Die Tochter des Kapitäns - Jennifer Delamere - E-Book

Die Tochter des Kapitäns E-Book

Jennifer Delamere

5,0

Beschreibung

London, 1880 - Auf der Flucht vor ihrem Arbeitgeber landet Rosalyn Bernay alleine und ohne Geld vor einem Londoner Theater. Sie kann ihr Glück kaum fassen, als sie dort als Garderobiere arbeiten darf, und taucht in die schillernde Welt des Theaters ein. Eine Handverletzung hält Nate Moran von der Armee fern. Stattdessen arbeitet er nachts als Bühnenarbeiter bei einem großen Londoner Theater. Doch er zählt die Tage, bis er wieder zurück zu seinem Regiment darf. Denn eine Schuld lastet schwer auf seiner Seele. Aber dann trifft er auf eine wunderschöne Frau, die sich gerade ein neues Leben an dem Ort aufgebaut hat, dem Nate nur zu gerne entfliehen möchte. Kann die Liebe den Graben zwischen Angst, Schuld und Geheimnissen überwinden?

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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe,die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigenStiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicherBücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7394-0 (E-Book)ISBN 978-3-7751-5832-9 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2018SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbHMax-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: The Captain’s DaughterCopyright 2017 by Jennifer Harrington, published by Bethany House Publishers,a division of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.All rights reserved.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhausin der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen.Übersetzung: Eva WeyandtUmschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im SchönbuchTitelbild: Koechel Peterson & Associates, Inc.,Minneapolis,Minnesota/Jon GodfredsonSatz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

In tiefer Dankbarkeitfür dein Verständnis und deine Freundschaft

Ein Mensch kann seinen Weg planen,seine Schritte aber lenkt der Herr.

Sprüche 16,9

Die Gnade des Herrn nimmt kein Ende!Sein Erbarmen hört nie auf,jeden Morgen ist es neu.Groß ist seine Treue.

Klagelieder 3,22-23

Inhalt

Über die Autorin

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Anmerkung der Autorin

Dank

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

Jennifer Delamere arbeitet seit fast zwanzig Jahren als Lektorin für Sachbücher und Unterrichtsmaterialien. Sie ist leidenschaftliche Wintersportlerin und liebt es, Romane zu schreiben. In den USA wurden ihre Bücher schon mehrfach ausgezeichnet. Sie ist verheiratet und lebt in North Carolina.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Prolog

Dartmoor Coast, England 1873

»Wieso bin ich gar nicht erstaunt, dich hier anzutreffen?«, fragte Rosalyn Bernay und legte den Arm um die Taille ihrer Schwester. Cara erwiderte die Geste und lehnte sich an sie, aber ihr Blick wanderte rastlos über die Wellen, die sich an den Felsen unter ihnen am Strand brachen. Der Wind zerrte an ihren Röcken und an Caras Haube, die wie üblich an ihrem Rücken herunterhing. Nach einer Weile fragte Cara leise: »Würdest du für mich singen?«

Rosalyn brauchte nicht zu fragen, welches Lied ihre Schwester hören wollte. In letzter Zeit fragte Cara immer nach dem Schlaflied, das ihre Mutter ihnen vorgesungen hatte. Jetzt, so kurz vor dem Abschied, konnte Rosalyn ihre Schwester nur zu gut verstehen. Sie begann zu singen, weich und leise. Und es erschien ihr nicht einmal ungewöhnlich, am helllichten Nachmittag ein Schlaflied zu singen. Schon häufig hatten sie Trost darin gefunden.

Die sanfte Brise trug die letzten zarten Töne mit sich fort, als Rosalyn bei der letzten Zeile angekommen war. Cara schwieg und drückte sich fest an ihre Schwester. In der Ferne hörten sie die Stimmen von hundert anderen Mädchen – die Kinder aus George Müllers Waisenhaus. Sie spielten auf der großen Wiese, die sich bis hinunter zu den Klippen erstreckte.

»Einen Penny für deine Gedanken«, sagte Rosalyn, obwohl sie ziemlich genau wusste, was ihre kleine Schwester bewegte. Cara war dreizehn, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, aber für Rosalyn würde sie immer das lockenköpfige Kleinkind sein, das seit dem Tag, an dem die drei Schwestern ins Waisenhaus gebracht worden waren, ihre Rockzipfel nicht mehr losgelassen hatte.

Cara seufzte tief. »Wie sehr ich es vermissen werde, dieses Lied zu hören, wenn du weggehst.« Sie riss ihren Blick vom Meer los und ihre großen, blauen Augen wandten sich Rosalyn zu. »Ich wünschte, du müsstest nicht weggehen. Nicht gerade jetzt.«

Rosalyn versuchte, sie mit einem Lächeln zu beruhigen. »Ich bin jetzt siebzehn. Es wird höchste Zeit für mich, auf eigenen Beinen zu stehen. Die Müllers sind freundlich und großzügig, aber sie können nun mal nicht für immer für uns sorgen.«

Impulsiv griff Cara nach Rosalyns Hand. »Kann ich denn nicht mitkommen?«

Rosalyn lachte. »Mrs Williams wird bestimmt nicht begeistert sein, wenn ihre neue Magd mit einer kleineren Schwester im Schlepptau ankommt.« »Aber ich kann doch mithelfen. Ich kann schon waschen, bügeln und sauber machen. Und andere Mädchen in meinem Alter sind auch schon im Dienst.«

Mit ihrer freien Hand steckte Rosalyn eine goldene Locke hinter Caras Ohr. »Irgendwie habe ich nicht den Eindruck, dass du unbedingt Hausmädchen werden willst.«

Caras Griff wurde fester. »Mir gefällt es einfach nicht, dass wir auseinandergerissen werden. Denn schließlich haben wir Mama versprochen …«

»Ich bin sicher, Mama wusste, dass wir eines Tages erwachsen werden und unser eigenes Leben führen werden. Außerdem, hast du Julia ganz vergessen? Willst du sie wirklich ganz allein lassen?«

Cara runzelte die Stirn. »Julia kann sehr gut selbst auf sich aufpassen. Und wenn du erst mal weg bist, wird sie die Rolle der Ältesten übernehmen und mich herumkommandieren.« Finster verzog sich ihre Miene noch mehr. »Mehr, als sie es bereits tut.«

»Zieh nicht so ein Gesicht!«, ermahnte Rosalyn sie. »Du bekommst noch Falten.«

Cara öffnete den Mund, um eine Antwort zu geben, doch die Stimme ihrer anderen Schwester schnitt ihr das Wort ab. »Caroline und Rosalyn Bernay! Was macht ihr da, so nah an der Klippe?«

»Siehst du?«, sagte Cara spitz. »Es geht schon los.«

Mit langen, zielgerichteten Schritten kam Julia auf sie zu, durch und durch eine strenge Hausmutter. Ihre Haube hing nicht an ihrem Rücken hinunter – sie saß fest auf ihrem Kopf – und die dunkelbraunen Haare steckten ordentlich darunter. »Mrs McHugh hat uns verboten, so dicht an die Klippen zu gehen. Das wisst ihr doch«, sagte sie, als sie ihre Schwestern erreichte. »Es ist gefährlich. Ihr könntet euch verletzen!« Mit blitzenden Augen richtete sie anklagend den Zeigefinger auf Cara. »Vor allem du, mit deinem Hang zum Träumen. Du würdest vermutlich hinunterstürzen!«

»Ich wusste gar nicht, dass Träumen eine Sünde ist«, gab Cara schnaubend zurück. »Im Gegensatz zu, sagen wir, Zorn oder Überheblichkeit.«

»Bitte streitet heute nicht«, bat Rosalyn und nahm die beiden Mädchen am Arm. »Das ist unser letzter gemeinsamer Tag. Wir wollen ihn genießen.« Sie führte sie zu einer Bank, die in solch sicherer Entfernung zu dem steil abfallenden Felsen stand, dass Julia keine Angst mehr um sie haben musste, von der aus sie aber trotzdem weiterhin den atemberaubenden Blick über die Weite des Ozeans genießen konnten.

Die drei setzten sich auf die Bank und nahmen dabei ihre älteste Schwester in die Mitte. Sie bildete eigentlich immer die Mitte, dachte Rosalyn. Ihre Aufgabe schien zu sein, Frieden zu stiften zwischen der impulsiven Cara, deren Kopf tatsächlich immer in den Wolken steckte, und Julia, die Regeln, Routine und klar definierte Grenzen brauchte. Rosalyn liebte sie beide, gerade weil sie so unterschiedlich waren. Sorge machte ihr nur, dass es ständig Streit zwischen ihnen gab. Wenn sie erst einmal fort war, müssten Cara und Julia lernen, allein miteinander auszukommen und ihre Streitigkeiten selbst zu regeln.

Die Stille zwischen ihnen schien sich auszudehnen, obwohl die Luft erfüllt war von Geräuschen. Der Wind strich durch das Gras und spielte mit ihren Rocksäumen. Unten am Strand brachen sich die Wellen an den Felsen, und das fröhliche Geschrei der jüngeren Kinder, die in der Ferne Fangen spielten, war genauso schrill wie die Klagelaute der Seemöwen am Himmel.

Caras Blick wanderte über das Meer.

