Die Tochter der Patientin - Felix Bonke - E-Book
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Die Tochter der Patientin E-Book

Felix Bonke

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Beschreibung

Eigentlich hatte Niklas nicht vor, Arzt zu werden. Im harten Klinikalltag als Assistenzarzt droht er oft genug zu scheitern. Bis die Begegnung mit einer Patientin sein Leben verändert. Melanie Hoffmann leidet an einer unheilbaren Krankheit. Der junge Arzt und die Patientin fassen Vertrauen zueinander, für keinen der beiden eine uneigennützige Angelegenheit: Paulina, Die Tochter der Patientin, gehört für Niklas zu den Frauen, die bisher außerhalb seiner Reichweite lagen. Für Melanie Hoffmann hingegen stellt Niklas einen letzten Versuch dar, das kaputte Verhältnis zu ihrer Tochter zu kitten. Denn Paulina wuchs ohne ihre Mutter in Chile auf. Und Melanie Hoffmann hütet ein dunkles Geheimnis aus der Zeit der chilenischen Diktatur. Je tiefer Niklas in die Familiengeschichte hineingezogen wird, desto mehr muss er sich entscheiden, zu welchem Menschen er selbst werden will.

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Felix Bonke

Die Tochter der Patientin

Roman

I.

Schon immer hegte ich diese eigentümliche Faszination für Frauen, über denen ein Schatten von Unglück liegt. Frauen, denen das Leben übel mitgespielt hat, in denen etwas Dunkles arbeitet, etwas Schweres und Großes, und die dies zu verbergen suchen, ohne es gänzlich verhehlen zu können.

Besonders bemerkenswert ist dieses Phänomen, wenn es eine der Vollendeten trifft. Frauen, die so hinreißend schön sind, dass man dazu neigt, sie für unverwundbar zu halten. Schmerzen, Sorgen, Entbehrungen – das sind Attribute gewöhnlicher Menschen. Schöne Frauen hingegen umgibt der Nimbus einer Generalamnestie von Gottes Strafen. Ihre gefällige Erscheinung wirkt auf viele, als trügen sie ein Schild um den Hals, auf dem steht: »Seht her, ich bin ein Liebling des Schicksals!« So betrachtet man sie gemeinhin als makellose Ikonen, für die andere Gesetze gelten als für gewöhnliche Menschen.

Nun zeigt ja auch ein gewöhnlicher Mensch nicht allzu gern offen, dass es ihm schlecht geht. Im Gegenteil: Die Konvention verlangt es, eine stabile Fassade um sich herum zu errichten, die an ein heiles, unbeschwertes Dahinter glauben lässt. Niemand soll bezweifeln, dass man eine spannkräftige Triebfeder im Uhrwerk der Leistungsgesellschaft ist, niemand vermuten, man sei zu einem glücklichen Leben modernen Gepräges nicht fähig. Also putzt und schmückt man seine Fassade, bis man am Ende oft nichts anderes mehr ist als sein eigenes Potemkin’sches Dorf.

Für schöne Frauen muss dies ein besonderes Dilemma bedeuten. Ihre Fassade ist von Natur aus prachtvoll gestaltet. Dies bringt vielerlei Vorzüge mit sich, aber auch eine gewaltige Bürde: Sie können sich nicht von ihr befreien, selbst wenn sie es wollen.

Jeder erwartet von diesen hinreißenden Kreaturen, dass sie heiter und leichtfüßig durchs Leben tänzeln; und wenn sie sich über etwas beklagen, belächelt man sie als überempfindsame Diven. Niemand möchte anerkennen, dass sie, die Günstlinge des Himmels, einmal wirklich ein Problem haben könnten.

Als Konsequenz entwickeln sie meist zwei typische Verhaltensweisen, die Nacho, mein Mitbewohner, gerne die »Aggregatzustände der Drei-Sterne-Bräute« nannte: Kratzbürstigkeit und maskenhaftes Lächeln.

Sie tragen dieses Lächeln kühl und professionell, als hätten sie einen Krug voll Wasser auf dem Kopf, der niemals herunterfallen darf. Es begleitet sie durch alle Lebenslagen. Wenn sie melancholisch sind, lächeln sie. Wenn sie verzweifelt sind, lächeln sie. Wenn sie sich einsam fühlen, lächeln sie. Und auch wenn sie einmal fröhlich sind, lächeln sie. Aber es ist stets das gleiche, leblose, keimfreie Lächeln, das den Weg zu ihrer Innenwelt hermetisch versiegelt.

Für mich, einen intimen Kenner des Gewöhnlichen, waren diese Frauen lange Zeit ein Rätsel. Als Jugendlicher und auch noch viele Jahre danach weckte die Kratzbürstigkeit schöner Mädchen das brennende Verlangen in mir, sie zu zähmen; und ihr Lächeln schürte den Wunsch, sie würden es mir einmal schenken. Meine Erfolge jedoch blieben äußerst bescheiden. Nie gelang es mir, näher zu einer von ihnen vorzudringen. Umso sensibler wurde ich daher für jenen dritten Aggregatzustand, in dem man sie nur selten antrifft: unverstellte Natürlichkeit.

Es genügt bereits, ein hübsches Mädchen in der U-Bahn oder auf einer Parkbank sitzen zu sehen, wenn es mit sich und seinen Gedanken alleine ist. Sich unbeobachtet wähnend, ohne den Schutzpanzer ihres Retortenlächelns wirken diese Frauen plötzlich wie Geschöpfe aus Fleisch und Blut, und man hat das Gefühl, man könnte geradewegs zu ihnen hinmarschieren und ein normales Gespräch mit ihnen beginnen.

Dieses Schauspiel erfährt noch eine Steigerung, wenn die Gesichter der Makellosen Trauer tragen. Denn nicht nur die Schönheit ist ein rares Phänomen – auch die offene Traurigkeit ist es, und beides in einer Person vereint zu sehen, war für mich ein geradezu mystisches Erlebnis. Ich malte mir dann immer aus, wie ich die Trostlose in den Arm nehmen würde. Wie ihre Tränen auf meine starken Schultern kullern und ich ihr beruhigend den Rücken tätscheln würde. Und wie sie mich dann mit verheulten Augen dankbar anblicken würde, mich, den Felsen, an dem sie sich festhalten konnte, wenn das Unglück sie in den Abgrund zu reißen drohte.

Und auch wenn ich – ein einfacher Sterblicher – nie vermutet hätte, einer der Olympischen tatsächlich einmal als Seelenaufrichter zu dienen, so übte das Bild der traurigen schönen Frau dennoch eine ungeheure Anziehungskraft auf mich aus. Eine Anziehungskraft, deren wirkliches Ausmaß mir erst an jenem deprimierenden Februarabend bewusst wurde, als ich der Tochter einer Patientin heimlich bis zum Innenhof unserer Klinik folgte.

II.

Jedes Mal, wenn der Abspann einsetzt, überkommt mich ein Gefühl der Ernüchterung. Die Welt, die sich um mich herum aufgebaut hat, entpuppt sich als irreal. Was zurückbleibt, ist mein tatsächliches Leben. Ein Leben, dessen Protagonist ausgebrannt auf der Wohnzimmercouch lungert, Tiefkühlpizza isst und den Tag seiner Geburt bedauert.

Mit einer solchen Realität wollte ich an diesem Samstagabend nichts zu tun haben. Ich startete die nächste Folge von »Six Feet Under«. Vier Episoden am Stück hatte ich bereits gesehen. Ich liebte die morbide Grundstimmung dieser Serie, die sarkastischen Dialoge. Nur noch drei Folgen bis zum Saisonfinale der vierten Staffel – das musste zu schaffen sein, bevor ich ins Bett ging.

Beim Erklingen der Titelmelodie kochten auf einmal die Gefühle in mir hoch. Ich drückte auf Pause. Man wusste nie im Voraus, was amerikanische Serien mit einem anstellten. An manchen Tagen waren sie ein großartiges Anästhetikum, an anderen sensibilisierten sie einen für die leisesten Seelenregungen.

Heute – das zeichnete sich immer deutlicher ab – würde mir jedoch auch das größte Meisterwerk medialer Zerstreuungskunst keinen Frieden bringen.

Woher kam diese neue Dimension der Unruhe? Die emotionale Zerrüttung, in der ich mich seit Monaten befand, war mir längst zum täglichen Begleiter geworden. Ich hatte mich an sie gewöhnt und gelernt, ihr allabendlich zu entfliehen, indem ich in den Parallelkosmos von Fernsehen und Internet abtauchte. Aber heute funktionierte das nicht. War es möglich, dass das mit den Ereignissen des gestrigen Tages zu tun hatte? Worin sonst sollte der Grund liegen?

Ich atmete tief durch und genoss für einen Moment die Stille unseres Wohnzimmers. Der Kontrast zu dem hektischen Getöse, dem ich auf Station ausgesetzt war, hätte kaum größer sein können. Ich starrte auf das Standbild des »Six Feet Under«-Intros. Es zeigte in Großaufnahme das geöffnete Auge einer Frauenleiche. War es normal, dass ich mir nach allem, was ich jeden Tag erlebte, den Tod auch noch ins Haus holte?

Ich dachte an Anna. Die ersten drei Staffeln hatte ich noch zusammen mit ihr gesehen. Auf eben dieser Couch. Sie hatte die Titelmelodie nie leiden können und mir regelmäßig die Fernbedienung aus der Hand gerissen, um vorzuspulen. Wie gerne hätte ich ihr von gestern erzählt. Aber das war natürlich paradox. Mit Anna in meinem Leben hätte dieser Tag nie so geendet.

