Geburt nur hin und wieder mit ihr gesprochen, und ihr Gefühl sagte ihr, daß etwas nicht stimmte. Anna klang abwesend und schlaff, wenn sie miteinander telefonierten, aber sie versicherte immer, daß alles in Ordnung sei. Und Erica war so umfangen von ihren eigenen Nebeln, daß sie außerstande war, die Schwester auszuquetschen. Doch irgend etwas war nicht okay, da war sie sich völlig sicher.

Sie verscheuchte die unangenehmen Gedanken und wechselte die Brust, was Maja kurz aufwimmern ließ. Apathisch griff sie zur Fernbedienung und schaltete zum zweiten Programm um, wo in Kürze »Glamour« begann. Das einzige, worauf sie sich freuen konnte, war das Kaffeetrinken mit Charlotte am Nachmittag.

Sie rührte heftig in der Suppe. Alles mußte sie hier zu Hause selber machen. Essen kochen, putzen und die anderen bedienen. Albin aber war wenigstens endlich eingeschlafen. Ihr Gesicht wurde weicher beim Gedanken an den Enkel. Er war wirklich ein richtiger kleiner Engel. Gab kaum einen Ton von sich. Überhaupt nicht wie diese andere. Eine Falte zeigte sich auf ihrer Stirn, und ihre Bewegungen wurden noch heftiger, wodurch die Suppe leicht über den Topfrand schwappte und auf dem Herd zischend festbrannte.

Lilian hatte auf der Spüle bereits ein Tablett mit einem Glas, einer Suppenschüssel und einem Löffel bereitgestellt. Jetzt hob sie vorsichtig den Topf vom Herd und goß die heiße Suppe vorsichtig in die Schüssel. Sie sog die Düfte ein, die mit den Dämpfen aufstiegen, und lächelte zufrieden. Hühnersuppe, das war Stigs Lieblingsgericht. Jetzt würde er hoffentlich mit gutem Appetit essen.

Vorsichtig balancierte sie das Tablett zwischen den Händen und öffnete die Tür zum Obergeschoß mit dem Ellenbogen. Ständig dieses Gerenne die Treppe hoch und runter, dachte sie gereizt. Eines schönen Tages würde sie mit gebrochenem Bein daliegen, und dann könnten die sehen, wie schwer es war, ohne sie klarzukommen, wo sie hier doch alles für die anderen machte, als sei sie eine Haussklavin. Jetzt gerade lag Charlotte zum Beispiel faulenzend unten im Souterrain mit der schlechten Ausrede, sie hätte Migräne. Wenn hier jemand Migräne hatte, dann ja wohl sie selbst. Wie Niclas das aushielt, verstand sie einfach nicht. Tag für Tag schuftete er in der Praxis und tat sein Bestes, um die Familie zu versorgen, und dann kam er nach Hause ins Souterrain, wo es aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Selbst wenn sie dort nur vorübergehend wohnten, konnte man wohl trotzdem erwarten, daß sie es ein bißchen hübsch und ordentlich um sich hatten. Obendrein verlangte Charlotte von ihm, daß er ihr mit den Kindern half, wenn er abends nach Hause kam. Sie sollte lieber dafür sorgen, daß er sich nach dem harten Arbeitstag erholte, sollte ihn in Ruhe vor dem Fernseher sitzen lassen und die Kinder, soweit es ging, von ihm fernhalten. Kein Wunder, daß das große Mädel völlig unmöglich war. Sie sah wohl, mit welch mangelndem Respekt ihre Mutter den Vater behandelte, und da konnte dann ja nichts anderes bei herauskommen.

Mit energischen Schritten nahm sie die letzten Stufen zum Obergeschoß und wandte sich mit dem Tablett zum Gästezimmer. Dort hatte sie Stig untergebracht, als er krank geworden war, es ging nicht, ihn ächzend und stöhnend im Schlafzimmer zu haben. Sollte sie es schaffen, sich ordentlich um ihn zu kümmern, brauchte sie unbedingt ihren Nachtschlaf.

»Liebling?« Vorsichtig schob sie die Tür auf. »Jetzt nicht schlafen, ich komme hier mit etwas Suppe. Es ist dein Lieblingsgericht. Hühnersuppe.«

Stig reagierte mit schwachem Lächeln. »Ich habe keinen Hunger, vielleicht später«, sagte er matt.

»Unsinn, du wirst nie gesund, wenn du nicht ordentlich ißt. Komm schon, setz dich ein bißchen auf, dann werde ich dich füttern.«

Sie half ihm in halbsitzende Stellung hoch und nahm neben ihm auf der Bettkante Platz. Als sei er ein Kind, fütterte sie ihn mit der Suppe und wischte zwischendurch regelmäßig die Tropfen weg, die ihm aus den Mundwinkeln rannen.

»Na siehst du, das ist doch wohl nicht so schlecht? Ich weiß doch genau, was mein Liebling braucht, und wenn du nur ordentlich ißt, bist du bestimmt bald wieder auf den Beinen.«

Erneut das matte Lächeln zur Antwort. Lilian half ihm, sich wieder hinzulegen, und zog die Decke über den Beinen zurecht.