»Und wenn du den ganzen Tag nach ihm Ausschau hältst, es bringt nichts.« Julias Stimme war ausdruckslos. »Er kommt nicht mehr zurück.«

Caras Gesichtszüge verzerrten sich vor Schmerz. »Das weißt du doch gar nicht mit Sicherheit!«

»Er ist tot, Cara! Wie unsere Mutter auch. Das musst du endlich akzeptieren!«

Beide Mädchen versteiften sich, als sie sich in wachsendem Zorn einander zuwandten.

»Es hat doch keinen Zweck, deswegen zu streiten«, ging Rosalyn schnell dazwischen. »Cara hat eben eine etwas andere Sichtweise als du, Julia. Und solange wir nicht genau wissen, was Papa zugestoßen ist, kann ich ihr das nicht einmal verübeln.«

Julia runzelte die Stirn, aber ausnahmsweise erwiderte sie nichts mehr.

»Und ich finde auch, dass du in deinen Erklärungen für Papas Verschwinden nicht so sehr auf deiner Meinung beharren solltest«, fuhr Rosalyn fort. »Alles Mögliche kann geschehen sein. Vielleicht ist sein Schiff gesunken, oder vielleicht ist er ja an einer dieser Tropenkrankheiten gestorben, als er die Karibischen Inseln erreichte.«

Ungeduldig schüttelte Cara den Kopf. »Du denkst, er ist tot, und Julia glaubt, dass er uns im Stich gelassen hat. Warum nur bin ich die Einzige, die davon überzeugt ist, dass er immer noch am Leben ist?«

»Weil dein Gehirn nichts anderes als Unsinn hervorbringt!«, erwiderte Julia.

»Keiner von uns weiß genau, was geschehen ist!«, fuhr Rosalyn dazwischen, bevor Cara eine scharfe Antwort geben konnte. »Aber eines weiß ich ganz sicher: Wir dürfen nicht länger in der Vergangenheit verharren. Wir müssen nach vorn schauen. Ihr wisst, was Mr Müller immer sagt: Gott wird unsere Bedürfnisse erfüllen.«

»Aber genau darum geht es doch!« Cara griff Rosalyns Worte auf. »Versteht ihr das denn nicht? Mein allergrößtes Bedürfnis ist es zu wissen, was Papa zugestoßen ist!« Sie stand auf, wandte ihr Gesicht der Sonne zu und hob die Arme flehend zum Himmel. »Ich muss es wissen!« Sie drehte sich wieder zu ihren Schwestern um und ihre Augen schimmerten vor Tränen. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass diese Unsicherheit mir das Herz bricht.«

Sie wirkte genauso so verloren wie damals, als die drei Schwestern hilflos vor dem Bett standen, in dem ihre Mutter im Sterben lag. Dieser Tag hatte sich für immer in Rosalyns Gedächtnis eingebrannt.

Selbst Julia schien dieser Ausdruck der Trauer nicht unberührt zu lassen. Sie stand auf, legte die Arme um Cara und drückte sie fest an sich. »Weine doch nicht«, beruhigte sie ihre Schwester und streichelte Caras Haare. »Es tut mir leid, wenn ich zu hart gewesen bin. Manchmal vergesse ich, wie viel dir das bedeutet.«

Cara schwieg, aber sie machte auch keine Anstalten, sich aus Julias Umarmung zu lösen. Ihre Atmung beruhigte sich und die Anspannung schien zumindest teilweise von ihr abzufallen.

Nach einer Weile murmelte Julia: »In den Psalmen heißt es, dass Gott uns die Wünsche unseres Herzens erfüllt, wenn wir ihm unsere Wege anvertrauen.«

Cara entwand sich Julias Umarmung, straffte die Schultern und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ich hätte es wissen müssen, dass du mir wieder einen Bibelvers an den Kopf wirfst.« Aber ihre Stimme klang eher neckend und nicht zornig und mit zitternden Lippen versuchte sie zu lächeln. »Aber solange du solche Verse auswählst, habe ich nichts dagegen.«

Julia grinste sie an und die beiden Mädchen umarmten einander erneut. Nun war es an Rosalyn, sich sich die Tränen aus den Augen zu wischen, während sie beobachtete, wie ihre beiden Schwestern sich gegenseitig trösteten. Sie würden klarkommen, die beiden, denn sie wussten, dass jede der Schwestern der anderen etwas Wichtiges zu geben hatte. Etwas, ohne das sie einzeln unvollständig wären.

Und Rosalyn? Was hatte sie?

Im Augenblick wünschte sie sich nur Kraft, um sich den unbekannten Herausforderungen zu stellen, die auf sie warteten.

Aus der Tasche ihres Kleides nahm sie die goldene Uhr, ein Geschenk des Vaters an ihre Mutter. Diese Uhr und ein verblichenes Foto waren die einzigen Erinnerungsstücke, die sie von ihm besaß. Wie passend, dachte sie, als sie über die eleganten Buchstaben strich: Für Marie. Ozeane können uns nicht trennen. In Liebe, Paul. Acht Jahre lang hatte diese Uhr die Stunden gezählt. Acht Jahre waren seit dem Tod ihrer Mutter vergangen und vor acht Jahren waren sie nach Bristol gekommen. Und, dachte sie mit einem Anflug von Bitterkeit, die Ozeane hatten sie doch getrennt.

Aber Rosalyn war entschlossen, den schwermütigen Gedanken in ihrer Seele keinen Raum zu geben. Heute begann ein neues Kapitel in ihrem Leben. Wo immer sie auch hinging, sie wusste, dass die Erinnerungen an ihre Eltern und die Liebe zu ihren Schwestern sie so greifbar begleiten würden wie die Uhr in ihrer Hand.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1

Sechs Jahre späterOktober 1879

Rosalyn duckte sich hinter die Hecke, so tief es ihr Kleid zuließ. Als sie das Waisenhaus verlassen hatte, um ein eigenständiges Leben als Erwachsene zu beginnen, hatte sie damit gerechnet, dass schwierige Zeiten auf sie zukommen würden. Aber nie hätte sie gedacht, dass sie einmal in eine Zwangslage geraten könnte wie die, in der sie gerade steckte.

Sie hielt die Luft an, obwohl sie wusste, dass er sie unmöglich hören konnte. Das Donnern seiner herannahenden Kutsche, das Knirschen der Räder in den Furchen, in denen nach einer Woche Regen das Wasser jetzt gefroren war, war ohrenbetäubend. Nein, allein ihr Anblick würde die Kutsche zum Anhalten bringen. Was geschehen würde, wenn er sie nach Russet Hall zurückbrächte, damit sie sich den falschen Anschuldigungen des Diebstahls stellte – oder schlimmer noch, was sie tun müsste, um sich sein Schweigen zu erkaufen –, das wollte sie sich gar nicht vorstellen. Nicht wenn sie weiterhin den Mut nicht verlor.

Das Krächzen einer Krähe über ihr erschreckte Rosalyn so sehr, dass sie beinahe rückwärts in die stachlige Hecke gestürzt wäre. Aus Angst, selbst das leiseste Geräusch könnte die Aufmerksamkeit auf sie lenken, duckte sie sich noch tiefer. Die Krähe flog davon und der Lärm ihres Krächzens wurde durch das Rauschen des Blutes in ihren Ohren übertönt. Mit jeder Drehung der Kutschenräder, die in atemberaubendem Tempo näher kamen, beschleunigte sich ihr Herzschlag weiter.

In wenigen Sekunden würde die Kutsche an ihrem Versteck vorbeifahren. Zitternd vor Kälte und Angst machte sich Rosalyn bewusst, dass sie jetzt einen Vorteil hatte, auch wenn es vielleicht nicht danach aussah. Mr Huffman ging offensichtlich davon aus, dass sie auf dem Weg nach Bainshaw war, der nächstgelegenen und häufig frequentierten Bahnstation. Doch sobald seine Kutsche außer Sicht war, könnte sie jetzt zur Kreuzung zurücklaufen und das südlich gelegene Linden ansteuern.

Mitten in der Nacht, kurz vor der Morgendämmerung, war sie aus dem Haus geflohen – vier Stunden waren seither vergangen. Ihren gesamten Besitz trug sie in einer Reisetasche bei sich, die mit jedem Schritt, den sie gegangen war, schwerer geworden war. Sie hatte darauf vertraut, vor dem Frühstück eine gute Wegstrecke hinter sich gebracht zu haben, und angenommen, dass ihr Verschwinden erst später bemerkt werden würde, aber da hatte sie sich wohl geirrt.

Mit erbarmungslosem Tempo kam die Kutsche näher. Das Donnern der Hufe und das Rattern der Räder überdeckte jedes andere Geräusch. Irgendwie gelang es Rosalyn, sich noch tiefer hinter die Hecke zu kauern, und sie kniff die Augen zu, als würde Mr Huffman, einer kindlichen Logik folgend, sie nicht sehen können, wenn sie ihn nicht sah.

Der Wagen rollte vorbei, ohne die Geschwindigkeit zu verringern. Rosalyn stieß einen Schrei der Erleichterung aus und drückte gleich darauf erschreckt ihre Hand auf den Mund. Mehrere lange, qualvolle Minuten blieb sie in ihrem Versteck hinter der Hecke und lauschte auf den Lärm der Kutsche, der in der Ferne verklang.