Mein Blick fiel auf ein Päckchen »Player’s«, das auf dem Beistelltisch vor mir lag. Sie gehörten meinem Mitbewohner. Vor Annas Zeit hatte ich selten geraucht und mit Anna nur hin und wieder einen Joint. Nach Anna räucherte ich drei Monate lang meinen Schmerz aus und kam auf gut eine Schachtel am Tag. Als ich meine Arbeit antrat, hörte ich auf, weil Arzt sein und rauchen nach meinem Selbstverständnis nicht vereinbar waren. Gestern war ich rückfällig geworden. Großer Gott! Ein ganzer Abend alleine in der »Favorit Bar«. Bier, Kippen und Selbstmitleid. Daran wollte ich jetzt nicht anknüpfen.

Ich nahm das Päckchen »Player’s«, um es aus meinem Blickfeld zu entfernen. Unweigerlich kamen mir dabei die Bilder aus dem Innenhof in den Sinn. Der Rauch, der den Mund der Trostlosen wie ein heißer Atem verlassen hatte und sich in der schwarzen Nacht zerstreut hatte. Der Ausdruck ihres Gesichtes. Ihr graziler Körper. Nein, es bestand kein Zweifel daran, dass jene Vorkommnisse schuld an meiner Unruhe waren.

Ich öffnete die Balkontür und trat hinaus in den kalten Februarabend. Das Westend breitete sich in dunkler Konturlosigkeit vor mir aus. Gelegentlich hörte man in der Ferne das metallische Brummen eines Fahrzeugs.

Es war gewiss nicht allein die überwältigende Schönheit der jungen Frau, die mich so nachhaltig beschäftigte, und es waren auch nicht die dramatischen Umstände, von denen unsere Begegnung überschattet war. Ich spürte, dass noch andere Kräfte im Spiel waren. Eine seltsame, nicht näher bestimmbare Attraktion, die von ihr ausging, und der ich mich nicht entziehen konnte.

Nach einer Weile spürte ich wieder das Päckchen »Player’s« in meinen nun klamm gewordenen Fingern. Es erschien mir alternativlos, eine Zigarette herauszunehmen, sie anzuzünden und ihren Rauch tief zu inhalieren. Ich kniff die Lippen zusammen und atmete durch die Nase aus.

An das Geländer gelehnt ergab ich mich meinen Gedanken, auch wenn sie sich fruchtlos im Kreise drehten. Immer wieder fädelten sie sich ein in die Endlosschleife des gestrigen Tages. In geradezu cineastischer Intensität zogen die Bilder an mir vorbei, als bildeten sie das Staffelende einer Fernsehserie, an dessen Cliffhanger man sich nicht sattsehen konnte.

III.

Gnadenlos beschleunigte die U-Bahn, ratterte harsch den dunklen Korridor entlang und bremste dann abrupt ab. Mit kraftlosem Griff hing ich an der Haltestange und versuchte, nicht ins Taumeln zu geraten. Ich kam mir vor wie ein Untoter im Schaukasten. Die Menschen um mich herum sahen zwar selbst nicht gerade aus wie das blühende Leben, doch ich hatte den Eindruck, dass sie mich anstarrten. Die zahlreichen Nächte voll schlechtem Schlaf und unruhigen Träumen hatten ihre Spuren hinterlassen.

Die Türen öffneten sich und ich schleppte mich nach draußen. Mit jedem Meter wurden meine Schritte schwerer. Kaum länger als einen Monat übte ich nun meinen Beruf aus, aber es fühlte sich an, als würde ich seit vierzig Jahren im Bauch einer Galeere schuften.

Als ich auf der Station eintraf, herrschte bereits rege Betriebsamkeit. Schwester Peggy redete wild auf meinen Kollegen Malte ein. Daran, dass sie ihn duzte, erkannte man, dass sie auf Stressmodus geschaltet hatte. Wann immer sie unausgeglichen war, glitt ihr Konversationsstil ins Kumpelhafte ab. Angesichts der Häufigkeit dieses Zustandes wäre es sicher sinnvoll gewesen, ihr gleich das Du anzubieten. Doch keiner wagte es.

Malte wusste sich wie immer charmant aus der Affäre zu ziehen: »Meine liebe Peggy, es tut mir in der Seele weh, Ihnen einen Wunsch abschlagen zu müssen, aber ich kann den Patienten nicht aufnehmen. Ich bekomme heute leider kein Männerbett frei. Aber fragen Sie doch mal den Dr. Niklas. Soviel ich weiß, hat der noch Valenzen.« Er warf mir einen schelmischen Seitenblick zu.

»Was, zu dem?«, sagte sie, als ob ich nicht im Raum wäre. »Meinste nicht, dass das ’ne Nummer zu groß für den ist?«

Malte legte Peggy eine Hand auf die Schulter und meinte, sie solle mir ruhig mehr zutrauen. Ich sei trotz meines naturgemäß holprigen Einstands im Beruf ein fähiger Mann. Ich hatte keine Ahnung, ob dies Maltes wirklicher Meinung entsprach. Aus Maltes Mund wirkte alles überzeugend.

»Worum geht es denn?«, klinkte ich mich ein, um einen souveränen Tonfall bemüht.

»Also, pass uff«, wandte sich Peggy, der Maltes Hand auf der Schulter sichtlich wohlgetan hatte, an mich. »Da schiebt uns die Notaufnahme ohne Vorwarnung einfach so ’nen verlotterten Alki rauf, fünf Promille oder was der hat. Ich sag’s dir: Eine Fahne von hier bis zum Stachus und müffelt auch sonst wie ein Ziegenstall. Auf jeden Fall hat der ’ne Pankreatitis und plärrt sich die Seele aus dem Leib vor Schmerzen. Wenn du mich fragst, gehört der rauf auf Intensiv.«

Dies war eigentlich der Zeitpunkt, um gezielt nachzufragen, um Blutdruck, Puls, Temperatur und Zuckerspiegel in Erfahrung zu bringen und dann ein paar klare Anweisungen vom Stapel zu lassen. Ich aber blickte nur in Peggys grimmiges, etwas zu fülliges Gesicht, aus dem mir zwei blaue Augen kalt entgegenfunkelten, und brachte nichts weiter heraus als: »Okay …«

»Nix okay!« Peggy hyperventilierte. »Ich brauche eine Entscheidung, wie es weitergeht. Und zwar pronto!«

Sie verließ den Raum unter leise dahingezischten Flüchen. Hilflos wandte ich mich um zu Malte. Der saß lässig zurückgelehnt auf seinem Bürostuhl und schäkerte mit jemandem am Telefon. Sein spitzbübisches Lächeln ließ darauf schließen, dass es sich um die schöne Katja aus der Notaufnahme handelte. Die hatte er schon seit längerer Zeit im Visier. Jeder wusste das. Noch widersetzte sie, die fest Verbandelte, sich ihm, dem noch fester Verbandelten. Doch am Ende würde sein Charme ihr die Kleider vom Leib fegen, daran hatte ich keinen Zweifel. Wenn dieser Schürzenjäger einmal zum Halali geblasen hatte, war kein Rehlein mehr sicher.

Seine Talente beschränkten sich jedoch nicht alleine auf den Umgang mit Frauen. Er schien obendrein auch ein ausgesprochen fähiger Arzt zu sein. Wenn er auf Visite ging, wirkte das frisch und beschwingt, als würde er mit seinem Wägelchen Walzer durch die Zimmer tanzen. Die Schwestern liebten ihn, die Patienten überhäuften ihn mit Geschenken, und sogar die Bettenschieber kannte er beim Vornamen. Gab es ein komplexes medizinisches Problem, hatte er schon eine Lösung ersonnen, wenn andere noch über die Komplexität jammerten, und selbst an Tagen, an denen fremdverschuldet alles schief ging, beklagte er sich nicht, sondern ließ eine treffende ironische Bemerkung nach der anderen fallen. Er war der perfekte Gegenentwurf zu mir.

Ich griff mir die Akte meines Patienten und blätterte sie durch. Sein Name war Rudi Bernacker. Nicht Rudolf, sondern Rudi. Darauf schien er bei der Angabe seiner persönlichen Daten stets Wert gelegt zu haben. Er war im Hause bestens bekannt, weil er regelmäßig vom Rettungsdienst betrunken in der Notaufnahme abgeladen wurde. So war es auch gestern gewesen, nur hatte er diesmal das Klinikum nicht nach dem Ausschlafen seines Rausches verlassen. Der jüngste Alkoholexzess hatte seine Bauchspeicheldrüse mit voller Wucht getroffen. Sie hatte sich schwer entzündet.

Erst zweimal in meinem Leben war mir eine Pankreatitis begegnet. Einmal vor etwa vier Jahren in der Vorlesung Innere Medizin, die ich und meine Freunde zumeist in der Mensa mit Kartenspielen überbrückt hatten. Und ein weiteres Mal vor dem zweiten Staatsexamen, bei dessen Vorbereitung ich ungefähr zwei Absätze zu dem Thema in meinem Kompakt-Lehrbuch überflogen hatte. Ich wusste also über diese Krankheit nicht viel mehr, als dass sie existierte.

Malte legte den Hörer auf. Das war der Moment, auf den ich gewartet hatte. Ich griff mir die Akte und wollte sie ihm gerade antragen, da sagte er:

»Pass auf, Niklas, ich bin jetzt mal für ein, zwei Stunden im Ultraschall. Oberarzt Blaschek ist krank, und ich muss aushelfen. Kein Problem für dich, hier mal kurz alleine die Stellung zu halten, oder? Ich bin sicher, das hast du drauf. Also, bis später, hau rein!«

Bevor ich etwas sagen konnte, hatte er bereits wehenden Kittels den Raum und seine Rolle als mein Fürsorger verlassen.

Vom Stationsgang vor dem Arztzimmer drang eine fordernde, krächzende Stimme herein. Wo ich denn bliebe, fragte Peggy, der Patient habe sich gerade in einer Schmerzattacke die Infusionsnadel herausgerissen. Hektisch fischte ich aus meiner Schreibtischschublade den »Herold«. Dieses Buch enthielt alles, was man über innere Medizin wissen musste, in komprimierter Form. Wie in Trance jagte ich meinen Blick über die winzigen Buchstaben des Pankreatitis-Kapitels und hastete dann in Richtung Patientenzimmer. Dort versuchten Peggy und der kleine, aber äußerst stämmige ukrainische Pfleger Dmitri gerade, den wild um sich schlagenden Rudi Bernacker niederzuringen.