»Und der Doktor?«

»Aber mein Schatz, hast du es ganz vergessen? Niclas ist doch jetzt der Doktor, wir haben doch einen eigenen Doktor hier im Haus. Er schaut sicher heute abend zu dir rein. Er sagte auch, er wolle sich deine Diagnose noch mal vornehmen und einen Kollegen in Uddevalla konsultieren, also du wirst sehen, die Sache kommt schon bald in Ordnung.«

Nachdem sie die Decke abermals um ihren Patienten fixiert hatte, nahm Lilian das Tablett mit der jetzt leeren Suppenschüssel und ging zur Treppe. Sie schüttelte den Kopf. Jetzt war sie obendrein gezwungen, Krankenschwester zu spielen, neben all dem anderen, worum sie sich zu kümmern hatte.

Ein Klopfen teilte ihr mit, daß jemand vor der Tür stand, und sie lief eilig die Treppe hinunter.

Die Hand fiel schwer gegen die Tür. Der Wind um sie herum hatte sich mit verblüffender Geschwindigkeit zum Sturm ausgewachsen. Feine Wassertröpfchen sprühten wie Regen auf sie herab, aber sie kamen nicht von oben, sondern von hinten, ein dünner Schleier, den die Sturmböen vom Wasser an Land peitschten. Der Himmel war von hellgrauer Färbung mit Wolkenstrichen in dunklerem Grau, und auf dem schmutzigbraunen Meer, das sich weit von seinem sommerlichen, blaufunkelnden Wesen entfernt hatte, trugen die Wellenkämme jetzt weiße Schaumkronen. Das Meer hat Katzenpfötchen, pflegte Patriks Mutter zu sagen.

Die Tür vor ihnen öffnete sich, Patrik und Martin atmeten tief durch, um die zusätzlichen Kraftreserven zu mobilisieren, die sie in sich vermuteten. Die Frau vor ihnen war einen Kopf kleiner als Patrik, äußerst dünn, und sie trug das dauergewellte, in einem unbestimmten Braun getönte Haar kurzgeschnitten. Die Augenbrauen waren allzu heftig gezupft und durch ein paar Striche mit dem Kajalstift ersetzt, was ihr ein leicht komisches Aussehen verlieh. Doch war nichts Komisches an der Situation, in der sie sich jetzt befanden.

»Guten Tag, wir sind von der Polizei. Wir möchten Charlotte Klinga sprechen.«

»Das ist meine Tochter. Worum geht’s?«

Ihre Stimme war etwas zu schrill, um als angenehm gelten zu können, und Patrik hatte von Erica genug über Charlottes Mutter gehört, um zu begreifen, wie anstrengend es sein mußte, sie den ganzen Tag zu hören. Aber all solche Kleinigkeiten waren jetzt bedeutungslos.

»Wir möchten, daß Sie Ihre Tochter holen.«

»Ja aber, worum geht’s denn?«

Patrik blieb hartnäckig. »Wir möchten zuerst mit Ihrer Tochter sprechen. Könnten Sie so freundlich sein und …« Schritte auf der Treppe unterbrachen ihn, und eine Sekunde darauf sah er Charlottes wohlbekanntes Gesicht in der Türöffnung auftauchen.

»Ja hallo, Patrik! Wie schön, dich zu sehen! Was machst du hier?«

Unversehens zeigte sich Unruhe in ihren Zügen. »Ist was mit Erica? Ich habe doch eben erst mit ihr geredet, und sie klang völlig okay, fand ich …«

Patrik hob abwehrend die Hand. Martin stand schweigend an seiner Seite und fixierte ein Astloch in den Dielen. Normalerweise liebte er seinen Beruf, aber in diesem Moment verfluchte er den Augenblick, als er sich dazu entschlossen hatte, Polizist zu werden.

»Können wir reinkommen?«

»Jetzt machst du mir angst, Patrik. Was ist denn passiert?« Ihr kam ein Gedanke. »Geht es um Niclas, hatte er einen Autounfall, oder?«

»Wir kommen zuerst rein.«

Da weder Charlotte noch ihre Mutter imstande schienen, sich von der Stelle zu rühren, übernahm Patrik das Kommando und ging ihnen in die Küche voran, mit Martin im Schlepptau. Er registrierte zerstreut, daß sie die Schuhe nicht ausgezogen hatten und bestimmt feuchte, schmutzige Fußspuren hinterließen. Aber auch ein bißchen Schmutz würde jetzt keine Rolle spielen.

Er bedeutete Charlotte und Lilian, sich ihnen gegenüber an den Tisch zu setzen, und sie gehorchten stumm. »Es tut mir leid, Charlotte, aber ich habe …«, er zögerte, »furchtbare Nachrichten für dich.« Die Worte rollten ihm steif von der Zunge. Seine Ausdrucksweise erschien ihm völlig falsch, aber gab es überhaupt eine richtige Weise, das, was er jetzt sagen mußte, auszudrücken?

