Die Töchter von Cornwall - Fern Britton - E-Book

Die Töchter von Cornwall E-Book

Fern Britton

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Beschreibung

1918. Der Erste Weltkrieg ist vorbei, und Clara Carter hat einen Zug nach Cornwall bestiegen – um eine Familie zu treffen, die einst die ihre gewesen wäre. 1939. Hannah war schon immer neugierig auf die mysteriöse Vergangenheit ihrer Mutter, aber der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wirft alles in ein neues Licht. 2020. Caroline ist die Hüterin der Geheimnisse ihrer Familie. Aber jetzt, da ihre eigene Tochter sie braucht, ist es an der Zeit, die Wahrheit zu sagen - um Natalie zu zeigen, dass sie aus einer langen Reihe von Frauen stammt, die die Stürme des Lebens überstanden haben, so robust und stolz wie die raue Küste von Cornwall ...

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Fern Britton

Die TöchtervonCornwall

Fern Britton

Die TöchtervonCornwall

LAGO

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2021

© 2021 by LAGO, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die englische Originalausgabe erschien 2020 bei Harper Collins unter dem Titel Daughters of Cornwall. © 2020 by Fern Britton. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Annika Tschöpe

Redaktion: Christiane Geldmacher

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch, dem Original nachempfunden

Umschlagabbildung: Ildiko Neer/Trevillion Images; shutterstock.com

Satz: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-95761-203-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-288-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-289-1

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Here's tae us. Wha's like us?Damn few, an' they're a' deid.

Auf uns. Wer ist wie wir?Verdammt wenige, und sie sind alle tot.

Ein Trinkspruch, der von schottischen Regimentern überall übernommen wurde zum Gedenken an das Erste Bataillon des Scottish Regiment, das sich Ende 1914 friedlich auf das Sommerlager vorbereitete, und das doch 1918 größtenteils tot war.

In Erinnerung an meinen Großonkel, Second Lieutenant Herbert Edward Hawkins vom Ersten/Vierzehnten Bataillon des (London Scottish) London Regiment, 1887−1917.

INHALT

Prolog

Teil Eins

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Teil Zwei

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Teil Drei

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreißig

Danksagungen

Bibliographie

Prolog

Caroline, Callyzion, Cornwall

Heute

Man sagt, dass in einer Familie oft jede Generation den gleichen Fehler wiederholt, manchmal über mehrere Jahrhunderte hinweg, bis endlich jemand den Bann bricht. Wie das geschieht, ob durch eine Änderungen der Charaktere oder die Verbindung mit einer anderen Abstammungslinie, die ihrerseits bestimmte Anlagen mit sich bringt, lässt sich nicht vorhersagen.

Wie dem auch sei, eines haben sicher alle Familien gemeinsam: eine lange Reihe von Frauen, die durch Schicksalsschläge gestählt wurden. Frauen mit gescheiterten Ehen, gebrochenen Herzen und langgehegten Geheimnissen.

Die Geschichte, die ich nun erzählen möchte, hat mich seit frühester Kindheit geprägt. Wie so viele Kinder lauschte ich oft mit großen Ohren, wenn die Erwachsenen mich ganz vergessen hatten und unglaubliche Geschehnisse enthüllten.

Die Kieselsteine, die sie in den Teich warfen, bildeten Wellen, die durch ihr Leben bis in meines schwappten und dort noch immer nachplätschern.

Alles, was ich habe, musste ich mir hart erarbeiten.

Alles.

Ich hege keinen Groll.

Materielle Dinge bedeuten mir nicht viel. Ich bin verwitwet, habe mein Auskommen und darf miterleben, wie meine wunderschöne Tochter allmählich erwachsen wird und ihren eigenen Weg geht. Sie wird den richtigen Partner finden, eine Familie gründen und eine wunderbare Ehefrau und Mutter werden. So war es auch bei mir.

Bei meiner Mutter war es so ähnlich.

Bei deren Mutter Clara dagegen ganz anders.

Sie lebte nach ihren eigenen Regeln, außergewöhnlich, stark und leidenschaftlich. »Lügen kann man nur, wenn man ein gutes Gedächtnis hat.«

Sie musste es ja wissen.

All das habe ich erst kürzlich erfahren, und ich muss zugeben, dass es mich ziemlich aus der Bahn geworfen hat. Dabei bin ich eigentlich jemand, die seine Gefühle für sich behält.

Natürlich war es furchtbar, als ich meine Mutter verlor oder als mein Mann erkrankte und starb. Ich war stolz darauf, dass ich diese Schicksalsschläge so stoisch hinnahm, mich vom Kummer nicht unterkriegen ließ.

Bis ich eines Tages aufschnappte, was eine der fleißigen Kirchgängerinnen über mich sagte. Im Chorgestühl war zu hören, ich sei »gefühlskalt«, »abgebrüht« und noch etwas anderes, das ich lieber verdränge, so grob und gemein war das Wort. Jedenfalls ging mir das unbarmherzige Gelächter tagelang nicht aus dem Kopf.

Ich vermisse meinen Mann schrecklich. Seine Freundlichkeit. Seine Zuneigung. Seinen Erfolg. Er hatte einen guten Posten bei einem großen Unternehmen und bot mir die Sicherheit, nach der ich mich sehnte. Mein geliebter Tom.

Er wusste, wie schwer es für mich gewesen war, ohne Vater aufzuwachsen, und dass ich nach einer unkonventionellen Kindheit alles darangesetzt hatte, ein ganz normales Leben zu führen.

All das hat jetzt keinerlei Bedeutung mehr, denn ich bin auf ein weiteres Familiengeheimnis gestoßen. Meine Mutter war nicht die Einzige, die etwas verheimlicht hat. Die unverheiratet schwanger wurde.

Alles, was ich zu wissen glaubte, war gelogen.

Vor wenigen Tagen stand er direkt vor meiner Tür. Ein riesiger Überseekoffer, aus den Zeiten, in denen man die Welt noch per Schiff bereiste und nicht einfach ins Flugzeug stieg. Der Kurier streckte mir einen Lieferschein entgegen, den ich unterschreiben sollte. »Der hat schon eine lange Reise hinter sich«, sagte er, als nähme er mir das persönlich übel. »Kommt aus Malaysia, offenbar über Singapur und Kent. Und verdammt schwer ist er auch.«

»Haben Sie sich vielleicht mit der Adresse geirrt?«

»Sie sind doch Caroline Bolitho?«

»Ja. Früher zumindest. Das ist mein Mädchenname.«

»Dann ist die Adresse richtig. Ich war erst im Pfarrhaus oben in Callyzion. Die Frau dort sagte, sie kennt nur eine Bolitho, nämlich Sie, und hat mir diese Adresse genannt.« Er reichte mir den Lieferschein.

»Bitte unterschreiben und den Namen in Druckbuchstaben eintragen. Hoffentlich ist da keine Leiche drin.« Er lachte, bis er meinen berüchtigten strafenden Blick bemerkte, den mein Mann und meine Tochter so fürchteten.

Also unterschrieb ich das Dokument und machte die Tür weiter auf, in der Hoffnung, dass der Kurier den Koffer in den Korridor tragen würde.

»Tut mir leid. Ich liefere nur bis an die Tür. Weiter darf ich nicht. Tschüss. Oh, Moment noch.« Er klopfte auf die oberste Hemdtasche. »Hier, den brauchen Sie auch. Das ist der Schlüssel.« Er reichte mir einen kleinen braunen Umschlag und ließ mich mit der rätselhaften Lieferung stehen.

Nachdem ich den Koffer ins Wohnzimmer geschleift hatte, brauchte ich erst einmal einen Kaffee. Mir fehlte die Energie, das Ding zu öffnen, und ehrlich gesagt, war ich äußerst misstrauisch. Was mochte darin stecken? Warum hatte ich ihn bekommen? Und wer hatte ihn geschickt?

Ich genehmigte mir zwei Kekse, spülte die Kaffeetasse aus und stellte sie aufs Abtropfbrett.

»Komm schon, Caroline«, sprach ich mir Mut zu. »Trau dich.«

Im Wohnzimmer wartete der riesige Koffer auf mich. Ich ging um ihn herum und studierte die zahlreichen Aufkleber. Die meisten waren alt und kaum noch zu entziffern, doch an der Vorderkante stand ein Name. Ich holte mir einen Putzlappen und eine Dose Möbelpolitur aus der Küche.

Der Koffer war aus Leder, und als ich den Schmutz entfernte, kam langsam die ursprüngliche Farbe zum Vorschein. Ich entdeckte die Buchstaben E. H. B. sowie die Anschrift einer Kautschukplantage auf der Insel Penang in Malaysia. Die Initialen kannte ich. Ernest Hugh Bolitho, mein Großvater. Der Vater meiner Mutter. Ich wusste nur, dass er in den Siebzigern in Penang verstorben war und seine englische Familie niemals wiedergesehen hatte.

Ich putzte weiter, bis das Gepäckstück trotz seines Alters glänzte. In letzter Zeit hatte ich so viel durchgemacht, dass die Vorstellung, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, tröstlich und abschreckend zugleich wirkte. Meine Herkunft verdrängte ich seit Jahren, nur Tom wusste von den Umständen meiner Geburt.

Ich frage mich oft, ob ich andere damit vor den Kopf stoße, dass ich meine Geschichte für mich behalte.