»Glotz nicht so, tu’ endlich was!«, rief Peggy giftig.

»Grüß Gott, Herr Bernacker«, begrüßte ich ihn, »ich bin Doktor Niklas, Ihr Stationsarzt. Wie geht es Ihnen denn?«

»Miserabel! Mein Bauch tut abartig weh. Ich brauch sofort Nubain!«

Peggy eilte hinaus, um das Medikament zu holen. Ich griff in meine Kitteltasche und zog mein kleines Arzneimittellexikon hervor. Ich hatte das Wort Nubain soeben zum ersten Mal in meinem Leben gehört. Es stellte sich heraus, dass Nubain ein starkes Opiat war. Und zu Opiaten fielen mir vor allem zwei Dinge ein: Sie unterdrückten erstens den Atemantrieb und machten zweitens abhängig. Nubain kam also bei einem Suchtmenschen wie Rudi Bernacker keinesfalls infrage.

Schwester Peggy kam mit der Nubain-Infusion zurück.

»Tut mir leid, Peggy, wir können bei diesem Krankheitsbild leider keine Opiate geben. Seien Sie doch so gut und bringen Sie mir eine Ampulle Novalgin als Kurzinfusion!«

»Sag mal, Doc, biste jetzt völlig bekloppt? Novalgin? Bei den Schmerzen? Was darf’s denn als Nächstes sein? Baldrian-Tropfen? Knöterich-Extrakt? Akupunktur?«

»Nach WHO-Stufenschema sollte die Erstlinientherapie akuter Schmerzen mit einem niedrig potenten Analgetikum wie Novalgin erfolgen.«

Ich versuchte, durch auswendig gelernte Lehrbuch-Phrasen Kompetenz zu demonstrieren, merkte aber schon beim Reden, wie lächerlich das klang. Peggy schnaubte verächtlich.

»Nubain«, wimmerte Rudi Bernacker, »jetzt bringt mir doch endlich das Nubain!«

Ich wertete das starke Verlangen des Patienten nach dieser Substanz als Zeichen von Abhängigkeit und bestand daher umso nachhaltiger auf Novalgin. Irgendwann gab Peggy nach und machte sich erneut auf den Weg zum Medikamentenregal.

In der Zwischenzeit legte ich dem Patienten eine neue Venenverweilkanüle, was auf Anhieb gelang. Kein Wunder, denn schließlich war dies neben dem Blutabnehmen das Einzige, worin ich während des Studiums alltagstaugliche Fähigkeiten erworben hatte. Peggy brachte das Novalgin und schloss die Infusion an. Das Nubain beließ sie auf dem Ständer.

»Nur für den extrem unwahrscheinlichen Fall, dass du das heute noch mal brauchen solltest«, giftete sie und verschwand zusammen mit Dmitri.

Nun konnte ich in aller Ruhe die Aufnahmeprozedur erledigen. Vor mir lag ein großer weißer Anamnesebogen, den es zu füllen galt.

»Herr Bernacker, wann haben denn Ihre Beschwerden genau begonnen?«

Als Antwort erhielt ich nur ein wehklagendes Stöhnen, dessen Grundmotiv das Wort Nubain war. Na gut, dachte ich, ich muss dem Novalgin eben einfach mehr Zeit geben.

Also kehrte ich ins Arztzimmer zurück, um nach einem Intensivbett für Rudi Bernacker Ausschau zu halten. Doch mein Argument, es gehe dem Patienten »sauschlecht«, entbehrte der erhofften Überzeugungskraft. Überall, wo ich anrief, hieß es, eine Pankreatitis ohne unmittelbar drohende Atem- oder Kreislaufdepression habe auf einer Intensivstation nichts verloren. Außerdem habe man ohnehin kein freies Bett.

Als ich in das Patientenzimmer zurückkehrte, war Rudi Bernacker wie verwandelt. Ganz entspannt lag er auf dem Rücken und atmete ruhig und regelmäßig. Fast genussvoll hatte er die Augen geschlossen, um seine Mundwinkel spielte ein entspanntes Lächeln. Auch ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Das Novalgin hatte geholfen. Ich hatte über die Zweifler triumphiert.

Die folgende Anamnese ging leicht von der Hand. Ich beschrieb den Patienten als »unscharf orientiert« aber »freundlich zugewandt«, entlockte ihm die wichtigsten Informationen über den Beschwerdehergang und sah weise darüber hinweg, dass er – trotz eines nachgewiesenen Promillespiegels von 3,7 – jedweden Alkoholexzess entschieden von sich wies.

Mit frischem Selbstbewusstsein verabschiedete ich mich und warf noch einmal einen dankbaren Blick in Richtung Novalgin. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass die Infusion überhaupt nicht mehr mit dem Patienten verbunden war. Der Schlauch aus Rudi Bernackers Unterarmvene führte direkt in das leere Fläschchen Nubain.

Aufgebracht stampfte ich zu Schwester Peggy und stellte sie zur Rede. Doch sie wies jede Schuld von sich und behauptete süffisant, dass einer wie Rudi Bernacker ohne Probleme die nötige Krankenhauserfahrung mitbringe, um zu wissen, wie man sich eine Infusion anschließt. Ich hätte eben das Nubain nicht neben seinem Bett stehen lassen sollen.

Egal, was der Tag noch bringen mochte – er war schon jetzt nicht mehr zu retten. Ich hatte mich als hilfloser Wurm erwiesen, der nicht nur beim Akutmanagement eine traurige Figur abgab, sondern sich auch noch von Pflegekräften und Patienten an der Nase herumführen ließ. Wenn man als Arzt keine Autorität hatte, war man erledigt. Autorität war die wichtigste aller Tugenden, noch vor der Kompetenz, und wer am laufenden Band bewies, dass er auf beiden Klaviaturen nicht spielen konnte, stellte seine Eignung für den Beruf unweigerlich infrage.

Wenig später saß ich vor Rudi Bernackers leerer Patientenkurve, in die ich die Medikamente einzutragen hatte, und wartete auf eine Eingebung. Minutenlang starrte ich Löcher in die Luft. Dann stand ich auf und holte mir einen Kaffee. Es war kaum zu glauben, aber am Ende des Monats gab es tatsächlich jemanden, der mich für das, was ich hier trieb, bezahlte.

Als Malte zurückkehrte, war es bereits Mittag. Überfallartig stürzte ich ihm entgegen und trug ihm Rudi Bernackers Akte an. Malte überflog kurz die wesentlichen Punkte und begann sofort, sein Behandlungskonzept in Form einer Tirade aus Fachausdrücken und exotischen Medikamenten vor mir auszubreiten. Am Anfang versuchte ich noch, mitzuschreiben, doch bald schon hatte ich den Faden verloren.

»Ach, weißt du was?«, sagte Malte schließlich verständnisvoll. »Wir legen ihn einfach übers Wochenende auf Intensiv. Sonst wird das hier alles zu kompliziert.«

»Vergiss es«, erwiderte ich, »ich habe schon sämtliche Intensivstationen durchtelefoniert. Es gibt nirgendwo Betten.«

Malte grinste nur vielsagend, hob den Hörer ab und wählte eine Nummer. »Hallo Nadine, du seltene Perle im Lande der eisernen Lungen, hier ist dein Lieblingskollege Malte … Ja, ich brauche mal wieder deine heilenden Hände …«

IV.

Es war fast sechs Uhr, als ich die Visite endlich abgeschlossen hatte. Die meisten meiner Kollegen hatten sich bereits ins Wochenende verabschiedet. Nur Malte war noch zugegen. Er hatte Spätdienst.

Ich öffnete das Schreibprogramm. Drei meiner Patienten standen heute zur Entlassung an. Es hatte mich nicht wenig Mühe gekostet, sie davon zu überzeugen, noch eine Nacht länger auszuharren. Dies verschaffte mir die benötigte Zeit, ihre Arztbriefe zu schreiben. Sie zu diktieren war freilich jetzt nicht mehr möglich. Freitags gingen die Schreibkräfte schon mittags nach Hause. Ich würde mich damit abfinden müssen, die Klinik heute Abend so bald nicht zu verlassen.

Ich brütete gerade über einem EKG, als Malte in Begleitung einer jungen Frau den Raum betrat. Er wirkte ernst und konzentriert und bat sie höflich, Platz zu nehmen, ohne seine übliche Flirtlaune an den Tag zu legen.

Draußen hatte bereits die Nacht Einzug gehalten. Der alte, aber hartnäckige Schnee in den Parkanlagen rund um das Klinikum warf mir das kalte Licht eines Mondes entgegen, den ich nicht sah. Dahinter erstreckten sich die Häuser der Vorstädte bis weit in die Ferne, abstrakte Mosaike aus erleuchteten Quadraten.

Die Station A3 Nord war Teil des alten Bettenhauses und verfügte über ein außergewöhnlich geräumiges Arztzimmer. In seiner Mitte stand ein Holztisch mit vier Stühlen, der gelegentlich für Gespräche mit Patienten oder deren Angehörigen genutzt wurde. Malte und die junge Frau saßen sich gegenüber. Ich verfolgte das Geschehen im Spiegel des Fensterglases.

Es ging um Frau Hoffmann, die Mutter der jungen Frau. Sie war uns zwei Tage zuvor mit einem schmerzlosen Ikterus zugewiesen worden. Bereits mehrmals war ich ihr auf dem Gang begegnet. Sie war gelb wie eine Zitrone und hatte an beiden Unterarmen offene Stellen – Folgen des Juckreizes, den die Galle hervorruft, wenn zu viel von ihr ins Blut gelangt. Dennoch hatte sie stets ein freundliches Lächeln für mich übrig gehabt.