»Vor einer Stunde fand ein Hummerfischer ein kleines Mädchen, ertrunken. Es tut mir so schrecklich leid, Charlotte …« Dann versagte ihm die Stimme. Obwohl er die Worte in seinem Kopf formulierte, waren sie so entsetzlich, daß sie ihm nicht über die Lippen kamen. Aber er brauchte nicht mehr zu sagen.

Charlotte schnappte mit einem röchelnden Laut nach Luft. Sie packte die Tischplatte mit beiden Händen, wie um sich aufrecht zu halten, und starrte Patrik mit leeren, aufgerissenen Augen an. In der Stille der Küche war es, als würde dieser eine röchelnde Atemzug lauter klingen als ein Schrei, und Patrik schluckte, um die Tränen zu unterdrücken und die Stimme zum Tragen zu bringen.

»Das muß ein Irrtum sein. Das kann nicht Sara sein!« Lilian blickte wild zwischen Patrik und Martin hin und her, aber Patrik schüttelte nur leicht den Kopf.

»Es tut mir leid«, wiederholte er noch einmal, »aber ich habe sie gerade gesehen, es besteht kein Zweifel, daß es Sara ist.«

»Aber sie wollte doch zu Frida zum Spielen«, sagte Lilian. »Ich sah sie doch in die Richtung gehen. Es muß ein Irrtum sein. Sie ist bestimmt dort und spielt.« Wie narkotisiert stand Lilian vom Küchenstuhl auf und ging zum Telefon an der Wand. Sie schlug eine Nummer im danebenhängenden Adreßbuch auf und wählte sie eilig.

»Hallo, Veronika, hier ist Lilian. Du, ist Sara bei dir?« Sie lauschte eine Sekunde, ließ den Hörer dann einfach fallen, so daß er an seiner Schnur hin und her schwang.

»Sie ist nicht dort gewesen.« Schwer ließ sie sich wieder auf den Stuhl fallen und schaute die Polizisten vor sich hilflos an.

Der Schrei kam wie aus dem Nichts. Patrik und auch Martin fuhren heftig zusammen. Charlotte schrie gerade heraus, ohne sich zu rühren, mit Augen, die nichts zu sehen schienen. Es klang animalisch, laut und gellend, und sie bekamen eine Gänsehaut von dem rohen Schmerz, der diesen Schrei unbarmherzig hervortrieb.

Lilian warf sich der Tochter entgegen und versuchte die Arme um sie zu legen, aber Charlotte wehrte sie schroff ab.

Patrik versuchte den Schrei zu übertönen. »Wir haben versucht, Niclas zu erreichen, aber er war nicht in der Praxis, also haben wir ihm eine Mitteilung hinterlassen, so schnell wie möglich heimzukommen. Und der Pfarrer ist unterwegs.« Er richtete die Worte mehr an Lilian als an Charlotte, die nicht länger ansprechbar war. Patrik begriff, daß er die Sache schlecht gehandhabt hatte, er hätte für die Anwesenheit eines Arztes sorgen sollen, der etwas zur Beruhigung geben konnte. Das Problem war nur, daß der Arzt von Fjällbacka der Vater des Mädchens war und daß sie ihn nicht erreicht hatten. Er wandte sich an Martin.

»Ruf in der Medizinischen Zentrale an und sieh zu, daß die Krankenschwester sofort herkommt. Sie soll was zur Beruhigung mitbringen.«

Martin tat, worum man ihn gebeten hatte, erleichtert darüber, daß er einen Grund hatte, die Küche für einen Augenblick zu verlassen.

Zehn Minuten später trat Aina Lundby ohne anzuklopfen ein. Sie gab Charlotte eine Beruhigungstablette, führte sie mit Patriks Hilfe behutsam ins Wohnzimmer und bettete sie aufs Sofa.

»Kann ich nicht auch was zur Beruhigung haben?« bat Lilian. »Ich habe es immer mit den Nerven gehabt, und so was hier …«

Die Bezirksschwester, die im gleichen Alter wie Lilian war, schnaubte nur und fuhr fort, Charlotte, die mit den Zähnen klapperte, mit mütterlicher Fürsorge zuzudecken.

»Du packst das auch ohne etwas«, sagte sie und sammelte ihre Sachen ein.

Patrik wandte sich an Lilian und sagte leise: »Wir müßten wohl mit der Mutter der Spielkameradin sprechen, zu der Sara wollte. Welches Haus ist es?«

»Das blaue hier gleich ein Stück weiter«, erwiderte Lilian, ohne ihm in die Augen zu schauen.

Als der Pfarrer kurz darauf an die Tür klopfte, spürte Patrik, daß Martin und er hier nichts mehr tun konnten. Sie verließen das Haus, das sie mit ihrem Erscheinen in Trauer versetzt hatten, stiegen ins Auto, das in der Auffahrt stand, doch ohne es zu starten.

»Verdammte Scheiße«, sagte Martin.

»Ja, verdammte Scheiße«, erwiderte Patrik.

Kaj Wiberg spähte aus dem Küchenfenster, das zu Florins Auffahrt hinausging.