Tom war mein erster Freund gewesen. Als er mich an einem Ostersonntag nach der Kirche angesprochen hatte, hatte ich es kaum glauben können. Seine Eltern waren sehr fromm und führten das anständige, normale Leben, nach dem ich mich als Kind immer gesehnt hatte.

Mittlerweile war der Koffer schon sehr sauber, aber ich polierte so lange weiter, bis es beim besten Willen nichts mehr zu tun gab.

Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn zu öffnen.

Teil Eins

Kapitel Eins

Clara, Kent bis Callyzion, Cornwall

Dezember 1918,ein Monat nach Ende des Ersten Weltkriegs

Ich bin gestern aus Kent gekommen.

Ich allein.

Als ich den Brief von Berties Mutter erhielt, war mir sofort klar, dass ich fahren musste. Ich packte meine Sachen und zwang mich, stark zu bleiben. Ich gab beiden, Philippa und Mikey, einen Kuss und versprach, bald zurück zu sein. Dann ging ich zur Tür hinaus und lief zum Bahnhof. Sie sollten mich nicht weinen sehen. Dafür sorgte mein versteinertes Herz, dem kein Schicksalsschlag mehr etwas anhaben konnte. Und doch schrie eine innere Stimme, ich solle umkehren, zurückgehen, dieses irrsinnige Unterfangen aufgeben. Ich zauderte und hätte beinahe tatsächlich kehrtgemacht, doch der Drang, Berties Zuhause und die Familie kennenzulernen, die meine hätte sein können, war stärker.

In London fand ich eine Unterkunft in der Nähe von Paddington Station. »Nur für eine Nacht«, sagte ich der finster dreinblickenden Vermieterin. Sie deutete stumm auf den Aushang in ihrem Rücken: Kein Lärm nach sechs Uhr abends, keine Herrenbesuche, Frühstück um acht und Bezahlung im Voraus.

Ich zahlte den verlangten Betrag, und die Frau zeigte mir mein Zimmer. Es lag zur Straße hin und bot Ausblick auf eine Reihe weißer Stuckhäuser. Eigentlich ganz hübsch.

Ich schlief nicht gut und stand früh auf, um meinen Zug nach Cornwall nicht zu verpassen, der um 7.35 Uhr morgens gehen sollte. Während ich mich leise wusch und anzog, versuchte ich zu verhindern, dass die rissigen Dielen unter dem schäbigen Flickenteppich quietschten. Zum Glück gaben sie keinen Laut von sich.

Dann ging ich durch die Haustür hinaus in den dunklen Morgen. Hinter dem Erkerfenster zum Bürgersteig erspähte ich den Speiseraum. Die Tische waren für das Frühstück gedeckt. Ich hatte nichts gegessen, seit ich am Vortag in Kent aufgebrochen war, verspürte aber trotzdem keinen Hunger.

Mein Atem dampfte in der kalten Morgenluft, als ich mit raschen Schritten zum Bahnhof lief. Das hell erleuchtete Gebäude, das aus der Dunkelheit aufragte, war für morgendliche Reisende wie mich ein willkommener Anblick.

Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war, herrschte im Bahnhof viel Betrieb. Ein steter Strom von Pendlern bewegte sich auf die Ausgänge und die Treppen zur U-Bahn zu. Elegant gekleidete Verkäuferinnen, ältere Herren in Wintermänteln mit Filzhüten auf dem Kopf und junge Uniformierte auf Krücken. Manchen fehlte ein Arm, einer trug eine dunkle Brille und einen weißen Stock. Ich schluckte schwer, weil mir plötzlich ein dicker Kloß in der Kehle steckte. Mein Blick huschte über die ehemaligen Soldaten. Konnte es sein, dass Bertie darunter war? Vielleicht hatten diese Männer ihn gekannt? Mit ihm gekämpft? Von ihm gehört? Gesehen, wie er seine langen, liebevollen Briefe an mich schrieb?

Eine ältere Frau ging auf den blinden Soldaten zu, berührte ihn am Arm und nannte seinen Namen.

»Mum?«

Ich musste mich abwenden; diesen intimen Augenblick konnte ich nicht mitansehen.

»Brauchen Sie Hilfe mit dem Gepäck, Miss?« Als mir ein Kofferträger auf die Schulter tippte, fuhr ich erschrocken zusammen.

»Nein, nicht nötig, vielen Dank.« Ich hielt mein Köfferchen dicht am Körper und machte mich auf die Suche nach dem richtigen Bahnsteig.

Eine so lange Zugfahrt hatte ich noch nie gemacht. Bertie und ich hatten uns die Reise oft ausgemalt. Die Vorfreude auf seine Eltern und Geschwister.

»Wir machen dann ein Picknick am Strand. Dort gibt es Dünen und Wasserbecken zwischen den Felsen, in denen sich kleine Krebse und Krabben tummeln. Schwimmst du gerne?«

»Ich habe es noch nie ausprobiert«, erwiderte ich.

»Dann bringe ich es dir bei«, sagte er und schlang die Arme um mich. »Das Wasser ist zwar kalt, aber ich werde dich warm halten.«

Nie zuvor war jemand so lieb zu mir gewesen.

Er küsste mich aufs Haar. »Meine Eltern werden dich lieben.«

Jetzt war ich nervös. Ich hatte den Bahnsteig gefunden, der Zug stand schon bereit.

Fast hätte ich kehrtgemacht, um wieder nach Hause zu fahren, nach Kent, zu den beiden Menschen, die ich so liebhatte. Angst, geradezu Panik, machte sich in meiner Brust breit. Würde ich den Erwartungen von Berties Familie entsprechen? Oder würden sie mich nicht akzeptieren? Und wenn sie mich mochten, aber ich sie nicht leiden konnte?

In den Waggons befand sich auf der einen Seite ein langer Korridor, auf der anderen eine Reihe kleiner Abteile mit jeweils sechs Sitzplätzen.

»Entschuldigen Sie bitte.« Ich blieb bei einem Stationsbeamten mit Trillerpfeife und Flagge in der Hand stehen. »Wo finde ich Waggon C, Abteil 2?«

Der Mann löste den Blick nicht von den Passagieren, die sich auf dem Bahnsteig drängten. »Das ist der nächste.«

»Vielen Dank.« Schon sah ich den Waggon. An der offenen Tür steckte ein weißes Blatt Papier, auf dem ein C stand.

Ich stieg ein, bog nach links und fand mein Abteil. Zum Glück war es leer. Nach oberflächlichen Plaudereien mit Fremden stand mir nicht der Sinn.

Ich ließ mich auf dem Fensterplatz in Fahrtrichtung nieder und stellte meine Reisetasche auf den Platz neben mir. Wenn ich mich so ausbreitete, würde das andere Fahrgäste vielleicht abschrecken.

Dann zog ich Handschuhe und Mantel aus und legte alles oben auf die Tasche. Jetzt hatte ich ein richtiges Bollwerk. Nachdem ich mich so eingerichtet hatte, beobachtete ich die Abschiedsszenen vor dem Fenster. Küsse für die Damen. Händeschütteln bei den Herren.

»Ich schreibe dir, sobald ich Neuigkeiten habe.«

»Ich werde dich vermissen.«

»Bis bald.«

»Ich liebe dich.«

Welche Geschichten dahinterstecken mochten? So viele Menschen, die hinter einem Lächeln verbargen, was ihnen durch den Kopf ging.

Plötzlich bemerkte ich einen älteren Mann, der sich durch die Menge kämpfte. Er war eher klein, hatte einen winzigen, dichten Schnurrbart unter der Nase, eine zusammengefaltete Zeitung unter dem Arm und mühte sich mit einem Koffer, den er hinter sich herzerrte. Wie viele Männer wirkte er so überheblich und anmaßend, dass er mir auf Anhieb unsympathisch war. Er schien nach seinem Waggon zu suchen und erhaschte durch das Fenster meinen Blick. Ich drückte mich tief in den Sitz.

Der Mann hob die Faust und hämmerte mit den Knöcheln gegen das Glas. »Ist das Waggon C?«, stieß er hervor.

Ich heftete den Blick auf meine Schuhe, als hätte ich ihn nicht gehört.

Er klopfte lauter. »Ist das Waggon C?«, rief er noch einmal, als wäre ich taub.

Also musste ich wohl antworten. »Ja.«

»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Er schüttelte vorwurfsvoll den Kopf und bückte sich dann zu seinem schweren Koffer.

Sekunden später zwängte er sich durch die Schiebetür in mein Abteil.

»Sehr schön.« Es war, als würde er sämtliche Luft im Waggon zugleich ein- und ausatmen. »Hier ist ja noch reichlich Platz.« Er ließ seinen Koffer auf den Boden plumpsen.

Mir war auf der Stelle klar, dass er sich noch weiter ausbreiten würde als ich.

Keuchend und schnaufend schob er seinen Koffer so nah an meine kleine Tasche, dass ich dahinter gefangen war.

Ich sah stur zum Fenster hinaus, während er zugange war. Immerhin konnte er sich nicht neben mich setzen, und den Platz mir gegenüber würde er hoffentlich auch nicht wählen. Ohne den Kopf zu bewegen, versuchte ich, aus den Augenwinkeln zu erkennen, was er machte. Gerade staubte er mit dem Mantelärmel seinen Filzhut ab. Vermutlich wollte er damit meine Aufmerksamkeit erregen, mich in ein Gespräch verwickeln. Ich blieb stumm.

Sein Hut wanderte auf die Ablage über den Sitzen. Dann folgte der Mantel, den er sorgfältig zusammengelegt hatte. Und schließlich, nachdem er unsichtbare Flusen von seiner Jacke geklopft hatte, ließ er sich nieder. Bedauerlicherweise direkt mir gegenüber, sodass unsere Knie nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren.