Erneut schloss Rosalyn die Augen, dieses Mal aus Dankbarkeit, dass Mr Huffman sie an dieser Stelle eingeholt hatte und sie jetzt nur etwa eine Viertelmeile zurücklaufen musste. Von Linden fuhren weniger Züge ab als von Bainshaw, aber sie beschloss, in den ersten, der in den Bahnhof einlief, einzusteigen, wo auch immer er hinfuhr. Sobald sie sich erst einmal vor Mr Huffman in Sicherheit gebracht hätte, könnte sie nach Bristol zu ihrer Schwester Julia weiterreisen, die jetzt als Krankenschwester arbeitete und in einer anständigen Pension wohnte.

Julia würde wissen, was zu tun wäre. Julia wusste immer, was zu tun war. Schon als sie noch Kinder waren, war dieser Charakterzug immer wieder zutage getreten, damals allerdings wollte sie auch noch immer über alles bestimmen. Aber nachdem sie nun erwachsen waren, war Rosalyn froh über den unerschütterlichen Glauben ihrer Schwester und über ihre beinahe unheimliche Fähigkeit, eine Lösung für selbst die schwierigsten Probleme zu finden. Und Rosalyn konnte sich kein schlimmeres Problem vorstellen als das, mit dem sie sich im Augenblick konfrontiert sah.

Nach einem letzten wachsamen Blick durch die Hecke in beide Richtungen des Weges erhob Rosalyn sich und streckte ihre verkrampften Glieder. Eine letzte große Hürde schien genommen zu sein. Aber sie wusste, dass es noch längst nicht vorbei war. Ihre Schwierigkeiten hatten gerade erst begonnen.

Nein, das stimmte nicht ganz, dachte sie, als sie den Griff ihrer schon recht abgewetzten Reisetasche in die Hand nahm und in die Richtung, aus der sie gekommen war, zurückging. Es hatte begonnen, als Mrs Williams sich von Rosalyns Arbeitgeber Mr Huffman hatte den Hof machen lassen. Mit vierzig war Mrs Williams noch recht jung gewesen, und als sie und Mr Huffman sich kennenlernten, hatte sie sich auf den ersten Blick in den selbstbewussten Mann verliebt, der sein Vermögen durch Import- und Exportgeschäfte verdient hatte. Für seine dunkleren Seiten, die für alle anderen im Haushalt seit seinem Einzug in Russet Hall offensichtlich gewesen waren, war Mrs Williams blind gewesen.

Eine sanfte Brise strich über Rosalyns Gesicht und die Sonne wärmte sie ein wenig. Da auf den Straßen kein Verkehr herrschte, strahlte die Landschaft wieder einen tiefen Frieden aus. Vögel zogen ihre Kreise am Himmel und stürzten sich mit leisem Rufen in die Tiefe. Einige Meter vom Straßenrand entfernt raschelte das welke, braune Gras, als ein Lebewesen, vermutlich eine Feldmaus, einem unbekannten Ziel entgegenhuschte.

Die Sonne stand jetzt höher am Himmel und geizte dennoch mit ihrer Wärme. Trotzdem musste sich Rosalyn den Schweiß von der Stirn wischen, ob von der Anstrengung des Laufens oder als Reaktion auf die ausgestandene Angst, wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass sie, wie die Maus, zu einem unbekannten Ziel unterwegs war. Doch im Gegensatz zu der Maus brauchte sie vermutlich ein oder zwei Wunder, um dort anzukommen.

Flink sprang Nate Moran aus der offenen Kutsche, kaum dass der Kutscher die Pferde vor dem Bahnhof in Winchester zum Stehen gebracht hatte. Hastig klopfte er sich den Straßenstaub von seiner roten Armeejacke, während der andere Mann in der Kutsche, Colonel Gwynn, nach ihm aus dem Wagen ausstieg. Früher hatte der ergrauende Haarschopf von Nates ehemaligem Befehlshaber im Widerspruch zu seinem durchtrainierten und kräftigen Körper gestanden, doch jetzt wurde erkennbar, dass der Colonel allmählich von seinem Alter eingeholt wurde. Er unterdrückte ein Stöhnen, als seine Füße den Boden berührten, und richtete sich, vielleicht ein wenig zu langsam, zu seiner typisch geraden Haltung auf.

Nate betrachtete ihn voller Sorge. »Wollen Sie wirklich im Frühling mit dem Regiment nach Indien zurückkehren, Sir?«

Nates Frage veranlasste den alten Colonel, sich noch mehr aufzurichten. »Keine Sorge. Ich bin fit wie eine Fiedel. Das feuchte Wetter sitzt mir in den Knochen, das ist alles. Es ist sicher gut, wieder nach Indien zurückzukehren.« Freundschaftlich schlug er Nate auf den Rücken. »Und es ist auch gut, dass Sie uns begleiten werden.«

Nate nickte und bedankte sich für diesen Ausdruck des Vertrauens. Im vergangenen Jahr hatte er als Reservesoldat gedient, nachdem eine Verletzung zufällig mit dem Ende seiner siebenjährigen Dienstzeit zusammengefallen war. Aber jetzt war er entschlossen, zusammen mit seinem Regiment und seinen Kameraden nach Indien zurückzukehren. Heute nun war er der Verwirklichung seines Ziels einen großen Schritt nähergekommen: Der Colonel hatte Nate zugesagt, ihn in drei Monaten, kurz nach Neujahr, einen Tag lang bei den Exerzierübungen in Aldershot zu beobachten. Nate brauchte nur zu zeigen, dass seine Hand die Beweglichkeit wiedererlangt hatte, die er brauchte, um sich für den aktiven Dienst zu qualifizieren.

Verstohlen spannte er die Muskeln seiner rechten Hand an. Manchmal war sie immer noch etwas steif und bestimmte Bewegungen verursachten ihm Schmerzen. Aber Nate würde sich davon nicht abhalten lassen. »Ich danke Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben, Sir.«

Der Colonel winkte ab. »Das ist reiner Selbstzweck. Seit Sie nicht mehr da sind, habe ich keinen Versorgungsoffizier mehr finden können, der seinen Lohn wert war.«

Nate lächelte, denn er wusste, dass diese ruppige Bemerkung ein hohes Lob war.

»Da ist noch eine Sache, über die wir vor Ihrer Abreise noch sprechen sollten«, sagte der Colonel.

Nate blickte ihn erwartungsvoll an. »Ja, Sir?«

»Sie haben ja bereits sieben Jahre gedient, und nachdem Sie nun, vollkommen zu Recht, in den Rang eines Unteroffiziers befördert wurden …«

Seine Stimme verklang. Nate konnte sich nicht erinnern, den Colonel jemals so zögerlich erlebt zu haben.

Gwynn räusperte sich. »In der Armee sind wir uns sehr wohl der Herzensangelegenheiten bewusst, die unsere Männer vielleicht vom Dienst ablenken könnten, wie Sie sehr genau wissen.«

Nates Magen krampfte sich zusammen. Jetzt wusste er, worauf der Colonel hinauswollte.

»Sie hatten, soweit ich mich erinnere, eine Liebste erwähnt? Wenn Sie heiraten und Ihre Braut mit nach Indien nehmen möchten, dann werde ich meine Einwilligung dazu nicht verweigern.«

Er hielt inne und blickte Nate erwartungsvoll an. Vermutlich erwartete er Dankbarkeit. Die Erlaubnis seines Kommandeurs ermöglichte Nate eine zügige Eheschließung. Die Armee würde für seine Frau bestimmte Dienste bereitstellen und ihm für den Lebensunterhalt einen höheren Lohn zahlen. Dies war ein Privileg, das nicht jedem zugebilligt wurde. Nate wusste jedoch, dass der Colonel ihm dies nicht anbieten würde, wenn er wüsste, wie negativ sich Nates ehemalige »Liebste« bereits auf das Regiment ausgewirkt hatte.

Nate bemühte sich um Gelassenheit und unterdrückte den Zorn, der allein beim Gedanken an sie in ihm hochsteigen wollte. »Ich danke Ihnen, Sir«, antwortete er scheinbar gelassen, »aber da ist niemand.« Die Augenbrauen des Colonels fuhren in die Höhe. Daraufhin fügte Nate schnell hinzu: »Was ich sagen wollte, ist, dass es im Augenblick niemanden gibt.«

Gwynn blickte ihn mitfühlend an. »Hat es irgendein Unglück gegeben –?«

»Nichts dergleichen, Sir.«

Nein, die betreffende Dame war noch sehr lebendig. Gestorben war nur Nates Traum von einer Zukunft mit ihr.

Verständnis zeigte sich im Blick des alten Mannes. »Die Damen sind manchmal recht wankelmütig. Aber Sie sind jung und werden für solche Dinge noch Zeit genug haben. Darf ich Ihnen einen Rat geben?«

»Sir?«

»Nutzen Sie die Gelegenheit, sich auf Ihre Karriere zu konzentrieren, solange Sie noch ungebunden sind. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der Sie in den Rang eines Sergeants aufgestiegen sind, und angesichts Ihrer Führungsqualitäten, und wenn man bedenkt, welchen Respekt die anderen Männer vor Ihnen haben …« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. Nate bemühte sich, dem Gedankengang des Mannes zu folgen, aber die Gedanken an sie ließen ihn nicht los. »Nicht viele dienstverpflichtete Männer steigen in den Offiziersrang auf, aber ich denke, Ihnen könnte es gelingen. Sobald wir wieder sicher in Indien angekommen sind, halte ich eine Beförderung zum Leutnant für nicht unwahrscheinlich.«

Dass ein gewöhnlicher Soldat in den Offiziersrang aufstieg, war tatsächlich eine Seltenheit. Bei Nates Eintritt in die Armee war genau das sein Ziel gewesen. Doch seither hatten sich die Dinge ein wenig geändert.