»Was hat sich die Alte denn jetzt einfallen lassen?« sagte er verärgert.

»Wieso?« rief seine Frau Monica aus dem Wohnzimmer.

Er drehte sich halb in ihre Richtung und rief zurück: »Ein Streifenwagen parkt vor Florins Haus. Ich könnte wetten, da ist wieder irgendeine Gemeinheit in Gange. Mit dieser Alten werde ich gestraft für meine Sünden.«

Monica betrat voller Unruhe die Küche. »Glaubst du wirklich, es geht um uns? Wir haben doch nichts getan.« Sie war dabei, ihren blonden Pagenkopf zu kämmen, doch hielt inne, um ebenfalls aus dem Fenster zu schauen.

Kaj schnaubte. »Versuch mal, ihr das beizubringen. Na ja, warte nur, bis das Oberlandesgericht mir wegen des Balkons recht gibt, dann steht sie mit langer Nase da. Es wird hoffentlich richtig teuer für sie, den abzureißen.«

»Ja, aber handeln wir wirklich richtig, Kaj? Ich meine, der ragt doch nur ein paar Zentimeter über unsere Grundstücksgrenze und stört doch eigentlich nicht. Und wo Stig, der Ärmste, jetzt so krank ist und all das.«

»Krank, ja, kein Wunder. Ich wäre auch krank geworden, müßte ich mit dieser verdammten Hexe zusammenleben. Und Recht muß Recht bleiben. Bauen sie einen Balkon, der auf unseren Grund und Boden hinüberreicht, dann sollen sie dafür auch bezahlen oder den Scheiß abreißen. Die haben uns gezwungen, den Baum zu fällen, oder etwa nicht? Unsere schöne alte Birke, zerkleinert zu Kaminholz, bloß weil Lilian Florin fand, sie würde ihr die Sicht aufs Meer nehmen. Oder war es etwa nicht so, habe ich was falsch verstanden?« Er wandte sich erbost zu seiner Frau um, angestachelt von der Erinnerung an all die Ungerechtigkeiten, die ihnen im Laufe der zehn Jahre, die sie in Florins Nachbarschaft wohnten, widerfahren waren.

»Sicher, Kaj, du hast recht.« Monica senkte den Blick, sich voll bewußt, daß Rückzug die beste Verteidigung war, wenn ihr Mann in diese Stimmung kam. Lilian Florin war für ihn wie ein rotes Tuch, und man konnte nicht vernünftig mit ihm sprechen, wenn die Rede auf sie kam. Aber Monica mußte zugeben, daß nicht allein Kaj schuld daran war, daß es so viel Ärger gegeben hatte. Mit dieser Lilian war tatsächlich nicht gut Kirschen essen. Hätte die Frau sie nur in Ruhe gelassen, wäre es nie soweit gekommen. Statt dessen hatte diese Florin sie durch sämtliche gerichtliche Instanzen gehetzt, mal wegen falsch gezogener Grundstücksgrenzen, mal wegen eines Pfads, der über ihr Land auf der Rückseite des Hauses führte, wegen eines Gartenhäuschens, das nach ihrer Meinung viel zu dicht an ihrem Anwesen lag, und nicht zuletzt wegen der schönen Birke, die sie vor ein paar Jahren hatten fällen müssen. All das hatte mit dem Bau des Hauses eingesetzt, in dem sie jetzt wohnten. Kaj hatte damals gerade seine Büromittelfirma für ein paar Millionen Kronen verkauft, und sie hatten beschlossen, frühzeitig in Pension zu gehen, das Haus in Göteborg zu verkaufen und sich in Fjällbacka niederzulassen, wo sie bisher jeden Sommer verbracht hatten. Aber besonders viel Ruhe hatten sie nicht gefunden. Lilian hatte tausend Einwände gegen den Neubau gehabt, hatte Anfechtungsklagen und Protestlisten initiiert, um sie am Bauen zu hindern. Als es ihr nicht gelungen war, die Sache zu stoppen, hatte sie aus allen nur erdenklichen Gründen Ärger mit ihnen angefangen. Das in Kombination mit Kajs heftigem Temperament hatte den Nachbarschaftsstreit über jeden Sinn und Verstand hinaus eskalieren lassen. Der Balkon, den Florins gebaut hatten, war nur das letzte schlagende Argument in diesem Kampf, aber da es schien, als könnte die Familie Wiberg recht bekommen, fühlte sich Kaj in einer stärkeren Position, die er gern zur Sprache brachte.

Jetzt flüsterte er, der hinter der Gardine das Terrain sondierte, ihr aufgeregt zu: »Da treten zwei Männer aus dem Haus und setzen sich in den Streifenwagen. Du wirst sehen, daß sie jeden Moment herkommen, um bei uns zu klopfen. Nun ja, egal, worum es geht, ich werde ihnen erzählen, was hier wirklich läuft. Und Lilian Florin ist nicht die einzige, die eine Anzeige erstatten kann. Hat sie mich doch erst vor ein paar Tagen über die Hecke mit Schimpfwörtern überhäuft und gesagt, sie würde sich darum kümmern, daß ich bekäme, was ich verdiene. Ich glaube, das nennt man massive Bedrohung. Dafür kann man ins Kittchen wandern …« Kaj leckte sich die Lippen vor Erregung angesichts des bevorstehenden Kampfes und rüstete sich zum Gefecht.