»Oh ja.« Er machte es sich bequem und schlug die Zeitung auf. »Schon besser. Schöner Tag zum Reisen, nicht wahr?«

Ich gab keine Antwort, weil ich eine Unterhaltung vermeiden wollte, sondern sah wieder aus dem Fenster. Was sollte das heißen, schöner Tag zum Reisen? Hier unter dem Bahnhofsdach konnte man nicht einmal erkennen, ob die Sonne bereits aufgegangen war, und den Leuten auf dem Bahnsteig standen noch Atemwolken vor dem Mund.

»Ich mache mal das Fenster auf«, sagte der Mann. »Hier ist es etwas stickig.« Er legte die Zeitung beiseite und erhob sich. Ich schob die Knie zur Seite. Mein Gegenüber zerrte an dem ledernen Fenstergriff der Scheibe und ließ sie geräuschvoll nach unten rutschen. Dann setzte er sich wieder. »Schon besser.«

Der Gestank von verbrannter Kohle und Ruß, die Rufe der Kofferträger, die das Gepäck verluden, und ein Schwall eisiger Dezemberluft drangen ins Abteil.

Ich überlegte, ob ich meinen Mantel wieder anziehen sollte, doch das hätte nur zu weiteren unerwünschten Kommentaren geführt.

Ich spürte, wie der Kerl mich ansah. Mich über seine halbrunde Brille hinweg musterte. »Sie sehen aus, als könnten Sie etwas frische Luft vertragen«, sagte er, »wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«

»Danke, aber mir geht es bestens.«

»Fahren Sie bis ganz runter?«

»Wie bitte?«

»Bis nach Penzance?«

»Nein.« Ich senkte den Blick auf meinen Schoß. Dort lag der Samtbeutel mit meiner Fahrkarte, meinem Portemonnaie, Taschentuch, Lippenstift und Zigaretten. Hätte ich doch nur ein Buch oder eine Zeitschrift eingepackt!

»Ich schon«, fuhr er fort. »Bis ganz runter, um meinen Sohn zu besuchen. Er ist gerade erst aus Frankreich zurück. Zum Glück lebendig. Hat ein paar Finger verloren. Wirklich ein Wunder. Ihm ist eine Handgranate explodiert. Wurde zum Corporal befördert. Wie sein Großvater im Krimkrieg. Bin mächtig stolz. Kennen Sie Penzance?«

Ich schüttelte den Kopf und sah wieder aus dem Fenster, in der inständigen Hoffnung, dass er mich endlich in Ruhe lassen würde. Doch mein stummes Flehen wurde nicht erhört.

»Schlimme Sache, dieser Krieg. Der Krieg, der alle Kriege beenden sollte.« Er griff zur Zeitung und hielt sie mir fast unter die Nase. »So viele junge Männer sind gestorben. Allesamt Helden. Bis auf die Drückeberger natürlich.« Er schnaubte. »Feiglinge.« Kopfschüttelnd schnalzte er mit der Zunge. »Angeblich alles halb so wild. Schließlich hatten sie es auch nicht mit dem Feind zu tun! Und wie sieht es wirklich aus? Wir haben eine ganze Generation verloren. Unzählige tapfere Jungs. Die intelligentesten und besten sind nicht mehr.«

Ich umklammerte meine Tasche und rieb mit dem Daumen über den samtenen Schussfaden. Wie oft hatte ich das schon gehört. Kluge Sprüche von Leuten, die keine Ahnung hatten. Mitfühlendes Tätscheln meiner Hand. Wie stolz ich auf Bertie sein musste. Nur zu gerne hätte ich sie laut angeschrien. Alle angebrüllt: »Natürlich bin ich stolz auf ihn, ihr Idioten!«

Wider meinen Willen kochte Wut in mir auf, und ich ballte die Hände zu knochigen Fäusten, um meinen Zorn im Zaum zu halten.

Der Mann ließ nicht ab. »Immerhin haben wir gewonnen, das ist die Hauptsache.«

»Bitte nicht«, sagte ich und war selbst erstaunt, wie scharf meine Stimme klang.

Mein Gegenüber hörte auf zu lächeln und sah mich verblüfft an.

»Was?«, fragte er. »Ich soll nicht vom Krieg reden? Ich wollte mich doch nur ein bisschen unterhalten. Höflich sein. Ich habe schon zu meiner Frau gesagt, für mich sind die Suffragetten schuld. Die jungen Frauen von heute wissen nicht mehr, wie man nett plaudert. Das kommt davon, wenn sie Krankenwagen fahren und meinen, sie könnten Männerarbeit machen …« Dann verstummte er abrupt, weil ihm offenbar ein Licht aufgegangen war. Er nickte langsam. »Oh, verstehe. Sie haben jemanden verloren, oder? Jemanden, der Ihnen nahestand? Dafür habe ich ein Gespür. Viele Frauen hat es schlimm erwischt. Viele haben ihren Liebsten verloren. Heiraten werden Sie jetzt vermutlich nicht mehr, denn die ganzen jungen Kerle sind weg. Für immer. Sie tun mir wirklich leid.«

Er hatte die Lunte gezündet, jetzt explodierte ich. »Wie können Sie es wagen! Was fällt Ihnen ein, so mit mir zu reden! Sie wissen rein gar nichts über mich!«

»Schon gut, schon gut. Beruhigen Sie sich, meine Liebe. Das ist nur der Kummer. Macht die Frauen schwierig, der viele Kummer.«

»Halten Sie den Mund. Halten Sie einfach den Mund und verschwinden Sie aus dem Abteil, und machen Sie vorher das verdammte Fenster wieder zu!« Meine Stimme wurde immer lauter und schriller.

»Meine Güte!«, kommentierte er, während er seine Sachen zusammensuchte. »Der arme Kerl kann von Glück sagen, dass man ihn erschossen hat und er sich nicht mit so einer Furie abgeben muss. So finden Sie niemals einen Neuen.« Er erhob sich und holte Hut und Mantel aus der Ablage. »Wenn das so ist, suche ich mir lieber eine angenehmere Reisebegleitung.«

Draußen auf dem Bahnsteig wurde die letzte Tür zugeschlagen, ein Pfiff ertönte, und der Zug machte unvermittelt einen Ruck. Der Mann fiel mir fast in den Schoß. Ich schob ihn von mir, sodass er auf die Ecke seines riesigen Koffers stürzte und ihm die Zeitung aus der Hand glitt. Er rappelte sich wieder auf und rieb sich die Schulter.

Ich hob die Zeitung auf und schleuderte sie ihm entgegen. »Ich habe Mitleid mit der armen Frau, die Sie geheiratet hat.«

Der Kerl schüttelte zwar den Kopf, verzichtete aber auf eine Antwort und verließ das Abteil.

Als ich endlich meine Ruhe hatte, schloss ich das Fenster und fischte aus meinem Täschchen das Taschentuch, mit dem ich mir die Zornestränen abtupfte, während der mächtige, mit Kohle und Dampf betriebene Zug mit einem weiteren Ruck langsam aus dem Bahnhof fuhr.

Eine gute Stunde lang flossen bei mir Tränen der Trauer und Wut. Zwar war es mir unangenehm, in aller Öffentlichkeit zu weinen, doch immerhin schreckte das die wenigen Passagiere ab, die noch im Korridor unterwegs waren.

Und jetzt, etliche lange Stunden später, überquerte ich endlich die mächtige eiserne Royal Albert Bridge, die mich über den Fluss Tamar von Devon nach Cornwall brachte.

Kapitel Zwei

Clara, Callyzion

Dezember 1918

Ich legte den Kopf an das kalte Glas und sog die Landschaft, die vor dem Zugfenster an mir vorbeizog, in mich auf. Bertie hatte mir die Gegend oft genug beschrieben und stets darauf bestanden, mir die vielen romantischen Bahnhofsnamen in Cornwall aufzuzählen.

»Direkt nach der Brücke kommt Saltash. Das Tor zu Cornwall.«

»Warum heißt der Ort Saltash?«, hatte ich gefragt.

»Keine Ahnung. Auf Saltash folgen St. Germans, Menheniot, Liskeard …«

Ich hatte ihn unterbrochen. »Die vielen Namen kann ich mir sowieso nicht merken. Sag mir nur, wo ich aussteigen muss!«

»Dazu komme ich gleich, Fräulein Ungeduldig.« Er holte übertrieben Luft und fuhr fort: »Saltash, St. Germans, Menheniot, Liskeard und dann Bodmin. In Bodmin werde ich auf dich warten.«

»Wirklich?« Wir hatten auf dem schmalen Bett in unserer kleinen Wohnung in Ealing gelegen. »Ich glaube, auf mich hat noch nie irgendwo irgendjemand gewartet.«

»Wie ungehobelt wäre es, wenn ich meine geliebte Verlobte nicht abholen würde, wenn sie meinetwegen eine so weite Reise auf sich nimmt!«

»Wirklich sehr, sehr ungehobelt.« Ich hatte geschmunzelt.