Nate schüttelte den Kopf. »Bei allem nötigen Respekt, Sir, ich sehe nicht, wie Sie denken können, ich hätte eine solche Ehre verdient.«

»Etwa wegen der Geschehnisse in Peshawar? Unsinn. Jeder macht mal einen Fehler. Aber wie man damit umgeht, zeigt, was in einem steckt. Sie haben die Angreifer in die Flucht geschlagen und Sergeant Danvers das Leben gerettet. So etwas ist eines Offiziers würdig.«

Gwynn hob in seiner Einschätzung des Zwischenfalls, die mittlerweile auch in die offiziellen Aufzeichnungen der Armee eingegangen war, Nates Heldentaten hervor und spielte seine Fehler herunter. Aufgrund Nates gutem Leumund und angesichts der Tatsache, dass die Armee dringend Leute brauchte, war diese Einschätzung nachvollziehbar. Der Colonel wusste, dass Nate in dieser Nacht Wache gehabt und wichtige Anzeichen, die auf einen Angriff des Feindes hindeuteten, übersehen hatte. Was Gwynn allerdings nicht wusste, war, dass Nates Unaufmerksamkeit mit seiner Verzweiflung zusammenhing, weil er gerade einen Brief bekommen hatte, in dem ihm seine Verlobte den Laufpass gab. Zum Glück hatte der Colonel nicht eingehender nach den Gründen für seine Unaufmerksamkeit gefragt, als Nate die üblichen Ursachen für seinen Fehler genannt hatte: Müdigkeit oder Langeweile.

Aber sich selbst konnte Nate nichts vormachen. Er kannte die Wahrheit, auch wenn er sie bisher keinem anderen Menschen gegenüber eingestanden hatte. Er fand, dass noch ein langer Weg vor ihm lag, bis er eine Beförderung zum Offizier verdient hätte. »Vielen Dank, Sir, dass Sie eine so gute Meinung von mir haben.«

Der scharfsichtige alte Colonel erkannte sofort die Mehrdeutigkeit von Nates Bemerkung. »Und tun Sie das nicht so vorschnell ab«, riet er. »Denken Sie darüber nach. Irgendwann verändert sich vielleicht Ihre Sichtweise. Sie sind ein gewissenhafter und loyaler Soldat, genau wie Ihr Vater und Großvater vor Ihnen. Überlegen Sie doch, wie sehr Sie ihr Andenken ehren würden und wie viel besser Sie Ihrer Königin und Ihrem Land dienen könnten.«

Sein Kommandeur wusste wirklich die richtigen Knöpfe zu drücken, denn es war ihm offensichtlich bewusst, dass sein Hinweis auf die Familiengeschichte der Morans nicht ohne Wirkung auf Nate bleiben würde. Nate dachte an seinen Großvater, der als Sechzehnjähriger in Napoleons Armee gedient hatte. Auch Nates Vater war Soldat gewesen und hatte ehrenhaft auf der Krim gedient. Beide Männer wären sehr stolz gewesen, wenn Nate in den Offiziersrang aufsteigen würde. Ihnen selbst war das nie möglich gewesen, obwohl beide für ihre Tapferkeit ausgezeichnet worden waren. Als junger Rekrut hatte Nate davon geträumt, eines Tages Offizier zu sein. Aber das war, bevor er selbst das Leben in der Armee kennengelernt hatte und all die Dinge, über die sein Vater und Großvater nie ein Wort verloren hatten. Trotzdem, für Nate war es eine Frage der Ehre, in die Armee zurückzukehren und sich als würdiger Soldat zu beweisen. Er nickte dem Colonel kurz zu. Mehr konnte er nicht tun.

»Sehr gut. Für den Augenblick belassen wir es dabei.«

Ein Pfiff in der Ferne kündigte das Herannahen von Nates Zug an.

Gwynn streckte die Hand aus. »Auf Wiedersehen, Moran. Wir sehen uns dann im Januar.«

Der feste Händedruck des Colonels jagte einen Stromstoß des Schmerzes seinen Arm hinauf. Aber Nate erwiderte den Druck. Die Hand heilt, tröstete er sich. Bald ist es so weit.

Zehn Minuten später lehnte sich Nate auf seinem Platz zurück, als der Zug aus dem Bahnhof rollte. Während er zusah, wie die Landschaft an seinem Fenster vorüberflog, stieß er einen erschöpften Seufzer aus. Ein ausgefüllter Tag lag hinter ihm, aber Nates Arbeit war noch nicht getan. Bereits vor Sonnenaufgang war er aufgestanden, um die wichtigsten Arbeiten in Jamiesons Stall zu erledigen. Anschließend war er hierhergefahren, und jetzt hoffte er, vor Einbruch der Dunkelheit wieder in London zu sein. Die Arbeit eines Stallknechts in einem Mietstall war anstrengend, aber jetzt arbeitete Nate auch noch bis spät in die Nacht. Sein Bruder hatte sich das Bein gebrochen, und bis es wieder verheilt war, hatte er dessen Job als Bühnenarbeiter im Theater übernommen. Auf keinen Fall durfte er zu spät kommen, seine Familie war schließlich von ihm abhängig.

Das Wiedersehen mit seiner Familie nach fast sieben Jahren hatte ihm gutgetan. Nate war froh, dass er ihnen jetzt in der Stunde der Not helfen konnte. Trotzdem sehnte er sich wieder weit fort. Es war an der Zeit, das, was er in der Armee begonnen hatte, zu Ende zu bringen und die Fehler, die er gemacht hatte, wiedergutzumachen.

Und es war höchste Zeit, London den Rücken zu kehren. Eigentlich hätte es ihn nicht verwundern dürfen, dass Ada einen wohlhabenden Kaufmann geheiratet und diesem den Vorzug vor einem gewöhnlichen Soldaten gegeben hatte. Aber sie Woche für Woche am Arm dieses anderen Mannes zu sehen, war dann doch zu viel. Und dass sie ihm in einem Brief den Laufpass gegeben hatte, konnte er ihr nicht verzeihen, denn dieser Brief hatte katastrophale Folgen gehabt. Ada selbst war unbeschadet aus der Angelegenheit herausgekommen, aber Nates Leben würde nie mehr dasselbe sein.

Er verschränkte die Arme vor der Brust und suchte sich eine bequeme Sitzposition. Auf der Zugfahrt hätte er Zeit für ein kurzes Nickerchen, und eigentlich sollte er die Gelegenheit dazu auch nutzen, wenn er am Abend seine sieben Sinne beisammenhaben wollte. Es wäre fatal, wenn er sich verletzen würde, weil er die Gelegenheit zum Schlafen nicht genutzt hatte, um stattdessen in Gedanken lieber der Vergangenheit nachzuhängen. Aber er war sich sicher, dass er wieder mehr Schlaf bekommen würde, falls – nein, wenn – er in die Armee zurückkehrte.

Die Kirchturmuhr schlug vier, als Rosalyn die Stadt Linden erreichte. Auf dem Weg über die Hauptstraße zum Bahnhof musterte sie unauffällig die Menschen um sich herum. Sie war noch nicht oft in dieser Stadt gewesen, darum brauchte sie eigentlich keine Angst zu haben, erkannt zu werden. Trotzdem, alle ihre Sinne waren geschärft.

Im Bahnhof herrschte viel Betrieb. Ein Junge, der mit wenig Erfolg versuchte, einen sehr großen Hund an der Leine zu halten, kam auf sie zu. Rosalyn trat zur Seite und ging an ihm vorbei zum Fahrkartenschalter. Hinter dem Eisengitter saß ein älterer Herr. Sein Blick ging an ihr vorbei, vermutlich auf der Suche nach ihrem männlichen Begleiter. Als ihm klar wurde, dass sie allein unterwegs war, richtete sich sein Blick auf sie. »Wohin, Miss?«

»Wann geht der nächste Zug nach Bristol?«

Er sah auf dem Fahrplan an der Wand nach. »Um neunzehn Uhr.«

Rosalyns Blick wanderte zum Bahnsteig, während sie sich vorstellte, was in einer dreistündigen Wartezeit alles passieren könnte. Auf der Straße sah sie eine Staubwolke herannahen. Natürlich gab es keinen Grund anzunehmen, Mr Huffman sei ihr auf den Fersen, doch trotzdem wartete sie ab, bis der Wagen die Anhöhe erreichte. Es war tatsächlich Mr Huffmans Kutsche! Doch gleichzeitig hörte Rosalyn zum Glück den Pfiff eines herannahenden Zuges.

»Wohin fährt dieser Zug?«, fragte sie den Fahrkartenverkäufer schnell, während ihr Herz vor Nervosität fast herauszuspringen drohte.

Er runzelte die Stirn. »Wenn Sie nach Norden wollen, können Sie den nicht nehmen. Er fährt nach Süden – nach London.«

»Eine einfache Fahrt, bitte«, sagte sie und nahm Geld aus ihrer Handtasche.