Malte hockte auf dem vorderen Drittel der Sitzfläche. Sein Oberkörper war aufgerichtet, den Kittel hatte er vollständig zugeknöpft. Seine Unterarme ruhten auf der Tischplatte. Gelegentlich erhob er die Hand zu einer sparsamen Geste.

Er schilderte der Tochter die Ereignisse der letzten Tage. Zunächst habe man im Ultraschall eine massive Erweiterung der Gallenwege gesehen. Der Grund für den Aufstau habe allerdings wegen starker Gasüberlagerung nicht dargestellt werden können. Man habe daher eine Spiegelung des Gallengangs vorgenommen, wo sich leider nicht der erhoffte Stein gezeigt habe. Vielmehr sei der Eindruck entstanden, als werde der Ductus von außen komprimiert. Man habe der Patientin daher zunächst ein Plastikröhrchen, auch Stent genannt, eingelegt, um den Abfluss der Galle wiederherzustellen. Heute habe man dann eine Computertomografie angefertigt, um Gewissheit über die Ursache zu erlangen.

Die Tochter schwieg. Das Spiegelbild zeigte sie im Profil von schräg hinten. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte müde.

»Heute Nachmittag haben wir die Bilder bekommen«, fuhr Malte fort. »Man sieht auf ihnen im Bereich des Bauchspeicheldrüsenkopfes, durch den der Gallengang hindurchführt, eine Gewebsvermehrung.«

»Krebs.« Ihre überraschend tiefe Stimme betonte das Wort nicht wie eine Frage.

»Mit letzter Sicherheit lässt sich das nicht sagen. Allerdings sind gutartige Tumoren, die zu einem Gallenstau führen, eine Rarität.«

Die junge Frau lehnte sich zurück und tippte einige Male mit dem Zeigefinger auf ihre Unterlippe. Malte gab ihr Zeit, sich zu sammeln.

»Kann man operieren?«

»Nach unseren bisherigen Erkenntnissen besitzt der Tumor zwar schon eine stattliche Größe, ist aber noch nicht in Nachbarorgane oder wichtigen Gefäße hineingewachsen. Auch Metastasen waren nicht nachweisbar. Das bedeutet: Wenn am Montag auch die Endosonografie, also eine Dünndarmspiegelung mit Ultraschall, keine übermäßige Ausbreitung des Tumors zeigt, könnten die Chirurgen schon am Dienstag operieren.«

»Bestehen Chancen auf eine Heilung?«

»Im Falle einer Operation, ja. Aber ich will ehrlich mit Ihnen sein: Auch dann sind die Zahlen hinsichtlich eines Langzeitüberlebens nicht gut.«

Die Tochter ballte ihre rechte Hand zur Faust und hob sie etwas an, als wolle sie sie auf den Tisch niederfahren lassen. Doch dann hielt sie inne und sagte:

»Ich wusste, dass sie maßlos untertreibt. Wäre es nach ihr gegangen, wäre sie jetzt auch sicher nicht hier. Sie hätte das Problem schöngeredet, bis sie bewusstlos in der Wohnung gelegen hätte. Mutter ist schon immer vor der Realität geflüchtet. Vorhin hat sie allen Ernstes zu mir gesagt, ihr Pankreas sei nur leicht entzündet. Ich brauche mir keine Sorgen zu machen.«

»Ich habe sie aber über alles aufgeklärt.«

»Wie gesagt: Sie hat ihre eigene Auffassung von der Realität.«

Kurze Zeit später erhob sie sich und schüttelte Malte die Hand. Impulsartig wandte ich mich um. Mein Blick begegnete dem ihren. Ohne jede mimische Regung nickte sie mir zu, dann verließ sie den Raum.

Ich sah erneut auf das Fenster und betrachtete mein eigenes, leicht verzerrtes Spiegelbild. Ich spürte, dass mein Puls sich beschleunigt hatte. Ein paar Minuten verharrte ich in reglosem Sinnieren. Dann versuchte ich, meine Gedanken wieder auf die Arbeit zu lenken.

Nachdenklich stand ich am Kaffeeautomaten, der leise brummend meinen Plastikbecher mit Moccacino füllte. Die Maschine war auf halber Höhe des Stationsganges platziert, sodass sie von überall gut zu erreichen war. Weit und breit war niemand zu sehen. Malte war auf eine andere Station gerufen worden, die Pflegekräfte hatten sich in die Küche zum Abendessen zurückgezogen.

Auf einmal ging ein paar Meter entfernt eine Tür auf. Heraus trat Frau Hoffmanns Tochter, die nun einen dicken grauen Mantel trug und einen weißen Wollschal um ihren Hals geschlungen hatte. Hastig, beinahe zornig setzte sie ihre Schritte den Gang entlang und passierte mich, ohne von mir Notiz zu nehmen. Dann bog sie um die Ecke in Richtung Treppenhaus.

Es war kein bewusster Entschluss, ihr zu folgen. Ich griff mir aus dem Schwesternstützpunkt eine beliebige Patientenakte, um den Anschein zu erwecken, ich sei dienstlich unterwegs. Im Treppenhaus verhielt ich mich lautlos und beobachtete aus sicherem Abstand, wie die Tochter durch eine Nebentür das Gebäude in Richtung Innenhof verließ.

Der Innenhof lag zwischen den Bettenhäusern A und B und war weder besonders groß noch in irgendeiner Form attraktiv. Aber er war die am schnellsten zu erreichende Freiluftfläche, sodass sich dort stets eine Gruppe von Rauchern tummelte. Ich folgte der Tochter nicht durch die Tür, sondern ging noch einige Schritte weiter, kramte meinen Schlüssel hervor und betrat die kleine Fachbibliothek, von der aus man den Innenhof fast vollständig einsehen konnte. Ohne das Licht einzuschalten, ging ich am Fenster in Stellung.

Der Hof war von einer schwachen Lampe erleuchtet. Im Hintergrund saßen zwei ältere Herren auf einer Bank und rauchten. Beide hatten ihre Gehwägen vor sich geparkt.

Die Tochter stand etwa zwei Meter von mir entfernt. Sie zog aus ihrer Jackentasche einen blau-weißen Softpack einer Zigarettenmarke, die ich noch nie gesehen hatte.

Sie zündete sich eine Zigarette an. Nach einem tiefen Zug ließ sie den Rauch gleichzeitig durch Mund und Nase entweichen. Ihre Augen schienen auf ein fernes Ziel gerichtet. Regungslos verharrte sie in dieser Position, bis ihre Zigarette fast auf die Hälfte heruntergebrannt war. Erst dann nahm sie den nächsten Zug.

Ihre Haare waren sehr dunkel, vielleicht sogar schwarz. Sie hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der ihr knapp über die Schultern reichte. Vom Gesicht sah ich nur das Profil, die hohe Stirn, die fein modellierte Nase, den harmonischen Übergang in eine sinnliche Oberlippe. Das Kinn war markant und trotzig und passte sich dennoch tadellos in die filigranen Züge ihres Gesichtes ein.

Die Augen waren von der Seite nur ungenügend zu beurteilen; mein kurzer Blick von vorne hatte sie mir jedoch wie tiefschwarze Monde erscheinen lassen, die jedes Licht in ihrer Nähe absorbierten.

Sie war ohne Frage von betörender Schönheit. Dies vermochte auch ihr leichenblasser Teint nicht infrage zu stellen, ebenso wenig wie ihre eingefallenen Wangen oder die dünnen, mit einer engen weißen Jeans bekleideten Beine. Im Gegenteil: Die Fragilität verlieh ihr eine Grazie, die mich tief berührte.

Mit einem Mal wandte sie sich um und bewegte sich in meine Richtung. Ich zuckte zusammen. Konnte es sein, dass sie mich bemerkt hatte? Ich beschloss, mich zurückzuziehen – und verharrte doch regungslos in meiner Position. Dann hörte ich ein dumpfes Geräusch.

Die Tochter hatte sich mit dem Rücken an die Fensterscheibe vor mir gelehnt. Ihre Arme hingen schlaff an beiden Seiten des Körpers herunter, das Gesicht hatte sie nach oben gerichtet. Ich sah ihre raschen Atemstöße in der kalten Luft kondensieren. Sekunden vergingen. Vor meinen Augen stieg der Rauch ihrer Zigarette auf, die sie noch immer in der linken Hand hielt.

Dann sank sie in sich zusammen und begann zu weinen. Ich vernahm ihr Schluchzen deutlich durch die kaum schallisolierten Fenster. Es konnte nicht mehr als ein halber Meter sein, der uns trennte. Unvermittelt spürte ich, wie all die zerstörerischen Emotionen der letzten Wochen in mir zu zirkulieren begannen. Die Selbstzweifel, die Demütigungen, das Gefühl der Unzulänglichkeit. Und die Sache mit Anna. Das Unglück der Tochter drohte auf mich überzugreifen. Ich wollte hinausrennen und sie in meine Arme schließen, sie trösten und mich von ihr trösten lassen. Da mein Amt es mir verbot, unterließ ich es.

Die beiden alten Männer auf der Bank mussten gefragt haben, ob alles in Ordnung sei. Zumindest schloss ich das aus der abwehrenden Handbewegung, die sie aus ihrer Kauerstellung vollführte. Dann erhob sie sich, warf ihre Zigarette weg und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Während sie zur Tür ging, fiel mir auf, dass sie dem Wetter völlig unangemessene Ballerinas trug.

V.

»Sieh mal einer an! Kann ich jetzt davon ausgehen, dass Rauchen unbedenklich ist, wenn der Herr Doktor sich auf einmal auch wieder die Ehre gibt?«

Die kräftige Bassbaritonstimme ging mir durch Mark und Bein. Wenn Nacho unsere Wohnung betrat, so tat er das selten mit Understatement. Ihm gefiel es, zur Kenntnis genommen zu werden.

Er stellte seine Umhängetasche ab und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. Ich kehrte durch die offene Balkontür ins Zimmer zurück und gesellte mich zu ihm.