Monica seufzte, zog sich zu ihrem Sesselplatz im Wohnzimmer zurück, griff nach einer Frauenzeitschrift und begann zu lesen. Sie war außer Stande, sich noch weiter darum zu kümmern.

»Können wir nicht ebensogut mit der Spielkameradin und ihrer Mutter reden, wenn wir nun schon mal hier sind?«

»Ja, sicher«, seufzte Patrik und legte den Rückwärtsgang ein. Eigentlich war es nicht nötig, das Auto zu nehmen, sie mußten nur ein paar Auffahrten weiter nach rechts, aber er wollte die Zufahrt zu Florins Garage nicht blockieren, wenn Saras Vater bald heimkam.

Mit ernsten Mienen klopften sie an die Tür des blauen Hauses, das nur drei Häuser entfernt lag. Ein Mädchen in schätzungsweise demselben Alter wie Sara öffnete.

»Hallo, bist du Frida?« fragte Martin mit freundlicher Stimme. Sie nickte nur und trat zur Seite, um sie einzulassen. Sie standen eine Weile unschlüssig im Flur, während Frida sie unter ihrem Pony hervor ansah. Gedrückt fragte Patrik schließlich: »Ist deine Mama zu Hause?«

Auch jetzt sagte das Mädchen nichts, sondern lief nur ein Stück den Flur hinunter und nach links in einen Raum, wo Patrik die Küche vermutete. Ein leises Gemurmel war zu hören, und dann kam ihnen eine dunkelhaarige Frau um die Dreißig entgegen. Ihre Augen flackerten unruhig, und sie blickte verwundert auf die beiden Männer, die in ihrem Korridor standen. Patrik begriff, daß sie nicht wußte, wer sie waren.

»Wir kommen von der Polizei«, sagte Martin, der offenbar denselben Gedanken hatte. »Könnten wir vielleicht hineingehen und möglichst irgendwo allein mit Ihnen sprechen?« Er schaute vielsagend auf Frida, und ihre Mutter erbleichte.

»Frida, geh in dein Zimmer spielen.«

»Aber Mama …«, protestierte das Kind.

»Keine Widerrede. Geh hoch in dein Zimmer, und bleib dort, bis ich dich rufe.«

Das Mädchen schien gute Lust zu weiterem Protest zu verspüren, aber der harte Klang in der Stimme der Mutter machte ihr klar, daß es hier um einen dieser Kämpfe ging, bei dem sie nicht gewinnen würde. Verdrossen schlurfte sie die Treppe hoch und warf hin und wieder einen hoffnungsvollen Blick auf die Erwachsenen, um zu sehen, ob sie es sich vielleicht anders überlegten. Niemand bewegte sich, bevor sie die oberste Stufe erreicht hatte und die Tür ihres Zimmers hinter ihr zufiel.

»Wir können uns in die Küche setzen.«

Fridas Mutter ging voran in eine große, gemütliche Küche, wo die Vorbereitungen zum Mittagessen offenbar im vollen Gange waren.

Sie gaben sich höflich die Hand, nannten ihre Namen und setzten sich dann an den Küchentisch. Fridas Mutter holte Tassen aus dem Schrank, goß Kaffee ein und legte Kekse auf einen Teller. Patrik sah, daß dabei ihre Hände zitterten, und er verstand, daß sie die Gewißheit dessen, was sie sagen würden, noch einen weiteren Moment aufschieben wollte. Aber am Ende gab es kein Zurück mehr, und sie ließ sich ihnen gegenüber schwer auf einen Stuhl fallen.

»Sara ist was passiert, stimmt’s? Warum sollte Lilian sonst anrufen und den Hörer einfach so weglegen?«

Patrik und Martin saßen ein paar Sekunden zu lange schweigend da, weil sie beide hofften, der andere würde beginnen, und die Bestätigung, die dieses Schweigen bedeutete, ließ Veronika die Tränen in die Augen schießen.

Patrik räusperte sich. »Ja, leider muß ich mitteilen, daß Sara heute vormittag ertrunken aufgefunden wurde.«

Veronika schnappte nach Luft, aber sagte nichts.

Patrik fuhr fort: »Die Sache scheint ein Unfall zu sein, aber wir möchten ein paar Erkundigungen einziehen, um zu sehen, ob wir Klarheit erhalten können, wie sich alles abgespielt hat.« Er blickte zu Martin, der Block und Stift bereithielt.