Bertie hatte mich an sich gezogen und mir einen Kuss auf den Scheitel gedrückt. »Ich kann es kaum erwarten, dich endlich meiner Familie vorzustellen. Vater wird von dir begeistert sein. Mutter auch, aber vielleicht lässt sie sich das anfangs nicht anmerken, denn Fremden gegenüber ist sie immer etwas zurückhaltend. Mit Amy wirst du dich jedenfalls blendend verstehen. Sie hat sich schon immer eine Schwester gewünscht. Mein Bruder Ernest kann ein ziemlicher Wichtigtuer sein, aber er ist kein schlechter Kerl.«

»Wie schön es sein wird, endlich wieder eine Familie zu haben!«

»Du bist der tapferste Mensch, den ich kenne.« Er schloss mich noch fester in die Arme. »Mein unerschütterliches kleines Eichhörnchen.«

Ich muss gestehen, dass ich Bertie zu diesem Zeitpunkt schon etliche Lügen über meine Herkunft aufgetischt hatte. Das hatte sich leider so ergeben. »Meine Eltern waren wunderbar«, hatte ich geschwindelt, »und ich vermisse sie jeden Tag, aber sie hätten sich ganz bestimmt sehr für mich gefreut.« Schamlos, ich weiß.

»Meinst du, sie wären mit mir einverstanden gewesen?«, hatte er gefragt.

»Oh Bertie, sie hätten dich vergöttert!«

Der Schaffner ging die Abteile entlang, wie er es jedes Mal tat, wenn wir uns einem Bahnhof näherten. »Bodmin Road. Nächster Halt Bodmin Road.« Ich machte mich zum Aussteigen bereit.

Auf dem Bahnsteig sah ich dem Zug hinterher, der weiter Richtung Penzance schnaufte, bis er schließlich nicht mehr zu sehen war. Die Sonne war untergegangen, und die winterliche Luft strich mir sanft über die Haut. Ich atmete tief ein.

Bertie hatte mir erzählt, hier unten in Cornwall sei es so mild, dass sogar Palmen wüchsen.

»Du willst mich wohl auf den Arm nehmen«, hatte ich lachend erwidert.

»Nein, das stimmt wirklich. Wir haben eine im Garten, ich werde sie dir zeigen.«

Ich nahm mein Gepäck und ging am schwarz-weiß gestrichenen Stellwerkhäuschen vorbei zum Fahrkartenschalter, an dem sich ein Schild mit der Aufschrift TAXIS befand. Halb hoffte ich, Bertie trotz allem hier zu sehen, und die Sehnsucht nach ihm schnürte mir die Kehle zu. Ich malte mir aus, wie er auf mich zugelaufen käme. Wie ihn seine langen Beine mühelos trügen. Wie seine starken Hände mich um die Taille fassten und in die Luft wirbelten, sodass ich über ihm schwebte, während wir uns voller Liebe tief in die Augen sähen.

»Entschuldigen Sie, Miss.« Ein Mann mit Schirmmütze kam auf mich zu. »Sind Sie vielleicht Miss Carter?«

»Ja.«

»Hab ich mir schon gedacht. Sie sahen ein bisschen verloren aus.« Der Mann hatte ein freundliches Gesicht, aber nicht allzu viele Zähne im Mund. »Willkommen in Cornwall.« Er streckte mir die Hand entgegen, die ich schüttelte. Sein Händedruck war angenehm. Trocken und kräftig.

»Ich bin Ihr Taxi nach Callyzion. Chewton heiß ich. Stets zu Diensten. Geben Sie mir Ihre Tasche, Miss.«

»Ach ja. Pfarrer Bolitho hatte Sie in seinem Brief angekündigt. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Kein Problem. Ich packe Ihre Tasche nach hinten, Sie können vorne bei mir sitzen. Da ist es wärmer.«

Chewton kannte die Gegend wie seine Westentasche. Er lieferte mir kurze Erläuterungen zu den Bewohnern sämtlicher Häuser, an denen wir vorbeikamen, und wies mich auf verschiedene Geschäfte hin, die ihm für mich geeignet erschienen.

»Hier gibt es ein Postamt und einen sehr schönen Laden mit Damenbekleidung. Sicher nicht so große Auswahl wie bei Ihnen in London, aber Sie finden bestimmt etwas Nettes. Mrs. Chewton hat mir aufgetragen, Ihnen das zu sagen.«

Das ließ mich aufhorchen. »Wissen denn viele Leute, dass ich komme?«

»Oh ja. Die ganze Gemeinde redet von nichts anderem. Mr. Herbert war uns allen sehr ans Herz gewachsen. Wir haben ihn vermisst, als er in Malaya auf der Kautschukplantage war. Verrückte Sache, was?« Chewton schüttelte ungläubig den Kopf. »Malaya. Mein Gott. Er hat sich sogar einen Affen gehalten.«

Schon wieder drohten mir die Tränen zu kommen. »Ja. Bingo, nicht wahr?«

»Genau. Mr. Herbert hat erzählt, welchen Unsinn der Affe getrieben hat. Ist mit Mr. Herberts Frühstück davongelaufen und hat Sachen im Haus versteckt.«

Die Tränen schnürten mir die Kehle zu. »Zu schade, dass ich ihn nicht kennenlernen konnte.«

»Na ja.« Chewton lächelte. »Dafür kannten Sie seinen Besitzer.«

»Ja.« Ich schluckte heftig. »Er war ein wunderbarer Mensch, nicht wahr?«

»Sehr tapfer«, erwiderte Chewton. »Einer der besten.«

Dann sagten wir nichts mehr, sondern hingen nur schweigend unseren Erinnerungen nach.

Mittlerweile hatten wir Bodmin hinter uns gelassen, und die Scheinwerfer konnten die Dämmerung schon nur noch mit Mühe durchdringen. Die Straße führte durch Tunnel aus dichten Bäumen, unter denen der Himmel nicht zu sehen war. Hin und wieder sah ich kleine Häuschen, in manchen brannte schon Licht. Als wir um eine scharfe Kurve bogen, flatterte eine weiße Eule von einem Torpfosten auf und verschwand mit lauten Rufen im Dunkel.

Ein Hinweisschild verriet, dass Callyzion nur noch eine Meile entfernt lag. Wir kurvten eine steile, gewundene Straße hinunter, durchquerten erneut einen finsteren Alleetunnel und erreichten schließlich eine winzige Kreuzung mit einer kleinen Dorfwiese, an der wir links abbogen. Auf einer schlammigen, mit Maulwurfshügeln übersäten Wiese verkündete ein Schild: WEIHNACHTSTRÖDEL, GEMEINDEHAUS, SONNTAG 14 UHR.

»Wir sammeln Geld für ein Kriegerdenkmal im Dorf«, erläuterte Chewton. »Mr. Bertie wird auch darauf stehen.«

Drei Häuser weiter hielt er den Wagen an. Wir standen vor einem großen Eisentor.

»Da wären wir, Miss«, sagte Chewton und zog die Handbremse an. »Das Pfarrhaus. Ich mache Ihnen die Tür auf.«

Vorsichtig half er mir aus dem Wagen und hob dann mein Gepäck vom Rücksitz. Ich fischte das Portemonnaie aus meinem Samtbeutel. »Was bin ich Ihnen schuldig?«

»Gar nichts, Miss. Das hat Miss Amy schon erledigt.«

Ich wollte ihm einen Shilling als Trinkgeld geben. »Bitte sehr, als Dankeschön.«

Er winkte ab.

»Dann zumindest für das Kriegerdenkmal?«

Chewton musterte die Münze zweifelnd und ließ sich schließlich überzeugen. »Vielen Dank, Miss. Sehr freundlich. Für Mr. Bertie nehme ich das.« Er tippte sich an den Mützenschirm. »Wünsche einen schönen Aufenthalt beim Pfarrer. Er ist ein netter Mann.«

Mein Fahrer fuhr davon, winkte noch einmal und ließ mich vor dem kalten, schmiedeeisernen Tor stehen. Dahinter lag Berties Zuhause. Ich musterte das Gebäude. Ein großes Haus. So, wie ich es als kleines Mädchen gemalt hätte. In der Mitte die Eingangstür, auf jeder Seite vier Erkerfenster, zwei oben und zwei unten.

Das Haus stand in einem Garten, der offenbar rundum von einer Hecke gesäumt war. Vom Tor führte ein Pfad direkt zur Eingangstür.

Aus den Schornsteinen der benachbarten Häuser stiegen Rauchwölkchen auf, die vermuten ließen, dass es darin gemütlich warm war, doch der Pfarrhausschornstein rauchte nicht. Bertie hatte mir geraten, reichlich warme Unterwäsche mitzubringen, wenn ich zu Besuch käme, da seine Eltern das Haus nur heizten, wenn es gar nicht anders ginge.

»Die Fenster müssen schon von innen zufrieren«, hatte er gesagt, »eher nicht.«

Ich hatte ihm nicht verraten, dass ich endlose, unbarmherzige Winter in eisigen Zimmern nur zu gut kannte. Meine grausame Kindheit behielt ich für mich. Meine Vergangenheit war ein Buch mit sieben Siegeln. Mein Geheimnis. Ich hatte ihm stattdessen erzählt, meine Eltern seien Bauern in Kent gewesen. Hätten viel arbeiten müssen, aber ein gutes Auskommen gehabt, und außer mir keine Kinder. Das stimmte sogar. Erfunden hatte ich dagegen die Tragödie, die sich ereignete, als eine Hopfenscheune in Brand geriet. Ich hatte behauptet, meine Eltern und einer der Pflücker seien bei ihren Löschversuchen ums Leben gekommen. Zum Glück habe der Verkauf des Hofes genug Geld eingebracht, um mir den Besuch eines Mädcheninternats zu ermöglichen, in dem ich von gütigen Frauen aufgezogen worden sei, die mir mit Liebe und Fürsorge zu einem neuen Leben verhalfen. Alles gelogen.