Sie würde es schaffen. Sie musste es schaffen. Ganz bestimmt hatte sie das alles nicht umsonst durchgemacht. Rosalyn nahm die Fahrkarte entgegen und wandte sich von dem Schalter ab. Als sie sich betont unauffällig in Richtung überfüllten Bahnsteig in Bewegung setzte, drehte sie dem Bahnhofseingang den Rücken zu. Am Bahnsteig angelangt, stellte sie sich zu einer Gruppe von zwei Männern und drei Frauen, die voller Vorfreude überlegten, welche Sehenswürdigkeiten sie sich in London ansehen wollten. Rosalyn tat so, als würde sie zu ihnen gehören, und tat ihr Bestes, ihren inneren Aufruhr zu verbergen. Mit quietschenden Bremsen hielt der Zug an, Dampf und Rauch hüllten die Fahrgäste am Bahnhof vollständig ein.

»Miss Bernay! MISSBERNAY!« Die herrische Stimme ihres früheren Arbeitgebers hallte über den Bahnsteig. Rosalyn drehte sich bewusst nicht um in der Hoffnung, er würde denken, sich geirrt zu haben.

»MISSBERNAY! Kommen Sie sofort her!«

Warum kam er denn nicht zu ihr? Sie riskierte einen Blick in seine Richtung und sah, dass er von einem kräftigen Bahnangestellten aufgehalten worden war. Mr Huffman deutete auf sie, aber der Wachmann ließ nicht mit sich reden. Stattdessen führte er Mr Huffman zum Fahrkartenschalter. Offensichtlich hatte er ihn darauf hingewiesen, dass er eine Fahrkarte kaufen müsse, bevor er Zugang zum Bahnsteig erhielte.

Voller Ungeduld wartete Rosalyn ab, bis eine Familie mit mehreren Kleinkindern und unendlich vielen Körben und Taschen aus dem Waggon ausgestiegen war. Als die Tür dann endlich frei war, sprang Rosalyn die zwei Stufen hoch und verschwand im Zug. Sie wählte einen Platz am Fenster zum Bahnsteig, da sie ihren Blick einfach nicht abwenden konnte. Mr Huffman würde doch bestimmt nicht versuchen, sie aus dem Zug zu zerren? Könnte er das tun? Würde ihm hier jemand Gehör schenken?

Voller Angst hoffte sie, der Zug würde sich bald in Bewegung setzen. Die Sekunden verstrichen viel zu langsam. Ihr kam es vor, als wäre die Zeit stehen geblieben, als würde der große Zeiger auf der Bahnhofsuhr seinen Dienst verweigern. Doch Mr Huffman zeigte sich nicht auf dem Bahnsteig. Hatte er tatsächlich aufgegeben? Sie wagte nicht, darauf zu hoffen.

Kurz darauf wurde der Grund für die verzögerte Abfahrt deutlich. Ein älteres Ehepaar, das sich außerordentlich langsam bewegte, humpelte durch die Schranke. Vielleicht hatten sie vor ihm am Fahrkartenschalter gestanden und verhindert, dass Mr Huffman rechtzeitig seine Fahrkarte bekommen hatte. Der Schaffner pfiff. Der Zug würde jetzt jeden Augenblick losfahren, und bei dem Gedanken daran machte Rosalyns Herz vor Freude einen Satz, auch wenn sie noch nicht ganz in Sicherheit war.

Der Bahnsteigwärter eilte vor, um dem älteren Ehepaar in den Zug zu helfen, und warf die Tür hinter ihnen zu, als der Zug gerade anrollte. Während der Zug an Fahrt aufnahm, verrenkte sich Rosalyn den Hals, um den Bahnsteig so lange wie möglich im Blick zu behalten. Sie konnte gerade noch sehen, wie Mr Huffman frustriert ans Gleis stürmte, bevor der Zug ihn und den Bahnhof weit hinter sich ließ.

Während die Landschaft an ihrem Fenster vorbeiflog, wandte Rosalyn ihren Blick nach unten auf ihre Hände. Sie zitterten. Um Hände und Herzschlag zu beruhigen, atmete sie mehrmals tief und langsam durch. Nachdem sie stundenlang in höchster Anspannung unterwegs gewesen war, machte sich nun endlich Erleichterung in ihr breit. Wohl oder übel war sie jetzt auf dem Weg nach London.

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2

Rosalyn erwachte aus ihrem Dämmerschlaf und sah, dass alle Mitreisenden ihre Sachen zusammensuchten und die Damen ihre Hüte wieder aufsetzten. Sie hatte keine Ahnung, woher die Leute wussten, dass sich der Zug London näherte. Die Fenster hätten geradeso gut aus Blei sein können, denn draußen war nichts zu erkennen. Dichter Nebel sperrte die letzten Strahlen der untergehenden Sonne aus.

Doch dann ragten die hohen Ziegelmauern der Paddington Station aus dem Dunst in die Höhe und schon bald kam der Zug mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Rosalyn stand auf und streckte sich. Sie hob ihre Reisetasche aus dem Gepäcknetz und folgte den anderen Passagieren aus dem Waggon. Auf dem Bahnsteig versuchte sie, sich zu orientieren. Das war gar nicht so einfach in dem dämmrigen Licht und dem Gewimmel der Menschen um sie herum.

»Brauchen Sie Hilfe, Miss?«

Rosalyn drehte sich zu der Männerstimme um und erwartete, einen der Träger vor sich zu sehen. Doch stattdessen stand ein Mann in einer verblichenen Cordhose und einem an vielen Stellen geflickten Mantel vor ihr, seine zerschlissene Mütze hatte er nach hinten geschoben. Sie schätzte ihn auf etwa dreißig Jahre und sah, dass sein Lächeln freundlich, aber einer seiner Eckzähne abgebrochen war.

Sie war erstaunt, von einem Fremden angesprochen zu werden, erwiderte aber, da sie seine Hilfe nicht ablehnen wollte: »Ich suche den Fahrkartenschalter.«

»Aber Sie sind doch gerade erst angekommen!« Er trat näher. »Wo müssen Sie denn hin?«

Der Mann sprach mit einem leichten Akzent, den Rosalyn als einen irischen erkannte. Obwohl er eigentlich nichts Bedrohliches ausstrahlte, war seine Nähe ihr unangenehm. Er roch nach Haarwasser und etwas anderem, vermutlich Whisky.

Sie trat einen Schritt zurück. »Ich glaube, ich habe schon gefunden, was ich gesucht habe.« Sie deutete vage in die Richtung, in der alle anderen unterwegs waren, und setzte sich in Bewegung, während sie betete, der Mann möge den Hinweis verstehen und zurückbleiben.

Doch er hielt sich an ihrer Seite. »Nehmen Sie mir das nicht übel. Ich habe es ernst gemeint, als ich Ihnen meine Hilfe anbot. Wenn Sie zum Beispiel eine Unterkunft brauchen –«

»Ich bin nur auf der Durchreise«, erwiderte Rosalyn kurz angebunden.

Sie beschleunigte ihre Schritte, und erleichtert nahm sie zur Kenntnis, dass sich vor dem Fahrkartenschalter keine Schlange gebildet hatte. Entschlossen trat sie näher. Zum Glück war ihr selbst ernannter »Helfer« nicht so unhöflich, ihr dorthin zu folgen, aber er ging auch nicht weg, sondern blieb ein paar Meter entfernt stehen und verfolgte mit unverhohlenem Interesse, was Rosalyn tat.

Mit leiser Stimme fragte Rosalyn den Mann hinter dem Schalter: »Bitte sagen Sie mir doch, wann der nächste Zug nach Bristol abfährt.«

»Nach Bristol?« Der Fahrkartenverkäufer kam Rosalyns Wunsch nach Vertraulichkeit nicht nach. Er sprach mit lauter Stimme, vermutlich, um sich in dem Lärm am Bahnhof Gehör zu verschaffen. Rosalyn zuckte zusammen.

Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte sie, dass der Ire die Stirn runzelte und sich am Kopf kratzte. Zweifellos war er verwirrt über ihr seltsames Verhalten.

»Das ist der Postzug. Er fährt um 23:45 Uhr ab.« Als der Fahrkartenverkäufer ihren enttäuschten Gesichtsausdruck bemerkte, schien er wohl anzunehmen, sie habe ihn nicht verstanden, und darum wiederholte er: »Um kurz vor Mitternacht.«

Mitternacht. Rosalyn warf einen Blick auf die große Wanduhr. Das waren ja noch fast sechs Stunden, was sollte sie in der Zwischenzeit bloß tun? Ihr knurrender Magen tat seine Meinung dazu kund. Den ganzen Tag hatte sie noch nichts gegessen, aber sie würde es auch nicht wagen, den Bahnhof zu verlassen, und das Essen, das hier angeboten wurde, war sicherlich sehr teuer. Sie atmete tief durch und überlegte. »Gibt es hier einen Warteraum für Damen?«

»Aber natürlich, Miss. Die Paddington Station hat alle Annehmlichkeiten zu bieten.«

»Dann gibt es sicher auch ein Restaurant, in dem man Tee bekommen kann?«

»Selbstverständlich, Miss. Wir bedienen die Damen auch in ihrem Wartebereich.«

Rosalyn traf eine Entscheidung. Sie würde hier warten. Männer hatten zum Wartebereich der Damen keinen Zutritt, also würde sie diesen Kerl hinter sich wohl abschütteln können. »Wie viel kostet eine Fahrkarte nach Bristol?«

Der Fahrkartenverkäufer nannte ihr die Preise. Selbst eine Fahrkarte in der dritten Klasse würde einen großen Teil des Geldes, das Rosalyn noch geblieben war, verschlingen.