»Laut Lilian Florin hätte Sara heute hierherkommen sollen, um mit Ihrer Tochter Frida zu spielen? War das zwischen den Mädchen so verabredet, oder? Außerdem haben wir doch Montag, warum waren die Kinder denn nicht in der Schule?«

Veronika starrte auf die Tischplatte vor sich. »Sie sind am Wochenende beide ein bißchen krank gewesen, also haben Charlotte und ich beschlossen, sie zu Hause zu behalten, aber wir fanden es doch okay, daß sie miteinander spielten. Sara sollte irgendwann am Vormittag kommen.«

»Aber sie ist nie erschienen?«

»Nein, sie ist nie erschienen.« Veronika sagte nichts mehr, und Patrik sah sich gezwungen weiterzufragen.

»Waren Sie nicht verwundert, als das Kind nicht auftauchte? Warum haben Sie zum Beispiel nicht angerufen und nach ihr gefragt?«

Veronika zögerte. »Sara war ein bißchen … wie soll ich sagen … eigen. Sie machte immer ein bißchen, was ihr gerade einfiel. Es kam ziemlich oft vor, daß sie nicht, wie verabredet, herkam, sondern daß sie plötzlich die Idee hatte, lieber etwas ganz anderes zu tun. Die Mädchen waren aus diesem Grund ab und zu ein bißchen verzankt, denke ich, aber ich habe mich nicht einmischen wollen. Nach dem, was ich gehört habe, gibt es bei Sara irgend so ein Buchstabenproblem, und da will man die Sache ja nicht noch schlimmer machen …« Sie saß da und zerriß eine Serviette in winzige Stücke, die auf dem Tisch vor ihr zu einem kleinen weißen Papierberg anwuchsen.

Martin blickte von seinem Block hoch und runzelte die Stirn. »Buchstabenproblem, was ist damit gemeint?«

»Ja, verstehen Sie, so was, was heutzutage fast jedes Kind zu haben scheint, ADHS, ADS, MCD und wie das nun alles heißt.«

»Warum glauben Sie, daß Sara so etwas hatte?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Die Leute sagen es. Und ich fand, es paßte ziemlich gut. Sara konnte sich völlig unmöglich verhalten, also entweder war es das, oder man hatte sie nicht richtig erzogen.« Sie zuckte zusammen, als sie sich selbst so über ein totes Mädchen reden hörte, und senkte hastig den Blick. Mit um so größerem Eifer widmete sie sich wieder dem Zerreißen der Serviette, von der nicht mehr viel übrig war.

»Sie haben also Sara am Vormittag überhaupt nicht zu Gesicht bekommen? Und auch übers Telefon nichts von ihr gehört?«

Veronika schüttelte den Kopf.

»Und Sie sind sicher, daß für Frida dasselbe gilt?«

»Ja, sie ist die ganze Zeit bei mir im Haus gewesen, und ich hätte es gemerkt, wenn sie mit Sara gesprochen hätte. Sie war außerdem ziemlich sauer, weil Sara einfach nicht aufgetaucht ist, also bin ich völlig sicher, daß sie nicht miteinander gesprochen haben.«

»Ja, dann wäre da wohl nicht viel mehr, wonach wir fragen könnten.«

Mit leicht zitternder Stimme fragte Veronika: »Wie geht es Charlotte?«

»Wie man es unter diesen Umständen erwarten kann«, war die einzige Antwort, die ihr Patrik geben konnte.

In Veronikas Augen sah er den Abgrund, der sich für alle Mütter öffnen mußte, wenn sie für eine Sekunde daran dachten, daß ihr eigenes Kind verunglückte. Und er sah auch die Erleichterung darüber, daß es ein anderes Kind und nicht das eigene getroffen hatte. Er konnte sie dafür nicht tadeln. In der vergangenen Stunde waren seine Gedanken allzuoft zu Maja gegangen, und Bilder ihres schlaffen, leblosen Körpers hatten sich ihm aufgedrängt und sein Herz ein paar Schläge aussetzen lassen. Auch er war dankbar, daß es das Kind von jemand anderem und nicht sein eigenes getroffen hatte. Das war nicht ehrenwert, aber menschlich.

Strömstad 1923

Routiniert entschied er, wo der Stein sich am leichtesten spalten ließ, dann sauste der Hammer auf den Keil nieder. Wie erwartet, brach der Granit genau an der berechneten Stelle auseinander. Das hatte ihn jahrelange Erfahrung gelehrt, aber zum großen Teil ließ es sich auch einer natürlichen Begabung zuschreiben. Entweder man hatte diese, oder man hatte sie nicht.

Anders Andersson hatte den Berg geliebt, seit er als kleiner Junge das erste Mal zur Arbeit in den Steinbruch durfte, und der Berg liebte ihn. Aber es war ein Beruf, der einem Mann hart zusetzte. Der Gesteinsstaub schädigte die Lunge mit jedem Jahr mehr, und Splitter flogen aus dem Stein, die das Augenlicht an einem einzigen Tag zerstören oder es allmählich trüben konnten. Im Winter fror man, und da sich die Arbeit mit Handschuhen nicht ordentlich verrichten ließ, mußten die Finger frieren, bis sie einem fast abfielen, und im Sommer schwitzte man arg in der brütenden Hitze. Dennoch gab es nichts, was er lieber täte. Egal ob er Zweiörestücke zuschlug, jene viereckigen Steine, die man zusammenfügte zu Straßen und die man auch Kriebelmücken nannte, oder ob er das Glück hatte, anspruchsvollere Aufträge zu erledigen, stets liebte er jede mühevolle, schmerzhafte Minute, denn er wußte, er tat das, wofür er geboren war. Der Rücken schmerzte ihm bereits im Alter von achtundzwanzig Jahren, und schon bei geringster Feuchtigkeit hustete er wie besessen. Doch konzentrierte er sich auf die Arbeit vor sich, vergaß er jedes Gebrechen und fühlte nur die kantige Härte des Steins unter den Fingern.