Als ich jetzt vor Berties Zuhause stand, war ich froh, dass er die Wahrheit niemals erfahren würde. Nun lag ein neues Kapitel meines Lebens vor mir. Ein Kapitel ohne Bertie.

Mir wurde kalt, ich zitterte bereits. Also wickelte ich mich fester in meinen Mantel, hob das Köfferchen vom Boden und öffnete das hohe Eisentor. Ich holte tief Luft, nahm meinen Mut zusammen und ging den schwarz-weiß gepflasterten Weg zur Eingangstür hinauf.

Die dunkelblaue Farbe war abgeblättert, vor allem rund um den Briefschlitz. Wie viele Beileidsschreiben mussten dort hineingewandert sein, seit das schwarz umrandete Telegramm eingetroffen war! Die entsetzliche Nachricht.

MIT DEM GRÖSSTEN BEDAUERN ... IM KAMPF GEFALLEN ... GOTT SCHÜTZE DEN KÖNIG.

Ich zögerte einen Moment, bevor ich an der Glocke zog. Ich musste tapfer sein, Bertie hätte es so gewollt. »Trübsal blasen hat keinen Sinn, altes Haus«, hörte ich ihn sagen.

Die Glocke ertönte tief hinten im Haus.

Vor meinem inneren Auge sah ich das Hauspersonal, von dem Bertie mir berichtet hatte. Dora, das Mädchen für alles, und die Köchin. Die beiden warteten vermutlich schon auf mich, als die Glocke ertönte. Bestimmt würde Dora sich die Hände an der Schürze abtrocknen, lose Haarsträhnen unter die Haube schieben und aus der Küche die Stufen hinauf in den kalten Korridor zur Eingangstür eilen. Im Laufe des Tages hatte die Köchin sie sicherlich mehrfach ermahnt. »Sei doch nicht so zappelig, sie wird schon noch kommen. Kümmer dich lieber um die Bügelwäsche, das bringt dich auf andere Gedanken.«

Und jetzt war ich da. Die Fremde, auf die alle gewartet hatten. Die Zukünftige von Mr. Herbert. Clara Carter. Eine dünne, blasse Person Anfang zwanzig mit braunen Augen, in denen ein aufgeweckter Blick gelegen hätte, wenn sie nicht so traurig gewesen wären.

Wie würde Dora mich später beschreiben, im Vertrauen hinter der verschlossenen Küchentür?

»Das arme Lämmchen ist vom Kummer gezeichnet. Ich hätte sie am liebsten in die Arme geschlossen.«

Die Köchin würde mitleidig die Hände vor der Brust falten. »Ach, das arme Entchen. Wie war sie denn gekleidet?«

»Schwarz natürlich. Ich glaube, sie hatte etwas Rouge auf den Wangen, um ein wenig frischer zu wirken, und die Lippen rot geschminkt.«

»Oh je«, würde die Köchin sagen. »Das wird Mrs. Bolitho nicht gefallen. Und Miss Amy auch nicht. Und die Haare?«

»Braun, zum Knoten gebunden. Und sie ist so dünn. Nichts auf den Rippen.«

Daraufhin würde die Köchin vielleicht traurig den Kopf schütteln. »Nun, in diesem Haus wird sie keinen Speck ansetzen. Mit dem Haushaltsgeld, das Miss Amy mir zuteilt, noch ein Maul mehr stopfen – es reicht doch so schon nicht. Was hast du zu ihr gesagt?«

»Ich hab gesagt: ›Hallo, Miss.‹ So höflich, wie ich kann. ›Willkommen im Pfarrhaus. Kommen Sie doch herein.‹ Und sie sagte ›Vielen Dank‹, ganz freundlich, und sah sich im Flur um, während ich ihre Tasche an den Kleiderständer stellte. Dann hab ich gesagt: ›Miss Amy wird gleich kommen.‹«

Dora würde mich ins Wohnzimmer führen.

»Hast du ihr den Mantel abgenommen?«, würde die Köchin fragen.

»Oh nein. Ich hab sie gefragt, aber sie wollte nicht. Zitterte nämlich vor Kälte.«

Mit vorwurfsvoller Miene würde die Köchin dann erwidern: »Miss Amy muss schleunigst das Feuer anmachen. Mr. Herbert würde nicht wollen, dass sein Liebling sich Frostbeulen holt.«

Dora würde nur den Kopf schütteln. »Ich hab Miss Amy gefragt, ob ich nach dem Mittagessen das Zimmer aufheizen soll, aber sie hat gesagt ...« Vielleicht würde Dora die Wangen einsaugen, sich ein wenig recken und mit vornehmer, herablassender Stimme nachäffen: »Aber wozu denn?«

Die Köchin würde prusten. »Wenn Miss Amy so weitermacht, wird sie als verbitterte alte Jungfer enden. So begrüßt man doch die Verlobte des eigenen Bruders nicht. Und wo ist Mrs. Bolitho?«

»Hat sich hingelegt. Wegen der Aufregung. Zumindest hat Miss Amy das gesagt. Wenn du mich fragst, regt sich Mrs. B. vor allem über Miss Amy auf.«

»Reich mir mal die Eier rüber«, würde die Köchin bitten. »Ich backe einen Begrüßungskuchen. Einen großen. Das ist das Mindeste, was ich für das arme Mädchen tun kann.«

Und jetzt kam Dora an die Tür und alles, das ich mir ausgemalt hatte, wurde Wirklichkeit. Sie nahm mir den Koffer ab, führte mich ins Wohnzimmer und ließ mich dort allein.

Mein Zittern wollte nicht nachlassen. Der leere Kamin war sauber gefegt. Keine Asche, kein Zunder, keine Kiste mit vorbereitetem Feuerholz.

Ich überlegte, ob ich Mantel und Handschuhe ausziehen sollte. Wäre es unhöflich, wenn ich sie anbehielte? Da meine Handschuhe von der Zugfahrt rußig waren, streifte ich sie ab und stopfte sie mir in die Manteltasche. Ob ich auch Rußstreifen im Gesicht hatte? Über dem Kamin hing ein Spiegel. Er war fleckig und so weit oben angebracht, dass man mindestens einen Meter achtzig groß sein musste, um sich darin zu betrachten. Bertie wäre das mühelos gelungen. Ich zog mein tränenfeuchtes Taschentuch hervor und rieb mir damit über das Gesicht.

Wenn Bertie hier gewesen wäre, hätte er sich darum gekümmert. Hätte sich zu mir herabgebeugt und dafür gesorgt, dass ich vorzeigbar aussähe. Wie oft hatte er über seine Größe gescherzt. Er hatte mich um mindestens 30 Zentimeter überragt.

Wenn wir nebeneinander lagen, hatte er mich in seine Wärme eingehüllt und mich als kleines Eichhörnchen bezeichnet.

»Nicht weinen. Nicht weinen. Bleib stark!«, sagte ich in das leere Zimmer.

Dann verstaute ich das Taschentuch wieder in meinem Beutel und suchte darin nach dem Zigarettenetui. Schmal und silbern. Bertie hatte es mir bei seinem ersten Heimaturlaub geschenkt. Bevor er zurück nach Frankreich musste. Bei einem Spaziergang im Park in Ealing hatte er meine Hand genommen und mich zu einer kleinen Bank geführt. »Ich habe etwas für dich.« Er hatte das Päckchen aus seiner Armeejacke gezogen, es mir in die Hand gedrückt und zugesehen, wie ich es auspackte.

»Bertie!« Ich weiß noch, wie ich es in den Händen drehte und die kunstvolle Gravur auf dem Edelmetall befühlte. »Das ist wunderschön.« Ich lachte. »Nun muss ich wohl richtig anfangen zu rauchen.«

»Genau! Immer, wenn du dir eine Zigarette zwischen die Lippen steckst«, bei diesen Worten fuhr er mir mit dem Daumen über den Mund, »sollst du an mich denken.« Dann hatte er sich vorgebeugt und mich geküsst.

»Ich denke immer nur an dich.« Ich wollte nicht zu kitschig klingen, doch das gelang mir nicht. »Sogar, wenn ich schlafe.«

Und jetzt stand ich hier in seinem Haus, in einem Zimmer, das er so gut kannte. Die Knie wurden mir weich, eine Welle von Traurigkeit bahnte sich an, die jeden Augenblick über mir zusammenschlagen würde.

Ich zog eine Zigarette aus dem Etui und klopfte auf dem Deckel lose Tabakfäden fest, wie ich es von Bertie gelernt hatte. »Reiß dich zusammen, altes Haus.«

Ich steckte die Zigarette an und sog den Rauch tief ein, sodass der Lippenstift Spuren auf dem filterlosen Ende hinterließ. Sofort wurde ich ruhiger.

Ich schloss die Augen und versuchte, mir auszumalen, Bertie stünde neben mir, um mich seinen Eltern vorzustellen.

Wie stolz er auf mich wäre.

Und ich auf ihn.

Seine Mutter würde glücklich und herzlich sein. »Sicher ist Ihnen kalt! Dora soll Feuer machen und die Köchin einen Imbiss zubereiten.«

Ich presste die Lider fest zusammen, um die unvermeidlichen Tränen zurückzudrängen, doch mein dummes Gehirn ließ mir keine Ruhe. Es zeigte mir Bertie als kleinen Jungen, der unter das Chenilletuch auf dem Teetisch krabbelte, sich in die schweren, flaschengrünen Samtvorhänge einwickelte oder zwischen den Sofas hin und her hüpfte, deren straffe Rosshaarpolsterung kein bisschen nachgab.