»›Six Feet Under‹, hab ich recht?« Er setzte sich in die Mitte des Sofas. »Warum hast du auf Pause gedrückt?«

»Musste kurz nachdenken. Im Gestalten von einsamen Samstagabenden bin ich noch nicht wirklich gut.«

»Wie lange seid ihr jetzt auseinander?«

»Vier Monate.«

»Auweia! Da befindet sich jemand mitten in der Relapse-Phase.«

»Relapse-Phase?«

»Wenn man auf einmal vergisst, dass die Trennung gut und richtig war, und beginnt, die gemeinsame Zeit maßlos zu verherrlichen.«

»Ich verherrliche nicht. Das, was Anna und ich hatten, war wirklich außergewöhnlich. Wir hätten das nicht so leichtfertig aufgeben dürfen.«

»Siehst du, genau das meine ich.«

Ich nahm einen tiefen Zug von meiner Zigarette. Mit Nacho zu diskutieren, hatte keinen Sinn. Zumindest nicht, wenn man recht behalten wollte.

»Pass auf! Ich muss dir was zeigen!«

Mein Mitbewohner zog eine Kompaktkamera aus der Innentasche seiner Lederjacke. Er drückte einige Tasten, bis auf dem Display das Bild einer jungen, rotblonden Frau erschien.

Sie hatte lange kräftige Haare, die sie am Hinterkopf hochgesteckt trug. Sommersprossen bedeckten die obere Gesichtshälfte. Nase und Mund waren formschön, jedoch nicht mehr als schmückendes Beiwerk für ihre eisig leuchtenden, surreal hellblauen Augen, die den Betrachter sehnsuchtsvoll anblickten und ihm zugleich verboten, sich zu nähern.

»Geschmeidiges Kätzchen, oder?«

»Wer ist das?«

»Rebecca. Seit heute offizielle Hauptdarstellerin meines Abschlussfilms.«

»Echt schöne Frau, muss man wirklich sagen.«

»Und seit Kurzem Single.« Nacho zog die Augenbrauen nach oben.

»Na dann, worauf wartest du noch?«, sagte ich.

»Ich? Bist du verrückt? Als Regisseur werde ich selbstverständlich die gebotene professionelle Distanz wahren. Ich hatte eher an dich gedacht. Wenn du willst, kann ich da was drehen …«

»Nacho, ich warne dich, versuch bloß nicht, mich mit irgendwem zu verkuppeln. Das kann ich nicht leiden.«

»Wieso nicht? Alter, mal im Ernst, bei dir muss jetzt langsam mal was passieren. Es schwimmen so viele knackige Kaulquappen im Tümpel rum, und du guckst nur auf die Kröte, die dich unglücklich gemacht hat.«

»Moment mal! Anna …«

»Schschsch!«

Nachos Handy läutete. Er hob ab und sprach Spanisch. Dann sah er auf die Uhr und sagte: »Okay!«

Er wandte sich mir zu.

»Das war gerade der Drogenhändler. Ich muss noch mal weg.«

»Drogenhändler?«

»Ricardo, der Crack-Dealer aus meinem Film.«

Über die gesamte Breite seines Gesichts grinsend rückte er seine Lederjacke zurecht und verschwand durch die Haustür.

Ich ließ mich wieder auf die Wohnzimmercouch fallen. Kröte. Nein, das wurde Anna nicht gerecht. Nacho hatte wie immer gewaltig übertrieben. Und sie hatte mich auch nicht unglücklich gemacht.

Vor mir lag die DVD-Box von »Six Feet Under«. Eine der Abbildungen zeigte Nate Fisher, den ältesten Sohn der Bestatterfamilie. Anna hatte kaum eine Gelegenheit ausgelassen, kundzutun, wie unglaublich attraktiv sie ihn fand.

Es lag keine Klasse darin, Nate Fisher toll zu finden. Aber Anna war so. Sie tat gerne das Naheliegende. Sie aß mit Begeisterung Schokolade, trank im Café stets Latte macchiato und fuhr bei schönem Wetter gerne an den See. Sie mochte Norah Jones, Salat mit Putenbruststreifen, »Die fabelhafte Welt der Amélie«. Sie lief bei der Blade Night mit, kaufte mit Begeisterung Schuhe, verehrte Brad Pitt, George Clooney und eben auch Nate Fisher.

Naheliegend war es damals wohl auch, dass ich im dritten Semester ihr Freund wurde. Wir hatten im Anatomiekurs an derselben Leiche gestanden. Anna am Kopfende, wo sie Schädel und Gesicht präparierte, ich daneben am Hals. Bald verabredeten wir uns, um gemeinsam zu lernen. Was ebenfalls naheliegend war, nicht nur weil wir derselben Praktikumsgruppe angehörten, sondern auch, weil Anna wie ich in der Studentenstadt lebte, einem Wohnheim im Norden von München.

Über die folgenden Wochen wurde es zur Routine, dass wir uns regelmäßig trafen. Mal kam sie mit ihren Büchern auf mein Zimmer, mal ich mit meinen auf ihres. Eines Abends hatte sie Spaghetti alle vongole gekocht. Nach dem Essen lernten wir und tranken Wein. Dann küssten wir uns.

Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich die ersten Monate unserer Partnerschaft in unkontrollierbarem Gefühlstaumel verbracht hätte. Dennoch hatte ich es von Beginn an als angenehm empfunden, dass Anna da war. Sie hatte sich denkbar unaufdringlich in mein Leben geschlichen und war doch bald nicht mehr daraus wegzudenken. Wir gingen gemeinsam in die Vorlesungen, saßen bei der Physikumsvorbereitung nebeneinander in der Bibliothek, verbrachten fast jeden Abend und die Wochenenden zusammen.

Der Schlüssel zu dieser Symbiose lag in ihrer Begabung, mich zum Reden zu bringen. Ich war nie ein Mensch von großem Mitteilungsdrang gewesen. Der überwiegende Teil dessen, was ich erlebte, erschien mir zu banal, um anderen davon zu berichten. Alles Übrige gab ich nur an besonderen Tagen preis und dann in Form weniger Silben.

Mit Anna änderte sich dies radikal. Sie war wie ein Newsticker, der einem sekündliche Updates über ihren Gemütszustand lieferte. Alles was in ihr vorging, kommunizierte sie in Echtzeit nach außen. Ereignisse, deren Zeuge ich nicht ohnehin schon war, wurden mir bei erster Gelegenheit detailliert nachberichtet – so belanglos sie auch sein mochten.

Sie tat dies, ohne zu plappern. Ihre Stimme war warm und angenehm, ihr Sprachduktus gemächlich, aber präzise. Sie sah einen beim Erzählen mit wachen Augen an, war präsent und hielt ihren Körper unverkrampft in Spannung. Die emotionale Dichte ihrer Mimik verwandelte ihr durchschnittlich schönes Gesicht in die Bühne eines dramatischen Theaters.

Ich ließ mich von der Leichtigkeit und dem Enthusiasmus ihrer Kommunikation anstecken und öffnete mich immer mehr. Zwar erreichte ich nie das Informationsvolumen, das Anna in einer Konversation unterbringen konnte, aber dennoch verbalisierte ich auf einmal Gefühle oder Standpunkte, die früher niemals an die Außenwelt gelangt wären.

Dass die Gespräche nur selten intellektuellen Tiefgang erreichten, störte mich nicht. Anna war der erste Mensch, der es schaffte, in die verriegelten Hinterzimmer meiner Persönlichkeit vorzudringen, dort die Fensterläden aufzureißen und den Staub vom Inventar zu wischen.

Beinahe sechs Jahre war ich mit ihr zusammen gewesen, und doch konnte ich – abgesehen vom Ende – keine Gelegenheit benennen, in der unsere Beziehung ernsthafte Turbulenzen durchlaufen hätte. Durch unsere permanente gegenseitige Introspektion wussten wir genau, was der andere gerade im Schilde führte, sodass wir einen sich anbahnenden Streit schon früh unterbinden konnten.

Das Studium war über all die Jahre der Fixpunkt der Beziehung gewesen. Anna nahm es ein wenig ernster als ich, doch da getrennte Marschrouten nicht infrage kamen, einigten wir uns auf einen gemeinsamen Kurs in der Mitte unserer Ambitionen. Heraus kam eine fast identische Punktzahl in allen Multiple-Choice-Examina. In den mündlichen Prüfungen profitierte Anna von ihrer außergewöhnlichen Eloquenz und war meist einen Deut besser als ich.

Während der Semesterferien jobbten wir, absolvierten unsere Famulaturen und fuhren für zwei Wochen ans Meer. Einmal reisten wir einen Monat lang per Interrail durch Europa. In Cádiz gefiel es uns am besten, also beschlossen wir, ein Tertial unseres Praktischen Jahres dort abzuleisten.

Die Sommertage in Cádiz waren heiß und oftmals beengend, doch die andalusischen Nächte machten alles wett. Wir schlenderten durch die labyrinthartigen Gassen der Altstadt, tranken Wein am Meer oder saßen in einem der Fischrestaurants und versuchten, uns während des Essens auf Spanisch zu unterhalten. Obwohl wir beide nur Grundkenntnisse besaßen, gelang uns auch diese Form der Kommunikation problemlos. Gewiss schlossen wir auch Bekanntschaften, aber im Wesentlichen genügten wir uns selbst. Es war kaum anders als zu Hause. Einzig das surreal schöne Ambiente einer der ältesten Städte Europas sorgte dafür, dass wir unsere Zweisamkeit noch intensiver genossen. Niemand hätte zu diesem Zeitpunkt vermutet, dass die Lösung unserer Beziehung kurz bevorstand.

Ich ließ mich zurückfallen und starrte an die Decke. Was sie jetzt wohl gerade machte? Ich hatte gehört, dass sie in einer gynäkologischen Klinik in Augsburg untergekommen war. Aber das war es auch schon. Weiter wusste ich nichts von ihr. Der Kontakt war vollständig erloschen, der Newsticker hatte sich abgeschaltet.