Granit war die schönste Gesteinsart, die er kannte. Anders war aus der Provinz Blekinge nach Westen in die Provinz Bohuslän gekommen, wie so viele andere Steinmetze im Laufe der Jahre. Der Granit in Blekinge war bedeutend schwieriger zu handhaben als jener nahe der norwegischen Grenze, und die Leute aus Blekinge genossen hohes Ansehen, dank des Geschicks, das sie bei der Arbeit mit dem vertrackteren Material erworben hatten. Drei Jahre war er jetzt schon hier, und der Granit hatte ihn vom ersten Moment an fasziniert. Irgend etwas hatte dieses Rosa vor dem Grau an sich, das ihm zusagte, genau wie die Findigkeit, die für die richtige Spaltung erforderlich war. Zuweilen redete er bei der Arbeit mit dem Stein. Ging es um ein ungewöhnlich kompliziertes Stück, versuchte er es zu beschwatzen, oder er tätschelte es liebevoll, wenn es leicht zu handhaben und weich war wie eine Frau.

Nicht, daß es ihm an Angeboten von dieser echten Ware gefehlt hätte. Wie die anderen unverheirateten Steinmetze hatte auch er seinen Spaß, wenn sich Gelegenheit bot, aber keine der Frauen hatte ihm so zugesagt, daß das Herz in der Brust einen Sprung machte. Und dann war es der Mühe nicht wert. Er kam gut allein zurecht, und die anderen Männer in der Arbeitsgruppe mochten ihn, so daß sie ihn oft zu sich nach Haus einluden und er dennoch ein von Frauenhand bereitetes Essen vorgesetzt bekam. Und dann hatte er ja das Gestein. Das war schöner und treuer als die meisten Weibsbilder, die ihm begegnet waren, und zwischen dem Stein und ihm herrschte eine gute Partnerschaft.

»Du, Andersson, kannst du mal herkommen?«

Anders unterbrach seine Arbeit an dem großen Block und drehte sich um. Der Werkmeister hatte ihn gerufen, und wie immer in so einem Fall mischte sich seine Erwartung mit Angst. Wenn der Vorarbeiter etwas von einem wollte, ging es entweder um gute oder schlechte Nachrichten. Entweder gab es mehr Arbeit, oder man erhielt den Bescheid, man könne mit der Mütze in der Hand heimgehen. Anders glaubte an und für sich mehr an die erste Version. Er wußte, daß er ein tüchtiger Arbeiter war, und es gab bestimmt andere, die man vor ihm feuern müßte, falls die Belegschaft reduziert werden sollte, doch andererseits ging es nicht immer nach der Logik. Politik und Machtspiele hatten so manchen guten Steinmetz heimgeschickt, also konnte man nie wissen. Sein starkes Engagement in der Gewerkschaftsbewegung machte ihn außerdem verwundbar, wenn der Arbeitgeber Leute loswerden mußte. Politisch aktive Steinmetze standen nicht hoch im Kurs.

Er warf einen letzten Blick auf den Steinblock, bevor er losging, um den Meister zu sprechen. Man arbeitete im Akkord, und jede Unterbrechung hatte ein geringeres Einkommen zur Folge. Für diese Arbeit hier bekam er zwei Öre pro Stein bezahlt, daher die Bezeichnung Zweiörestück, und er würde hart schuften müssen, um die verlorene Zeit wettzumachen, falls der Meister viele Worte machte.

»Guten Tag, Larsson«, sagte Anders und beugte den Kopf, die Mütze in der Hand. Der Meister achtete streng auf die Etikette, und ihm den Respekt zu verweigern, den er nach eigener Ansicht verdiente, wäre ein ebenso guter Grund für das graue Entlassungspapier gewesen.

»Guten Tag, Andersson«, grummelte der beleibte Mann und zog an seinem Schnurrbart.

Anders wartete gespannt auf die Fortsetzung.