Ich konnte ihn riechen. Makassar-Haaröl und Tabakrauch.

Und plötzlich sagte er meinen Namen. Ich fuhr zusammen und öffnete hoffnungsvoll die Augen.

Wieder hörte ich ihn. »Clara?«

Er war hier? Hatte man sich geirrt? Lebte er?

Ich stützte mich am marmornen Kaminsims ab, weil ich fürchtete, ich könnte ohnmächtig werden.

Noch einmal rief er nach mir. »Clara?«

Er war direkt vor der Tür. Ich hörte seine Schritte im gefliesten Korridor.

Dann ging die Tür auf, und das Herz sprang mir in die Kehle. Groß gewachsen, ein Lächeln auf dem Gesicht. Bertie stand vor mir.

Ich ließ den Kamin los und streckte die Arme aus, damit er mich umarmen konnte.

Er reichte mir die Hand.

»Clara«, sagte er. »Endlich lernen wir uns kennen. Ernest Bolitho. Berties Bruder.«

Mir versagten die Knie, und er fasste mich am Arm.

»Ach, du meine Güte. Sie sind ja ganz erschöpft von der Reise.«

»Bitte entschuldigen Sie. Darf ich mich setzen?« Ich tastete nach einem Stuhl.

»Den nicht«, erwiderte Ernest rasch. »Der gehört Vater. Und …« Er musterte die Zigarette, die zwischen meinen Fingern langsam abbrannte. »Es tut mir leid, aber Mutter sieht es nicht gern, wenn Frauen rauchen.« Er nahm mir die Zigarette ab und ging zu dem großen Schiebefenster, das, wie ich am nächsten Morgen bei Tageslicht feststellen sollte, zum Garten hinter dem Haus führte.

Dahinter ragte der erleuchtete Glockenturm der Kirche auf.

Dort draußen, das wusste ich, stand die Palme, von der Bertie mir berichtet hatte, und mitten auf dem Rasen gab es einen Apfelbaum mit einer Schaukel. »Ich liebe diese Schaukel«, hatte er mir verraten. »Das beste Spielzeug, das Vater je für uns gemacht hat. Wenn ich dich nach Hause bringe, kannst du darauf sitzen, unter den Apfelblüten, und ich werde dir Schwung geben, dass du bis in den Himmel fliegst.«

»Bertie wurde oft beim Rauchen erwischt.« Ernests Stimme drang durch meine Erinnerung. Er warf den Zigarettenstummel aus dem Fenster und wandte sich wieder zu mir um. »Ich lasse das Fenster geöffnet, denn Mutter hat eine Nase wie ein Bluthund. Wie war die Reise? Sie sehen müde aus. Sie zittern ja.«

»Es geht mir gut, ehrlich.« Mein Blick war auf die kahlen, dunklen Äste des Apfelbaums gerichtet. Nun würde mich Bertie niemals auf der Schaukel unter den Blüten sehen. Ich brach in Tränen aus; das war mir unendlich peinlich und Ernest sichtlich unangenehm.

»Oh je«, sagte er hilflos. »Hat man Ihnen das Badezimmer gezeigt?« Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, um mich nicht ansehen zu müssen. »Vielleicht möchten Sie sich frisch machen?«

»Ja, gerne«, brachte ich hervor. »Danke.«

»Unser Mädchen ist leider nicht die Hellste. Gott weiß, wo Amy sie aufgegabelt hat. Wahrscheinlich gab es keine große Auswahl.«

Er zog an der Klingelschnur neben dem Kamin, und im Handumdrehen kam Dora herein.

»Ja, Sir?«

»Bitte zeigen Sie Miss Carter das Badezimmer und sagen Sie der Köchin, dass wir Tee trinken möchten.«

Das Dienstmädchen nickte. »Ja, Sir.«

Ich riss mich zusammen und folgte Dora erleichtert.

Auf einmal hatte ich das dringende Bedürfnis, die Toilette zu benutzen und mir Gesicht und Nacken zu kühlen.

»Ach, und noch etwas, Dora«, rief Ernest uns hinterher, »bringen Sie Miss Carters Gepäck in ihr Zimmer. Welches hat meine Schwester vorbereiten lassen?«

Dora sah erst mich an, dann Ernest, und erwiderte leise: »Das von Mr. Herbert, Sir.«

Fast wäre ich schon wieder schwach geworden. »Was?«

Ernest bemerkte meine Verzweiflung nicht, sondern zog seine makellos gebügelten Hosenbeine hoch und ließ sich auf einem der hässlichen Sofas nieder. »Gut. Ich warte hier, bis Sie sich eingerichtet haben.«

Ich folgte Dora, die meine Köfferchen vom Hutständer holte und die Treppe hinaufstieg.

»Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer«, sagte sie. »Es ist sehr hübsch, mit Blick auf die Kirche.«

Ich sagte nichts, sondern sah mich nur aufmerksam um. Auf dem Treppenabsatz lag kaltes Linoleum, an manchen Stellen durchgescheuert. Dora blieb vor dem zweiten Zimmer auf der linken Seite stehen. »Bitte sehr.« Mit der freien Hand öffnete sie die Tür, dann trat sie zur Seite, um mich hereinzulassen.

Vor dem einzigen Fenster stand ein Einzelbett mit braunem Kopfteil. In der einen Ecke sah ich einen Waschtisch, an der Wand gegenüber einen schweren Mahagonischrank.

Dora legte mein Gepäck auf das Bett. »Die Toilette finden Sie links am Ende des Korridors. Auf der anderen Seite liegt das Zimmer von Miss Amy.«

Zitternd bedankte ich mich bei Dora und wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Das war also Berties Zimmer. Ich kannte es aus seinen Erzählungen. In diesem Bett hatte er geschlafen, diese unordentlich ins Regal geschobenen Bücher hatte er gelesen. Er hatte an diesem kleinen Tisch über seinen Hausaufgaben gebrütet. Auf dem Bleistift gekaut und die Kirche jenseits des Gartens angestarrt, während er auf eine Eingebung hoffte.

Als ich eine der Schranktüren öffnete, schlug mir der durchdringende Geruch von Mottenkugeln entgegen. An der Kleiderstange hingen drei leere Bügel, vermutlich für mich. Ich öffnete die andere Tür und wich einen Schritt zurück. Dort hing Berties Mantel. Der, den er bei unserer ersten Begegnung getragen hatte. Vorsichtig berührte ich den Ärmel, dann zog ich ihn an meine Nase. Ja, das war er. Das war sein Geruch. »Bertie«, flüsterte ich in den rauen Wollstoff. »Ich bin’s. Ich bin hier in deinem Zimmer. Ich bin hier.«

Es klopfte an der Tür, sodass ich den Ärmel fallen ließ und die Doppeltür rasch zudrückte.

»Herein!«, rief ich.

Eine groß gewachsene, hagere Frau betrat das Zimmer. Sie trug ein marineblaues, fast bodenlanges Kleid mit hohem Kragen und Gürtel und blieb direkt am Eingang stehen. Mit ausdrucksloser Miene musterte sie mich von Kopf bis Fuß. »Clara. Mutter und ich fanden, dieses Zimmer wäre das richtige für Sie.«

»Oh ja, es ist ... wunderbar. Vielen Dank. Sie sind sicher Amy? Bertie hat viel von Ihnen erzählt.«

»Ja.« Ihr Blick fiel auf meinen Koffer auf dem Bett. »Sie haben ja noch gar nicht ausgepackt.«

»Ich bin gerade erst angekommen und würde mich gerne etwas frisch machen, bevor ich herunterkomme. Wenn Sie nichts dagegen haben …«

»Der Tee wird im Wohnzimmer serviert. Vater kommt um vier nach Hause.« Amy wandte sich zum Gehen, drehte sich jedoch noch einmal um. »Ich esse gerne pünktlich.«

Kapitel Drei

Clara, Callyzion

Dezember 1918

Ich bürstete mir das Haar, zog meine schönere Strickjacke an und legte frischen Lippenstift auf.

Als ich die Treppe hinunterging, schlug die Kirchturmuhr zur Stunde. Das Wohnzimmer wirkte nicht viel einladender als zuvor, aber zumindest brannte im Kamin jetzt Feuer, wenn auch noch sehr schwach. Es spendete zwar noch keine Wärme, aber immerhin einen Hauch von Behaglichkeit.

Ernest saß auf dem gleichen Sofa wie zuvor, auf dem anderen sah ich Amy neben einer älteren Frau sitzen, die ich noch nicht kannte.

»Da ist sie ja.« Ernest erhob sich und lächelte. »Mutter, das ist Clara.«

»Kommen Sie her, mein Liebe.« Ihr Lächeln war vom Kummer getrübt. »Meine Augen sind nicht mehr die besten, und ich möchte Sie genauer betrachten.«

»Mrs. Bolitho.« Ich ging zu ihr. »Herzlichen Dank für die Einladung.«

Ihre grauen Augen glitten über meine schlichte Kleidung und schmale Gestalt.

»Sie haben ein gutes, einfaches Gesicht«, sagte sie zu mir. »Das gefällt mir. Bertie gefiel es auch, das weiß ich. Aber zu viel Lippenstift.«

»Bertie mochte das«, verteidigte ich mich.