Und nun? Nacho hatte recht. Ich musste den Blick nach vorne richten. Zu neuen Ufern aufbrechen. Aber wohin meinen Fokus nur lenken? Mich mit seiner Hauptdarstellerin zusammenzubringen, war nett gemeint, jedoch – wie so oft, wenn Nacho plötzliche Eingebungen hatte – mit der Wirklichkeit nicht vereinbar. Rebecca war viel zu attraktiv für mich. Selbst, wenn sie sich für mich interessierte, würde ich mich an der Seite einer Frau mit solcher Strahlkraft stets unwohl fühlen. Nein, das würde nicht funktionieren. Dann könnte ich mich ja gleich um die junge Frau aus der Klinik bemühen.

Wieder baute sich ihr Bild vor mir auf. Das schöne Gesicht und die grenzenlose Traurigkeit, die auf ihm lag, berührten mich auch am Tag danach wie ein düsteres und erhabenes Kunstwerk. Ich brannte darauf, mehr über sie zu erfahren.

Bevor ich gestern nach Hause gefahren war, hatte ich die Akte ihrer Mutter durchgeblättert. Sie hieß Melanie Hoffmann, war neunundvierzig Jahre alt und lebte hier in München. Hoffmann. Es war also durchaus wahrscheinlich, dass die Tochter ebenso hieß. Aber was war damit gewonnen? Die alleinige Information bot mir keine Möglichkeit der Recherche. Um dieser Aussichtslosigkeit eine Dimension zu geben, googelte ich den Namen. Es erschienen einundzwanzig Millionen Ergebnisse. Ich stellte mir vor, wie sie jetzt und hier neben mir saß, sich eng an mich schmiegte und mir dankte, dass in dieser schwierigen Zeit für sie da war. Wie ich meine Finger durch ihr tiefdunkles Haar gleiten ließ, und sie mich – selig lächelnd – sanft auf die Schläfe küsste.

Seufzend ließ ich mich in der Couch zurückfallen und starrte an die Decke. Ich schämte mich für meine lächerlichen Wunschprojektionen. Es blieb dabei. Frauen wie sie durften für einen wie mich kein Gegenstand konkreter Ambitionen sein. Eine derartige Vermessenheit würde nur ins Unglück führen. Für amouröse Belange würde mir irgendwann schon wieder ein Mädchen begegnen, dem ich gewachsen war.

VI.

»Pass auf, Dr. Langsam, wenn du nicht sofort mit der Visite loslegst, werd’ ich deine Anordnungen nachher nicht mehr ausarbeiten. Dann kannste selber die Medikamente stellen und die Katheterbeutel ausleeren.«

Wie eine Nemesis mit flammendem Schwert stand Peggy in der Mitte unseres Arztzimmers und fixierte mich streng. Ich nickte ergeben und machte ein paar hektische Bewegungen, um den Eindruck gesteigerter Betriebsamkeit zu erwecken.

»Und du, Strahlemann«, sie wandte sich an Malte, während ihre Stimme umgehend weich wurde, »Frau Hoffmann wird gleich zur Endosonografie abgeholt und braucht eine Nadel.«

Malte, der bereits wieder beim gemütlichen Teil angelangt war und am Telefon seinen Charme an Katja erprobte, legte eine Hand auf die Sprechmuschel des Hörers. »Peggy, sehen Sie nicht, dass ich gerade im Gespräch bin?«

»Natürlich. Aber das ändert ja nix dran, dass Frau Hoffmann eine Nadel braucht.«

Malte stöhnte. Er wirkte heute nicht ganz so gelöst wie sonst.

»Lass, mal Malte«, sagte ich zu ihm, »ich mach das schon. Ich muss sowieso gleich zwei Zimmer weiter Blut abnehmen.«

Seine Miene entspannte sich zu einem gewinnenden Lächeln. »Danke, Mann, hast echt was gut bei mir.«

Ich holte mir im Stützpunkt das Tablett mit den Utensilien für die Venenpunktion und machte mich auf zu Frau Hoffmanns Zimmer. Ich spürte, wie sich der Herzschlag in meiner Brust beschleunigte. Was, wenn die Tochter gerade zu Besuch bei ihr war? Wie sollte ich mich ihr gegenüber verhalten? Was für Worte waren in solcher Lage angemessen?

Frau Hoffmann war alleine im Raum. Sie lag in einem Doppelzimmer, doch das zweite Bett fehlte. Offensichtlich befand sich die Nachbarin gerade bei einer Untersuchung. Ich näherte mich der Patientin. Mein Puls beruhigte sich etwas.

»Grüß Gott, Frau Hoffmann, mein Name ist Dr. Niklas. Ich lege Ihnen schnell eine Infusionsnadel für die Kurznarkose bei der Endosonografie.«

»Nur zu«, antwortete sie, »meine Arme gehören Ihnen.«

Sie befreite ihren linken Unterarm von dem weißen Nachthemd, das sie trug, und streckte ihn mir entgegen. Dabei legte sie ihren Kopf leicht schief und lächelte mich verträumt an.

Mein Puls nahm wieder Tempo auf. Frau Hoffmann war eine ausgesprochen attraktive Frau, die man gut und gerne zehn Jahre jünger schätzen konnte. Sie war schlank, von rosiger – noch mit einem leichten Gelbstich behafteten – Gesichtsfarbe und trug ihre dunkelblonden Haare etwas mehr als schulterlang. Ihre schräg zur Nasenwurzel zulaufenden, grünen Augen waren umkränzt von bemerkenswert langen Wimpern.

Nervös suchte ich ihren Unterarm ab. Ihre dünnen Äderchen waren viel zu kaliberschwach, um eine Verweilkanüle in sich aufzunehmen. Ich behalf mir mit meinem Standardspruch für diese Situation: »Hat man Ihnen denn nicht gesagt, dass Sie Ihre Venen in die Klinik mitbringen sollen?«

Frau Hoffmann lachte. »Oh! Kann sein, dass ich die vorhin im Bad liegen gelassen habe. Vielleicht sehen Sie dort einmal nach. Oder Sie probieren es einfach am anderen Arm. Da geht es in der Regel etwas besser.«

Ich wechselte zum anderen Arm. Frau Hoffmanns Charme überforderte mich. Es passte nicht in mein Weltbild, dass eine Frau, die so vital erschien und äußerlich der Vergänglichkeit so eindrucksvoll widerstand, ein Pankreaskarzinom haben sollte.

Mein erster Versuch, eine Nadel in der Ellenbeuge zu versenken, scheiterte.

»Ihre Venen liegen wirklich sehr tief und zerplatzen bei der kleinsten Berührung. Das ist gar nicht so einfach.«

Es wurde geradezu von einem Arzt erwartet, dass er den Venen die Schuld für sein eigenes Versagen gab.

»Jaja, das sind ganz launische Dinger, meine Venen«, sagte sie. »Aber vielleicht liegt das Problem auch darin, dass ich eine Elefantenhaut habe. Und darüber noch ein dickes Fell.«

»Ein dickes Fell, das Ihnen das Leben wachsen ließ?«, wagte ich mich ein wenig indiskret vor.

»Nein, ich wurde damit geboren. Aber wahrscheinlich hätte ich mir mit einer dünneren Haut ein etwas weniger aufregendes Leben ausgesucht. Wer ein dickes Fell hat, braucht Extremerfahrungen, um intensiv fühlen zu können. Ich mache keine halben Sachen. Auch jetzt nicht, wie man sehen kann.« Sie lächelte und fixierte mich mit verwegenem Blick.

»Sie machen einen sehr gelassenen Eindruck«, sagte ich. »Das sieht man nicht oft.«

»Was denn sonst? Soll ich vielleicht jammernd durchs Zimmer laufen und ›O Gott, o Gott, o Gott‹ schreien? Wegen dieses kleinen Dings an der Bauchspeicheldrüse? Ach woher! Damit werde ich schon fertig. Außerdem habe ich bis jetzt davon fast nur profitiert.«

»Profitiert?«, fragte ich erstaunt, während ich eine rosa Braunüle in einer kleinen Vene oberhalb des Handgelenks platzierte.

»Na und ob! Sehen Sie: Zum einen habe ich endlich einmal eine gute Ausrede, am nächsten Wochenende keinen Faschingsball besuchen zu müssen. Dann habe ich hier eine wunderbare Aussicht über die Stadt und werde von reizenden jungen Ärzten wie Ihnen betreut. Und vor allem bekomme ich dank meiner Krankheit endlich einmal wieder meine Tochter zu Gesicht. Sie hat ihren Besuch bei mir auf unbestimmte Zeit verlängert.«

Ich spürte einen kräftigen Adrenalinstoß und hätte beinahe das Pflaster abgerissen, mit dem ich die Braunüle fixierte. »Wo wohnt denn Ihre Tochter normalerweise?«

Noch während ich fragte, ging die Tür auf, und ein bulliger Zivildienstleistender mit langen Haaren und Ziegenbart trat ein, um Frau Hoffmann in die Endosonografie zu bringen. Sie antwortete knapp: »Weit weg. Zu weit. Aber das ist eine lange Geschichte. Danke für die Nadel. Sie haben das wirklich ganz hervorragend gemacht.«

Auf dem Weg zurück traf ich auf Schwester Peggy, die gerade ein Bett in eines meiner Zimmer schob. Angesichts der erheblichen Körpermasse des darin liegenden Patienten fiel ihr das Manövrieren sichtlich schwer.

Mit übler Vorahnung warf ich ihr einen fragenden Blick zu.

»Also Mitleid haste eigentlich keins verdient, aber jetzt bin ich kurz davor«, sagte sie und deutete mit dem Kinn auf den Patienten. Aus einem aufgedunsenen Gesicht mit buschigem Schnauzbart, zotteligen Haaren und pockennarbiger Nase durchbohrten mich die blutunterlaufenen Augen Rudi Bernackers. Die Intensivstation hatte ihn wieder zurückverlegt.