»Ja, die Sache ist die, daß wir aus Frankreich die Bestellung eines großen Steins erhalten haben. Der soll zu einer Skulptur werden, und wir gedachten, dich mit dem Herausschlagen des Steins zu betrauen.«

Vor Freude hämmerte ihm das Herz in der Brust. Doch zugleich verspürte er einen Schreck. Es war eine große Chance, wenn man ihm die Verantwortung für das Herausschlagen des Rohmaterials für eine Skulptur übertrug, das konnte bedeutend mehr Geld einbringen als die normale Arbeit und war außerdem interessanter und eine viel größere Herausforderung. Doch zugleich beinhaltete es ein gewaltiges Risiko. Er trug die Verantwortung, bis man die Skulptur aufs Schiff verladen hatte, und ging etwas schief, bekam er für die geleistete Arbeit keine Öre bezahlt. Es kursierte das Gerücht von einem Steinmetz, der zwei Skulpturen in Auftrag hatte, und als er in der Schlußphase der Arbeit steckte, passierte ihm bei beiden ein Fehlschlag. Man erzählte, er sei so verzweifelt gewesen, daß er sich das Leben genommen und die Witwe mit sieben Kindern zurückgelassen hätte. Aber so waren die Bedingungen. Er konnte nichts dagegen tun, und die gebotene Gelegenheit war allzu verlockend, als daß er sie ablehnen konnte.

Anders spuckte in die Hände und reichte dem Meister die Rechte, der dasselbe tat, und ihre Hände vereinigten sich in einem festen Handschlag. Damit war die Sache besiegelt. Anders würde als Vorarbeiter die Arbeit mit dem Stein überwachen. Es beunruhigte ihn ein wenig, was die anderen im Steinbruch dazu sagen würden. Es gab viele, die bedeutend mehr Berufsjahre aufzuweisen hatten als er selbst, und bestimmt würde der eine oder andere brummen, der Auftrag hätte einem von ihnen gebührt, insbesondere da sie im Unterschied zu ihm Familien zu versorgen hatten und das zusätzliche Geld als willkommenen Zuschuß vor dem Winter betrachteten. Zugleich wußten sie alle, daß Anders, so jung er auch sein mochte, der tüchtigste Steinmetz am Ort war, und dieses Wissen würde das meiste der üblen Nachrede fernhalten. Außerdem würde Anders sich einige von ihnen für die Arbeit auswählen dürfen, und er hatte bereits früher bewiesen, daß er klug abzuwägen verstand, wer tüchtig war und wer das Geld besonders dringend brauchte.

»Komm morgen runter ins Büro, dann reden wir über die Einzelheiten«, sagte der Meister und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Der Architekt kommt nicht vor dem Frühling, aber wir haben die Zeichnungen erhalten und können mit der Grobplanung beginnen.«

Anders verzog das Gesicht. Es würde sicher ein paar Stunden dauern, diese Zeichnungen durchzugehen, und das brachte eine weitere Unterbrechung der Arbeit, mit der er im Augenblick beschäftigt war. Er brauchte jetzt jedes einzelne Geldstück, denn die Bedingungen waren, daß die Arbeit am Stein im nachhinein bezahlt wurde, wenn alles erledigt war. Also mußte er sich an noch längere Arbeitstage gewöhnen, da er nebenbei versuchen würde, auch weiter Kriebelmücken zu schlagen. Aber die unfreiwillige Unterbrechung seiner Arbeit war nicht der einzige Grund, weshalb ihn der morgige Gang zum Büro nicht sonderlich freute. Irgendwie fühlte er sich immer fehl am Platz, wenn er da hinkam. Die dort Tätigen hatten so weiche, weiße Hände, und sie bewegten sich so vorsichtig in ihren feinen Bürokleidern, während er sich wie ein klobiger Trampel vorkam. Und obwohl er es mit der Sauberkeit sehr genau nahm, ließ sich nichts dagegen tun, daß sich der Dreck gleichsam in die Haut gefressen hatte. Aber was getan werden mußte, das mußte getan werden. Er würde sich dahin bequemen und die Sache hinter sich bringen, dann konnte er wieder zurück in den Steinbruch gehen, wo er sich zu Hause fühlte.

»Dann sehen wir uns also morgen«, sagte der Meister und wippte auf den Füßen hin und her. »Gegen sieben. Komm pünktlich«, fügte er mahnend hinzu, und Anders nickte nur. Keine Gefahr. Eine solche Chance wurde einem nicht oft geboten.

Mit neuem Elan kehrte er zu seiner Arbeit zurück. Die Freude ließ das Zerteilen des Steins zum Kinderspiel werden. Das Leben war gut.

Sie wirbelte durch den Weltraum. Freier Fall zwischen Planeten und Himmelskörpern, die, als sie an ihnen vorbeifiel, ihren milden Lichtschein um sie ausbreiteten. Traumszenen vermischten sich mit kurzem Aufblinken der Wirklichkeit. In den Träumen sah sie Sara. Das Kind lächelte. Der kleine Babykörper war so perfekt gewesen. Alabasterweiß mit langen, empfindsamen Fingern an den winzigen Händen. Schon in den ersten Minuten ihres Lebens hatte sie nach Charlottes Zeigefinger gegriffen und ihn gepackt gehalten, als sei es das einzige, was sie in der neuen, erschreckenden Welt festhielt. Und vielleicht war es ja auch so. Denn der feste Griff um ihren Zeigefinger fühlte sich für Charlotte an wie ein noch viel festerer Griff um ihr Herz. Etwas, das zeitlebens so bleiben würde, wie sie bereits damals wußte.