Seine Mutter verschränkte die Arme und lachte leise auf. »Bertie hatte eine Vorliebe für eigensinnige Menschen. Das ist gut. Er hat uns auch berichtet, dass Sie aus Kent stammen?«

»Ja.«

»Und was macht Ihre Familie dort?«

»Landwirtschaft. Vor allem Äpfel und Hopfen. Aber wir hatten auch hervorragende Milchkühe.« Wie leicht mir das über die Lippen kam!

»Wie viele Hektar?«

»Weiß der Himmel. Mindestens achtzig.«

»Nicht übel!«, warf Ernest ein.

»Ja.« Ich schenkte ihm mein einstudiertes trauriges Lächeln. »Aber wenn man so jung die Eltern verliert, ist das kein großer Trost.«

»Ach, du meine Güte! Das wussten wir nicht«, sagte Ernest bedauernd. »Wie furchtbar für Sie.«

Mrs. Bolitho dagegen merkte bei dieser Information sichtlich auf. »Oh, meine Liebe. Kommen Sie, setzen Sie sich doch neben mich.« Sie bedeutete Amy, zur Seite zu rutschen. »Lass Clara bitte zwischen uns, Liebes.« Ich quetschte mich zu den beiden Frauen auf das straff gepolsterte Sofa, sodass ihre Schenkel gegen meine Beine drückten.

Amy versuchte, möglichst weit von mir abzurücken, während ihre Mutter sich interessiert zu mir umwandte. »Was um alles in der Welt ist denn geschehen? Wie sind Ihre Eltern ums Leben gekommen?«

Da ich mir noch keine überzeugende Erklärung überlegt hatte, senkte ich den Kopf und suchte in meiner Strickjacke nach einem Taschentuch.

»Mutter«, sagte Ernest vorwurfsvoll, »Clara wird uns von sich aus davon berichten, wenn sie so weit ist.«

Mrs. Bolitho überspielte ihre Enttäuschung mit einem Schniefen. »Nun, ich wundere mich allerdings, dass Bertie das nicht erwähnt hat.« Sie seufzte und schwieg einen Moment, bevor sie fragte: »Er wusste doch davon, oder?«

»Ja, natürlich. Ich habe ihm alles erzählt.«

»Das freut mich zu hören. Und wie ist London? Sie arbeiten doch dort?«

»Ja. Als Sekretärin bei der London Evening News.«

»Wie interessant. Diese Zeitung gibt es hier natürlich nicht. Mein Gatte bevorzugt die Times.«

Ehe ich antworten konnte, sagte Amy an mir vorbei: »Mama, du solltest jetzt dein Hustenmittel nehmen.«

»Mir geht es bestens, danke.« Mrs. Bolitho ließ sich nicht von mir abbringen. »Ich möchte in allen Einzelheiten erfahren, wie Sie unseren lieben Bertie kennengelernt haben. Und Ernest, wärst du so lieb, das Feuer etwas anzufachen?«

Ernest hockte sich vor den Kamin und griff nach einem Holzscheit. Seine Bewegungen erinnerten mich sehr an Bertie und unsere erste Begegnung.

»Bertie und ich haben uns in einem Bridgeclub kennengelernt. In Piccadilly.«

Mrs. Bolitho nickte. »Spielen Sie gut?«

»Nicht so gut wie Bertie.« Vor meinem inneren Auge saß er mir gegenüber an dem kleinen Tisch, die Karten in seinen schlanken Fingern. »Wir haben zusammen ein paar Turniere gewonnen.«

»Dann müssen Sie schon recht gut sein.« Mrs. Bolitho wandte sich an Ernest, der mit dem Feuer beschäftigt war. »Clara spielt Bridge. Vielleicht können wir abends einmal eine Runde spielen.«

»Gerne«, sagte Ernest. »Amy? Wärst du auch mit dabei?«

»Lieber nicht.« Die Vorstellung ließ sie geradezu erschaudern. »Wo bleibt denn Dora mit dem Tee?« Amy sah auf die Uhr. »Sie kommt schon wieder zu spät. Ich werde ihr auf die Sprünge helfen.« Mit rauschenden Röcken verließ sie das Zimmer, während wir drei anderen ins Feuer schauten und überlegten, was wir sagen konnten.

»Wie unhöflich von mir«, fiel mir plötzlich ein. »Ich habe mich noch gar nicht für das Taxi bedankt, das Sie mir zum Bahnhof geschickt haben.«

»Darum hat Amy sich gekümmert.« Mrs. Bolitho deutete in die Richtung, in die Amy verschwunden war. »Sie führt für mich den Haushalt. Seit ein paar Wochen fehlt mir die Kraft.« Sie hustete ein wenig. »Hatte Chewton schon auf Sie gewartet?«

»Ja.«

Ernest lachte. »Ich wette, er hat Ihnen alle zwielichtigen Ecken von Callyzion gezeigt.«

Mrs. Bolitho schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Ernest, ich bitte dich! Lass das nur nicht deinen Vater hören.« Sie sah auf die kleine Uhr, die sie an ihre Brust geheftet hatte. »Er müsste jeden Moment hier sein. Ich hatte ihn gebeten, pünktlich um halb fünf zu Hause zu sein.«

Wie aufs Stichwort war ein Schlüssel in der Eingangstür zu hören, dann rief eine tiefe Männerstimme: »Hallo! Ich bin da! Ist Miss Carter schon gekommen?«

»Wir sind im Wohnzimmer«, rief Ernest zurück.

In der Tür erschien ein Mann, dessen Größe und Umfang schlichtweg enorm waren. Bertie hatte seinen Vater einmal als »beruhigend massig« beschrieben, und als ich ihn jetzt vor mir sah, fiel mir keine bessere Beschreibung ein. Er trug einen schwarzen Mantel, ein schwarzes Hemd, schwarze Hosen und schwarze Gamaschen. Der einzige helle Fleck war der schneeweiße Kragen.

»Aha.« Berties Vater sah mich herzlich an. »Meine Güte, wie wunderbar, dass Sie endlich tatsächlich hier sind.« Mit zwei großen Schritten hatte er das Zimmer durchquert, nahm meine Hand und tätschelte sie. »Sie sind hier so herzlich willkommen. Bertie hatte leider nicht mehr die Gelegenheit, uns viel von Ihnen zu berichten, deshalb möchten wir alles von Ihnen persönlich erfahren. Auf jeden Fall sind Sie genauso hübsch, wie wir es uns vorgestellt haben.« Er wandte sich an seine Frau. »Findest du nicht, meine Liebe?« Ohne die Antwort abzuwarten, sah er sich im Zimmer um. »Wo ist das Essen?«

Wenige Minuten später wurden Biskuitkuchen und kleine Gurkensandwiches serviert, die allen schmeckten und ein neues, harmloses Gesprächsthema lieferten.

Nach dem Essen verschwand Pfarrer Bolitho in seinem Arbeitszimmer, während sich seine Frau ins Schlafzimmer zurückzog.

Amy und Dora waren damit beschäftigt, das Geschirr abzuräumen und das Abendessen zu besprechen.

Nur Ernest und ich blieben noch sitzen.

»Freut mich wirklich sehr, dass Sie hier sind«, begann er das Gespräch. »Bertie war ja ganz verrückt nach Ihnen, wenn man seinem Freund Jimmy glauben darf.«

»Und ich nach ihm.« Ich senkte den Blick. »Es ist so schön, hier zu sein, bei seiner Familie. Bei den Menschen, die ihm am nächsten standen.«

Ernest räusperte sich. »Ja. Wir vermissen ihn sehr.«

Aus dem Kamin flog ein Funken auf den Teppich. Ernest streckte sein langes Bein und trat ihn aus, ohne sich von seinem Platz zu erheben. Dann sahen wir beide in die Flammen.

»Ich vermisse ihn sehr.« Ein Holzscheit rutschte ein wenig zur Seite, als seine Rinde Feuer fing, sodass die Flamme kurz blau wurde, dann gelb und schließlich orange. »Wie haben Ihre Eltern eigentlich meine Anschrift herausgefunden?«, fragte ich.

»Mit Mühe.« Er lächelte schief. »Wir wussten nichts von Ihnen und hatten keine Ahnung, wie wir Sie finden sollten. Erst als uns Berties persönliche Habseligkeiten geschickt wurden …«

Ich sah erschrocken auf. Was mochten sie unter Berties Sachen gefunden haben? Doch wohl nicht meine Briefe? Nicht die vielen ganz privaten, peinlich verliebten Worte, die wir uns geschrieben hatten? Oh Gott, bitte nicht!

Ernest sprach weiter. »Unter seinen Sachen waren auch Briefe von alten Freunden. Kennen Sie vielleicht einen Jimmy?«

Mein Herz klopfte ängstlich. Jimmy war der Freund, der uns die Wohnung in Ealing vermietet hatte. »Ja.« Meine Kehle war trocken. »Ein guter Freund von Bertie. Was … was stand denn in seinem Brief?«

»Wirklich ein Glücksfall. Er erwähnte eine Adresse in Ealing.«

Ich ballte die Hände zu Fäusten und machte mich auf das Schlimmste gefasst. »Ach ja?«

»So haben wir zum ersten Mal von Ihnen erfahren. Er schrieb, dass Clara sich in der Wohnung in Ealing hoffentlich wohlfühle, oder so etwas Ähnliches.«

»Und sonst noch etwas?«

»Er erkundigte sich nach Bertie. Das Übliche. Erzählte von seiner eigenen Ehe. Aber so sind wir an Ihre Adresse gekommen. Vater beschloss, wir sollten uns kennenlernen und …« Er räusperte sich. »Unsere schönen Erinnerungen an Bertie miteinander teilen.«

Ich entspannte mich. Vielen Dank, Jimmy! Er hatte nichts verraten.