In diesem Augenblick trat der Ire neben sie und drängte sie von dem Fahrkartenschalter fort, bevor sie dem Verkäufer das Geld geben konnte. »Ganz bestimmt wollen Sie doch nicht sechs Stunden allein in einem unbequemen Warteraum verbringen?«

»Haben Sie etwa gelauscht, Sir?«, fragte Rosalyn mit frostiger Stimme.

Er grinste sie nur an. »Kommen Sie, ich spendiere Ihnen ein Essen. Kaum fünf Minuten von hier gibt es ein nettes Lokal.«

Entsetzt über die Dreistigkeit des Mannes lehnte Rosalyn ab.

Er nahm ihren Arm. »Sagen Sie doch nicht gleich Nein. Ich möchte Sie warnen: Nachts unterwegs zu sein, ist gefährlich für eine junge Dame ohne Begleitung.«

Bei seiner Berührung stieg Furcht in Rosalyn hoch. Wie sollte sie diesen Mann nur loswerden? Ihr Blick wanderte zum Fahrkartenschalter, doch der Verkäufer war mit anderen Kunden beschäftigt.

Der Griff des Iren wurde fester. »Sie sollten ein Hilfsangebot annehmen, wenn Sie es bekommen.«

Ganz unvermittelt trat ein Soldat zwischen sie und zwang den Iren, seine Hand von Rosalyns Arm zu nehmen. »Ich habe den Eindruck, dass die Dame an Ihrer Art von Hilfe nicht interessiert ist.«

Der Soldat war eine eindrucksvolle Erscheinung – groß und breitschultrig – und seine glänzend polierten Stiefel und die hellrote Uniformjacke bildeten einen krassen Gegensatz zu dem heruntergekommenen Aufzug des anderen Mannes. Unter normalen Umständen hätte Rosalyn ihn trotz seines finsteren Gesichtsausdrucks attraktiv gefunden.

»Und was geht Sie das an?«, gab der Ire zurück. Er schien sich von seinem Gegner nicht beeindrucken zu lassen, obwohl der Soldat etwa einen halben Kopf größer war als er selbst. »Niemand hat Sie darum gebeten, sich einzumischen.«

Der Soldat gönnte ihm nicht einmal einen flüchtigen Blick. Er musterte Rosalyn von Kopf bis Fuß, von dem Dreck an ihrem Kleidersaum bis zu ihrer staubigen Reisetasche. »Sind Sie neu in London? Gerade angekommen?«

Der Ire versetzte ihm einen Schubs. »Die Dame ist mit mir zusammen. Lassen Sie uns in Ruhe, sonst rufe ich die Polizei.«

Der Soldat packte den Mann am Kragen und zog ihn zu sich heran. Rosalyn bemerkte die lange Narbe auf seinem rechten Handrücken. »Die Polizei!«, zischte der Soldat. »Ja, tun Sie das doch.«

»Bitte hören Sie auf!«, rief Rosalyn. Sie war dankbar für sein Eingreifen, aber die ganze Szene wurde langsam unheimlich. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich beide in Ruhe lassen würden.«

Ihre Worte schienen den Soldaten verletzt zu haben. »Sie verstehen nicht. Ich versuche doch nur zu helfen –«

Er wurde von einer schrillen Frauenstimme unterbrochen. »Oh, meine Liebe, da bist du ja! Ich habe schon überall nach dir gesucht!«

Rosalyn erstarrte, als eine ältere Dame, die trotz ihres Gehstocks behände unterwegs war, auf sie zukam und sie in die Arme riss. Über die Schulter der Frau hinweg beobachtete Rosalyn, dass der Soldat den Iren losließ. Die Verwirrung in den Gesichtern beider Männer war ein Ausdruck dessen, was sie selbst empfand. Warum glaubte diese Frau, Rosalyn zu kennen?

»Ich wette, du hast gedacht, deine alte Tante Mollie hätte dich vergessen. Aber der Nebel war schuld! Ach du meine Güte, man kann kaum die Hand vor den Augen erkennen.« Die Frau, die Rosalyn immer noch an sich drückte, flüsterte ihr ins Ohr: »Tun Sie so, als würden Sie mich kennen, meine Liebe. Das ist der beste Weg, diese beiden Rüpel loszuwerden.«

Rosalyn begriff. »Oh, hallo … Tante … Tantchen«, stammelte sie. Unbeholfen erwiderte sie die Umarmung der Frau, während sie die beiden Männer aus den Augenwinkeln beobachtete.

Der Ire gab erstaunlich schnell klein bei. Er entzog sich dem Griff des Soldaten und tippte grüßend an seine Mütze. »Nun gut. Jetzt, da Sie in den liebenden Arme Ihrer Familie sicher sind, ist meine Hilfe nicht mehr vonnöten.« Tatsächlich besaß er anschließend auch noch die Frechheit, ihr zuzuzwinkern. »Einen schönen Abend noch, Mädchen.«

Nach einem kurzen bitterbösen Blick auf den Soldaten drehte er sich um und schlenderte davon. Rosalyn ging davon aus, dass er zurück zum Bahnsteig ging, um sich ein anderes Opfer auszusuchen.

Ihr Möchtegernbeschützer dagegen rührte sich nicht. Voller Skepsis fragte er: »Das ist Ihre Tante?«

»Ja.« Rosalyn spürte, wie sie errötete, weil sie lügen musste, aber sie sprach weiter. »Sie sehen also, mir geht es gut.« Und mit aufrichtiger Ernsthaftigkeit fügte sie hinzu: »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Er nickte und nahm ihren Dank entgegen, aber sein Misstrauen blieb.

Die alte Dame tätschelte Rosalyns Arm. »Also los, Liebes, gehen wir. Ich habe uns einen Wagen mit einer guten Laterne reserviert, und wenn wir nach Hause kommen, wartet eine warme Mahlzeit auf uns.«

Sie dirigierte Rosalyn zum Haupteingang und Rosalyn folgte ihr bereitwillig. Sobald die beiden Männer verschwunden waren, würde sie in den Warteraum für Damen zurückkehren. An die ältere Frau gewandt, sagte sie: »Vielen Dank, Mrs …?«

»Mein Name ist Mollie Hurdle. Und das war keine Mühe. Ich konnte doch nicht zulassen, dass diese beiden Männer Sie bedrängen.«

Sie hatten vielleicht zwanzig Meter zurückgelegt, als Rosalyn den Soldaten rufen hörte: »Warten Sie!«

Er kam angerannt, stellte sich vor Rosalyn und zwang die beiden Frauen dadurch, stehen zu bleiben. »Und Sie kennen diese Frau wirklich?«

Seine braunen Augen blickten sie mit solcher Eindringlichkeit an, dass es Rosalyn unmöglich war, auf diese Frage zu antworten. Sie wollte nicht schon wieder lügen.

Es war Mrs Hurdle, die das Wort ergriff. »Sir, Sie überschreiten die Grenzen des Anstands. Ich muss Sie bitten, uns in Ruhe zu lassen.«

Aber der Soldat hatte Rosalyns Schweigen richtig gedeutet. Voller Eifer bot er an: »Ich kenne ein sicheres Haus, in dem Sie über Nacht bleiben können. Ich bin gerade dorthin unterwegs – Sie können mit mir fahren.«

»Was für eine Beleidigung!«, rief Mrs Hurdle. »Denken Sie wirklich, eine nette junge Dame würde mit einem Soldaten in die Nacht verschwinden?«

»Das ist die Wahrheit«, beharrte er, immer noch an Rosalyn gewandt. Er nahm ihren Arm. »Ich glaube nicht, dass Sie wissen, in was Sie sich –«

Rosalyn ließ ihm keine Zeit, den Satz zu Ende zu bringen. An diesem Tag war sie schon von zu vielen Männern grob behandelt worden. Eben noch hatte sie gedacht, der Soldat wolle ihr helfen, aber jetzt war sie sich dessen nicht mehr sicher. Zornig entriss sie ihm ihren Arm. »Ich bin sehr gut in der Lage, auf mich selbst aufzupassen. Lassen Sie mich vorbei.«

Er starrte sie ungläubig an. »Sie gehen freiwillig mit dieser Frau mit?«

Rosalyn schob ihr Kinn vor. »Viel eher, als ich mit Ihnen mitgehen würde.«

Wütend deutete Mrs Hurdle mit dem Finger auf ihn. »Sie haben es gehört, Soldat. Und jetzt verschwinden Sie.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte Ihnen nur helfen, aber wie es scheint, bin ich zu spät gekommen.«

Er rührte sich immer noch nicht vom Fleck. Die Frauen waren gezwungen, um ihn herumzutreten, wenn sie weitergehen wollten.

»Vielen Dank«, sagte Rosalyn zu Mrs Hurdle, als sie außer Hörweite waren. »Sie haben mir sehr geholfen und waren für mich eine Gebetserhörung.«

Die Lippen der älteren Frau verzogen sich zu einem Lächeln. »Es kommt nicht oft vor, dass mir jemand so etwas sagt, glauben Sie mir. Nennen Sie mich Tante Mollie. Alle tun das. Ich führe eine Pension ganz in der Nähe. Brauchen Sie eine Übernachtungsmöglichkeit?«

»Nun, ich …« Rosalyn zögerte und überlegte. Eigentlich wollte sie lieber hier am Bahnhof bleiben. Doch sie war jetzt schon von zwei Männern belästigt worden, und hier wimmelte es bestimmt von Kerlen, die nichts Gutes im Sinn hatten und es auf Frauen abgesehen hatten, die ohne Begleitung unterwegs waren.