Im Arztzimmer brütete ich über den Akten des Patienten. Viel war auf der Intensivstation nicht passiert. Man hatte ihm lediglich Flüssigkeit und Schmerzmittel gegeben. Im Arztbrief war keine Rede davon, was mit ihm geschehen sollte. Damit war ich nicht viel weiter als am Freitag.

Aus den Dokumenten im Computer-Archiv ließ sich Rudi Bernackers Vorgeschichte rekonstruieren. Er war bis zu seinem fünfundvierzigsten Lebensjahr Elektroinstallateur gewesen, dann hatte er auf einmal dicke Fingergelenke bekommen und war zum Arzt gegangen. Dieser hatte eine rheumatoide Arthritis diagnostiziert und nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen behandelt, doch keine der Therapien hatte angeschlagen. Ein Gelenk nach dem anderen war ihm von seinem eigenen Immunsystem weggefressen worden. Nur absurd hohe Dosierungen von Cortison waren in der Lage gewesen, die Symptome der Erkrankung ein wenig zu kontrollieren. Die Nebenwirkungen dieser Therapie hatten ihm jedoch so zugesetzt, dass er irgendwann die Schnauze voll hatte und alles absetzte. Um die Schmerzen auszuhalten, hatte er begonnen, zu trinken und selbst angebautes Gras zu rauchen; Ärzte hatte er fortan nur noch aufgesucht, wenn es sich gar nicht hatte vermeiden lassen. Bald hatte er kaum noch einen Fuß vor die Tür seiner Junggesellenwohnung in der Maxvorstadt gesetzt und war von seinen Freunden mit Fertiggerichten, Paulaner und Asbach Uralt versorgt worden. Das ging ein paar Jahre gut, bis die Leber sich in eine Zirrhose verwandelt hatte. Seither war er ein regelmäßiger Gast dieses Hauses.

Die Tür zum Arztzimmer öffnete sich. Sofort wandte ich den Kopf, doch meine Hoffnung, Malte sei zurückgekehrt, erfüllte sich nicht. Eine spinnengliedrige Gestalt in hellblauer Endoskopiekleidung betrat den Raum, griff sich hektisch einen Bürostuhl und nahm neben mir Platz.

»Herr Niklas«, sagte Oberarzt Bosch, »ich würde gerne die Patienten heute aus terminlichen Gründen etwas eher mit Ihnen durchgehen. Gibt es irgendetwas Dramatisches?«

Der Ausdruck »terminliche Gründe« war mir nicht neu. Offenbar hatte Bosch heute wieder einmal vor, die Klinik früher zu verlassen. Sein Trainingsplan für den Ironman in Roth war sehr ehrgeizig und er achtete sorgsam darauf, dass ihm die Arbeit dabei nicht in die Quere kam. Die Frage nach etwas Dramatischem stellte er jeden Tag, und es war ratsam, sie mit Nein zu beantworten.

»Nichts wirklich Dramatisches«, untertrieb ich, »aber ich habe gerade einen Patienten bekommen, über den wir vielleicht sprechen sollten.«

Ich schilderte ihm den Fall Rudi Bernacker. Bosch war nicht in der Lage, still zu sitzen, während er mir zuhörte. Nach kurzer Zeit unterbrach er mich: »Herr Niklas, Sie müssen lernen, die Patienten knapper und strukturierter vorzustellen. Mich interessiert nicht jedes Hühnerauge, das dieser Mensch einmal hatte. Beschränken Sie sich auf das aktuelle Problem.«

Im Klartext wollte Bosch wissen, was Rudi Bernacker aus gastroenterologischer Sicht fehlte. Auf den übrigen Gebieten der inneren Medizin war er wenig beschlagen und pflegte sie, so weit es ging, zu ignorieren. Also erzählte ich ihm von der akuten Pankreatitis und konfrontierte ihn mit meinen drängendsten Fragen.

»Wenn ich hier erscheine, Herr Niklas, erwarte ich nicht, dass Sie mir Fragen stellen, sondern dass Sie mir Lösungen anbieten, die ich dann mit Ihnen diskutiere. Sie müssen langsam wirklich lernen, unabhängig zu arbeiten. Soweit ich weiß, läuft Ihr Vertrag nur bis zum Ende des Jahres. Sie müssen dem Chef schon einen guten Grund geben, ihn zu verlängern.«

Auch wenn mein befristeter Vertrag mir ständig im Nacken saß, hatte ich keine Lust, darüber zu debattieren. Ich lenkte das Gespräch wieder auf Rudi Bernackers Erkrankung.

»Eine Pankreatitis, Herr Niklas, behandelt man vor allem symptomatisch. Und das werden Sie ja wohl hinbekommen, ohne dass ich Sie dabei an der Hand führe.«

Ich hasste es, wie er immer »Herr Niklas« sagte. Und noch mehr hasste ich, dass er sich stets darum drückte, Entscheidungen zu treffen. Ich forderte ihn auf, mir zumindest zu sagen, ob eine Computertomografie erforderlich sei.

»Bei solch einem komplexen Fall sollte man schon irgendwann ein CT machen«, erwiderte er nebenher. »Je nach klinischem Verlauf. Da dürfen Sie den richtigen Zeitpunkt auf gar keinen Fall verpassen. Gibt es sonst noch irgendetwas, Herr Niklas?«

»Nein«, antwortete ich, dem Drehbuch entsprechend, obgleich ich ihm noch keinen meiner anderen Patienten vorgestellt hatte.

Bosch hatte sich bereits zum Gehen gewandt, da kam Schwester Jordanka ins Arztzimmer gestürmt: »Gut, dass ich Sie finde, Herr Doktor! Der Herr Bernacker erbricht kübelweise Blut.«

Bosch blickte mich an, als hätte ich diesen Zwischenfall mutwillig herbeigeführt, um seine Karriere als Ausnahmeathlet zu torpedieren. Er trug mir auf, ihm bei der Endoskopie zu assistieren. Ich wusste sofort, dass dies nichts als eine sinnlose Machtdemonstration war. Während der gesamten Magenspiegelung stand ich teilnahmslos im Hintergrund und musste nur einmal eine Spritze Dormicum aufziehen.

Die Ursache für Rudi Bernackers Bluterbrechen war rasch gefunden. Eine der Krampfadern, die er wie das Abzeichen eines Leberzirrhotikers um die Speiseröhre trug, war aufgerissen. Nur mit Mühe gelang es Bosch, die Blutung durch Platzierung mehrerer Gummiringe um das verletzte Gefäß zu stoppen. Anschließend kam Rudi Bernacker wieder auf die Intensivstation. Sein Blutdruck war kaum noch messbar, er überlebte nur knapp.

Der Zwischenfall kostete mich weitere wertvolle Zeit. Als ich zurückkam, wartete vor dem Arztzimmer ein Pulk missgelaunter Angehöriger, die Auskunft über mein Konzept zur Heilung ihrer Liebsten verlangten. Ich musste an die Grenzen meiner rhetorischen Fähigkeiten gehen, um zu kaschieren, dass ich überhaupt kein Konzept besaß, sondern lediglich herumprobierte und hoffte, dass nichts Schlimmes dabei passierte.

Auf dem Gang traf ich auf Katja, die gerade Dienstschluss hatte. Sie wusste, wie dankbar ich über Ablenkungen war, und überredete mich zu einem Becher Moccacino im Dienstarztzimmer. Ich kannte Katja aus dem Studium. Sie hatte viele Jahre im Rettungsdienst gearbeitet und war nun fest in unserer interdisziplinären Notaufnahme angestellt. Seit Langem war sie mit einem Rettungsassistenten der Münchener Berufsfeuerwehr liiert.

Katja erzählte mir, dass sie vorhabe, ihren Klausi im Sommer zu heiraten. Ich gratulierte ihr, konnte mir aber die Frage nicht verkneifen, welchen Inhalts denn die ausgedehnten Konversationen seien, die mein Kollege Malte tagtäglich mit ihr führe.

Katja wurde rot. Sie wisse auch nicht, was der immer von ihr wolle. Sie habe nur zwei Mal mit ihm Dienst in der Notaufnahme gehabt, und seitdem könne sie die Uhr nach seinen Anrufen stellen. Pünktlich nach der Visite frage er bei ihr an, ob sie viel zu tun habe und er irgendwelche Neuzugänge zu erwarten habe. Sehr seltsam finde sie das. Manchmal komme er sie auch besuchen, begrüße sie mit Wangenkuss und fange an zu plaudern. Er sei ja schon ein netter und charmanter Mann, der Malte, aber sie verstehe nicht, warum er so viel von seiner knapp bemessenen Zeit an sie verschwende.

»Weil er dich flachlegen will«, hätte ich beinahe gesagt, verkniff es mir aber. Ich wollte ihr den Schutzmantel ihrer Naivität nicht zu abrupt vom Leibe reißen.

Es war fast acht Uhr abends, als ich den letzten Entlassbrief für den kommenden Tag diktiert hatte. Ich hätte problemlos bis Mitternacht durcharbeiten können, doch meine Lider hingen mir bleischwer vor den Augen.

Als ich den Computer ausschalten wollte, hielt ich inne und klickte noch einmal auf die Patientenübersicht der Station A3 Nord. Bevor ich nach Hause ging, wollte ich das Ergebnis von Frau Hoffmanns Endosonografie in Erfahrung bringen. Ich rief den Befund auf. Der Text war länger als üblich.

Oberarzt Blaschek, der die Untersuchung durchgeführt hatte, schrieb, man könne nun im endoskopischen Ultraschall ein deutliches Einwachsen des Tumors in die Arteria mesenterica superior erkennen. So deutlich, dass er sogar eine Spitze gegen die Radiologen einfließen ließ, die das Gefäß in der Computertomografie als unauffällig befundet hatten.

Es war eine Angelegenheit von wenigen Millimetern. Jedoch entscheidenden Millimetern. Ein Einwachsen des Tumors in eine große Baucharterie machte ihn inoperabel. Das Thema Heilung war damit vom Tisch, das Schicksal Melanie Hoffmanns besiegelt.