»Ich war so überrascht und froh, als der Brief von Ihren Eltern kam«, erwiderte ich. »Er hat mich auf Umwegen erreicht. Vor einiger Zeit musste ich aus Ealing zurück nach Kent – eine familiäre Angelegenheit –, aber ich hatte meine neue Adresse hinterlassen. Für alle Fälle.«

»Nun, es tut mir sehr leid, dass alles so lange gedauert hat. Aber jetzt sind Sie ja da.«

»Ja, jetzt bin ich da.«

»Und Sie können über Weihnachten bleiben?«

Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich war davon ausgegangen, einige Tage zu bleiben, meine Trauer dort auszuleben, wo Bertie zu Hause gewesen war, und dann nach Kent zurückzukehren, wo ich dringend gebraucht wurde.

»Ich möchte keine Umstände machen.«

»Das sind doch keine Umstände. Ich weiß genau, wie sehr Mutter sich wünscht, dass Sie bis Neujahr bei uns sind.«

Neujahr? So lange konnte ich nicht bleiben! Oder doch? »Ich bin mir nicht sicher.«

»Haben Sie denn schon andere Pläne?« Seine Augen, seine Stimme erinnerten mich an Bertie.

»Naja … ich habe nichts dabei.« Ich konnte nicht bleiben. Ich durfte nicht. Was würde Philippa denken? Wie könnte ich mein zweites Weihnachtsfest mit Mikey verpassen?

»Amy kann Ihnen alles borgen, was Sie brauchen«, versprach Ernest leichthin. »Sagen Sie ja, dann ist es abgemacht.« Er lächelte. Es war nicht Berties Lächeln, aber doch sehr ähnlich.

»Nun, ich … habe nichts anderes vor.«

Ernest erhob sich. »Wunderbar. Wie wäre es mit einem Kartenspiel? Rommee?«

Und so überbrückten wir die Zeit zwischen Tee und Abendessen. Er unterhielt mich mit heiteren Geschichten aus der gemeinsamen Kindheit mit Amy und Bertie. Sie hatten auf der Orgelempore Verstecken gespielt, Vaters Predigttext gegen einen Einkaufszettel ausgetauscht und einmal alle das Osterfest mit Windpocken im Bett verbracht. Ernest war sehr offen und umgänglich. Ich fühlte mich in seiner Nähe immer wohler.

Das Abendessen mit Rindssuppe, gefolgt von kleinen Lammkoteletts und Apple Crumble zum Dessert, sorgte für eine gute Stunde unverfänglichen Gesprächsstoff.

Das Thema Bertie wurde geflissentlich gemieden, um die Stimmung nicht zu trüben. Schließlich verkündete Ernest, dass ich bis Neujahr bleiben würde, und Berties Eltern waren ganz begeistert.

»Und Amy«, fuhr Ernest fort, »ich habe Clara versprochen, dass du ihr alles leihen kannst, was sie braucht.« Er grinste.

Als ich aufsah, bemerkte ich, wie sie ihn entsetzt anstarrte.

»Nein, nein«, versicherte ich rasch. »Ich komme schon zurecht, wirklich.«

Mrs. Bolitho warf ein: »Amy hat viele hübsche Sachen im Schrank, die sie Ihnen leihen kann. Sie trägt ihre Kleider so selten, dass ich mich freuen würde, wenn sie wieder einmal zum Vorschein kämen.«

Amy erwiderte mit verkniffener Miene: »Mutter, du musst schon zugeben, dass es sinnvoller ist, wenn ich mich praktisch kleide, während ich für den Haushalt sorge.«

Ich spürte, wie unangenehm ihr die Situation war, und lächelte sie an. »Es würde mir nicht im Traum einfallen, mir Ihre guten Sachen zu leihen. Nicht auszudenken, wenn ich sie ruiniere. Was sollten Sie dann bei besonderen Anlässen anziehen?«

Mrs. Bolitho beugte sich zu mir und vertraute mir spöttisch an: »Meine Tochter mag keine besonderen Anlässe. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann sie zuletzt ausgegangen ist.«

Amy wurde blass und umklammerte ihre Serviette. »Mutter, bitte.«

Mrs. Bolitho ließ sich durch das sichtliche Unbehagen ihrer Tochter nicht beirren. »Sie dagegen sind noch jung, meine Liebe, und haben das ganze Leben noch vor sich.«

Die Serviette fiel auf den Tisch, Amy erhob sich. »Was hat Dora nur mit dem Dessert gemacht?« Wir sahen ihr nach, als sie das Zimmer verließ.

»Sie beruhigt sich schon wieder«, sagte Mrs. Bolitho zu mir.

Pfarrer Bolitho warf seiner Frau über die Brille hinweg einen strengen Blick zu. »Louisa. Lass sie in Ruhe.«

Als Amy zurückkam, löffelten wir schweigend unseren Nachtisch.

Und während Dora abräumte, stand Amy auf, vermied jeden Blick in meine Richtung und sagte: »Mama, komm jetzt, du bist müde und ich möchte nicht, dass deine Erkältung noch schlimmer wird.«

Die Herren erhoben sich, als Mutter und Tochter den Tisch verließen. Im Vorbeigehen gab Mrs. Bolitho mir rasch einen Kuss auf die Wange. »Gute Nacht, meine Liebe, schlafen Sie gut.«

Nachdem die beiden verschwunden waren, wartete ich ein paar Minuten und sagte dann: »Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich mich auch zurückziehen. Es war aber ein wunderbarer Tag, und ich bin Ihnen sehr dankbar, dass ich hierbleiben kann.«

»Clara, das ist doch selbstverständlich. Bertie hätte es so gewollt, und deshalb wollen Louisa und ich es auch«, sagte Pfarrer Bolitho liebenswürdig. »Sie sind sicher müde.« Er und Ernest standen auf, als ich mich erhob.

»Gute Nacht, Pfarrer Bolitho.«

»Bitte nennen Sie mich Hugh«, sagte er. »Wenn Bertie hier wäre, hätte ich mir gewünscht, dass Sie mich Vater nennen.«

Tränen traten mir in die Augen, meine Kehle war wie zugeschnürt. »Meine Liebe«, sagte er gütig, »Sie werden immer zu unserer Familie gehören, was die Zukunft auch bringen mag.«

»Gute Nacht, Clara.« Ernest lächelte. »Frühstück gibt es um halb acht.«

»Vielen Dank. Sie sind alle so freundlich zu mir.«

»Morgen können wir etwas unternehmen«, sagte Ernest. »Wie wäre es mit einem Spaziergang nach dem Frühstück?«

»Sehr gerne.«

»Wunderbar. Gute Nacht, altes Mädchen«

Genau so hatte Bertie mich oft genannt.

Mit gesenktem Kopf, die Nerven vor Erschöpfung zum Zerreißen gespannt, ging ich die Treppe hinauf in mein Zimmer. Berties Zimmer. Ich sehnte mich danach, endlich allein zu sein.

Dankbar schloss ich die Tür, lehnte mich dagegen und weinte endlich einsame Tränen.

Kapitel Vier

Clara, Callyzion

Dezember 1918

Ich weinte, bis die letzte Träne vergossen war. Völlig erschöpft raffte ich mich dann auf, meinen Koffer auszupacken und mich auszuziehen. Ich hängte mein einziges gutes Kostüm, mein Bürokostüm, in den Schrank neben Berties alten Mantel, daneben ein neueres Kleid, das Bertie gut gefallen hatte, und schließlich das Kleid, in dem ich gekommen war.

Meine saubere Unterwäsche und Strümpfe verstaute ich in den kleinen Nachttischschubladen, stellte die Schuhe ordentlich neben den Schrank und legte mein Nachthemd aufs Kopfkissen. Berties Kissen. Ich hob es hoch und vergrub auf der Suche nach seinem Geruch die Nase darin. Es roch nach frischer Luft und Lavendel, aber nicht nach ihm.

Während ich mir die Unterkleidung abstreifte, überlegte ich, ob ich sie im Badezimmer auswaschen und zum Trocknen über die Stuhllehne hänge sollte, wie ich es zu Hause tat. Wäre das angemessen? Oder sollte ich das Dora überlassen? Und wenn das auch nicht richtig war? Nach längerem Überlegen beschloss ich, sie heute selbst zu waschen und mich dann morgen diskret zu erkundigen, wie es hier mit der Wäsche üblich war.

Ich streifte mir das Flanellnachthemd über, das Bertie mir vor seiner letzten Rückkehr nach Frankreich geschenkt hatte, hüllte mich in den Morgenmantel und nahm meinen Waschbeutel.

Auf dem Bett lag ein dünnes Handtuch, vermutlich von Dora bereitgelegt; darin rollte ich meine Unterwäsche ein und klemmte sie mir unter den Arm. Um peinliche Begegnungen auf dem Flur zu vermeiden, schlich ich so leise wie möglich ins Badezimmer.

Als meine Wäsche schließlich zum Trocknen über Berties altem Stuhl hing, schlüpfte ich unter seine Bettdecke und streckte mich aus. Die Laken waren kalt und ein wenig feucht. Ich wickelte mich fest in das Oberbett, doch deutlich wärmer wurde mir dadurch nicht.

Da kam mir eine Idee.