Sie traten nach draußen, wo ihnen sofort ein widerwärtiger fauliger Gestank entgegenschlug. Dieser war gemischt mit dem Geruch nach Pferdekörpern und -dung, denn vor dem Bahnhof standen Dutzende Kutschen, von schlanken, zweisitzigen offenen Landauern bis hin zu größeren, altmodischen Kutschen mit richtigen Türen und Fenstern.

Beklommenheit beschlich Rosalyn, als Mrs Hurdle sie zu einem der größeren Wagen führte. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie trotz der Gefahren doch lieber am Bahnhof bleiben sollte. Abrupt blieb sie stehen. »Ich werde den Zug um 23:45 Uhr nach Bristol nehmen.«

Mrs Hurdle blickte sie fragend an. »Ich dachte, Sie seien gerade erst angekommen.«

»Das stimmt. Aber ich muss so schnell wie möglich weiter.«

Mrs Hurdle nickte. »Ich verstehe. Vermutlich haben Sie Ihr Zuhause übereilt verlassen und bereuen diese Entscheidung jetzt?«

»Ja! Das ist … nun … nicht genau.« Sie seufzte. »Das ist eine ziemlich lange Geschichte.«

Die alte Frau tätschelte ihr tröstend den Arm. »Sie haben niemanden hier in London? Keine Freunde, keine Familie?«

»Nein.«

»Kommen Sie mit mir nach Hause«, drängte Mrs Hurdle.

»Sie sind sehr freundlich, aber ich kann mir eine Übernachtung nicht leisten.«

Die Frau winkte ab. »Dann werten Sie das als Hilfe für eine junge Dame in Not.«

Rosalyn wunderte sich über die Großzügigkeit dieser Fremden. »Ist es weit von hier? Die Kosten für das Taxi …«

»Es ist nicht weit. Wir könnten auch laufen. Aber ich bin nicht mehr so gut zu Fuß wie früher einmal. Nehmen wir das Taxi. Sie können ja morgen noch mit dem Zug nach Bristol fahren. Es ist viel sicherer für Sie, bei Tag zu reisen.«

Das konnte sie nicht leugnen. »Vielen Dank, dass Sie mir geholfen haben, diese Männer abzuschütteln.«

Mrs Hurdle runzelte die Stirn. »Es würde mich nicht wundern, wenn diese beiden Gauner unter einer Decke stecken würden.«

»Wie das denn?«, rief Rosalyn. »Jeder hat doch versucht, den anderen zu vertreiben.«

»Ich habe so etwas schon erlebt«, erklärte die Frau und nickte wissend. »Der erste Mann bedrängt ein Mädchen, dann kommt ein anderer dazu und spielt den heldenhaften Retter.«

»Ganz bestimmt nicht«, protestierte Rosalyn. Die Uniform des Soldaten schien echt zu sein. Doch als sie an den Zwischenfall zurückdachte, fiel ihr etwas auf. Auch der Soldat hatte einen irischen Akzent gehabt. Dieser war zwar viel weniger ausgeprägt als bei dem anderen Mann – der Soldat schien schon lange in England zu leben –, aber trotzdem war sein Akzent nicht zu überhören. Sie würde nie einem Menschen misstrauen, weil er Ire war, doch das könnte ein Indiz für eine Verbindung zwischen den beiden Männern sein.

Rosalyn drehte sich noch einmal um. Der Soldat stand jetzt auf dem Bahnhofsvorplatz neben einem Taxi, und seine Hand lag an der Tür, doch er machte keine Anstalten einzusteigen. Vielmehr beobachtete er Rosalyn mit einer Intensität, die ihr Unbehagen noch steigerte. Mit Entsetzen bemerkte sie, dass auch der Ire das Bahnhofsgebäude verlassen hatte. Er lehnte an einer Säule, hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und beobachtete scheinbar desinteressiert die Aktivitäten auf dem Bahnhofsvorplatz. Hatte Mrs Hurdle recht mit dem, was sie über die Männer und ihre Absichten gesagt hatte? Wie konnte Rosalyn das in Erfahrung bringen? Ihre Gedanken wirbelten durcheinander.

Mrs Hurdle hob die Hand, um Rosalyns Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Helfen Sie mir doch hinein, Liebes, ja?«

Instinktiv streckte Rosalyn die Hand aus, um der alten Dame in den Wagen zu helfen. Mrs Hurdle stolperte in die Kutsche und klammerte sich dabei so fest an Rosalyns Arm, dass diese irgendwie neben ihr auf dem Sitz landete. Schnell warf der Fahrer Rosalyns Reisetasche in die Kutsche und schlug die Tür zu. Sofort sprang er auf den Kutschbock und fuhr los. Durch das Fenster konnte Rosalyn den Soldaten sehen, der ihr auch noch nachblickte, als die Kutsche den Vorplatz hinter sich ließ. Seine Schultern sackten in sich zusammen, als sei er enttäuscht. Diese Geste bei einem so energischen Mann zu sehen, weckte in ihr ganz unerwartet ein Gefühl der Beunruhigung. Als sich ihre Blicke trafen, richtete er sich wieder auf, um ihr etwas zuzurufen, aber was er sagte, ging im Geratter der Räder und dem Klappern der Hufe unter. Und so verschwand der Soldat aus Rosalyns Blickfeld, als sich die Kutsche in den Verkehr auf der breiten Straße einfädelte.

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3

Das Taxi rollte wie von selbst durch ein Gewirr von Straßen, die zunehmend enger und dunkler wurden. Sie waren lange unterwegs, viel länger, als Mrs Hurdle angedeutet hatte. Endlich blieb die Kutsche jedoch hinter einem Haus auf der Kutschspur stehen. Mrs Hurdle reichte dem Kutscher das Fahrgeld und schob Rosalyn nach dem Ausstieg aus der Kutsche ein paar wacklige Holzstufen zum Eingang des Hauses hoch.

Die schwere Haustür führte in eine Küche. Eine dicke Frau mittleren Alters am Herd drehte sich um und begrüßte sie herzlich, als sie eintraten. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und musterte Rosalyn von oben bis unten. »Sieht so aus, als hätten Sie Gesellschaft mitgebracht, Mrs Hurdle.«

»Ich habe diese junge Dame am Bahnhof gefunden. Sie wird die Nacht bei uns verbringen. Sorgen Sie doch bitte dafür, dass das kleine Zimmer sauber und bezugsfertig ist.«

»Sofort, Madam«, erwiderte die andere Frau und eilte davon.

»Für reguläre Logiergäste ist das Zimmer zu klein, aber ich denke, für Sie wird es ausreichen«, erklärte Mrs Hurdle.

Rosalyn lächelte sie dankbar an. »Sie sind wirklich überaus freundlich.«

»Möchten Sie eine Tasse Tee?«

»Das wäre himmlisch.«

Mrs Hurdle nahm einen Teekessel vom Herd und füllte eine Teekanne mit Wasser.

Klaviermusik und Stimmen drang aus einem anderen Teil des Hauses zu ihnen herüber. Rosalyn zuckte zusammen, als dröhnendes Gelächter ertönte. »Lassen Sie sich davon nicht stören«, beeilte sich Mrs Hurdle zu erklären. »Das sind nur meine Logiergäste, die sich beim Spiel amüsieren.«

Als Rosalyn die Tasse mit dem dampfenden Tee, die Mrs Hurdle vor ihr abgestellt hatte, an ihre Lippen führte, dachte sie daran, dass dies ihr erstes heißes Getränk seit dem Vortag war. Ein himmlischer Augenblick, in dem nichts anderes von Bedeutung war als die Wärme, die durch ihren Körper strömte.

Nachdem Rosalyn eine zweite Tasse Tee getrunken und großzügig bei Rindfleisch und Brot zugelangt hatte, führte Mrs Hurdle sie in das Zimmer, in dem sie übernachten sollte. Es war wirklich winzig und ohne Fenster und darin standen nur ein schmales Bett, ein Stuhl und ein Waschgestell. Trotz dieser Kargheit kam es Rosalyn vor wie ein Palast und Tränen brannten in ihren Augen. »Mrs Hurdle, ich kann Ihnen gar nicht genug danken.«

Die alte Frau tätschelte ihre Hand. »Ihre Dankbarkeit wird mir Bezahlung genug sein.« Sie schloss die Tür und ließ Rosalyn allein in dem Zimmer zurück.

In aller Eile legte Rosalyn ihren verstaubten Mantel und ihr Kleid ab und streifte das Nachtgewand über, das sie aus ihrer Reisetasche holte. Anschließend kniete sie am Bett nieder, dankte Gott für seine Bewahrung und bat ihn um Führung. Mr Müller, der Begründer des Waisenhauses, hatte ihnen beigebracht, dass Gott ihre Bedürfnisse erfüllen würde, wenn sie zu ihm beteten und fest daran glaubten, dass er sie versorgen würde.