VII.

»Ist hier noch frei?«, sagte eine erkältete Stimme neben mir. Und als ich nicht sofort reagierte: »Wir bräuchten nur zwei Plätze.«

»Ihr könnt auch alle drei haben. Ich bin alleine hier.«

Der kleine, schmächtige Student mit Pudelmütze nahm neben mir Platz, seine Freundin, eine Wasser-und-Seife-Frau ohne jede Auffälligkeit in ihrer Physiognomie, setzte sich ihm gegenüber. Ich hatte das Gefühl, dass beide mir einen kurzen, mitleidigen Seitenblick zuwarfen.

Das Café war mittlerweile fast voll besetzt. Das Publikum bestand aus einigen wild durcheinanderplappernden Frauengruppen, zum Großteil aber aus jungen Pärchen, gerade dem gemeinsamen Bett entstiegen, das Nachglühen des geschlechtlichen Genusses noch auf den Gesichtern, demonstrativ in inniger Vertrautheit versunken.

Was hatte mich nur dazu bewogen, hierher zu kommen? War nicht der Sonntagsbrunch ein durch und durch widerwärtiges Ritual? Dieses plakative Zurschaustellen von Beziehungseuphorie, dieses stundenlange Zeitverbummeln in zelebrierter Zweieinigkeit, dieses vulgäre Abfeiern eines Glücks, das ohnehin nur einen Wimpernschlag lang bestand, bevor man sich dann jäh voneinander löste, als hätte man sich nie gekannt.

Kaum zu glauben, dass ich mit Anna selbst über viele Jahre diesem ekelhaften Treiben gefrönt hatte.

Ich hätte auf Nacho hören sollen, der gestern mit wüster Perücke, einer Plastikkeule in der Hand und nur einem künstlichen Bärenfell bekleidet in meinem Zimmer aufgekreuzt war und mich zum Biedersteiner Fasching hatte überreden wollen. Er umwarb mich mit »Bier, Beats und Bräuten« und versprach mir, mich mit seinen unfehlbaren Kupplerdiensten ins Elysium zu katapultieren.

Ich lehnte ab, was Nacho vor Unverständnis beinahe hyperventilieren ließ. Doch mein Entschluss war unumstößlich. Was hätte ich denn auf dem Fasching auch anfangen sollen, diesem Tummelplatz der Dionysier und Extrovertierten? Meinesgleichen verbrachte derartige Festivitäten schüchtern in einer abgeschirmten Ecke, repetitiv an seinem Bier nuckelnd. Daran konnte auch Nacho mit all seiner hedonistischen Penetranz nichts ändern.

Ich zahlte und ließ eine angeknabberte Focaccia und einen halb vollen Milchkaffee zurück. Es waren nur wenige Meter bis zum Englischen Garten. Die eiskalte Luft schmerzte beim Einatmen durch die Nase, und doch tat mir die Frische dieses trüben, dunstverhangenen Morgens gut. Ich lenkte meine Schritte ziellos weiter durch das undurchsichtige Grau, bis ich am Monopteros anlangte. Auch oben auf dem Hügel konnte man im dichten Gewölk des Nebels kaum etwas erkennen. Nur in Richtung Osten begann die weiße Wand sich zu lichten. Entlaubte Bäume kamen zum Vorschein, zwischen denen nach und nach immer mehr entlaubte Bäume durchschimmerten. Man wähnte sich am Beginn eines riesigen Waldes. Ein Unkundiger wäre nie darauf gekommen, dass nicht weit von hier die Isar vorbeiströmte und dahinter die Häuser Bogenhausens begannen.

Frau Hoffmann, schoss es mir durch den Kopf. Sie wohnte in Bogenhausen, das hatte ich ihrer Akte entnommen. In der Thomas-Mann-Allee, die parallel zur Isar verlief und kaum zehn Gehminuten von hier entfernt lag. Ich holte tief Luft und blickte kurz unschlüssig nach rechts und links. Dann machte ich mich auf den Weg.

Ich passierte den Chinesischen Turm, überquerte die Isar auf der Max-Joseph-Brücke und bog links in die Thomas-Mann-Allee ein. Auf einmal musste ich abrupt innehalten. Was hatte ich eigentlich vor? Zu welchem Ziel trieb mich dieser plötzliche Anflug von Courage? Gewiss würde ich nicht an Frau Hoffmanns Tür klingeln und fragen, ob ich auf einen Kaffee hereinkommen könnte. Es wäre ja schon höchst befremdlich, wenn sie mich überhaupt in der Nähe ihrer Wohnung antreffen würde.

Dennoch ging ich weiter. Ich hielt mich zunächst auf einem Spazierweg, der an der Isar entlang verlief. Hier standen keine Häuser, nur ein schmaler, winterlich kahler Wald, der zum Fluss hin abfiel.

Ich hielt nach den Hausnummern Ausschau, konnte aber keine erkennen. Auch als ich die Straße gekreuzt hatte, wurde ich nicht fündig. Beinahe alle Häuser waren hermetisch abgeschirmt von dichten Zäunen und hohen Mauern und boten keinen Hinweis darauf, wer sie bewohnte.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Reflexartig wandte ich mich um. Ein hünenhafter Mann mit grauem Pferdeschwanz stand im schwarzen Bademantel vor seinem geöffneten Gartentor, eine zusammengerollte Zeitung in der Hand und mich regungslos mit seinem Blick durchbohrend. Ich hob erschrocken die Hand. Der Mann reagierte nicht, musterte mich nochmals von oben bis unten, bevor er sich abwandte und das Tor krachend hinter sich zuzog.

War ich noch ganz richtig im Kopf, am grausten und trostlosesten aller Tage diesen abweisenden Ort aufzusuchen, um heimlich einer todgeweihten Frau und ihrer unglückseligen Tochter nachzustellen? Die Einsamkeit gebar seltsame Verhaltensmuster. Ich musste dem dringend entgegensteuern, sonst saß ich in ein paar Monaten verwahrlost und desozialisiert in meiner Wohnung und brachte meine Tage damit zu, Silberfischchen zu dressieren.

Ich machte kehrt und nahm Kurs auf die nächstgelegene Bushaltestelle. Nur rasch nach Hause und mich irgendwo in der narkotisierenden Zeitverbrennungsmaschinerie des Internets verlieren, um diesen Tag halbwegs zu überstehen. Gut hundert Meter vor der Montgelasstraße vernahm ich vor mir ein Bellen. Der Atem stockte mir. Seit meiner Kindheit begleitete mich diese irrationale Angst vor Hunden. Gerade in einer Stadt wie München war das ein echtes Problem. Bei kleinen Hunden konnte ich mein Unwohlsein zwar meist gut überspielen, doch mit zunehmender Größe des Tieres wurde dies schwieriger.

Vor mir stand ein Pferd von einem Hund. Obwohl gut zwanzig Meter uns trennten, schien seine monströse Statur mein gesamtes Sichtfeld einzunehmen. Er bellte abermals, sein Blick war auf mich gerichtet. Es war, als könnte er meine Angst riechen.

Er hielt kurz inne, wiegte den Kopf und begann, sich zu nähern. Erst langsam, dann immer rascher. In völliger Schockstarre sah ich das Tier auf mich zurasen, die Augen weit geöffnet. Der Fluchtimpuls in mir kam erst, als es schon zu spät war. Ich setzte an zum Spurt meines Lebens und fühlte doch, dass es kein Entrinnen gab. Ich kam nur zwei Schritte weit, dann stolperte ich über meine eigenen Füße und landete in der Böschung.

Sofort war der Hund bei mir, sein mächtiger Schädel tauchte auf mein Gesicht herab, die Kiefer öffneten sich. Mein schlimmster Albtraum wurde wahr. Ich fühlte die Zähne bereits in mein Fleisch eindringen, da wurde es plötzlich still. Dicht neben meinem Ohr hörte ich ein Lechzen und Schnauben, gefolgt von einigen Schnüffellauten. Der Hund umrundete mich einmal, vermaß mich mit olfaktorischer Gründlichkeit und entfernte sich dann gelangweilt in gemächlichem Trab.

Mein Herz pumpte heftig gegen den feuchten Grund aus Gras und Gestrüpp. Mühsam versuchte ich, mich aufzurichten, als ich hinter meinem Rücken ein Kichern hörte. Ich drehte meinen Kopf, rutschte dabei aber mit der Hand ab und landete wieder auf dem Boden.

»Was hast du denn angestellt?«, fragte eine dunkle, weibliche Stimme hinter mir. »Gestern einen zu viel getrunken und hier eingeschlafen?«

»Wie bitte?« Ich wandte mich um, konnte aber kaum etwas sehen. Meine Kontaktlinse war verrutscht.

Sie lachte. »War nur Spaß. Hab gesehen, was passiert ist.«

»Ist das dein Hund?«, fragte ich, die Kontaktlinse wieder in Position bringend.

»Ja, Tuco. Ein ganz, ganz braver.«

»Von wegen brav! Ich glaube, du tickst nicht ganz richtig, diese Bestie frei herumlaufen zu lassen.«

»Bestie? Tuco? Quatsch. Dieser Hund hat das Aggressionspotenzial eines Meerschweinchens. Er bewegt sich nur manchmal ein bisschen zu hektisch.«

Ich kniff meine Augen zusammen. Die Kontaktlinse saß wieder, doch das Fremdkörpergefühl war noch immer nicht verschwunden.

»Geht’s dir gut? Oder soll ich einen Arzt rufen?«

»Nein«, sagte ich, »aber du könntest dich entschuldigen.«

»Wieso ich? Wenn, dann müsste der Hund sich entschuldigen. Aber der ist leider gerade mit einer wichtigen Angelegenheit in einem Erdloch beschäftigt. Ich kann ihm ja ausrichten, dass du sauer auf ihn bist. Vielleicht schreibt er dir dann eine Karte.«