Nach dem Nachtgebet kroch Rosalyn in das schmale Bett. In der Dunkelheit lauschte sie auf die anderen Geräusche im Haus. Das Lachen der Männer hatte sich zu einem rauen Gegröle gesteigert. Mrs Hurdles Pensionsgäste schienen einige ungewöhnlich lebhafte Gesellschaftsspiele zu spielen. Für den Augenblick fühlte sich Rosalyn sicher und doch kamen ihr die Worte des Soldaten wieder in den Sinn: »Ich komme zu spät«, hatte er gesagt. Der Gedanke daran brachte einen Anflug von Zweifel mit. Gleichzeitig fiel ihr auf, dass sie Mrs Hurdle gar nicht gefragt hatte, warum sie überhaupt am Bahnhof gewesen sei.

Doch bevor sie sich in diese Sorgen hineinsteigern konnte, versuchte Rosalyn entschlossen, die negativen Gedanken zur Seite zu schieben. Schließlich gelang es ihr und sie fiel in einen unruhigen Schlaf.

Plötzlich wurde Rosalyn von zwei Stimmen geweckt, die aus der Küche zu kommen schienen. Wie spät es war, konnte sie nicht sagen, da es im Zimmer ja kein Fenster gab. Sie war noch unendlich müde, aber das war kein Wunder, da sie nur oberflächlich geschlafen hatte. Leise stand sie auf und schlich zur Tür. Der raue Holzboden kratzte an ihren nackten Füßen. Sie öffnete die Tür einen Spalt und hörte die Stimme eines Mannes. »Sie wollen mich doch jetzt wohl nicht betrügen, Mrs Hurdle. Ich habe sie für Sie gefunden, also schulden Sie mir was.«

Diese Stimme kannte Rosalyn. Sie gehörte dem Iren, der sie am Bahnhof bedrängt hatte.

»Du hast sie beinahe verjagt!«, erwiderte Mrs Hurdle vorwurfsvoll. »Wenn ich nicht eingeschritten wäre –«

»Das ist doch gerade das Schöne daran! Sie ist Ihnen direkt in die Arme gelaufen – obwohl dieser Mistkerl in der roten Jacke einzugreifen versuchte. Wir sind eben ein gutes Team, das ist alles.«

»Also gut, hier ist eine halbe Krone«, brummte die alte Frau. Auf seinen Protest hin fügte sie hinzu: »Widersprich mir nicht, Mick. Wenn sie das Geld wert ist, lege ich vielleicht noch etwas drauf.«

»Aber warten Sie – ich habe Ihnen noch gar nicht alles erzählt. Und wenn ich das tue, werden Sie froh sein, dass ich am Bahnhof geblieben bin.«

»Ach ja?«, fragte Mrs Hurdle zweifelnd.

Rosalyn umklammerte den Türknauf, während sie darauf wartete, dass Mick weitersprach.

»Ich habe vier, vielleicht fünf Züge abgewartet und nach Mädchen für Ihr Etablissement gesucht.«

»Und trotzdem bist du allein hergekommen«, gab Mrs Hurdle zurück. »Wenn du denkst, ich würde dir eine Entschädigung zahlen für deine vergeudete Zeit –«

»Das war keine vergeudete Zeit!«, beharrte Mick. »Aus einem der Züge stieg ein Mann, der meine Aufmerksamkeit erregt hat. Er war sehr elegant gekleidet, hatte aber weder Koffer noch Reisetasche dabei. Und auch keinen Diener. Und ich habe mich natürlich sofort gefragt, was es mit ihm wohl auf sich hat. Ich folgte ihm also, selbstverständlich ganz unauffällig, nur um zu sehen, ob ich seine Geldbörse vielleicht an mich bringen könnte.«

»Mal wieder Taschendiebstahl, Mick?«

»Nun ja, irgendwie muss man ja seinen Lebensunterhalt verdienen, oder? Mit den halben Kronen, die Sie lockermachen, komme ich nicht weit.«

Mrs Hurdle schnaubte nur. »Weiter.«

»Wie ich schon sagte, ich folgte ihm also. Und ich beobachtete, wie er auf den Bahnsteigwärter zuging und fragte, ob er eine junge Dame ohne Begleitung gesehen hätte, die aus dem Zug von Linden ausgestiegen sei.«

»Oh ha!«, rief Mrs Hurdle, und Rosalyn konnte hören, wie ihre Verärgerung verschwand. Stattdessen war sie jetzt eindeutig interessiert. »Hat der Mann das Mädchen, das er suchte, beschrieben?«

»Allerdings. Braune Haare, mittlere Größe, rostrotes Reisekleid mit passender Jacke.«

Mit offensichtlichem Vergnügen gab Mick das, was er in Erfahrung gebracht hatte, weiter, und Rosalyn stellte sich vor, wie die zwei sich zunickten und beide der Meinung waren, dass er gerade sie beschrieben hatte.

»Aber ich habe noch mehr mitbekommen«, fuhr Mick fort. »Wie es scheint, wird Ihre kleine neue Pensionsbewohnerin wegen Diebstahls gesucht! Viel kann es jedoch nicht gewesen sein, sie machte nicht den Anschein, als habe sie viel Geld zur Verfügung.«

»Ach, jetzt redest du aber Blödsinn, Mick. Verstehst du denn nicht – sie hat Eigentum gestohlen, kein Bargeld. Irgendetwas Wertvolles und das hat sie jetzt bei sich. Vermutlich Schmuck. Sie muss es erst ins Pfandhaus bringen und deshalb ist sie nach London gekommen.«

Rosalyns Magen krampfte sich zusammen, als sie hörte, wie über sie als eine gemeine Diebin gesprochen wurde. Aber wenn sie bedachte, wie hinterhältig sich Mrs Hurdle verhielt, dann war es nicht überraschend, dass sie anderen ein ebensolches Handeln unterstellte.

»Wir müssen uns morgen ihre Reisetasche vornehmen«, sagte Mrs Hurdle, und Rosalyn hörte die Gier in ihrer Stimme.

»Sie wollen Diebesgut verkaufen?«, fragte Mick überrascht. »Haben Sie denn keine Angst, dass die Polizei Sie aufspürt?«

»Keine Chance«, erwiderte Mrs Hurdle zuversichtlich. »Ich bringe es zu Simon. Er kann alles verschwinden lassen, ohne eine Spur zu hinterlassen.« Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Ich hoffe nur, du hast dem Kerl ihren Aufenthaltsort nicht verraten.«

Rosalyn stellte sich vor, wie die Frau Mick fragend anstarrte oder vielleicht sogar gegen die Brust stieß.

»Also, so blöd bin ich ja nun auch nicht«, protestierte Mick. »Ich habe nicht mit ihm gesprochen. Aber ich bin an ihm drangeblieben und habe schließlich mitbekommen, wie der Mann seinen Namen nannte und das Hotel, in dem er zu erreichen sei. Also, wenn wir feststellen sollten, dass die Belohnung, die auf ihre Ergreifung ausgesetzt ist, höher ist als der Wert dessen, was sie gestohlen hat –«

Es entstand eine weitere Pause. Mrs Hurdle schien über diesen Vorschlag nachzudenken. Rosalyn wartete wie auf heißen Kohlen auf ihre Reaktion, und sie rechnete fest damit, dass Mrs Hurdle Mick noch weiter ausfragte. Doch sie sagte nur: »Mick, du bist doch klüger, als ich gedacht habe. Hier ist noch eine halbe Krone. Aber dafür erwarte ich, dass du das für dich behältst. Zu keiner Menschenseele ein Wort.«

»Sie sind eine knallharte Verhandlungspartnerin, Mrs Hurdle«, erwiderte Mick heiter. »Aber Sie können mir vertrauen.«

»Nein, ganz bestimmt werde ich das nicht tun«, widersprach Mrs Hurdle. »Ich werde dich im Auge behalten. Und jetzt verschwinde. Wenn du vorhast, dieses Geld für Brenda auszugeben, dann geh ums Haus herum zum Vordereingang, wie alle anderen auch.«

Mit klopfendem Herzen schloss Rosalyn leise die Zimmertür. Sie war von beiden an der Nase herumgeführt worden! Warum hatte sie das nicht erkannt? Warum hatte sie die Warnungen dieses Soldaten so konsequent ignoriert? Am liebsten hätte sie sich wegen ihrer Dummheit verflucht.

Eins war sicher – sie musste dieses Haus so schnell wie möglich verlassen. Eine Lampe wollte sie nicht anzünden, aus Angst, Mrs Hurdle auf sich aufmerksam zu machen. Im Dunkeln tastete sie nach dem Stuhl, auf dem sie ihr Kleid abgelegt hatte, zog es an und knöpfte es zu.

Sie hörte, wie sich schwere Schritte, begleitet von dem Klopfen eines Stocks, durch den Flur entfernten. Ihre Reisetasche und die Handtasche an sich gedrückt, öffnete Rosalyn die Tür einen winzigen Spalt, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war. Da sie nichts hörte und niemanden sah, trat sie vorsichtig in den Flur und schlich zur Küche. Im Licht des erlöschenden Feuers nahm sie ihre Taschenuhr aus der Tasche. Es war vier Uhr morgens. Konnte sie sich um diese Uhrzeit nach draußen wagen? In diesem Viertel? Ihr blieb keine andere Wahl.

Die Küchentür war durch einen schweren Riegel gesichert. Als Rosalyn die Hand danach ausstreckte, hörte sie draußen Lärm, lautes Streiten und den Schmerzensschrei einer Katze. Ein Pistolenschuss dröhnte, unmittelbar gefolgt von weiteren Streitereien, Frauengeheul und Hundegebell. Zitternd wich Rosalyn von der Tür zurück.